Читать книгу Das Dorf - Gerhard Henkel - Страница 17

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Auf früheren Gemälden wird das alte Dorf häufig geschönt dargestellt. Städtische Maler ergötzten sich am Landleben. Das Bild des Dorfes Tempelhof um 1800 stammt von Johann Friedrich Hennig.

Auf dem Sprung in die Moderne

Das Dorf um 1800

Auf den ersten Blick waren die Dörfer vor 200 Jahren einfacher strukturiert als heute. Fast allen Dorfbewohnern gemeinsam war die landwirtschaftliche Tätigkeit. Die benötigten landwirtschaftlichen Geräte wurden von dörflichen Handwerkern wie Schmied und Stellmacher hergestellt. Das Dorf war nicht nur autark, sondern regelte auch das wirtschaftliche und soziale Leben durch eigene Dorfordnungen. Allerdings waren die Bauern und Landarbeiter nicht frei im heutigen Sinne: Sie waren durch vielfache und komplizierte Besitz- und Rechtsverhältnisse an ihre Grundherren, Gutsherren, Gerichtsherren, Landesherren und an die Geistlichkeit gebunden.

Geht es um das Thema »Dorf«, haben wir alle meist auch Bilder des »alten Dorfes« im Kopf. Diese sind oft mit der Einschätzung einer »guten alten Zeit« verknüpft – es sind Vorstellungen einer romantischen Grundstimmung: Die Dörfer liegen idyllisch inmitten der Natur mit Bach, Feldern und Wäldern. Die Bauern arbeiten munter und fast frohgelaunt im Stall oder bei der Ernte. Aufwendige und große Hochzeiten, Beerdigungen, Kirchweih- und Schützenfeste belegen eine enge Dorfgemeinschaft, die Kirche bildet den optischen sowie kulturell-sozialen und sinnstiftenden Mittelpunkt für alle Dorfbewohner. Es gibt aber auch andere, deutlich negativere Bilder und Bewertungen zum alten Dorf. Wir haben die Armut der großen Mehrheit der Dorfbewohner vor Augen, die Missernten und Hungersnöte, die häufigen Brände und Krankheiten, die besonders viele Säuglinge und Kinder sterben ließen. Das Dorfleben erscheint uns dann als ein fast täglicher Kampf ums Überleben, ohne Chancen eines wirtschaftlichen oder sozialen Aufstiegs.

Die holzschnittartigen »gefühlten« Bilder vom alten Dorf haben natürlich ihre Wahrheitskerne. Sie speisen sich aus Darstellungen der damaligen Literatur und Malerei sowie aus Chroniken, Reiseberichten und mündlichen Überlieferungen. Sie sind zugleich aber auch der Sichtweise des heutigen Menschen geschuldet mit seinen Vorstellungen von Armut, Sterblichkeit und Freiheit. Über die »gefühlte Wirklichkeit« eines Bauern, seiner Frau, seiner Kinder, Knechte und Mägde um 1800 wissen wir relativ wenig. Vielleicht lebten damals viele Dorfbewohner in dem (zufriedenen) Bewusstsein, dass es ihnen besser ging als noch ihren Eltern und Großeltern.

Die Dorfforschung zeichnet ein facettenreiches und regional unterschiedliches Bild des Dorfes vor 200 Jahren. Es war eine Umbruchzeit – die Ideen der Französischen Revolution gingen durch Europa und drangen auch in das politisch kleingekammerte Deutschland hinein. Die Befreiung der Landbevölkerung aus den diversen Zwängen der Feudalzeit durch Agrar- und Bildungsreformen deutete sich in manchen Regionen bereits an. Aus sozialer Sicht war das Dorf um 1800 noch eine recht festgefügte Klassengesellschaft in Form einer Pyramide: An der (kleinen) Spitze standen unangefochten Klerus und Adel, die beide auch als Grundherren – als Verpächter des Landes und häufig auch mit eigenen Gütern – in Erscheinung traten. Darunter kam die Schicht der großen, landbesitzenden Bauern. Danach die der kleineren Bauern und der Handwerker, die meist zur Existenzsicherung auch eine kleine Landwirtschaft betrieben. Man würde hier heute von oberer und unterer Mittelschicht sprechen. Zur zahlenmäßgig umfangreichen Unterschicht gehörten damals die landlosen Landarbeiter und Tagelöhner, die in einem eigenen Haushalt lebten, sowie die unmittelbar auf den größeren Höfen und Gütern arbeitenden und wohnenden Knechte und Mägde. Aufstiege aus der Unterschicht waren kaum möglich. Durch das festgefügte Dienst-Lehen-Verhältnis zwischen Bauern und Grundherren gab es aber auch für die Mittelschicht nur geringe Möglichkeiten des sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs. Die Starrheit der sozialen und ökonomischen Schichtung hat sicherlich vielerorts zu ungerechter Machtausübung und Ausbeutung durch die ländliche Oberschicht geführt. In den historischen Quellen gibt es zahllose Belege für die Unzufriedenheit und Wut der Dorfbewohner über Beschneidungen alter Rechte sowie die hohen Belastungen durch Abgaben und Dienste gegenüber der Grundherrschaft und Geistlichkeit. Es saßen jedoch fast alle Dorfbewohner im gleichen Boot, das sie auch nicht verlassen konnten. Dies hat mit Sicherheit auch die Einsicht in das Aufeinander-angewiesen-Sein und den Zusammenhalt innerhalb der Familien und innerhalb der Dorfgemeinschaft weiter gefördert.


Das Ölgemälde »Rückkehr von der Kirchweih« von Ferdinand Georg Waldmüller um 1860 zeigt uns eine Sonntagsszene des Dorfes. Festlich gekleidete Erwachsene und Kinder werden in ausgelassener Stimmung präsentiert.


In allen Jahreszeiten gab es im Dorf spezielle Arbeiten zu erledigen. Eine der bäuerlichen Arbeiten im Herbst und Winter war es, Mist aufs Feld zu fahren und dort zu verteilen. Auch Frauen und Kinder mußten mit anpacken.

Im Mittelpunkt der dörflichen Wirtschaft stand eindeutig die Land- und Forstwirtschaft. Alle mittleren und größeren Höfe betrieben in der Regel den ganzen Umfang an Ackerbau und Viehzucht bis hin zur Kleinviehhaltung. Natürlich gab es regionale Unterschiede. Die heute übliche Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion war um 1800 noch weitgehend unbekannt. Das wichtigste Ziel der Hofhaltung stellte die Selbstversorgung der meist großen Familie und des Gesindes mit Nahrung und Kleidung dar. Durch die starke Abgabenlast an Grundherren und Kirche (Letztere bekam den sog. »Zehnten«) sowie durch die ebenfalls zu leistenden Hand- und Spanndienste für den Hof des Grundherren waren die wirtschaftlichen Spielräume der Bauern äußerst gering. Aus vielen Gerichtsprotokollen wissen wir, dass säumige Bauern immer wieder um Aufschub und Erlass ihrer Abgaben baten und als Begründung Hunger und Krankheit in ihren großen Familien angaben. Auch das Dorfhandwerk wurde um 1800 meist in Kombination mit einer kleinen Landwirtschaft betrieben, um die eigene Nahrungsversorgung zu sichern. Die typisch dörflichen Handwerkszweige wie Schmiede, Stellmacher, Maurer und Zimmerer versorgten vor allem die landwirtschaftlichen Betriebe und dienten im Wesentlichen der Versorgung des eigenen Ortes. Das Dorf vor 200 Jahren war somit wirtschaftlich weitgehend selbstständig.

Das Wirtschaftsleben auf dem Land war in der Regel ganz auf das eigene Dorf bezogen. Praktisch alle arbeitenden Dorfbewohner hatten ihren Arbeitsplatz im eigenen Dorf. Das Verbleiben im Dorf ermöglichte eine hohe lokale Arbeitsmobilität: So konnten viele Dorfbewohner mehrere Tätigkeiten nebeneinander ausüben, z.B. als Handwerker, Kleinbauer und Waldarbeiter (im Winter). Auch die älteren Kinder mussten bereits bei den vielfältigen Arbeiten in Haus, Hof, Garten und Flur mitanpacken und wurden damit früh in das Erwerbsleben einbezogen. Das heute dorftypische berufliche Auspendeln war damals nur in Ausnahmefällen bzw. bei regionalen Besonderheiten üblich, wie etwa bei der Hollandgängerei in Nordwestdeutschland (hierbei handelte es sich um saisonale Wanderungen in die Niederlande zur Heuernte und zum Torfstechen). Von Wohlstand im heutigen Sinne kann um 1800 noch keine Rede sein. Eher prägten Armut und Angst vor Hungersnöten, Krankheiten und Bränden das dörfliche Leben. Die ständige Sorge und Vorsorge um die Nahrungssicherung bis zur nächsten Ernte stand im Mittelpunkt. Armut und Not führten zu häufigen Auswüchsen – so gehörten Bettelei und Diebstahl zur Normalität des Dorfes. Vor allem der Holzdiebstahl bzw. »Holzfrevel« in den grundherrschaftlichen Wäldern war immer wieder Gegenstand von Gerichts prozessen.

Die dörfliche Infrastruktur befand sich um 1800 aus heutiger Sicht erst in den Anfängen. Die größte Sorgfalt diente einer regelmäßigen Wasserversorgung, an Flüssen oder Bächen liegende Dörfer hatten hier ihre Vorteile. Andernorts waren Brunnenbauten oder kleine Wasserleitungen von den lokalen Quellen zu den sog. »Kümpen« innerhalb des Dorfes errichtet worden. Von dort musste man sich das Wasser mühsam in die Häuser holen. Hygiene und medizinische Versorgung hatten im Vergleich zu heute einen niedrigen Stand. Entsprechend hoch war die Sterblichkeitsquote vor allem bei den Kleinkindern und entsprechend niedrig die generelle Lebenserwartung der Menschen, die weniger als die Hälfte der heutigen betrug. Der Energieversorgung dienten Wasser- und Windmühlen, zum Kochen und Heizen wurden das Holz bzw. die Holzkohle der lokalen Wälder oder der getrocknete Torf aus den Moorgebieten genutzt. Auch hinsichtlich seiner Wasser- und Energieversorgung war das alte Dorf weitestgehend auf seine lokalen Ressourcen angewiesen, die allerdings auch intensivst genutzt wurden.


Größere Landgemeinden bauten ab dem 15. Jh. Rathäuser, die oft mehrere öffentliche Aufgaben wie Waage, Richterstube oder Markthalle erfüllten. Prächtige Bauten wie in Schwalenberg zeigen die Kraft und den Stolz der lokalen Selbstverwaltung.


Der Dorfweiher hatte früher wichtige Aufgaben zu erfüllen. Er war vor allem Viehtränke und Feuerwehrteich, hier eine Aufnahme von Kniprode aus dem Jahre 1904.

Die dörfliche Schule war um 1800 ebenfalls eine Angelegenheit der Dorfgemeinde, allerdings stand sie unter der Aufsicht der Kirche. Als Lehrer waren der Küster oder andere Gehilfen des Pfarrers oder des Bürgermeisters tätig. Eine höhere Schulbildung gab es in den Dörfern nicht – diese blieb weitgehend der Oberschicht vorbehalten, die ihre Kinder entweder mit Privatunterricht versorgte oder in städtische Lateinschulen schickte. Erst mit den Reformen des frühen 19. Jahrhunderts gab es den flächendeckenden Impuls zur staatlich geförderten und beaufsichtigten Dorfschule. Die meisten Dörfer ab etwa 300 Einwohnern hatten eine eigene Kirche oder Kapelle und ihren eigenen Pfarrer. Allerdings gibt es zahlreiche zeitgenössische Berichte der Bischöfe über die mangelhafte Einhaltung der Kirchenpflichten und speziell der Zehn Gebote in den ländlichen Pfarreien.

Die politische Selbstverwaltung ländlicher Gemeinden war um 1800 bereits in beachtlichen Ausmaßen entwickelt, aber von Region zu Region, ja von Dorf zu Dorf sehr unterschiedlich ausgeprägt. Sie bestand im Wesentlichen in der lokalen Wirtschaftsführung sowie in allgemeinen Ordnungs- und Schutzaufgaben. So ging es vor allem um die noch sehr komplizierte Nutzung der Flur: Da es zu dieser Zeit kaum Feldwege gab, musste das Betreten der »eigenen« Felder geregelt werden, es bestand der sog. »Flurzwang«. Außerdem wurde der Gemeinbesitz der Allmende gemeinschaftlich genutzt. Dazu kamen gemeinsame Aufgaben wie Wegebau, Unterhaltung von Wegen und Wasserläufen sowie Feuer- und Hochwasserschutz. Feuerwehr und Schützenvereine hatten als älteste und wichtigste Dorfvereine bereits Bestand. Die gemeinsamen öffentlichen Aufgaben waren in speziellen innerdörflichen »Ordnungen« festgehalten. So gab es z.B. für das jährliche Schützenfest konkrete Verhaltensempfehlungen, Verbote und Sanktionen. Rechtlich gehörten zur dörflichen Gemeinde allerdings nur die Grundbesitzer, was sich erst zum Ende des 19. Jahrhunderts änderte.

Wenn wir uns Darstellungen des Dorfes um 1800 in der Kunst anschauen, müssen wir auf der Hut sein: Sie entsprechen nicht unbedingt der Wirklichkeit, sondern wurden von Städtern für ein städtisches Publikum geschrieben oder gemalt. Die gebildeten Kreise in den Städten interessierten sich zunehmend für das Land. In den Kunstwerken wird uns auf der einen Seite das »glückliche Dorf« vorgestellt (von Joseph Christoph Leo 1804), das »einfache Landleben« gepriesen, das noch keine Zivilisationsschäden aufweist. Auf der anderen Seite wird uns die Begrenztheit und Grobheit der Landbevölkerung vermittelt, der es an Erziehung und Bildung mangelt. Die Romantiker erfreuten sich an der Urwüchsigkeit der ländlichen Landschaft, die dem Menschen Freiheit und Erfüllung bietet. Sozialkritische Darstellungen hingegen, die die schwierige Lage der Bauern als »Lastträger des Staates« beschreiben, nahmen zu.

Der Sprung des Dorfes in die moderne Zeit stand um 1800 noch bevor. Die Antriebskräfte der bald beginnenden revolutionären Veränderungen auf dem Land, allen voran die Industrialisierung und die Agrarreformen, deuteten sich erst vereinzelt an.

Das Dorf

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