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1650–1800
Wiederaufbau, Landesausbau und Endphase des feudalen Zeitalters
ОглавлениеViel Zeit und Kraft brauchte das Land, um sich von den Verlusten und Wunden des Dreißigjährigen Krieges zu erholen. Fast ein Jahrhundert dauerte allein die Phase des Wiederaufbaus. Entvölkerte Gebiete mussten wiederbesiedelt, Häuser und ganze Dörfer wiederaufgebaut, ehemalige Felder mühsam rekultiviert werden. Nur nach und nach konnten die Viehbestände wieder aufgefüllt werden. Erst um das Jahr 1740 war die Zahl der Bauernhöfe wieder auf dem Stand von 1618, dies gilt auch für die Einwohnerzahlen in Deutschland.27 Bemerkenswert ist, dass der Dreißigjährige Krieg – im Unterschied zur spätmittelalterlichen Agrarkrise – kaum dauerhafte Ortswüstungen hinterlassen hat.
Ab 1740 kann von einer neuen Phase des Landesausbaus und einer Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion gesprochen werden. Damit setzte sich die Entwicklung des 16. Jahrhunderts fort, die durch den Dreißigjährigen Krieg und die folgende Wiederaufbauphase unterbrochen worden war. Im großen Stil wurden nun durch Adel und Landesherren neue Flächen für den Landbau erschlossen und besiedelt. Man spricht hier von »Peuplierungspolitik« (Ansiedlungspolitik), manchmal wurden dazu auch Glaubensflüchtlinge aus dem Ausland wie die französischen Hugenotten angeworben. Allein in Preußen wurden etwa 250.000 ha Sumpf-, Moor- und Aueland kultiviert. Am bekanntesten ist die Urbarmachung und Besiedlung des Oderbruchs mit 60.000 ha. In Norddeutschland und Bayern wurden insgesamt 20.000–25.000 ha neu für die Landwirtschaft gewonnen.28 Die Landesherren förderten jedoch nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch die Entstehung eines frühindustriellen Gewerbes. In vielen ländlichen Regionen – vor allem Mittel- und Süddeutschlands – entwickelten sich erste Schwerpunkte z.B. der Glas-, Eisen- und Textilproduktion.29
Neben der Ausdehnung der Flächen kam es zu einer Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion. Die Bodenbearbeitung erhielt Impulse durch die Einführung neuer Früchte wie Kartoffeln, Klee oder Flachs für die Textilherstellung. Auch in der Viehhaltung gab es Verbesserungen durch neue Rassen oder durch die Verpachtung von »Kuhhaltereien« auf den preußischen Domänen (Staatsgütern) an Holländer. Ein wichtiger Fortschritt für die Dörfer war es auch, dass sowohl der Obstanbau als auch der Gartenbau von den Landesherren gefördert wurde, wobei hier vor allem die Dorfschullehrer eingesetzt wurden. Dem Wirtschaftsaufschwung entsprach die Bevölkerungsentwicklung: Vom Tiefpunkt im Jahr 1648 mit 10 Mio. Einwohnern stieg die Bevölkerung in Deutschland bis 1800 auf 23 Mio. Einwohner an.
Die Bevölkerungszunahme auf dem Land führte im Wesentlichen zu einer starken Zunahme der unterbäuerlichen Schichten. Die Anzahl der landlosen Haushalte machte nicht selten zwei Drittel aller Dorfhaushalte aus, wie z.B. in Belm bei Osnabrück.30 Ein anderes Beispiel ist das Dorf Großgressingen bei Bamberg, das zur Grundherrschaft des Klosters Ebrach gehörte. Hier standen 1689 den zwölf Bauernstellen mit durchschnittlich 7 ha Land 26 sog. »Söllenhäuser« gegenüber. Deren Bewohner besaßen kein Land und waren auf den klösterlichen Eigenbetrieben beschäftigt. Die soziale Zweiteilung des Dorfes von 1689 lässt sich am Ortsbild bis heute ablesen.31 Generell profitierten auch die unterbäuerlichen Schichten vom wirtschaftlichen Aufschwung: Viele konnten sich neben der üblichen Tagelöhnertätigkeit in der Landwirtschaft als Handwerker oder im Transport- und Handelsgewerbe neue Zuverdienste sichern.
Für Landesfürsten, Adel und Klöster war das 18. Jahrhundert ein (letzter) Höhepunkt ihrer Machtentfaltung. Dies äußerte sich z.B. in der Errichtung prächtiger Schlösser, Guts- und Parkanlagen sowie in der Ausübung einer heute übertrieben anmutenden Jagdkultur. Doch gleichzeitig gilt das 18. Jahrhundert als die Endphase des feudalen Zeit alters, denn es mehrten sich die Anzeichen einer Beseitigung der mehrfachen Abhängigkeit der Bauern von weltlichen und geistlichen Grundherren. Die Impulse zu grundlegenden Agrarreformen kamen nun von verschiedenen Seiten: Von den Bauern, die ihre Dienste und Abgaben immer widerwilliger verrichteten. Von den Grundherren, die erkannten, dass ihre Einnahmen wegen der bestehenden Agrarverfassung immer niedriger wurden. Vom Staat, der an einem gesunden Bauernstand und höheren Staatseinnahmen interessiert war.32 Rückenwind kam auch von der sich nun etablierenden Agrarwissenschaft. So beschreibt Heinrich Gottlob von Justi in seiner Schrift »Von den Hindernissen einer blühenden Landwirtschaft« bereits 1760 die wichtigsten Missstände: enge Dorflage, zu schmale Ackerstreifen, Weiderechte auf Brach- und Stoppelfeldern im Rahmen der Dreifelderwirtschaft, Frondienste, Besitzverhältnisse der Bauern. »Wenn nun ein Bauer nicht des vollkommenen Eigenthums versichert ist, wenn er befürchten muss, dass man ihm oder seinen Kindern dereinst das Guth unter allerley Vorwänden nehmen möchte; so fehlet ihm der rechte Bewegsgrund, allen möglichen Fleiß auf die vollkommene Cultur und Verbesserung seiner Grundstücke zu verwenden.«33
Erste konkrete Maßnahmen zur Beseitigung dieser Missstände wurden bereits im 18. Jahrhundert unternommen: In Preußen wurde z.B. das sog. »Bauernlegen«, das Herausdrängen der Bauern aus ihren Nutzungsrechten am Land, verboten. Bemühungen zur Einführung der persönlichen Freiheit waren in ganz Deutschland zu beobachten. In frühen Flurbereinigungsverfahren konnten die Gemengelage der schmalen Parzellen und der Flurzwang beseitigt werden. Auch im auf dem Land vernachlässigten Bildungsbereich tat sich einiges: So wurde nach und nach die allgemeine Schulpflicht eingeführt, was den Dörfern sehr zugutekam – zuerst in Preußen im Jahr 1763 (auf den staatseigenen Gütern bereits 1717), dann in Bayern 1770 und in Österreich 1774.34 Impulsgeber der neuen Bildungspolitik waren nicht zuletzt die Ideen der Aufklärung, die sich im 18. Jahrhundert immer mehr durchsetzten.
Trotz mancher Fortschritte ist festzuhalten, dass das feudale Agrarsystem in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht um 1800 im Wesentlichen noch bestand. Aber zahlreiche Änderungen waren bereits in Gang gesetzt, sodass im 19. Jahrhundert in nur wenigen Jahrzehnten eine völlige Umgestaltung der Agrarwirtschaft und damit des Landlebens erreicht werden konnte.35
Das Alltagsleben in den Dörfern verlief gegen Ende des 18. Jahrhunderts – aus heutiger Sicht – immer noch sehr bescheiden und beschwerlich. So war die Säuglings- und Kindersterblichkeit sehr hoch und die überlebenden Kinder wurden schon früh in den Arbeitsprozess, z.B. beim Viehhüten oder Garnspinnen, eingegliedert. Es gibt viele drastische zeitgenössische Berichte über die dörfliche Armut. Hier eine Beschreibung von Johann Michael von Loen, einem Großonkel Goethes, aus dem Jahr 1771: »Heute zu Tage ist der Landmann die armseligste unter den Kreaturen: die Bauern sind Sklaven und ihre Knechte sind von dem Vieh, das sie hüten, kaum noch zu unterscheiden. Man kommt auf Dörfer, wo die Kinder halb nackend laufen und die Durchreisenden um ein Almosen anschreien. Die Eltern haben kaum noch einige Lumpen auf dem Leib, ihre Blöße zu decken. Ein paar magere Kühe müssen ihnen das Feld bauen und auch Milch geben. Ihre Scheunen sind leer, und ihre Hütten drohen alle Augenblicke über einen Haufen zu fallen. Sie selbst sehen verkahmt (kümmerlich) und elend aus.«36
Das 18. Jh. war der Höhepunkt der Machtentfaltung von Adel und Landesfürsten, der sich in vielen Schlossbauten niederschlug.
Hier das Jagdschloss Clemenswerth im Emsland, 1737–1747 für den Kölner Fürstbischof Clemens August von Wittelsbach errichtet.