Читать книгу Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band - Gerhard Henschel - Страница 10
ОглавлениеRenate erzählte von dem ZVS-Kram, den sie den ganzen Tag gemacht hatte. ZVS: Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen. Das sei eine Arbeit für Idis. Für den Computer müsse sie schreiben, daß sie nicht Primarstufe Mathe und Deutsch studieren wolle, sondern 123219, und nicht in Bielefeld, sondern in 345, und sie selbst sei unter der Nummer 51247091 gespeichert. »Den gesamten Mist schick ich morgen ab, dann hab ich eine Sorge weniger.«
Sie wollte irgendwann am selben Ort studieren wie Olaf.
Während Wiebke ihren Hamsterkäfig säuberte, nahm ich Pepik in Obhut und hatte nachher meine liebe Not damit, das Biest in meinem Zimmer wieder einzufangen. In dem schmalen Luftraum zwischen Kleiderschrankrückseite und Wand hatte Pepik sich zwei Meter hoch bis auf die Oberseite des Schranks gezwängt und benagte dort ein staubiges Teddy-Heft aus Renates Beständen.
Wenn die Bettelleute tanzen,
wackeln Kober und der Ranzen …
Wie war denn dieses alte Heft überhaupt dahinauf gelangt?
Am allerletzten Tag des Jahres brachte mir der Postbote noch einmal einen Brief von Michael, mit Spätnachrichten über eine Wanderung, die er mit Holger unternommen hatte:
In Simmern fanden wir einen alten Autoreifen. Und weil’s von da oben so schön abwärtsgeht auf dem Asphaltweg, sind wir dauernd hinter dem Ding hergerannt. Der Holger hat irgendwann nicht mehr gekonnt, weil er zu kleine Schuhe anhatte und ihm die Füße wehtaten vom vielen Gegen-den-Reifen-Treten. Ich bin aber noch mit letzter Kraft hinterher, und da ist mir erst eingefallen: Wenn jetzt einer da hochkommt, der wird ja kaputtgefahren. Also beschleunigte ich meinen Lauf. Der Reifen aber auch. Und weil dann die Kurve kam und links vom Weg der Abhang anfing, machte der Reifen einen gewaltigen Hopser über die Bank und entschwand meinen Blicken, indem er den Abhang runterrollte. Auch da unten ist ja ein Weg, und somit wurde die Lage immer kritischer. Holger kam inzwischen auch, und er ärgerte sich grün und blau über meine Doofheit, dem Reifen noch hinterherzulaufen. Wenn nun wirklich jemand den Weg hochgekommen wäre, dann hätte der Holger schnell entwischen können, aber ich? Wir schauten dann erstmal den Abhang runter. Zum Glück war der Reifen gegen einen Baum geknallt und lag friedlich davor und döste. Holger und ich sind hin und haben den Reifen den restlichen Abhang runterrollen lassen und platsch in den Wambach, da, wo mal unser Staudamm war. Ja, war, denn er ist nicht mehr. Da befindet sich bloß noch ein riesiger Gulli. Wir haben den falschen Staudamm eingefetzt und einen notdürftigen neuen an die richtige Stelle gesetzt.
So, das war’s aus dem DMGS-Studio.
Tschüß! Michael
P.S.: F6 auf E5 (ich nehme Weiß).
Renate war nach Koblenz abgereist, zu ihrem heißgeliebten Olaf, und auch Volker war aushäusig. Der ließ irgendwo bei einer Silvesterparty die Puppen tanzen.
Im Eßzimmer servierte Mama Kartoffelsalat mit Bockwürstchen, und danach gab es Bowle. Ich durfte daran nippen und hatte gleich nach dem ersten Schluck einen Fremdkörper in den Kusen hängen.
»Sind da Schrauben drin?« fragte ich, und Papa brach in Gelächter aus: Ja, selbstverständlich würde Mama uns Schrauben in die Bowle schmeißen! Und dann schüttelte er sich wieder vor Lachen.
Was sich in meinem Gebiß verfangen hatte, war eine Gewürznelke. In der Bowle schwammen noch mehr von der Sorte, und jedesmal, wenn Papa wieder eine herausgefischt hatte, sagte er, daß er ’ne Schraube geangelt habe, und dann war er wieder am Grinsen und Gnittern.
Auch mal ganz schön, den eigenen Vater zum Lachen zu bringen, aber ich hatte wirklich gedacht, daß ich auf ’ne Schraube gebissen hätte.
Zu späterer Stunde entbrannte zwischen Mama und Papa ein Streit über unser Verhältnis zu den Katholiken. Daß die hier in der Überzahl seien, fechte ihn nicht an, sagte Papa. »Wenn ich keine Katholiken mehr sehen will, mach ich einfach die Tür hinter mir zu, und dann hab ich meine Ruhe vor denen!«
»Wenn sie nicht gerade die Glocken läuten«, sagte ich.
»Das tun auch die Protestanten«, sagte Papa. Ein Schwachsinn sei das, dieses Glockengebimmel im Zeitalter der Armbanduhr. Da könne man auch Nachtwächter losschicken, wie im Mittelalter, und die alle halbe Stunde mit der Hellebarde auf die Fensterläden wummern lassen: »Hört ihr Leut, und laßt euch sagen, uns’re Uhr hat eins geschlagen …«
In Friesland, unter ihresgleichen, würde sie sich trotzdem wohler fühlen, sagte Mama.
Prosit Neujahr.
Alle waren noch am Filzen, als ich das Wohnzimmer morgens nach Salzgebäck durchflöhte, aber Mama hatte jeden Krümel abgeräumt.
Was das neue Jahr mit sich brachte, war die Anschnallpflicht im Auto: »Erst gurten – dann starten.«
Früher waren wir immer wie die Affen hinten im Käfer herumgeturnt auf den langen Reisen nach Jever und sonstwohin. Damit war es nun vorbei.
In einem Film, der im Ersten lief, verliebte sich ein junger Spund in eine Omi. Das war überhaupt ein merkwürdiger Mensch. Der tat so, als hacke er sich eine Hand ab, ganz lässig, um die Leute zu schocken, und dann war das nur ein künstlicher Stumpf.
Well, if you want to sing out, sing out,
And if you want to be free, be free …
Harold and Maude. Der Irre und die Alte.
Übers Emsland heulten Orkanböen hinweg. Die Hase führte Hochwasser, und im Garten bog sich die hohe Birke im Wind. Zum Raufklettern hätte man bei der leider ’ne Leiter gebraucht.
Den ersten Satz in den Bedankemichbriefen für die Weihnachtsgeschenke durfte man nicht mit »Ich« anfangen, weil das unhöflich war.
Draußen regnete es Bindfäden, und im Elternschlafzimmer leckte die Heizung.
Bei Ceka hatte Mama einen von Renate zum Entwickeln gebrachten Film mit Birkelbachfotos abgeholt: Renate mit Schürze, beim Fegen, beim Kochen und beim Gackern, mit ’ner Freundin im Arm.
In den Umschlag meines Briefs an Michael steckte ich einen von Silvester übriggebliebenen Ladykracher. Mein Damezug: E3 auf D4.
In der Küche pinnte Mama mit Stecknadeln einen Jahreskalender an die Wand, dessen Vorderseite bis Juni reichte. Gelb markiert waren die Ferien- und Feiertage. Bis zu den Osterferien war’s noch entsetzlich lange hin. Und weil 1976 ein Schaltjahr war, hatte der Februar einen Tag mehr als üblich. Also gab’s auch einen Schultag mehr, auch wenn der 29. 2. auf einen Sonntag fiel. Sonst wäre eben am 1. 3. schulfrei gewesen.
Die wichtigsten Geburtstagstermine hatte Mama mit Kugelschreiber eingetragen.
Seit er das Leben in der Freiheit kennengelernt hatte, nagte Wiebkes Hamster jede Nacht wie blöd am Käfiggitter, statt in seinem Rad herumzubösseln. War ja auch das Letzte, so ’n Hamsterrad. Das arme Tierchen. Zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt, in einem engen Käfig in einem pupsigen Mädchenzimmer, ohne Prozeß, ohne Rechtsbeistand und ohne Aussicht auf Begnadigung, aber mit Wiebke als Gefängnisdirektorin! Eingebuchtet wie der Freiherr von der Trenck in dem einen Film.
Als die Weihnachtsferien zuendegingen, kaufte ich mir von meinem Geld bei Ceka zum Trost eine Langspielplatte von Insterburg & Co.
Vergessen wir das Leben, das a-hach so-ho harte:
Herzlichen Glückwunsch zur Ei-hin-tri-hitts-karte!
So großartig ging das schon los. Hätte mich auch gewundert, wenn von dieser Truppe gar nichts mehr gekommen wäre. Auf der Platte sang Ingo Insterburg:
Im Sex-Shop stand eine Attrappe,
Die war aus Gummi und nicht aus Pappe.
Sie kostete a-hachtzig Mark.
Ich stach hinein, der Knall war stark.
Scharf fand ich auch das Lied von Peter Ehlebracht und Karl Dall über den Urlaubsort Benidorm:
Mein Scheckheft und das Handgepäck ließ ich bei dir zurück,
Du schöne schwarze Spanierin, du warst mein Urlaubsglück.
Ganz leis hast du geflüstert mir zärtlich in das Ohr:
»Der Franco badet blanco …« Das kam mir spanisch vor.
Mit der Spanierin hatten sie’s in Benidorm offenbar wie die Wilden getrieben:
Dann kamst du aufs Hotel zu mir, ich sollte dich verführen.
Wie war mein Zimmer doch so eng. Wir stießen an die Türen.
Von draußen kam der Krach herein vom nahen Aeroporto,
Die Spantax in den Himmel stieß, sie brachte Rentner forto.
Die Platte war klasse, von vorne bis hinten. Es gab auch ein Lied, in dem Karl Dall Ingo Insterburg lobte und dafür von ihm verarscht wurde. Zuerst Karl Dall:
Der Ingo ist ein Heiliger,
Seht an ihn, es ist wahr.
Und dann Ingo Insterburg:
Der Karl ist ein Langweiliger,
Sieht aus wie ein Clochard.
Dazu mußte man wissen, daß Karl Dall tatsächlich etwas sonderbar aussah mit seinem Triefauge, der Halbglatze und der zotteligen Nackenmatte. Und weiter ging’s:
Der Ingo hat ein reines Gesicht,
Wie hell ist seine Stirne.
Der Karl, das ist ein armer Wicht
Mit Fransen um die Birne.
Erst im letzten Vers zahlte es Karl Dall dem Chef der Combo heim:
Der Ingo ist im Herzen rein,
Im Kopf ist er ein dummes Schwein!
So prima, wie sie angefangen hatte, hörte die LP auch wieder auf, mit einem wilden, von Karl Dall geschmetterten Song, der einer gewissen Barbara gewidmet war:
Und wenn wir mal älter werden,
Wird zwischen uns nichts kälter werden,
Du wirst eine schöne Oma sein …
Wir wer’n viele Enkel haben,
Die uns dann zu Grabe tragen,
Das wird die Erfüllung sein …
Diese Platte war sowas von klasse. Bombig war die. Astig. Spitze. Diese Großinvestition hatte sich rentiert, schon beim ersten Anhören.
Und dann saß man wieder in der Schule. William the Conqueror and the Battle of Hastings. Weil der Eroberer aus der Normandie gekommen sei, hätten viele französische Lehnwörter Eingang in die englische Sprache gefunden: aid, prison, prince, uncle, symbol, judge und money. Und das nur wegen einer Schlacht, die vor mehr als neunhundert Jahren stattgefunden hatte.
In Deutsch war Briefeschreiben Thema. Wie die Menschen früher an ihre Feudalherren gerichtete Bittschreiben unterzeichnet hätten: In tiefster Ehrfurcht verharret Euer Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster Diener Sowieso. Oder: Genehmigen Euer Exzellenz die Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung, mit welcher ich die Ehre habe, mich zu zeichnen als Euer Exzellenz allergehorsamster Icks Ypsilon. Da hatte man’s ja heutzutage doch etwas leichter.
Geschraubt klangen auch manche alten Gedichte, die der Wolfert im Unterricht durchnahm.
Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein
Soll unsrer Liebe Verknotigung seyn.
Ob es wohl jemals eine Frau gegeben hatte, die auf solche Verse abgefahren war? Die hätte sich dann wahrscheinlich auch nach einer Schulrektorin wie Frau Malzahn in der Drachenstadt gesehnt.
Auf Michaels nächsten Brief mußte ich bis zum neunten Januar warten, und dann zahlte sich das Warten nicht einmal aus, denn der Brief war superkurz.
Grrmbl!
Wie ich Deinen Schmierakeln entnehme, fängt bei Dir die Schule erst in einer Woche wieder an, besser gesagt in fünf Tagen oder noch besser in drei? Bei mir war heute erster Schultag, und es ging gleich mit Mathe los. Dann die Lateinstunde, dann Englisch und zum guten Schluß Bio. Äff.
Am Bahnhof hab ich ’nen alten Schulkameraden aus der Sexta getroffen. Aus dem war ein Riese geworden, so bärtig wie Raimund Harmstorf. Ich hab den erst gar nicht erkannt.
Heute ist Mittwoch, und so muß ich gleich zu Konfi. Schöne Scheiße. Wesentlich lieber würde ich nämlich zu Hause bleiben. Ein spannendes Buch, ein schönes Fernsehprogramm … ach, alles Wunschträume.
Heißen Dank übrigens für den Knatter. In den Ferien hätten wir ja recht wenig damit anfangen können. Aber jetzt, wo wieder Schule ist?
Bevor ich noch mehr Stuß zusammenfasele, höre ich lieber auf mit dem Schreiben. Es ist ja ohnehin nichts passiert. Mein Damezug: E7 auf F6.
Tschüß und frohe Ostern!
Das war alles. Mein letzter Brief hatte sich auf sieben Seiten erstreckt, und ich hatte ihn mit ausgeschnipselten Bildern aus alten Comics verziert.
In einem französischen Spielfilm von 1938 spielte Jean Gabin einen Lokführer, der sich auf ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau einließ, obwohl schon deren letzter Liebhaber von ihrem Ehemann umgebracht worden war, und nun wollte sie den von Jean Gabin ermorden lassen, ohne zu ahnen, daß es ihr selbst beschieden war, als dessen Mordopfer zu enden, und daß er sich anschließend selber das Leben nähme, indem er vom fahrenden Zug in den Tod sprang …
Das sei ihr ’n bißchen zu dick, sagte Mama, aber mir hatte Jean Gabin gut gefallen. In deutschen Filmen kamen solche Teufelskerle nicht vor. Da spielten nur lauter schafsköpfige Hirnis und Schwiegermutterlieblinge mit. Daß Jean Gabin mehr Schneid hatte als Heinz Rühmann, war auf den ersten Blick zu erkennen.
Michael teilte ich kurz und bündig meinen Damezug mit: D2 auf E3.
Mittags machte Mama eine Leichenbittermiene, weil Agatha Christie gestorben war, die englische Krimitante. Als ob wir mit der verwandt gewesen wären.
In Geschi war die Reformation dran.
Auf dem Rückweg von einem kurzen Urlaub geriet Luther vor Erfurt in ein schweres Gewitter. Von einem in unmittelbarer Nähe einschlagenden Blitz zu Boden geworfen, rief er in Todesangst die Patronin der Bergleute an: »Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!«
Wenn dieser Blitz fünfhundert Meter weiter rechts eingeschlagen hätte, wären wir vielleicht alle katholisch geblieben und hätten liebedienerisch vor dem Papst herumkrauchen müssen. Da konnte man von Glück sagen, daß es anders gekommen war.
Uli Möller trainierte mit uns die Ballannahme mit Brust. Didi beherrschte diese Technik perfekt, aber mir sprang der Ball von der Brust immer woandershin, als ich ihn haben wollte, und ich war heilfroh, als wir zum Üben von Einwürfen übergingen.
Statt am VW schraubte Papa wieder am Moped herum. Gabel, Reifen, Schläuche, Felgen, Speichen und Benzinhahn.
Auf seinem Geburtstagstisch fand Volker, als er 17 wurde, einen Bademantel, einen Wandkalender, Geld und einen Gutschein für die Victoria vor, an der Papa noch dies und das flicken mußte.
Abends gab’s Käsefondue. Nach den Bestimmungen, die man aus »Asterix bei den Schweizern« kannte, hätte jeder Gast, der seinen aufgespießten Käseschnitz zum soundsovielten Mal im Topf verloren hatte, ersäuft werden müssen, aber wenn wir nach diesen Regeln verfahren wären, hätte keiner von uns den Abend überlebt.
In der großen Pause erzählte Hermann Gerdes mir einen Witz: Ein Cowboy kommt in den Saloon und kriegt einen Dollar dafür angeboten, daß er einen Schluck aus dem randvollen Spucknapf nimmt. Der Cowboy, arm, wie er ist, fackelt nicht lange, setzt den Spucknapf an und schlürft ihn – gluckedigluck – aus, und zwar bis auf den Grund. »Du hättest doch nur einen einzigen Schluck nehmen müssen«, sagt der Typ, der dem Cowboy den Dollar versprochen hat, und der Cowboy wischt sich mit dem Ärmel die Lippen ab und erwidert: »Weiß ich ja, aber das hat irgendwie alles so zusammengehangen …«
Michael Gerlachs nächster Brief begann mit einem Haufen fauler Ausreden.
An den GMS, d.n.s.s.i.w.e.d.!
’tschuldigung, daß mein Brief so spät kommt, aber ich mußte erst einmal einen Weltklasse-Damezug austüfteln: D6 auf C5.
Außerdem wollte ich abwarten, ob noch irgendwas Spektakuläres vorfällt, das ich Dir schreiben könnte. Doch es ist leider nichts vorgefallen. Überhaupt nichts. Ich bin bloß am Fernsehen und am Pauken. Mehr gibt’s ja auch nicht zu tun. Genau wie bei Dir: Die Umgebung ist stinklangweilig geworden. Zu allem Unglück ist hier auch noch das Wetter Scheiße. Dauernd Nebel oder Regen.
Morgens komme ich gar nicht mehr aus dem Bett raus. Es kommt mir dann vor, als sei ich eben erst reingegangen. Und das ist gar nicht so abwegig. Schließlich gehe ich in den letzten Tagen immer erst um 11, 12 Uhr ins Bett, wegen den Hausaufgaben. Morgens bin ich wie gerädert. Alles dreht sich, und ich gäbe viel darum, die ganze Woche im Bett liegenbleiben zu dürfen. Ach, wie waren die Ferien doch schön!
Weißt Du, was mir beim Austüfteln des Damezugs aufgefallen ist? Wenn in jedem Brief ein Zug steht, dann dauert’s ja Ewigkeiten, bis einer gewinnt. Und wenn man soviel Zeit zum Überlegen hat, dann kommen auch keine Flüchtigkeitsfehler vor. Da passiert’s dann, daß nachher keiner mehr einen Zug machen kann, weil man sich gegenseitig eingeschlossen hat. Und wenn wir am Ende jeder nur noch eine Dame haben, wird’s langweilig. Aber warum nicht. Hauptsache, man hat was zu tun.
Jetzt muß ich ins Bett.
Dein Michael
P.S.: Das da oben heißt »Glückspilz-Martin-Sender-der-nicht-so-schlau-ist-wie-er denkt«.
P.S. 2: Mein Vater ist arbeitslos.
»Arbeitslos und sechs Kinder, ach du lieber Gott«, sagte Mama, als ich ihr davon erzählt hatte. »Die armen Eltern!«
Den Hamsterkäfig mußte Wiebke jetzt abends immer ins Badezimmer stellen, weil ihr Schlaf nach Mamas Meinung unter dem nächtlichen Hamstergeraschel litt.
Mein nächster Damezug war klar: C1 auf D2. Höhö. Und da verließen sie ihn!
In Konfi sollten wir uns einen Partner aussuchen und uns dann abwechselnd an der Hand herumführen, wobei der Herumgeführte die Augen verbunden haben sollte. Dafür hatte Pastor Böker extra Tücher angeschleppt.
Das darf doch wohl nicht wahr sein, dachte ich, aber dann mußte auch ich mitwirken bei dem Ringelpiez. An der Hand herumgeführt werden von ’ner Siebtkläßlerin. Taps, taps. In Grund und Boden schämte ich mich dabei.
Was uns beim Geführtwerden durch den Kopf gegangen sei, fragte der Böker hinterher, und ein Mädchen namens Waltraud sagte: »Für mich hat das unheimlich viel mit gegenseitigem Vertrauen zu tun gehabt.«
Kunststück! Wenn sie die Treppe runtergekugelt wäre, hätte sie ’ne andere Meinung vertreten.
So wie auf unsere Nächsten dürften wir auch auf Gott vertrauen, sagte der Böker, und dann mußten wir noch einen Kanon singen. Cantate Domino.
Im ersten Rückrundenspiel schlug Gladbach Hannover 96 mit 2:0. Als gebürtiger Hannoveraner hätte ich ja eigentlich niedergedrückt sein müssen, aber ich hatte mich nun mal für Gladbach entschieden. Und ein gutes Näschen gehabt bei der Wahl meines Lieblingsvereins. Mit dem Wuppertaler SV oder Eintracht Braunschweig wäre ich schlechter gefahren.
Als wir gegen Apeldorn antraten, umdribbelte mich der Rechtsaußen, den ich decken sollte, rannte mir davon und trickste auch unseren Torwart aus und schob die Pille ganz gemütlich zum 1:0 ins Gehäuse. Dann schoß er auch noch das 2:0 und das 3:0, und in der zweiten Halbzeit machte ich schlapp. Apeldorn gewann mit 8:0, und an fast allen Toren war ich schuld, direkt oder indirekt.
Soviel zum Thema Nationalmannschaft und Martin Schlosser, der davon träumte, in den Kreis ihrer Aspiranten aufzusteigen.
Sollte ich mich denn so tief in mir getäuscht haben?
Am Sonntagabend statteten Lohmanns uns einen Besuch ab. Herr Lohmann erzählte, daß er seiner genäschigen Sekretärin neulich eine Schachtel Pralinen geschenkt und vorher bei einer davon die Nougatfüllung mittels einer Spritze durch scharfen Löwensenf ergänzt habe. Wie eine Rakete sei das Fräulein hochgegangen, sagte Herr Lohmann, und nun müsse er dieses mißtrauische alte Mädchen vorsichtig wieder anfüttern, bis zur nächsten Überraschungsoffensive.
Michael schrieb mir, daß er trotz Erkältung zur Schule gegangen sei.
Wenn Du gerade beim Essen bist, dann lies bitte nicht weiter, und wenn doch, dann auf eigene Verantwortung: Ich gehe also brav von der Christuskirche zum Max-von-Laue, als ich plötzlich niesen muß. Kein Grund zur Aufregung … ich halte mir lediglich die Hand vors Maul, wie sich’s gehört … und batsch, da habe ich mindestens zwei Liter schleimige, grüne Rotze im Gesicht und auf den Händen hängen. Igitt! Zum Glück hatte das keiner gesehen. Bis ich den Salat weggewischt hatte, waren drei Tempotaschentücher hinüber. Das war, wie sich später zeigte, sehr verhängnisvoll. In der Schule lief meine Nase nämlich unaufhörlich weiter, und ich mußte sie mit immer demselben Taschentuch putzen. Das Ergebnis: Mein Riechkolben ist wundgerieben und brennt wie Zunder.
Um den Damezug hatte Michael sich herumgemogelt und seinem Schreiben stattdessen mehrere Bilder raffinierter Süßspeisen beigefügt.
P.S. Hoffentlich ärgern Dich die beigelegten Freßkalenderbilder etwas. Ich mußte dafür nämlich fast den ganzen März und den halben Juni opfern. Bon appetit! Hähä! (Oder gibt’s das etwa jeden Tag bei Euch??)
Natürlich nicht. Bei uns gab’s meistens auch nichts Bombastischeres als Vanille- oder Schokoladenpudding zum Nachtisch.
Mit der ganzen Klasse mußten wir ein Kraftwerk oder Umspannwerk besichtigen oder was das darstellen sollte. Mit ’nem Bus bis dahin, wobei sich niemand neben mich setzte, und dann alle Mann rein in den Bunker. Treppe rauf und Treppe runter: Kolben, Kabel, Röhren, Armaturen und Barometer. Damit konnten sie mich nicht herumkriegen, die Emsländer, daß sie hier so ’n Dingsbums von Kraftwerk herumstehen hatten. Wenn sie mich für das Leben in Koblenz entschädigen wollten, hätten sie mir schon etwas mehr bieten müssen.
Auf der Rückfahrt rauften sich der Holzmüller und der Miesowski, und der Busfahrer hielt an und schrie, daß er gleich kommen werde und mitmachen.
Das wär ’ne Schau gewesen!
Im Dritten kam ein französischer Spielfilm über einen Pianisten, und in einer Szene sah man die nackten Brüste von dessen Bettgespielin strotzen. Wohin ich in dem Moment kuckte, blieb den anderen verborgen, weil ich es mir zur Angewohnheit gemacht hatte, Filme abends von einem aus Papas Arbeitszimmer geholten und etwas abseits plazierten Sessel aus anzusehen. Den mußte ich zwar allabendlich ins Arbeitszimmer zurücktragen, aber ich brauchte nicht mehr mit Wiebke um die Sitzordnung auf dem Sofa zu rangeln und hatte freie Sicht auf den Bildschirm.
Zwei unrasierte Berserker von Schnebeck dübelten in der Küche den abgestürzten Hängeschrank an die Wand, was ja wohl auch Zeit wurde. Hauruck! Sie hatten Schneetupfer im Haar und jeder einen Zollstock außen in der Hosentasche, und sie rochen nach Bier.
Eines Tages würde auch ich mir meine Brötchen selber verdienen müssen.
Kein Handwerker werden, das war meine Devise. Bibliothekar, Paläontologe oder Museumsdirektor, aber bitte nicht Handwerker! Tag für Tag die schrillsten Bohrgeräusche zu erzeugen und in anderer Leute Wohnungen lecke Abflußrohre flicken, unter der Anleitung eines Meisters mit Keuchhusten und Kacklaune?
Der letzte Schrei in Meppen war ein Gymnastikkurs für Damen mittleren Alters. Da gingen Mama und Frau Lohmann hin, einmal die Woche, um beim Turnen abzuspecken, bei Klimmzügen und Grätsche.
Michael beehrte mich mit einem neuen Brief, in dem er mir mitteilte, daß die Rodelstrecken alle schön viel Huppel hätten.
Man kann von der Ecke Sebastian-Kneipp-Straße/Josef-Görres-Straße bis runter ins Wambachtal fahren. Holger und ich haben auch versucht, von dem Asphaltweg hinterm Bauernhof runterzukacheln, und wir haben einen tollen Zahn draufbekommen, doch dann hat sich das Verhängnis in Form einer Bodenwelle bemerkbar gemacht, und wir sind beide runtergeflogen vom Schlitten. Batsch! Danach kriegten wir wieder etwas Tempo, aber dann blieben wir in einer Autospur hängen.
Genug geschrieben. Dame: C7 auf D6.
C7 auf D6? Ob das eine taktische Finte war? In meinem Zimmer baute ich das Damefeld neu auf. Den Gegenzug mußte ich mir gut überlegen. Da saß ich in meinem Zimmer auch zur Teestunde noch dran, als Mama mit der Nachricht hereingeplatzt kam, daß ich am letzten Januarwochenende nach Vallendar fahren dürfe, zu Gerlachs: Am Freitag mit Papa hin und am Sonntag zurück mit Olaf in dessen VW-Bus. Das Prozedere müsse aber noch etwas genauer abgesprochen werden mit Michaels Eltern.
Ich dachte, ich werd’ nicht mehr. Nach Vallendar! Und nächste Woche schon! Das war die beste Nachricht meines Lebens!
Mama telefonierte mit Michaels Mutter, und die hatte keine Einwände.
Kaum zu fassen. Das Wambachtal würde ich wiedersehen, in Begleitung von Michael, und wir könnten zum Fernsehturm wandern, wie früher! Oder zur Sporkenburg fahren!
Gegen Gladbach hatten die überheblichen Lauterer auch zuhause keine Chance und steckten drei Treffer ein, ohne Gegentor.
Zum Schutz gegen die Schweinekälte zog ich mir morgens die Kapuze eng über die Birne und schlang mir meinen Schal um den Hals und ums Maul, und trotzdem war ich spätestens am Bahnübergang durchgefroren im Gesicht, und meine Nase fühlte sich an, als ob ich da Hammerschläge draufgekriegt hätte.
Der Holzmüller und der Miesowski hatten sich darauf spezialisiert, Schülern eine zu knallen, die sich die Mütze ausgezogen hatten, von hinten, voll auf die rotgefrorenen Ohren. Auch ich war einmal erwischt worden, und da hatte ich die Englein singen gehört. So als ob meine Ohren aus Porzellan gewesen und in Scherben gegangen wären.
Als der Holzmüller und der Miesowski in Franz beide eine Sechs geschrieben hatten, gönnte ich denen das von Herzen.
Ich selbst hatte nur ’ne Drei minus.
Mama schleifte mich zu einer Elternprotestdemonstration gegen den Unterrichtsausfall, die in der Meppener Innenstadt stattfand. Das sei auch in meinem eigenen Interesse, sagte Mama, denn es müsse ja nun wirklich mal ein Ende haben mit dieser Dauermisere. Ich konnte nur hoffen, daß mich keiner meiner Mitschüler dabei erblickte, wie ich da vorm Meppener Rathaus als Demonstrant für mehr Schulunterricht eintrat.
Am Wochenende wollte Mama Renate in Birkelbach besuchen und telefonierte deswegen mit ihr und war tödlich beleidigt, als Renate ihr sagte, daß sie schon mit Olaf verabredet sei.
»Du und dein Olaf!« rief Mama. »Denkst du überhaupt noch mal an uns? Oder betrachtest du deine Eltern als reine Zahlemänner?«
Papa kam die Kellertreppe hoch, und ich verdrückte mich in mein Zimmer.
»Die Gerlachs haben’s ja wohl nicht so dicke, mit ihren sechs Kindern«, sagte Mama. Sie mußte, weil die Waschmaschine mal wieder kaputt war, alle Sachen von Hand waschen, in der Badewanne. »Und wenn der Vater da nun auch noch arbeitslos ist …« Ich solle mich bloß zurückhalten bei den Mahlzeiten. Und ob ich überhaupt hindürfe, das hänge noch von meinen Noten ab.
Mein Zeugnis war nicht überragend, aber es ging so. Reli 3, Deutsch 2, Geschichte 3, Erdkunde nicht erteilt, Englisch 2, Französisch 3, Mathe 3, Biologie nicht erteilt, Musik nicht erteilt, Kunst nicht erteilt, Werken nicht erteilt, Sport 2.
Wiebke hatte auch nur Zweien und Dreien, bis auf eine Vier in »Sachunterricht«. Was war denn das für ’n Fach?
In dem Reisekoffer, den Mama vom Boden geholte hatte, brachte ich als erstes meinen Fußball unter. Als Geschenk für Michael und dessen Geschwister verstaute Mama eine Dose Quality Street in dem Koffer und eine Packung Pralinés für Michaels Mutter und dazu noch ’ne dicke Salami: »Die gibst du Frau Gerlach«, sagte Mama, »und dann sagst du der, daß das ein Gruß aus dem Emsland ist! Hast du mich verstanden? Was sollst du sagen?«
Im Fernsehen kam an dem Abend zum letzten Mal Der Kommissar, mit Erik Ode in der Hauptrolle. Der hieß eigentlich Odemar mit Nachnamen und hatte den abgekürzt, um nicht mit seinem Vater verwechselt zu werden, Fritz Odemar, der auch ein bekannter Schauspieler gewesen war, in der Stummfilmzeit.
Über alles das wußte Mama Bescheid.
Ganz so schön, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es in Vallendar nicht. Beim Schlittenfahren im Wambachtal bekam ich Eisfüße in meinen Gummistiefeln, und beim Abendbrot traute ich mich kaum irgendwas vom Tisch zu nehmen, weil die Gerlachs so kinderreich und so arm waren. Als ich mir eine Brotschnitte herausgriff, sagte Michaels Vater: »Siehste mal, das sind die wahren Gourmets! Die lassen die Kanten liegen und bedienen sich bei den Filetstücken!«
Von da an suchte ich mir nur noch Kantenstücke raus.
Michael und ich bauten das Damefeld auf, um unser Spiel fortzusetzen. Ich: G3 auf F4. Michael: E5 schägt F4. Weiter kamen wir nicht, weil ich aus Versehen ans Brett stieß, so daß alle Steine verrutschten, und zum Neuaufbauen hatte keiner von uns Lust.
Schlafen durfte ich im selben Zimmer wie Michael, und wir unterhielten uns noch lange über unsere Alten, über die Schule und übers Spurenlesen. Was die Jäger für komische Ausdrücke hätten: Geläuf, Geäfter und Gehörn. Der Vater von einem Mitschüler von Michael war Jäger, daher wußte Michael das. Blut würden die Jäger »Schweiß« nennen, Augen »Lichter«, Ohren »Löffel«, Hufe »Schalen«, Hasenhinterläufe »Sprünge« und Scheiße »Losung«.
Weidmannsdank und Weidmannsheil.
Und das war es dann auch schon. Für die Heimreise, die in Olafs klöterigem VW-Bus vonstatten ging, hatte ich mir von Michael eine der drei Kladden mit seinen Gedichten ausgeliehen.
Ich habe eine Hose,
die hat Löcher große,
doch eine Hose ist sie keine,
denn sie hat nur noch ihre Beine.
Und dazu ’ne Bleistiftzeichnung von einem Trollo mit Fragezeichen über der Birne, der die abgerissenen Beine seiner Hose hochhält.
Geborgt hatte ich mir auch ein Buch mit heiteren Geschichten aus dem Leben des Pechvogels Alfons Zitterbacke. Das war ein Junge, dem in einem fort sein Wellensittich wegflog und volle Kuchenbleche runterfielen. In der Geisterbahn war er mal aus dem Wagen gefallen, und als er Jonglieren geübt hatte, war einer der Bälle bei den Nachbarn durchs offene Küchenfenster in den Suppentopf gesegelt. Den Jungen gebe es wirklich, hatte Michael gesagt.
Daß ich meinen Fußball in Vallendar liegengelassen hatte, fiel mir erst auf, als wir schon auf der Autobahn waren, zwischen Leverkusen und Wuppertal.
Im Achtelfinale des DFB-Pokals hatte Fortuna Düsseldorf Gladbach mit 3:2 abserviert. Das Spiel hätte auch anders enden können, aber das Ergebnis nährte meine Zweifel an Udo Latteks Trainingsmethoden. Mit dem Lattek würde ich bei Gladbach wahrscheinlich noch schwer aneinandergeraten.
Mama rief Tante Therese an und vereinbarte mit ihr einen Besuch zu Ostern. Dann würde auch Volker mitkommen.
Oma Schlosser wiederum lud Mama telefonisch zu einer Reise nach Südwestafrika ein, nach Windhuk, genauer gesagt, in die dreißig Kilometer südlich von Omaruru gelegene Farm von Oma Schlossers Jugendfreundin. Im März wäre das dann. Renate könnte solange in Meppen den Haushalt führen, und für Mama würde sich die einmalige Möglichkeit eines Abstechers nach Tzaneen eröffnen, wo eine Schulfreundin von ihr wohnte.
Ich holte meinen Diercke-Atlas raus.
Die in Südwestafrika wohnende Bekannte hatte Oma seit 1913 nur dreimal wiedergesehen, 1929 und 1953 in Deutschland und dann 1969 in Afrika.
Papa war nicht sonderlich erbaut von der ganzen Angelegenheit, wegen der Terroristen, die sich da im Busch tummelten. Man wisse ja, worauf man sich in der Dritten Welt gefaßt machen müsse. Eben erst waren bei einem Erdbeben in Guatemala mehr als zwanzigtausend Menschen umgekommen.
Ich lud Michael und Holger zu einem Osterferienbesuch nach Meppen ein und versorgte sie mit Auskünften über meine neue Englischlehrerin, Frau Gewonk, die Herrn Rieß vor kurzem abgelöst hatte: Dauerwelle, breites Kreuz und ’ne Brille, die so aussah, als ob die Gewonk die sich verkehrtrum aufgesetzt hätte. Die Bügel verliefen von unten nach oben.
Mama trug sich währenddessen mit dem Gedanken, mich auf das katholische Maristengymnasium zu schicken, weil es da mehr Unterricht gab. Schreck laß nach!
Anfang Februar erhielt ich einen neuen Brief in Schreibmaschinenschrift von Michael.
Lieber Martin!
Zuerst will ich Dich trösten: Uns ist auch sehr langweilig, seit Du weg bist. Denn denkst Du, daß ich stinkend faule Sau aufbreche, um mit meinem Bruder eine Fahrradtour zu machen? Denkste. Nix da.
Und dann muß ich was zu Deinen Ferienplänen sagen: Wir haben keine Pralinen. Auch keine Salami. Und erst recht keine Quality Street. Doch mit Abwasch kann ich dienen. Zur Genüge.
So, jetzt was anderes. Mir ist hundeelend. Mein Kopf dröhnt, meine Mandeln scheinen sich aufgeblasen zu haben, und morgen werden wir ’ne Mathearbeit schreiben. Tja, das Leben ist hart, mein Junge. Mensch, rede ich einen Blödsinn. Das kommt von der Langeweile. Gehirnverkalkung mit Auflösung des Denkvermögens.
Was ist denn mit dem Farbband von der Schreibmaschine los? Alles so dünn hier … außerdem rasselt die so komisch, wenn ich tippe … hoppala, vielleicht liegt’s an dem Hebel da … nxet flab krkst krkrk iwwtofl droch neicht. Siehste, jetzt geht’s wieder. Ich muß nur fester aufdrücken.
So, ich bin gerade aus Konfi wiedergekommen. Das einzige Interessante war, daß die Frischke hier oben ein Sozialheim für Waisenkinder hinknallen will, neben die Kirche. Die armen Kinderchen, die da hinmüssen …
Als wir wieder raufgingen, verstellte uns ein großer Laster den Weg, und wir mußten einen Riesenumweg machen. In der Gartenstadt wollten wir dann per Anhalter weiter. Bald kam auch eine gute Seele und nahm uns bis zur Sprungschanze mit. Dann gingen wir bei Eiseskälte zu Fuß weiter hoch. Meine Ohren tun mir jetzt noch weh, ich hatte nämlich keine Mütze auf.
Und nun müßte ich noch Mathe lernen, aber ich hab beim besten Willen keine Lust dazu. Und einen noch besseren Willen als den, den ich gerade habe, kann ich nicht aufbringen.
Mist, die Schreibmaschine fängt schon wieder so komisch zu rasseln an. Wenn die jetzt draufgeht, bist Du’s schuld, alleine Du! Wenn Du Deinen Brief nicht mit Schreibmaschine geschrieben hättest, dann hätt’ ich meinen auch nicht mit Schreibmaschine geschrieben. Also kannst Du blechen. Du, Du, Du!
O Gott, die Langeweile. Die wird mich noch meine ohnehin schon kaputten Nerven kosten. Und wenn ich die Arbeit verhaue und erfahre, daß Du mir nicht die Daumen gedrückt hast, dann … dann …
Tschö, Dein Michael
Im Englischbuch war ein Plakat aus den USA abgebildet, von 1829: Bei einer Auktion würde es zwölf Sklaven zu kaufen geben, zwischen 14 und 40 Jahren, und außerdem Reis, Bücher, Stoffe und Nähsachen.
»Tjaja«, sagte Volker, »die Amis!« Hatten die Neger versklavt und die Indianer ausgerottet, aber auch die besten Raketen gebaut, von der Sputnik mal abgesehen.
Mittlerweile war es amtlich: Oma Schlosser und Mama würden Ende Februar nach Afrika fliegen. Papa sagte, daß ihn da keine zehn Pferde hinkriegten, und er äußerte sich geringschätzig über Mamas Zigeunerblut.
Wiebke sollte ihre Zöpfe abgeschnitten bekommen und wurde vorher geknipst, von hinten und von vorne, auf der Terrassenmauer und in der Gartenschaukel.
Movie Star, Movie Star, ahaha,
You think you are a Movie Star …
Die Hamsterscheiße aus Pepiks Käfig mußte sie trotzdem noch wegmachen.
Im Fernsehen kam nur Käse. Olympische Winterspiele: Biathlon, Eiskunstlauf und Zweierbob. Wen das wohl interessierte, ob da zwei Bobfahrer ’ne Hundertstelsekunde schneller gewesen waren als die Bobfahrer davor.
Beim Elternsprechtag hatte Mama mit dem Schlüter über mich geredet. Der habe sich dahingehend geäußert, daß mir ein Schlüsselerlebnis fehle.
Schlüsselerlebnis? Wie bitte? Was? Der Schlüter machte sich Gedanken über mich und meine Erlebnisse?
Gegen den neuen Tabellenzweiten HSV holte Gladbach nur ein Unentschieden heraus, hatte aber fünf Punkte Vorsprung.
Vom Spielfeldrand aus feuerte Uli Möller uns an, als ob wir nicht die C-Jugend des SV Meppen gewesen wären, sondern die erste Mannschaft von Lokomotive Leipzig oder Partisan Belgrad.
»Sauber!«
»Geh, geh, geh!«
»Und Flügelwechsel!«
»Den kriegst du noch!«
»Ecke! Das war Ecke, Schiri!«
»Glübi, Achtung! Hintermann!«
»Wo sind wir denn hier? In der Villa Kunterbunt?«
»Los, los, los, ihr lahmen Scheißer! Alles nach vorne jetzt!«
»Mann, nun spiel doch endlich ab, du Blindfisch! Didi steht frei!«
Zwischendurch stieß Uli Möller martialische Pfiffe aus, mit Daumen und Mittelfinger in den Mundwinkeln, und als Glübi mir im Strafraum einen riskanten Paß zuspielte, schien Uli Möller einmal fast einem Herzinfarkt zu erliegen.
Am Montag wies der Schlüter mir einen neuen Platz in der Klasse zu, neben dem Gerdes. Dessen Vater war Maurer. Geschwister hatte der Gerdes auch drei: eine ältere Schwester, einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Genau wie ich. Mit dem verstand ich mich auf Anhieb gut.
Statt meine Briefe mit der Hand zu schreiben, setzte ich mich immer öfter in Papas Arbeitszimmer an Mamas Schreibmaschine. Ein Papier einspannen, die Walze drehen, und los ging’s. Zwei-Finger-Adler-Suchsystem. Ort und Datum oben rechts, und dann die Anrede links (»Liebes Marzipanschwein!«).
»Hack nicht so auf der guten Maschine rum!« rief Mama aus dem Wohnzimmer rüber, wo sie am Staubsaugen war, unter den Heizkörpern und auch unter den Sesseln, die dafür umständlich verschoben werden mußten.
Mein neuer Damezug: H2 schlägt G3.
Den Tee, den ich mir selber braute, gab es in Blechbüchsen bei Comet zu kaufen. Sir Winston Finest Broken Orange Pekoe. Einmal rammte ich da beim Hineingehen aus Versehen einem kleinen Mädchen hinter mir das Drehkreuz an den Dassel. Das Mädchen heulte los, und der Vater blaffte mich an: »Können Sie denn nicht aufpassen?«
Walther liebte sein Leben, war meist unbeschwert,
und wenn er mal was machte, machte er’s meist verkehrt …
Aber immerhin: Der Mann hatte mich gesiezt.
In einem dreieinhalbstündigen Monumentalfilm konnte man sehen, wie Deserteure aus der Armee, mit der Napoleon Rußland erobern wollte, füsiliert wurden. Da gab es kein Pardon, und wenn sie noch so heulten und jammerten. Die wurden an die Wand gestellt und abgeknallt: »Feuer!«
Mit seinem Rußlandfeldzug war Napoleon gescheitert. Was hatte der da überhaupt gewollt? Hätte er die Russen nicht in Ruhe lassen können? Wenn man im Diercke-Atlas Frankreich mit Rußland verglich, ging einem auf, wie unsinnig der Angriff gewesen war. Oder Deutschland später: Ein Pipiländchen wie unseres attackiert ein dreihundertmal so großes! Kein Wunder, daß wir den Zweiten Weltkrieg verloren hatten.
In Konfi ritt Pastor Böker auf Septuagesimä, Sexagesimä und Pentateuch herum, bis man’s nicht mehr hören konnte, und im Training verstauchte ich mir den linken Fuß. Meinen guten. Ich humpelte in die Kabine, setzte mich, entknotete das Schnürband und zog vorsichtig den Schuh aus.
War das Gelenk geschwollen? Verdickt?
Mama und Papa hatten abends wieder einmal Gäste. Das mußte Mama irgendwie durchgeboxt haben. Drei Dödel von der E-Stelle mit ihren weiblichen Ehefregatten, und alle waren im Wohnzimmer wie die Schlote am Qualmen und Salzstangenfressen. Salzstangen kaufte Mama sonst nie.
Im Zweiten fing eine neue Serie an, mit einem Rechtsanwalt, der am Wüstenrand in einem Wohnwagen hauste und sich gleich in seinem ersten großen Fall mit dem Sheriff und dem Staatsanwalt anlegte. Petrocelli. Mama fand den gut, und damit war die Frage, welches Programm wir in den nächsten Wochen freitagabends einschalten würden, entschieden.
Um Renate einzuschärfen, was sie für die Haushaltsführung wissen mußte, fuhr Mama nach Birkelbach, während Gladbach im Duisburger Wedaustadion in der 27. Minute durch ein Tor von Allan Simonsen in Führung ging, aber Bernard Dietz und Ronald Worm sicherten Duisburg einen Halbzeitstand von 2:1. Den Ausgleich erzielte Rainer Bonhof in der 71. Minute durch einen Foulelfmeter, und kurz vorm Abpfiff schlug ein Spieler zu, dessen Torgefährlichkeit die Zebras leichtfertigerweise unterschätzt hatten: Berti Vogts! Vielleicht war das der Treffer, der Gladbach am Ende die Meisterschaft bescherte, wenn es noch einmal eng werden sollte.
Menschenskinder, dachte ich. Wie klasse Berti Vogts sich jetzt wohl fühlte! Und Papa brüllte: »Bring das Scheißfahrrad nach unten!«
Am Sonntagnachmittag kam Mama wieder, kochte Tee und servierte Butterkuchen dazu. In Birkelbach, erzählte sie, habe sie sich »den Jokus erlaubt«, an einem Tanzvergnügen in Renates Landfrauenschule teilzunehmen. »Wann komm’ ich als vielbeschäftigte Hausfrau sonst schon mal zum Tanzen?« Mit Papa, dem alten Muffkopp, sei das ja leider nicht möglich. Hier mal auszugehen am Wochenende, daß man mal so ’n bißchen unter die Leute komme – Pustekuchen!
Schön sei das gewesen. Erfrischend. Mal was anderes als der ewige Haushaltstrott. »Die Männer allesamt Soldaten, von der Luftwaffe, und einer hat mich rumgewirbelt, da wär mir bald schlecht geworden«, sagte Mama. »Zum Schluß wär das noch fast zum Remmidemmi ausgeartet, aber irgendwann ist Zapfenstreich gewesen. Die führen da ein eisenhartes Regiment in Renates Schule, und das ist auch bitter nötig! Wenn die das nicht täten – da möcht’ ich lieber nicht dran denken, was da alles vorkommen würde …«
Um sechs rief Oma Jever an und bekniete Mama telefonisch, sich die Reise nach Südwestafrika aus dem Kopf zu schlagen. Erst letzte Woche hätten angolanische Terroristen ein deutsches Farmerehepaar ermordet.
Den neuen Damezug hatte Michael ganz am Ende eines Briefs untergebracht, den ich am Montagmittag erhielt.
Heißassa!
Da bin ich wieder, mit den allerneuesten Nachrichten! Hier passiert wie immer das Übliche – nüscht. Wenn ich zu Hause bin, mache ich Hausaufgaben, spiele ein bißchen Geige, glupsche fern und langweile mich. Das ist überhaupt meine Lieblingsbeschäftigung.
Unserm Jakob haben wir ein neues Klettergerüst gekauft. Anscheinend hat er sich daran gewöhnt, im Gegensatz zu mir – das Ding stinkt nämlich bestialisch. Uääh, das haste noch nicht gerochen. So richtig nach verfaulter, alter Wellensittichkacke, so als ob wir nicht die ersten Besitzer wären. Dabei hat’s uns 11 harte DM gekostet. Und zu alledem hat es noch einen Riesenriß in der Seite. Jaja, so läßt man sich verscheißern.
Ob ich in den Osterferien Zeit habe? Sicher doch. Aber ob ich dann wegkann und darf, das steht auf einem anderen Blatt. Ich habe meine Mutter nämlich schon gefragt, und irgendwie hat’s der nicht so gefallen. Das wäre zuviel Arbeit für Deine Mutter und so. Du bist ja schließlich auch ohne Bruder hergekommen, aber wir kämen zu zweit. Ich und der Holger hätten allerdings nichts dagegen, Meppen zu erkunden.
Jetzt aber endlich zu meinem vernichtenden Damezug, der das Spielfeld in eine Trümmerlandschaft verwandeln wird … F6 auf G5.
Scheißkerl! Faule Taktiken anwenden! Drecksack! Buhää!
Ich hatte es geahnt, daß Michael meinen Tricks in Dame nicht gewachsen war. Jetzt hatte ich ihn in der Zange.
In dem Umschlag steckte auch wieder ein Brief von Holger.
Hallöchen!
Hast Du es gut! Du sitzt zuhause und langweilst Dich, weil Du nichts zu tun hast. Ich wäre froh, wenn ich nichts zu tun hätte. Wäre das schön, sich zu langweilen und mal richtig auszuspannen! Mein Tagesplan sieht anders aus:
07h00–07h49 Busfahrt (diese Strapaze kennst Du ja!)
07h50–13h10 Schule (reiher, kotz)
13h25–14h00 Bus
14h01–14h30 Essen
14h31–17h00 Versuch, die Hausaufgaben hinauszuschieben
17h01–17h05 Hausaufgaben
17h06–18h30 Musikhören
18h31–19h00 Essen
19h01–22h00 Fernsehzwang
22h01–03h00 Musikhören
03h01–05h00 Pennen
05h01–06h59 Aufstehen
Jede Sekunde ist ausgefüllt, keine Zehntelsekunde Zeit zum Ausruhen. Ist das ein beschissenes Leben! Gut hast Du es!
Für diesen Brief mußte ich 99,86 Sekunden von meinen Hausaufgaben abknapsen. (Du Schwein.)
Tschüß, Holgerli!
Ja, die Busfahrten morgens und mittags, vom Mallendarer Berg nach Koblenz und zurück, die waren kein Zuckerlecken, aber ich hätte trotzdem lieber jeden Morgen mit Michael und Holger ’ne halbe Stunde lang im Bus am Rhein im Stau gesteckt als hier allein in Meppen.
Als das Moped endlich betriebsbereit in der Garageneinfahrt stand, stülpte Volker sich seinen schon vor langer Zeit erworbenen Sturzhelm über und brauste los. Wrumm, wrumm, spotz, spotz! Und warum auch nicht? Wenn es Volker gefiel, mit einem Vehikel aus der Kreidezeit von A nach B zu pöttern?
Zu meinem Leidwesen kriegten wir jetzt doch noch Erdkunde und Physik. Damit waren’s 26 Wochenstunden.
In Erde ging es um die Steuerung der Raumerschließung in den USA und in der UdSSR. Die Russen müßten sich mit Dauerfrostböden abplagen: Tundra und Taiga. Bleicherde und Schwarzerde.
Physik war mir schon in der ersten Stunde so unverständlich wie sonst nur Mathe. Ein Körper würde sich gleichförmig bewegen, wenn er stets in gleichen Zeiten gleiche Wege gehe …
Der Weg s ist dann der Zeit t proportional: s ~ t. Unter der Geschwindigkeit v dieser gleichförmigen Bewegung versteht man den konstanten Quotienten aus der Wegstrecke s und der Zeit t:v = s/t.
Alles klar?
Aus meinen alten Fußballschuhen war ich herausgewachsen, und ich quengelte um neue. Von Puma sollten sie sein, mit Schraubstollen, aber Mama fiel fast in Ohnmacht, als sie die Preisschilder sah, und ich kriegte wieder nur billige Bunken mit Gummistollen.
Von Michael und Holger wollte ich wissen, wie es mit dem Zelten in den Sommerferien wäre. Wir drei und dazu noch Volker und Harald? Auf einem Campingplatz mit Badesee? Das hätte ich mir lustig vorgestellt. Morgens im See schwimmen, statt sich zu waschen, Radtouren unternehmen, den ganzen Tag nur Erdnüsse futtern und sich abends Spiegeleier braten.
Muhammad Ali war abermals herausgefordert worden, von einem gewissen Jean-Pierre Coopman. Von dem hatte ich vorher noch nie was gehört. Auf deutsch bedeutete dessen Name ungefähr soviel wie: Hans-Peter Kaufmann. Da wollte sich also ein Nobody namens Hans-Peter Kaufmann mit Muhammad Ali messen! Wohl nicht mehr alle Latten am Zaun?
Den Kampf hätte ich sogar sehen dürfen, weil er am schulfreien Samstag übertragen wurde, frühmorgens, aus Puerto Rico, aber als der Wecker mich um zehn vor vier aus dem Schlaf riß, überlegte ich’s mir anders. Wenn der Herausforderer George Foreman geheißen hätte, gut, oder Joe Frazier, dann hätte ich mir vielleicht einen Ruck gegeben …
In den Morgennachrichten hörte ich, daß Coopman von Ali k.o. geschlagen worden war. Tja. Morgens um sieben war die Welt noch in Ordnung.
Aus den Fugen geriet sie erst am Nachmittag: Innerhalb von zwei Minuten verwandelten Horst Hrubesch und Werner Lorant Gladbachs frühe Führung gegen Rot-Weiß Essen in einen Rückstand, und dabei blieb’s. Eine Heimniederlage! Das war eine kalte Dusche, die an Gladbachs Nimbus der Unbesiegbarkeit kratzte. Falls Duschen an Nimbussen kratzen konnten.
Ich saß am Klavier und pingelte mir da was zusammen (»An der Saale hellem Strande«), als Mama reinkam, um mich ins Gebet zu nehmen: Ob sie mich bei der Musikschule anmelden solle? Dann müsse ich aber auch regelmäßig üben. »Hörst du?«
Pastor Böker stellte klar, daß die Konfirmation die Erneuerung eines uns bereits als Täuflingen gegebenen Versprechens sei: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.«
Durfte man als Christ denn nicht sich selbst gehören? Mir reichte es schon, ständig von Papa in den Garten gepfiffen zu werden, und nun sollte ich auch noch einem Gott gehorchen, der jederzeit sein Copyright an mir geltend machen konnte.
Oma Schlosser rief an. Sie habe einen Brief von ihrer Freundin aus Südwestafrika gekriegt: Nahebei habe ein Guerilla-Überfall stattgefunden, eine weiße Farmerfamilie sei ermordet worden, und die Gegend sei wohl doch zu unsicher für Touristen.
Die Reise wurde abgeblasen.
Mama rief Renate an: »Hast du schon gepackt? Aha. Dann pack mal wieder aus. Deine Mama bleibt hier!«
Sie rief auch in Afrika an, bei der Familie der Freundin von Oma, und auf einmal sah alles gar nicht mehr so dramatisch aus. In einem Telefonat mit Oma Schlosser sprach Mama ihr wieder Mut zu der Reise zu, und Oma lenkte ein. Dann rief Mama noch einmal Renate an: »Kommando zurück! Wir fliegen doch! Schöner Schreck in der Abendstunde, nicht?«
Renate konnte allerdings erst am Aschermittwoch nach Meppen kommen, weil sie nach der Birkelbachzeit noch zu ihrem Abgott Olaf hinwollte.
Bei Mamas Abreise lag Meppen in dichtem Nebel, und Mama bangte um die schöne Vogelperspektive, die sie vom Flugzeug aus haben würde. Geflogen war sie vorher noch nie. In Düsseldorf würde Onkel Jürgen Mama und Oma zum Flughafen bringen.
»Hals- und Beinbruch!« rief Papa Mama vom Bahnsteig aus nach und holte ein Taschentuch raus, um ihr damit hinterherzuwinken.
Von Zürich würden Mama und Oma mit South African Airlines nach Windhuk fliegen, und da sollten sie abgeholt werden.
Eintausendneunhundertundvier Mark pro Nase kosteten Hin- und Rückflug.
»Und ich bin jetzt Strohwitwer«, sagte Papa.
In der EM-Qualifikation zermalmten wir Malta mit 8:0. Ich spitzte mich auch schon auf die WM ’78, obwohl die Jahreszahl noch so klang wie der Titel eines irren Zukunftsromans. 1978! Moderner würde es überhaupt nicht mehr gehen, oder frühestens im Jahr 2000, mit Küchenrobotern, fliegenden Autos und Wolkenkratzern aus Plastik oder Aluminium oder irgendwelchen Rohstoffen vom Neptun. Und mit Bildungspillen, die man nur zu schlucken brauchte, und schon würde man perfekt Chinesisch sprechen.
Als ob man auf ’ner Zeitreise wäre. Die Jahreszahl 1976 hatte ich so halb und halb verkraftet, aber auf 1977 würde ich mich nicht mehr einstellen können, und auf 1978 und alles, was danach noch kommen sollte, war ich nicht genügend vorbereitet. Meiner einer, hätte Bugs Bunny gesagt, wäre lieber in das Jahr 1971 oder meinetwegen 1966 zurückgekehrt, um das noch einmal auszukosten.
1976 war ein Schaltjahr. Eine Tochter von Onkel Dietrich – welche, hatte ich vergessen – war am 29. Februar geboren worden und konnte deshalb nur alle vier Jahre richtig Geburtstag feiern.
Papa erlaubte mir, mit dem Rad nach Rütenbrock zu fahren, wo ich Hermann Gerdes besuchen wollte, und ich durfte da auch übernachten.
Von Meppen nach Rütenbrock, das waren dreißig Kilometer. Nach dem Sonntagsfrühstück stratzte ich los, guten Mutes, mit drei Bechern Kaba und sieben Erdbeermarmeladentoasts im Bauch.
Bis Haren hatte ich Rückenwind. Ab dann ging’s schwerer, an einem Kanal entlang, wo mir der Wind ins Gesicht blies und ich oft im Stehen fahren mußte, Kilometer um Kilometer.
Hermann Gerdes wohnte im letzten Haus in der Kanalstraße. Da bekam ich gleich die fette Sau gezeigt, die denen gehörte und in deren Stall es so gottsjämmerlich stank, daß ich fast umgekippt wäre.
»Junge«, sagte Hermann, »du bist nichts gewohnt!«
Zu Mittag gab’s erst Hühnersuppe und dann Hähnchen mit Kartoffeln und Rotkohl. Hähnchen mit Kartoffeln, das leuchtete mir ja noch ein, aber Rotkohl? Um Hermanns Mutter nicht zu kränken, würgte ich den Rotkohl runter und riß mich zusammen, um ihr den nicht auf den Tisch zu kotzen, denn von Rotkohl wurde mir speiübel. Schon von dem Geruch allein.
Als ich den Fraß endlich verdrückt hatte, bot Frau Gerdes mir einen Nachschlag an. Wie hätte ich den abwehren sollen?
Überm Eßtisch hing ein Klebestreifen von der Decke runter, mit toten und sterbenden Stubenfliegen, die sich in dem Leim verfangen hatten.
Eigenartig war auch, daß sich am Eßtisch alle bekreuzigten.
Nachmittags zeigte Hermann mir die Ruine einer alten, schon vor Jahren stillgelegten Ziegelei. Da konnte man die letzten heilen Fensterscheiben und Dachziegel mit Steinen zerschmeißen.
Aus der Hosentasche holte Hermann ein Feuerzeug raus, doch unser Versuch, im Schatten der Ziegelei ein Lagerfeuer zu entfachen, mißlang.
Am Kanal lieferten wir uns ein Kämpfchen, und Hermann erzählte mir vom Buhkeeler: Das sei ein Ungeheuer, das den Kanal bewohne, so ähnlich wie das von Loch Ness, und wenn ein Kind dem Kanal zu nahe komme, werde es vom Buhkeeler erbeutet und aufgefuttert.
Ulkig an dem Haus von Hermanns Eltern war die Existenz eines zweiten Wohnzimmers, das sie nur an den höchsten Feiertagen benutzten. Da war alles am vornehmsten eingerichtet, aber sie setzten sich nur drei- oder viermal im Jahr hinein. »Die kalte Pracht«, so hieß das.
So sei das nun mal bei den Katholiken, sagte Volker, die hätten eben den einen oder anderen Spleen, und Papa schrie: »Bring das verdammte Fahrrad runter!«
Am Frühstückstisch erschien Wiebke mit aufgemaltem Clownsgesicht und Pappnase. »Wetten, daß du die einzige bist, die so doof beschmiert zur Schule geht?« fragte ich sie, und da fing sie zu heulen an, und Volker sagte, daß ich ein Blödian sei.
Dabei hatte ich doch nur ’n kleinen Witz machen wollen. Mußte die denn jeden Mist so gräßlich ernstnehmen? Obwohl ich ihr mal ’n Eis ausgegeben hatte?
Mittags kochte Papa uns Milchnudeln, und im Viertelfinale des Europapokals der Pokalsieger unterlag Sturm Graz Eintracht Frankfurt mit 0:2.
Auch am Aschermittwoch kochte Papa wieder Milchnudeln, die allerdings anbrannten, und es war gut, daß um drei Uhr Renate kam, mit Olaf, um die Regie zu übernehmen. Beim Rühreizubereiten knabberte Olaf an Renates Ohrläppchen, und er faßte ihr unter die Bluse, aber das Bett mußte Renate ihm in einem anderen Zimmer beziehen als in ihrem eigenen alten.
In Birkelbach, sagte Renate, gebe es eine Telefonzelle, mit der stimme irgendwas nicht: »Da braucht man bloß den Hörer abzunehmen, und dann kann man telefonieren, ohne Geld einzuwerfen.« Da seien dann natürlich immer alle hingerannt. »Aber das ist Schnee von gestern! Jetzt freu ich mich, daß die Birkelbachzeit um ist. Ewig will ich ja auch nicht in Maidentracht rumlaufen und Fußböden scheuern und Baumkuchen grillen!« Die hätten noch nicht mal geschmeckt, die blöden Baumkuchen. Und dafür der ganze Aufwand! Ach ja, und ’ne Freundin von ihr, die habe sich da vor ’n paar Tagen aus dem Fenster stürzen wollen, aus Liebeskummer. Völlig aufgelöst sei die gewesen. Das heulende Elend.
Dann mußte Renate plötzlich noch ’ne Schnittchenplatte machen, weil Papa Besuch kriegte von zwei E-Stellen-Heinis, und obwohl Papa in seinem Arbeitszimmer zwei Sessel stehen hatte, für Besucher, pflanzte er sich mit den Leuten ins Wohnzimmer, so daß ich nicht im Fernsehen kucken konnte, wie sich Gladbach im Europapokal schlug. Ich mußte mit der Radioübertragung vorliebnehmen, oben in meinem Zimmer.
Den mit Netzer und Breitner angetretenen Madrilenen kloppte Gladbach in der ersten Halbzeit zwei Tore rein. Sekunden vor dem Halbzeitpfiff glückte den »Königlichen« der Anschlußtreffer und in der zweiten Halbzeit der Ausgleich. 2:2.
Das Spiel Benfica Lissabon – Bayern München endete 0:0.
In jeder großen Pause ging ich zuallererst zum Aushang der Vertretungspläne. Vielleicht hatte man ja mal Glück. Und siehe da, der Schlüter war erkrankt: Franz fiel aus, auch Erde war gestrichen, und die gesamte Klasse durfte nachhause!
Renate bereitete Pasta asciutta zu, mit Nudeln und Salat, und Olaf schälte Birnen für den Obstquarknachtisch.
»Warum rülpset und furzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmecket?«
Das hatte Luther mal gesagt, angeblich, zu seinen Tischgästen.
Nach dem Essen mußten Volker und ich Renate Töpfe spülen helfen, und Wiebke sollte den vollen Komposteimer nach draußen bringen. Das gab’s bei Mama nicht, daß die uns zum Küchendienst heranzog. Hinterrücks mischte sich auf einmal auch Papa noch ein: »Nicht mit der scharfen Schwammseite! Davon kriegt der Pott nur Kratzer!«
Konnte mir vielleicht mal endlich jemand erklären, wozu die scharfe Schwammseite gut war?
Im Training spielten wir gegen die D-Jugend und verloren mit 1:2. Blamabel! Mehrere Male hatte mich einer der Knirpse ausgedribbelt, und der zweite Treffer ging ganz allein auf mein Konto.
Hermanns Eltern hatten ihm erlaubt, nach der Schule auch mal bei uns zu bleiben, bis abends. Ich wollte Hermann auf dem Gepäckträger mitnehmen, aber das führte zu nichts. Da eierten wie nur rum wie zwei Irrenhäusler. Also schob ich mein Rad, und Hermann ging nebenher.
Zu seinem Erstaunen lagen an dem Tag zwei Postsendungen für mich bereit. Der eine Brief stammte von Tante Dagmar, mit einer Seite aus einem Katalog. Die Armbanduhr, die mir am besten gefalle, solle ich ankreuzen, schrieb Tante Dagmar, und ihr die Seite zurückschicken. Dann würde ich die Uhr meiner Wahl zur Konfirmation kriegen. Der andere Brief war mir von einer Firma zugesandt worden, die berufliche Fortbildungskurse anbot. Ich hatte da, nur um Post zu erhalten, Informationsmaterial bestellt. Zu was man sich so alles umschulen lassen könne: Dreher, Setzer, Stenograph …
Hermann war baff, denn er hatte noch nie in seinem Leben von irgendwem Post gekriegt. »Wie, wie, wie? Du kommst von der Schule nachhause, und da liegen zwei Briefe? Nur für dich?« Er schien das überhaupt nicht begreifen zu können, aber so sensationell war das ja nun auch wieder nicht, wenn man eine weit entfernt wohnende Patentante hatte, die einem was zur Konfirmation schenken wollte, und wenn man sich außerdem aus unstillbarer Gier nach Post um die Zusendung von Broschüren beworben hatte. Es gab Tage, da kriegte Papa weniger Post als ich.
»Ist nicht wahr«, sagte Hermann. »Ist nicht wahr!«
Beim Mittagessen, zu dem Papa nicht erschien, weil er wegen irgendwelcher Machenschaften auf der E-Stelle verhindert war, taten wir uns an den Überbleibseln der Pasta asciutta gütlich. Zum Nachtisch deckte Renate Nußcreme auf, und Hermann rief, als er seinen Teller ausgekratzt hatte: »Das war göttlich! Von Schweizer Küchenchefs empfohlen!«
Wir schmissen unsere Kohle zusammen, spazierten zu Comet und kauften uns Brötchen, zehn Stück für 79 Pfennig, und nachdem wir die Brötchen aufgefressen hatten, gab’s zum Tee auf der Terrasse noch Berliner. Für jeden zwei. Die hatte Olaf spendiert.
Hermann wunderte sich auch über die Menge unserer Kinderbücher: So viele habe er noch nie auf einem Haufen gesehen. Dabei waren das, wie ich fand, viel zu wenige. Die waren doch nur ’n Klacks. Ich hätte gern noch zehntausend mehr gehabt von der Sorte.
»Deiner Schwester kannst du von mir bestellen, daß sie dufte kocht«, sagte Hermann, als er abends in den Bus stieg.
Beim Kuchenbacken hatte Renate sich Eigelb auf die Bluse gekleckert und versuchte nun, das mit Gardinenweiß wieder rauszuwaschen. Eine Weile sah ich Renate dabei zu, und dann sagte sie: »Hast du nichts besseres zu tun, als anderen Leuten bei der Arbeit zuzukucken, du Kicheronkel vom Dienst? Mußt du nicht noch Hausaufgaben machen?« O doch, das mußte ich. In Englisch, in Deutsch und in Franz.
Une interview. Un reporter vous pose quelques questions. Lisez les questions et complétez-les.
Interviewt werden und dann noch die Fragen selber vervollständigen müssen, das war ja geradezu paradox.
Von den Uhren, die Tante Dagmar mir vorgeschlagen hatte, suchte ich mir eine wasserdichte und stoßfeste aus, mit Datumsanzeige und Leuchtziffern. Seit ich in Koblenz meine alte Armbanduhr im Hallenbad an der Mosel verbummelt hatte, war ich ohne Uhr ausgekommen.
Die ZVS schickte Renate einen Brief, in dem stand, daß sie einen Studienplatz in Bielefeld habe, für das Lehramt der Primarstufe, Fächer Mathematik und Deutsch. Nun fehlte bloß noch, daß auch Olaf einen Studienplatz in Bielefeld kriegte.
Den SV Eltern schlugen wir mit 3:0, und Uli Möller bollerte einen Karton mit Teilchen in die Kabine: »Männer! Bedient euch! Heute habt ihr Geschichte geschrieben, ihr Spastiker! Stolz könnt ihr sein!«
Leider aber hatte Gladbach in Bochum zwei Punkte verloren, und es fiel wieder dicker Schnee.
»Und Mama hockt bei den Hottentotten«, sagte Papa und verleibte sich ein Leberwurstbrot ein, im Wohnzimmer, wo um kurz nach elf ein Film mit James Stewart anfing, der einen vom Pech verfolgten Kopfgeldjäger spielte: Es gelang ihm zwar, einen Mörder zu schnappen, auf dessen Kopf fünftausend Dollar ausgesetzt waren, aber dann wurde James Stewart bei einer Schießerei mit Schwarzfußindianern verwundet, und als der Mörder bei einem Fluchtversuch draufgegangen war, konnte James Stewart aus Mitleid mit der Geliebten des Mörders nicht einmal die Prämie für dessen Leiche kassieren. Stattdessen schaufelte er ihm ein Grab.
»Und ewig singen die Wälder«, sagte Papa.
Als ich im Bett lag, mit geputzten Zähnen, hörte ich, wie sich Olaf in Renates Zimmer schlich. Da war Papa bereits am Ratzen.
Aber dann am Morgen: Schneeschippen! Ach du liebe Scheiße! Und als ich mich beim Mittagessen einmal kurz mit dem linken Ellenbogen auf dem Tisch abstützte, fauchte Papa mich an: »Nimm die Knochen runter!«
Zum Nachtisch gab es Diplomatencreme.
Olaf mußte abreisen, und Renate buk Berliner, heulend, und zwei davon packte sie ein. Die wollte sie Olaf per Paketpost zusenden, zum Trost. Renate und ihr Olaf, das war wie so ’n Fortsetzungsroman.
Um kurz nach sechs rief Oma Jever an, die neugierig war, ob wir schon ein Lebenszeichen von Mama vernommen hätten, und so gegen neune meldete sich Olaf, und Renate kam aus der Waschküche zum Hörer galoppiert.
Ja, ja, ja, ja,
Weißt nicht, wie gut ich dir bin.
An den Fotos von den nackten Nubierinnen hatte ich mich inzwischen so ziemlich sattgesehen, aber ich brachte es nicht übers Herz, die Ausgabe wegzuschmeißen, bevor ein ebenbürtiger Nachschub unter Dach und Fach war. Dieser alte Stern gammelte also weiter oben auf Wiebkes Kleiderschrank herum.
Morgens mußte Papa in der Garageneinfahrt das Eis von der Windschutzscheibe kratzen. In der Garage selbst war ja kein Platz für den Peugeot. Die war vollgestopft mit Brettern, Eimern und Gedöns.
Wenn man bei Zitaten die Gänsefüßchen vorne unten statt oben hinsetzte, so wie in gedruckter Schrift, sah das eindeutig besser aus, fand ich, doch der Wolfert strich mir das bei einer Deutscharbeit als Fehler an, der Arsch.
Und dann waren wieder die Bahnschranken unten, und es war noch immer kein Brief von Mama eingetroffen.
In der Musikschule kriegte ich Unterricht bei einem Herrn Radowski, der nur gebrochenes Deutsch sprach. Mitte dreißig, Vollbart und Nickelbrille. Ob der aus Albanien stammte? Oder aus der Tschechoslowakei?
Ich hatte die Noten vom »Türkischen Marsch« dabei, um meine Künste zu demonstrieren, aber der Radowski ließ mich das Stück nicht zu Ende spielen. Zur nächsten Stunde, sagte er, solle ich die »Zweistimmigen Inventionen« von Bach mitbringen, und er schrieb mir die Adresse eines Menschen auf, bei dem ich diese Noten kaufen könne. Irgendwo in Nödike.
In Mamas erstem Brief aus Afrika stand, daß man da abends im Dunkeln sitze, ohne Musik, bei verrammelten Türen und mit Schießprügeln in Reichweite, wegen der Gefahr, von Terroristen angegriffen zu werden.
»Da haben wir’s hier aber gemütlicher«, sagte Renate.
Aus einem meiner Fußballbücher wußte ich, daß die Boeing, mit der Mama und Oma Schlosser geflogen waren, die gleiche Nummer hatte wie die, mit der die deutsche Nationalmannschaft bei der WM ’74 nach dem Halbfinale von Frankfurt nach München gedüst war. Vielleicht hatte Mama auf dem Platz von Gerd Müller gesessen. Und Oma auf dem von Sepp Maier! Das hätte ich gern genauer gewußt.
Papa hatte, ohne mich um meine Zustimmung zu bitten, einen Zahnarzttermin für mich ausbaldowert: 9. 3., 16.45 Uhr, Praxis Dr. Kusenbrecher. Alle halbe Jahre müsse halt mal nachgesehen werden. Renate, die an einem kariösen Weisheitszahn litt, kam mit, und der Zahnarzt stemmte ihr ohne Betäubung den halben Rachen auf.
Bei mir lag gottseidank nichts vor. Allerdings hielt mir der Zahnarzt einen kleinen Fetzen Kopfsalat vor die Nase, den er aus meinem Gebiß gepolkt hatte. Mund ausspülen, Kittel ab, raus und sich vornehmen, beim Zähneputzen in Zukunft gründlicher vorzugehen.
Bei Ceka kaufte Renate sich danach das neue Asterixheft. Da schenkte Cäsar einem versoffenen alten Legionär das gallische Dorf, und der verkaufte es für ein Glas Wein an einen Kneipier, der sich dann dort niederließ und versuchte, mit allen Einwohnern gut auszukommen, auch mit Verleihnix, dessen stinkende Fische er hinterm Haus im Garten verbuddelte. Skeptisch blieb nur der alte Methusalix: »Mich stören Fremde nicht, solange sie bleiben, wo sie hingehören. Wenn sie aber kommen, hab’ ich keine Lust, zu ihnen zu gehören!« Es gab auch noch eine große Klopperei zwischen Galliern und Römern, und ein römischer Offizier sagte danach: »Sehr fein, Legionär Hochgenus! Feg das hier zusammen, und dann Schwamm drüber!«
Abends rief Oma Jever wieder an: Sie und Opa hätten einen Brief von Mama vorgefunden und den mit großer Freude und heißem Interesse gelesen! Und wie schön es doch sei, daß Mama nun mal richtig rauskomme aus ihrem Haushalt! Sie selbst, also Oma, sei immer noch bei Tante Doktor in Behandlung, weil das Herz nicht kräftig genug arbeite, Gustav büffele oft bis in die Nacht, und was Omaruru betreffe, unter diesem Namen werde demnächst eine Fernsehserie gedreht, ob wir das schon wüßten? Mit Katinka Hoffmann in der Hauptrolle. Der Bruder von der lebe auf einer Farm im südlichen Afrika …
Im Fach Chemie, das nun leider ebenfalls erteilt wurde, von einem alten, aus dem Ruhestand zurückgeholten Pensionär, lernte ich die Eigenschaften von Sauerstoff und Stickstoff kennen und in Physik die Kräfte und Geschwindigkeiten als Vektorgrößen. Was eine Vektorgröße war, konnte ich mir aber höchstens eine Minute lang merken; dann war alles wieder weg.
Beim Belenus!
Mama hatte jedem von uns eine Ansichtspostkarte geschickt.
Lieber Martin, rate mal, wen ich nächste Woche kennenlerne: einen christlichen Herero-Häuptling, der hier großes Ansehen genießt. Die anderen Schwarzen gehören entweder zu den Hereros, zu den Ovambos oder Namas. Auch Mischlinge gibt es viele, die heißen auf africaans basters. Viele Grüße, Deine Mama!
Basters, das klang unschön. Fast wie Bastarde. Wie es denen da wohl ging, den Mischlingen in Südwestafrika? Krauchten wahrscheinlich auf Müllkippen rum, ausgemergelt, Fliegen im Gesicht und Baby auf’m Buckel, und sie litten an Malaria und hatten Hungerödeme, und die weiße Oberschicht pellte sich da ’n Ei drauf.
Abends telefonierte Renate tierisch lange mit Olaf, und dann fing im Ersten eine neue Krimiserie an, mit James Garner. Wenn der angerufen wurde und schlief oder nicht zuhause war, setzte sich bei dem automatisch ein Band mit seiner Stimme in Bewegung: »Hier ist Jim Rockford. Bitte nennen Sie Ihren Namen, Ihre Nummer, ich rufe zurück.«
Einserseits praktisch, so ’ne Erfindung, aber andererseits auch seltsam, wenn man sich dann als Anrufer mit ’nem Gerät unterhalten sollte.
In der ersten Folge war einer auf der Suche nach den Killern seiner Eltern, und der Detektiv sollte ihm helfen, doch der Sohnemann war seinerseits verdächtig. Jim Rockford hatte selbst schon mal im Knast gesessen, fünf Jahre lang, und zwar unschuldig, und dann platzte Papa zur Terrassentür rein: »Bring jetzt gefälligst das Scheißfahrrad nach unten!«
Spaßeshalber kaufte ich mir mal die Bild-Zeitung, für 25 Pfennig. »Minister Bahrs Villa ausgeraubt«, oho, aha! Und noch eine Schlagzeile: »Scheidung! Johannes Mario Simmel verließ Gräfin Lulu« – als ob man die hätte kennen müssen, diese Gräfin, und als ob einem deren Eheleben nicht schietegal wäre.
In meinem Horoskop stand, daß ich impulsive Handlungen vermeiden solle, besonders in den späteren Nachmittagsstunden, und daß es ratsam sei, Vergnügungen auf den morgigen Tag zu verschieben. Welche Vergnügungen? Alles, was ich bis zum Abendbrot noch vorhatte, war die Fahrt nach Nödike, zu dem Notenverkäufer. Das war ein alter Knacker, der mir an der Tür im Bademantel gegenübertrat, im zweiten Stockwerk einer Mietskaserne.
»Guten Tag, ich hätte gerne die zweistimmigen Interventionen von Bach.«
»Gibt’s nicht!« bellte der Opa. »Von Bach gibt’s nur Inventionen, aber keine Interventionen!«
»Meinte ich ja auch.«
Aus einem schiefen Notenstapel auf dem Schlafzimmerschrank zerrte er das richtige Heft hervor. In der Wohnung roch’s nach kalter Asche und Hundefutter, die Bettdecken waren zerwühlt, und als ich bezahlt hatte, ließ der Opa, während er das Wechselgeld herauskramte, freimütig einen fahren.
Und dann hätte ich noch Unkraut schöveln sollen, aber das verschob ich auf morgen.
»Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute«, gnatzte Renate, die dabei war, den Staub von den Zimmerpflanzenblättern zu wischen, aber ohne große Arbeitsfreude. »Ich weiß nicht, was Mama so schön findet an diesen Strempeldingern, mit denen hier alle Fensterbänke vollgerümpelt sind. Und dann schneidet man sich noch dran, wenn man die murkeligen Apparate gießen will, und in die pappige Erde sickert das Wasser nicht ein …«
Das einzig Gute an dem Tag war der Science-Fiction-Film um halb elf im Ersten. Da werkelte ein Erfinder im Keller, so ähnlich wie Papa, und konstruierte da einen Desintegrator-Integrator, mit dem man Gegenstände von einem Ort zum anderen beamen konnte, aber als der Mann das mit sich selbst versuchte, vermischten sich seine Atome mit denen einer Stubenfliege, und hinterher hatte er einen riesigen Fliegenkopf auf und an der einen Seite statt ’nem Arm ein Fliegenbeintentakel. Um den Unfall ungeschehen zu machen, hätte der Erfinder die Fliege einfangen müssen, die mit seinem Kopf und seinem Arm herumflog, aber die war verdammt schwer zu finden, und vor allem mußte der Mann erst einmal seiner Frau erklären, was da vorgefallen war im Keller, und zwar handschriftlich, weil er mit dem Fliegenkopf nicht mehr sprechen konnte. Um niemanden zu erschrecken, hatte er sein Fliegenbein verhüllt und sich auch ein Tuch über die monströse Rübe gehängt, aber man konnte erahnen, daß er untendrunter nicht besonders appetitlich aussah.
Am Ende zerstörte er seine Erfindung, vernichtete alle Papiere und flehte seine Frau darum an, ihm beim Selbstmord zu assistieren. Und die zerquetschte ihren entstellten Mann dann in so ’ner Art Dampframme oder was das war, und ganz am Schluß sah man die um Hilfe piepsende Fliege mit dem winzigen Köpfchen des Erfinders in einem Spinnennetz hängen, bevor sie unter einem Stein der Gnadentod ereilte.
Den Film fand auch Volker super. Wiebke hatte sich meistens die Augen zugehalten und genölt, daß ihr das alles zu schauerlich sei. Nur Papa, der ziemlich spät aus der Werkstatt ins Wohnzimmer hochgekommen war, äußerte sich nicht. Der war eingeschlafen, und nun fing er auch noch an zu schnarchen.
»Papa?«
Wir stupsten ihn an.
»Jetzt ist gleich Sendeschluß, Papa!«
»Laß ihn doch«, sagte Volker. »Der findet schon von allein in die Falle.«
Nach der Schule kam der Gerdes wieder mit. Er durfte diesmal auch bei uns übernachten.
Ich kaufte mir noch einmal die Bild-Zeitung. Darin gab’s eine Fortsetzungsserie über Henker, und es stand drin, wie 1943 eine Frau in einer Bombennacht in Hamburg als »Volksschädling« guillotiniert worden war.
Die Verriegelung löste sich, das Messer sauste herab, der Kopf fiel in den Korb mit den Sägespänen. Der Körper zuckte wie im Krampf.
Das las ich dem Gerdes vor und gleich danach sein Horoskop, worin ihm nahegelegt wurde, sich heute gut auszuruhen und am Sonntag »innige Zweisamkeit« zu pflegen.
»Ach ja, und mit wem? Steht das da auch?« fragte der Gerdes, der Sternzeichen Schütze war.
Im Horoskop für Stiere stand, daß der heutige Tag sich sehr gut für private Vorhaben und Einkäufe eigne. Vergnügungen hingegen – immer diese Vergnügungen! – solle ich besser nicht über 21.15 Uhr ausdehnen. Der Sonntag sei dann ganz schlecht für Liebeleien, aber das hätte ich auch ohne astrologische Expertenauskunft erraten.
Mittags gab’s Bratwurst mit Sauerkraut und Bratkartoffeln, und der Gerdes haute rein wie Kasper und Seppel am Mittagstisch der Großmutter in den Büchern von Otfried Preußler. Als einzigen Kritikpunkt meldete der Gerdes an, daß wir nur mittelscharfen Senf besäßen: Mittelscharfer Senf, das sei ein Unding. Entweder scharf oder mild. Mittelscharf, das sei nur was für weinerliche Käseköppe. Das sagte er aber nur mir und nicht bei Tisch. Da hatte er seinen Teller klaglos leergefressen.
Bei Mensch-ärgere-Dich-nicht trug ihm ein schweinisches Würfelglück den Sieg ein, und er wollte sofort wieder von vorn loslegen, aber ich hatte keine Meinung mehr.
Wir hörten uns dann an, was in der Bundesliga Sache war. Als Gladbach gegen Frankfurt in Rückstand geriet, fürchtete ich schon das Schlimmste, aber Wittkamp und Simonsen sorgten dafür, daß die Borussen beim Pausenstand von 2:1 erhobenen Hauptes in die Kabine gehen konnten. In der zweiten Halbzeit glückte Grabowski der Ausgleich, doch kurz darauf machte ein Doppelschlag von Heynckes und Hannes alle Hoffnungen der Eintracht auf ein Remis zuschanden.
»Und dieses Zeugs hörst du dir jeden Samstag an?« fragte der Gerdes. Der kannte sich in der Bundesliga nicht aus, aber dafür hatte er, anders als ich, 1974 zufällig die letzten paar Minuten einer Radioreportage vom Endspiel im Europapokal der Landesmeister gehört. Bayern München gegen Atlético Madrid. Das war mit 0:0 in die Verlängerung gegangen, und dann hatte Madrid sechs Minuten vor Schluß den Führungstreffer erzielt, aber nicht mit Katsche Schwarzenbeck gerechnet! Dessen berühmter Fernschuß aus sechzig Metern Distanz, in der vorletzten Minute, war ein Volltreffer gewesen. »Der Reporter ist vor Freude völlig ausgerastet«, sagte der Gerdes. Und die Spanier waren am Boden zerstört gewesen. (Das Wiederholungsspiel hatte Bayern 4:0 gewonnen.)
Wir stellten fest, daß abends im Dritten ein Stummfilm mit Buster Keaton lief. Das war dieser Komiker, der nie eine Miene verzog, im Gegensatz zu Didi Hallervorden. »Der Film kommt aber erst um zwanzig nach neun«, sagte der Gerdes, »also zu ’ner Zeit, wo du dir besser keine Vergnügungen mehr erlauben solltest …«
Wir kuckten uns den natürlich trotzdem an. Ich hatte zuerst gedacht: Stummfilm, na ja, da hampeln und glotzen alle so übertrieben, und dann diese ewigen Texteinblendungen, aber dieser Film war erste Sahne. Buster Keaton spielte einen amerikanischen Lokführer, der seine Lokomotive retten wollte, mitten im Krieg der Nordstaaten gegen die Südstaaten. Da löste eine haarsträubende Notlage die andere ab, und jedesmal, wenn man glaubte, Junge, aus der Nummer kommst du nicht mehr heil wieder raus, ließ Buster Keaton sich blitzartig was einfallen. Einmal saß er mit’m Balken in den Armen vorn auf der Lok, die auf einen anderen, quer über den Schienen liegenden Balken zufuhr, und dann warf er den einen Balken so genial auf das eine Ende des anderen Balkens, daß der durch die Hebelwirkung weggeschleudert wurde und die Lok wieder freie Bahn hatte.
Ein Spitzenfilm, da waren der Gerdes und ich uns einig. Zu bemängeln hatte er nur, daß die Nordstaaten damals, soweit er wisse, unter anderem für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft hätten, und hier seien sie als reine Bösewichter dargestellt worden: »Ich hätt’s besser gefunden, wenn Buster Keaton in dem Film gegen die Konföderierten gekämpft hätte.«
Konföderierten? Was der Gerdes für Wörter kannte, und was der alles wußte! Da kam ich nicht ganz mit, und ich faßte den Vorsatz, mal was für meine Bildung zu tun, auch außerhalb der Penne.
Schlafen mußte der Gerdes auf ’ner Luftmatratze in meinem Zimmer. Sonst hätten wir erst noch das alte schwarze Klappsofa aus Wiebkes Zimmer rüberschleppen müssen, und das lohnte sich ja nicht, für die eine Nacht.
Tante Dagmar hatte mich auf eine Radiosendung über Konfirmanden aufmerksam gemacht, die am Sonntagvormittag kam, auf NDR 2. Die hörten wir uns nach dem Frühstück an. Der Gerdes war ja Katholik. Für den mußte das fast exotisch sein, hier mit einem Konfirmanden zusammenzusitzen, vor einem Radio aus dem Nachlaß eines evangelischen Pastors.
»Üppige Geldgeschenke zur Konfirmation«, sagte der Moderator, »sind so üblich geworden, daß Konfirmanden sich gegenseitig fragen: Wieviel war’s bei dir? Kein Wunder, daß die erhofften Geschenke auch zu einem Hauptmotiv wurden, sich überhaupt konfirmieren zu lassen. Viele Gemeinden versuchen, die Konfirmation durch eine neue Art der Vorbereitung wieder sinnvoll zu machen. Der Autor hat eine Konfirmandenfreizeit besucht und sich umgehört.«
Dann kamen Konfirmanden zu Wort, die behaupteten, daß es ihnen auf die Geschenke gar nicht ankomme; die könnten auch wegbleiben. Außerdem wollten diese Konfirmanden freiwillig ’ne halbe Stunde länger Unterricht haben, als nötig gewesen wäre. Ein Mädchen sagte: »Ich glaub, meine Mutter ist innerlich unheimlich religiös, aber ich glaub, die kann das irgendwie nicht praktizieren …« Dann wurden sie noch gefragt, ob sie schon mal auf den Gedanken gekommen seien, einen Teil der Geldgeschenke für einen guten Zweck zu spenden. Da wären die Eltern gegen, sagten alle. »Und wenn man das Geld, das man jetzt von den Verwandten und von den Eltern kriegt, weggibt, dann sieht das ja so aus, als würde man sich nicht drüber freuen, und das wär dann sehr beleidigend für die Verwandtschaft …«
Die taten alle so, als wäre man der letzte Dreck, wenn man sich auf das Geld freute. Die Geldgeschenke für mich, das ahnte ich, würden sich in Grenzen halten, aber abfallen würden doch wohl hoffentlich so einige, und weshalb hätte ich so tun sollen, als ob mir die Summe dann ganz egal wäre? So toll war die Aussicht aufs Konfirmiertwerden ja nun auch wieder nicht, daß ich sie aus freien Stücken gegen die Vorfreude auf die Geschenke eingetauscht hätte.
»Und du«, sagte der Gerdes, »welchem Wohlfahrtinstitut wirst du deine Reichtümer überweisen?«
Die Evangelen hätten’s gut. Bei Katholiken sei die Kommunion schon für Kinder im Alter von sechs oder sieben Jahren fällig, und da sei’s natürlich nicht weit her mit Geldgeschenken, aber manche Konfirmanden würden sage und schreibe fünfhundert Mark hinten reingeschoben kriegen! Oder sogar tausend! »Und wir Katholen müssen uns mit einem Bruchteil zufriedengeben! Mit ’nem winzigen Almosen werden wir abgespeist! Mit fünfzig Mark vielleicht, wenn’s hochkommt, und ’ner kleenen Kinderarmbanduhr dazu! Pah! Ich finde, wir sind unterprivilegiert! Am besten wär’s, der Staat würde ’ne Ausgleichssteuer einführen, und die müßtet dann ihr Evangelen zahlen, und was da zusammenkommt, wird unter den Katholiken aufgeteilt.« Er lachte und rieb sich die Hände. »Das wäre nur recht und billig!«
Als er abgefahren war, ging ich noch einmal ums Karree: Herzogstraße, Kellners Tannen, Hubertusstraße, Georg-Wesener-Straße. Dem Schicksal eine Chance geben. Vielleicht lief ich ja der Liebe meines Lebens in die Arme.
Doch mit Liebeleien sah es an diesem Tag tatsächlich schlecht aus. Wäre ja auch ’n Ding gewesen.
In der Küche lief Renate morgens der Hamster entgegen. Wiebke hatte den Käfig nicht richtig zugemacht, und da war das Vieh die ganze Treppe runtergekraxelt und in die Küche geflitzt. Das mußte schon vor elf Uhr abends passiert sein, denn um elf hatte Renate die Küchentür zugemacht.
Im Käfig schaufelte sich Pepik Körner in die Backentaschen, bis er breit war wie ’ne Flunder.
Der Radowski spielte mir in der Musikschule die »Inventio I« vor und sagte, daß man Bach nicht zu Unrecht den fünften Evangelisten genannt habe.
In dem Stück war die zweite Stimme ein Echo der ersten, und trotzdem paßte alles harmonisch zusammen, solange man sich nicht verspielte. Das hatte was von Mathe. So als ob Bach sich gesagt hätte: Hier gehört nach Adam Riese diese Note hin und keine andere. Kompositionen wie von ’nem Elektronengehirn, aber da mußte man eben durch, wenn man’s als Pianist zu was bringen wollte.
Die Zitterpartie gegen Sturm Graz, in die Eintracht Frankfurt sich bei Schnee und Glatteis begeben hatte, entschied Bernd Hölzenbein durch ein Tor in der 85. Minute.
Hölzenbein: Mit so einem Namen Flügelläufer und sogar noch Fußballweltmeister zu werden, das war auch eine Kunst für sich.
Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 hatte es mit sich gebracht, daß die Leute überall das gleiche glauben mußten wie ihr jeweiliger Landesherr. Cuius regio, eius religio. Wessen das Land, dessen der Glaube. Und wenn sich da einer mausig machte, weil er was anderes glaubte – Rübe runter, zack! Noch irgendwer ohne Fahrschein ins Jenseits? Und die anderen Ungläubigen oder Andersgläubigen hielten dann den Mund.
Was das mit der christlichen Nächstenliebe zu tun haben sollte, hätte ich ja gern mal gewußt.
Am schwierigsten von allen Hausaufgaben waren die in Physik.
Welche Masse hat eine 0,8 cm dicke Schaufensterscheibe, die 4 m lang und 2 m hoch ist? Welche Gewichtskraft (in N und kp) würde sie auf dem Mond erfahren?
Was sollte man denn auf dem Mond mit ’ner Schaufensterscheibe? Das war es, was ich so bescheuert fand an Physik und Mathe, daß man sich das Hirn zermartern sollte über den unmöglichsten Klimbim. Was ging mich die Gewichtskraft einer Schaufensterscheibe auf dem Mond an? Ich hatte andere Probleme: Wann würde ich mal wieder Post kriegen? Wo war die Nagelschere, wenn ich mir schon mal die Fußnägel schneiden wollte? Wie würde Gladbach sich im Rückspiel gegen Real Madrid bewähren? Und wo steckte Mamas zweiter Brief aus Afrika?
»Den hat Papa mit ins Büro genommen«, sagte Renate. Sie rotierte in der Küche, Essen vorkochen für drei Tage, weil sie nach Bielefeld fahren wollte, um sich da zu immatrikulieren und sich ’ne Wohnung zu suchen, und dann wollte sie weiter nach Birkelbach zur großen Abschiedsfeier.
Zu einer Studentenbude in der Großstadt hätte ich auch nicht nein gesagt. Entweder das – oder als millionenschwerer Fußballstar in einem supermodernen Luxusapartment wohnen. Und wenn Mama und Papa mich da mal besuchen kämen, würden ihnen die Augen aus dem Kopp quellen: echte Picassos an der Wand, Eisbärenfell vorm Kamin, Orientteppiche, Quadro-Anlage … und dann kommt mein Butler rein: »Euer Gnaden haben geläutet?«
Und draußen vorm Haus ’n Rolls-Royce mit Chauffeur.
Abends wurde zuerst gezeigt, wie Bayern München Benfica Lissabon das Fürchten lehrte, und zwar mit zwei Toren von Dürnberger, einem von Rummenigge und zweien von Gerd Müller. 5:1! Damit hatten es die Bayern im Europapokal der Meister ins Halbfinale geschafft.
Danach kam zeitversetzt das Spiel Real Madrid – Borussia Mönchengladbach. Die beiden Gegentreffer beim 2:2 in der Hinrunde waren eine schwere Hypothek, weil Auswärtstore bei Torgleichstand doppelt zählten, und ein Auswärtstor im Bernabeu-Stadion zu erzielen, das hatten schon ganz andere versucht.
Jupp Heynckes glückte es aber doch, nach einer knappen halben Stunde, und beim Pausenpfiff lag Gladbach vorn. In der zweiten Halbzeit drehten die Madrilenen auf, denn die wollten sich natürlich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen, und bums, schon war’s passiert – 1:1.
Wenn’s dabei blieb, war alles aus. Das wußten auch die Gladbacher, und sie gingen stürmisch in die Offensive und kamen nur gegen einen einzigen Mann auf dem Platz nicht an, und das war der Schiedsrichter Leo van der Kroft, ein Holländer, der nicht mehr alle Eier im Sack hatte: Ein reguläres Tor von Jensen erkannte er wegen dessen angeblicher Abseitsstellung nicht an, und in der 83. Minute hatte er bei einem Tor von Wittkamp als einziger Mensch auf der Welt ein Handspiel gesehen!
Und dann: Abpfiff, Ende, aus. Das war’s! Real Madrid hatte zwar drei Tore kassiert, aber nach der Willkür des Schiris trotzdem 1:1 gespielt, und Gladbach war ausgeschieden. Scheiße, verdammte!
Ich hätte nicht übel Lust gehabt, diesem van der Kroft den Hals umzudrehen. Wer war denn überhaupt so dämlich gewesen, da einen Holländer pfeifen zu lassen? Wo doch alle wußten, daß ganz Holland seit der Endspielniederlage von ’74 auf Rache sann? Hätte ich ja selbst getan, als Holländer!
Mit ein paar Zeilen vertröstete Michael Gerlach mich auf seinen nächsten Brief:
Ich weiß, ich weiß!
Ich bin ein Sausack, aber ich hab zur Zeit soviel um die Ohren, daß ich nicht zum Schreiben komme. Also stattdessen dieses Kärtchen. Wenn der Brief kommt, dann isser aber auch ganz lang. Heiliges Ehrenwort! Und: Der Brief kommt bald! Also nimm diesen Ergebenheitskratzfuß an. Tschüß, Dein gemeiner und schreibfauler Michael, auf den Du ruhig schimpfen kannst – ich hör’s ja doch nicht!
Auf der Karte waren Vallendar und Umgebung zu sehen, mit dem Kloster Schönstatt oben rechts, aber in falschen Farben, Rot und Weiß, ganz anders als in Wirklichkeit. Da hatte wohl jemand mit dem Buntstift nachgeholfen im Labor der Kartenfirma. Welche war denn das? Mal nachkucken. Neben dem Adreßfeld stand da hochkant:
Stein-Fotos, 5161 Echtz – Best.-Nr. 73716 – Nachdruck verboten
Auch ’n Beruf: Fotos von Hausdächern nachkolorieren und den Nachdruck verbieten, in 5161 Echtz. Das Örtchen hätten sie umbenennen sollen, in Fälschtz.
Bei der Gartenarbeit ärgerte ich mich schwarz über die Leute, die ihre ausgesüffelten Magenbitterfläschchen bei uns in die Hecke zu schmeißen pflegten. Underberg und Maykamp. Eine Unverschämtheit, sowas, auf dem Bürgersteig Likör aus diesen Dingern zu zutzeln und sie anschließend irgendwohin zu feuern, und ich armes Arschloch durfte dann da rumkrabbeln und den Flaschenmüll auflesen, am Samstag um Viertel vor vier, während sich die Underbergsäufer zuhause an den Rundfunkreportagen aus den Stadien der Bundesligisten delektierten …
Die Bayern lechzten nach einer Revanche für ihre Niederlage auf dem Bökelberg. Mit Maier, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Hoeneß und Müller hatten sie fünf Weltmeister im Team. Drei davon – Schwarzenbeck, Hoeneß und Müller – schossen insgesamt vier Tore, und Maier hielt jeden Ball.
Ein klarer Fall: Es wurde höchste Zeit für eine Verstärkung der Fohlenelf durch eine emsländische Nachwuchskraft.
»Ich fühl mich noch leicht weggetreten von der Feierei«, sagte Renate, als wir sie vom Bahnhof abholten. Jedenfalls sei sie jetzt Studentin, Matrikelnummer 002676. In dem Mordsbetonklotz von Universität habe man ihr auf die Frage nach der Zimmervermittlung erwidert: »Fahren Sie mal in den Gebäudeteil B auf der Ebene 2 und rollen Sie dann die Flure entlang.« Da habe sie ’ne halbe Stunde warten müssen, und dann sei alles rasend schnell gegangen. Das billigste Angebot sei ein möbliertes Zimmer in der Stapenhorststraße 75 gewesen, bei einer Familie Schmidt, für 130 Mark. Sie sei sofort hingefahren, und das Zimmer sei ganz niedlich, im vierten Stock, direkt unterm Dach, leider ohne Wasseranschluß. Ein kleines Waschbecken und ein WC befänden sich auf dem Flur. Die Möbel seien ziemlich brasselig und oll, aber der Kühlschrank sei verwendbar, und Tante Gertrud habe ihr einen alten Schreibtisch versprochen. Und zur PH wären’s bloß fünf Minuten zu Fuß. Gleich nach Ostern könne sie da einziehen.
Fürs Wochenende hatte Renate nicht genügend Büchsenmilch eingekauft, und Papa schimpfte deswegen mit ihr, und dann rief Mama an und gab durch, daß sie nach Südafrika weitergereist sei, um da noch eine alte jeversche Schulfreundin zu besuchen.
»Ich hab in ’ne Zigeunersippe reingeheiratet«, sagte Papa.
Mein Rad hatte ich schon beim Ausbruch des Streits über die Büchsenmilch nach unten gebracht.
In Deutsch wurden Frühlingsgedichte durchgenommen.
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden belebenden Blick …
Wir sollten uns vergegenwärtigen, sagte der Wolfert, daß die Menschen damals ja noch ohne den Komfort der Industriegesellschaft hätten überwintern müssen. Das Gros der Bevölkerung sei bitterarm gewesen. »Die meisten Leute haben in ihren Hütten und Häuschen gezittert und gefroren und – salopp gesagt – vor sich hin gestunken, und wenn dann der Frühling dieser Drangsal ein Ende bereitete, war das jedesmal wie ein Befreiungsschlag. Das sind Faktoren, die bei der Interpretation von Naturlyrik durchaus auch eine Rolle spielen. Zählen wir doch mal auf, was den Zeitgenossen Goethes noch so alles gefehlt hat. Schlosser!«
Upps. Tja, was hatte den Zeitgenossen Goethes denn noch so alles gefehlt im Winter?
»Warmwasserleitungen?«
»Richtig. Weiter! Was noch?«
Der Dralle zeigte auf und sagte: »Fernsehen.«
Alle lachten, aber der Wolfert meinte, das sei gar nicht so falsch. Ohne die heutigen Massenkommunikationsmittel habe sich so mancher Winterabend in der Goethezeit fast unerträglich lange hingezogen für die einfache Bevölkerung.
Renate kochte schon wieder Essen vor, weil sie Olaf zu dessen Geburtstag besuchen wollte, und Papa stampfte nach einem neuen Streit mit ihr wutgeladen die Kellertreppe runter und reagierte sich in der Werkstatt ab, indem er da seine Maschinen aufheulen ließ.
»Ich hab nun mal Sehnsucht nach Olaf«, sagte Renate und knallte ein Brett auf den Küchentisch und hackte Zwiebeln klein. »Wenn Papa dafür kein Verständnis hat, kann ich ihm auch nicht helfen!« Sie habe sich hier nun doch wahrlich als fleißiges Lieschen betätigt, seit Wochen, und da könne Papa ihr es doch ruhig gönnen, daß sie Olaf mal besuche. »Das ist immerhin der zukünftige Vater von Papas Enkelkindern!« Und sie tue ja alles Notwendige, damit wir hier die Mahlzeiten nur aufzuwärmen brauchten. »Aber Papa wirft mir vor, daß ich egozentrisch bin und mich einen Dreck für die Familie interessiere! Bloß weil ich mal wieder für zwei Tage rauswill aus diesem Irrenhaus!«
»Im Kittchen ist kein Zimmer frei« hieß ein Film, in dem Jean Gabin einen Tippelbruder spielte, der es darauf anlegte, die Wintermonate behaglich im Gefängnis zu verbringen, aber damit kam er, wie der Titel schon sagte, nicht durch, obwohl er auf Deubelkommraus die Gesetze brach: Er haute ein ganzes Café in Klump, hielt den Verkehr auf, störte die öffentliche Ruhe und beleidigte einen Polizeibeamten – alles ohne den gewünschten Erfolg. Jeder Schuß ging nach hinten los.
Sonderbar. Junge, wenn ich noch daran dachte, wie mich die Bullen damals zur Brust genommen hatten, 1972, wegen zwei lumpigen Matchboxautos, als ich bei Woolworth in Koblenz beim Ladendiebstahl erwischt worden war! Und Mama hatte mir sechs Wochen Hausarrest aufgebrummt!
An einem Donnerstag war das gewesen, und es hatte lange gedauert, bis mir Donnerstage wieder wie normale Wochentage vorkamen. Und dann noch dieser schaurige Moment, irgendwann Anfang ’73, als wir uns alle bequem vor der Glotze gefläzt hatten, und in den Nachrichten war plötzlich die Zahl der im letzten Jahr in der Bundesrepublik Deutschland begangenen Ladendiebstähle genannt worden. Mindestens ’ne halbe Stunde lang hatte ich danach noch wie versteinert auf den Teppichfliesen gelegen.
Nach dem Frühstück, bei dem nicht mehr als das Allernötigste gesprochen worden war, ging Papa aus dem Haus, ohne ein Wort des Abschieds, und Renate mußte vor ihrer Abreise noch den Tisch abräumen und die Küche machen und danach zu Fuß zum Bahnhof laufen, die Herzogstraße hoch, an den froststarren Bäumen vorbei.
Gegen Hertha holte Gladbach zuhause nur ein 1:1 heraus. Das war ein leichtsinnig verschenkter Punkt! An Latteks Stelle hätte ich den Spielern gehörig den Marsch geblasen und ihnen geraten, Klaus Fischer nachzueifern: Der hatte bei Schalkes 6:2 gegen den KSC in der ersten Halbzeit innerhalb von 19 Minuten einen lupenreinen Hattrick hingelegt und in der zweiten Halbzeit ein weiteres Tor geschossen.
Es hatte Samstagabende gegeben, an denen Papa schon frühzeitig aus dem Keller hochgekommen war, um sich zusammen mit uns Am laufenden Band anzukucken, diese lustige Sendung mit Rudi Carrell, aber diesmal blieb Papa unten.
Am Sonntagmittag kam Renate zurück, und es ging gleich wieder los: Milch ist alle, Butter alle, Sahne alle, Weberknechte in der Vorratskammer, Flurteppiche nicht gesaugt, und der Regenschirmständer von Rostschäden angefressen! Eine anständige Hausfrau müsse sich auch um solche Dinge kümmern, statt in der Weltgeschichte herumzureisen und sich mit Hühn und Pedühn zu treffen …
Abends fand im Gemeindesaal ein gemeinsames Essen der Konfirmanden und ihrer Familien statt. Weil Mama noch nicht zurück war, mußte ich da zum Glück nicht hin. Dachte ich! Aber Papa verdonnerte Renate dazu, mich zu begleiten. Man sollte was zu futtern mitbringen, und Renate bereitete grummelnd einen Tomatensalat zu.
»Ziel dieses Mahles«, sagte Pastor Böker, »ist es, etwas von der Tischgemeinschaft deutlich und lebendig werden zu lassen, wie sie in der Urgemeinde möglich war …« Auch im Urchristentum hätten sich die Gemeindemitglieder zum gemeinsamen Essen versammelt.
Renate und ich hauten wieder ab, so schnell wie’s ging.
Es war am Schiffen, seit Tagen. Alles grau und modderig und lehmig, rein zum Trübsinnigwerden.
Renate, die vom Zahnarzt morgens eine dicke Betäubungsspritze ins Zahnfleisch gejagt gekriegt hatte, konnte auch mittags noch nicht wieder richtig sprechen. »Jihähi juorr«, sagte sie zu mir, an der Haustür, was soviel heißen sollte wie: »Zieh dir die Schuhe aus.«
Am ersten Osterferientag rief Mama an, um kurz nach vier: Sie sei gut gelandet und jetzt in Düsseldorf mit Oma bei Tante Doro. »Meine Ankunft in Meppen ist drei nach acht!«
Renate, die Mama das Haus spiegelblank übergeben wollte, astete einen Eimer mit Wischwasser durchs Treppenhaus und schnauzte mich und Wiebke an: »Das ist wirklich unvorstellbar, was ihr hier für einen Dreck und eine Unordnung verbreitet!« Wir sollten oben die Zimmer aufräumen, aber dalli, sonst könnten wir was erleben! An Wiebke erging der Appell, den verpißten Hamsterkäfigboden auszuwaschen und die Spreu zu erneuern.
Volker, der sein Zimmer schon auf Vordermann gebracht hatte, war im Wohnzimmer am Staubsaugen und Jodeln.
Qué será, será, whatever will be, will be …
Ich selbst sang auch immer nur beim Staubsaugen, weil einem die anderen dann nicht so kritisch zuhören konnten.
In den Sechs-Uhr-Nachrichten kam die Meldung, daß die ARD das Spiel Real Madrid gegen Bayern München ab 20.15 Uhr live übertragen werde. Na klasse. Und um 20.03 Uhr würde Mama eintreffen. Blieben fürs Zukucken also gerade mal zwei oder drei Minuten.
Um fünf vor acht fuhr Papa zum Bahnhof. Vielleicht hatte der Zug ja Verspätung. Weitere anderthalb Stunden ohne Mama hätte ich schon noch ausgehalten.
Real trat ohne den verletzten Breitner an und ging in der achten Minute in Führung, und gerade in dem Moment kam Mama ins Haus rein. Wiebke hüpfte ihr freudeschreiend entgegen und wurde umhalst und abgebusselt, und Renate stellte eine Platte mit überbackenen Toastscheiben auf den Eßtisch. Sogenannte Hawaiitoasts, turmhoch mit Ananasringen, Schmelzkäse und Schinken belegt. Offenbar ’ne Spezialität aus Birkelbach.
Weißwein sollte es dazu geben, doch der Korkenzieher war perdü. Die ganze Küche hatte Renate ergebnislos abgegrast. Papa brachte ihn dann aus dem Keller rauf, und Wiebke und ich kriegten zum Abendbrot, wie immer, Kaba eingeschenkt.
Mama war braun geworden, und beim Essen legte sie los: Den Nachthimmel über Afrika, den müsse man schon selbst gesehen haben, sonst würde man’s nicht glauben. Ganz anders als hier, tausendmal prunkvoller! Beim Hinflug, von Zürich nach Windhuk, sei das Fenster leider von der Rückenlehne des Sitzes davor fast vollständig verdeckt gewesen. Und die Einrichtung der Farm sei man ja ziemlich primitiv, statt Heizungen nur große Feuerstellen.
Und nachts kein Strom, weil der Motor dafür zu laut gewesen wäre: »Man mußte ja hören können, ob sich ein Auto nähert, in dem dann möglicherweise Terroristen sitzen!« Zweitausend Ziegen und Schafe, und manchmal würden welche von Geparden gerissen. Und dann die Pavianherden! Und sechs Meter hohe Termitenhügel! »Auch auf Schlangen haben wir in der Wildnis immer achten müssen, und im Gebirge haben wir versteinerte Dinosaurierfußspuren gesehen …« Es gebe da auch einen Doppelberg, der den sinnigen Namen Omatako trage, auf deutsch: der Po. (Die eine Pobacke allerdings mit Furunkel.) Und in Transvaal die Granitmassive und die Eukalyptuswälder, unvergeßlich! In Tzaneen habe es leider fast dauernd geregnet. Als Start- und Landebahn für die Flugzeuge habe nur eine rubbelige Graspiste existiert, mit freilaufenden Hühnern drauf.
Renate holte die Nachtischportion aus dem Kühlschrank, die sie für Mama aufgehoben hatte. Apfelsinencreme.
Daß Mama auf demselben Flugzeugplatz gesessen haben könnte wie Gerd Müller, interessierte sie nicht die Bohne: »Glaubst du etwa, daß ich mich dadurch geadelt fühle?«
Dann packte sie ihre Mitbringsel aus: Scherenschnitte und Pötte und einen gelben Wandbehang mit aufgemalten Kudus. Der sollte überm Wohnzimmersofa angenagelt werden. Ich erhielt ein Musikinstrument: ein Holzbrettchen mit Metallstangen, die unterschiedliche Töne von sich gaben, wenn man sie nach dem Runterdrücken wieder hochschnicken ließ. Pling, plong, plung, plöng, pläng. Ein sogenanntes Ovamboklavier.
Als die Versammlung sich aufgelöst hatte, rief Renate Olaf an und fing sich einen Anschiß von Papa ein, wegen der Telefonkosten, und dann rief Tante Dagmar an: Ob wir ein altes Tonband haben wollten. Das habe ihre Nachbarin ihr geschenkt, fürs Katzenhüten, aber sie habe im Funkhaus schon genug mit Tonbändern zu tun. Sie könne es den Moorbachs mitgeben, wenn die uns Anfang April besuchten.
Wenigstens den Schluß von dem Spiel durfte ich noch kucken. In der 43. Minute hatte Gerd Müller ausgeglichen, zum 1:1, und das war auch der Endstand. Am Ende der ersten Halbzeit waren spanische Fans aufs Spielfeld gestürmt und hatten da den wilden Mann markiert.
Ganz spät kamen noch Ausschnitte aus der Partie HSV – FC Brügge, die 1:1 ausgegangen war. Eintracht Frankfurt hatte Westham United mit 2:1 besiegt, aber davon wurde nichts gezeigt, weil die Funktionäre der Eintracht das aus irgendwelchen Gründen nicht gestattet hatten. Weiß der Deubel, was da hinter den Kulissen vorgefallen war zwischen der UEFA, den Fernsehheinis und den Vereinsoberen. Die hatten doch ’n Loch im Kopp.
Von einem Großeinkauf in der Stadt brachten Mama und Renate tonnenweise Utensilien für Renates Studentenküche mit: Kochtöpfe in vier verschiedenen Größen, Kaffeekanne, Teekanne, Bratpfanne, Tauchsieder, Schneebesen, Zuckerdose, Schälchen, Schüsseln, Frühstücksbrettchen, Tassen, Becher, Gläser, Dosenöffner, Eierpieker, Eierbecher, Eßbesteck und zwei pompöse Salatgabeln.
Anhand des Kassenbons wollte Papa die Einzelpostenkosten überprüfen, aber der Bon war weg. Erst nach einer halben Stunde Suche fand Renate den zerknüddelten Zettel im Peugeot unterm Beifahrersitz, aber statt sich darüber zu freuen, geriet Papa in Weißglut über den Wucherpreis für die Bratpfanne und den Aberglauben, daß ein überteuerter Schneebesen zum Inventar einer Studentenküche gehöre, und beim Abendbrot, als ich vorm Fernseher auf dem Bauch lag und mich mit dem einen Fuß am andern kratzte, schrie Papa mich von hinten an: »Nimm die Flunken runter!«
Als ob ich die absichtlich ins Bild gehalten hätte.
Mama und Renate schritten sodann zum Frühjahrsputz: Ärmel aufkrempeln, Schränke von der Wand abrücken, Ecken ausfegen, Deckenlampen entstauben, Teppiche einrollen und untendrunter saugen, Gardinen abnehmen und waschen, tote Fliegen aus den Fensterzwischenräumen aufsammeln, Spinnweben beseitigen, Küchenschubladen ausräumen und auswischen und was Mama sonst noch so alles einfiel. Waschbecken schrubben zum Beispiel. Nur wozu? Da lief doch ständig Seifenwasser durch, so daß die sich von alleine säuberten.
Man kam sich vor wie auf ’ner Großbaustelle. Dauernd war einem die Trittleiter im Weg, überall standen schmutzwasserschwappende Putzeimer rum, und im Flur stank’s nach Sagrotan oder wie das hieß.
Still und emsig schaffen sie
stets das Gute, Böses nie.
»Und wenn du nicht willst, daß ich nachher dein Zimmer auf den Kopp stelle, dann machst du da jetzt selber sauber«, sagte Mama. »Aber schleunigst!«
Um halb zwölf marschierte sie zum Friseur, und Renate kochte Nasi Goreng, also Reis mit Scheiß.
Samstagmittag kamen Moorbachs angetöffelt. Renate hatte zum Nachtisch zwei Riesenschüsseln Bananenquarkspeise zusammengerührt und mußte nach dem Kaffeetrinken die Küche aufräumen, während Mama mit Tante Luise, Onkel Immo und deren Trabanten die Innenstadt besichtigen ging. Was es da wohl zu bewundern gab außer Ampeln, Schuhgeschäften und Zebrastreifen?
Das Tonband von Tante Dagmar hatte Volker sich unter den Nagel gerissen. Von mir aus! Was hätte ich schon anfangen sollen mit diesem zentnerschweren Ungetüm aus der Nachkriegszeit?
Nach dem Teetrinken fuhren Mama und Papa mit Tante Luise und Onkel Immo nach Jever, um da am Sonntag Opas achtzigsten Geburtstag zu feiern, und die Ableger der Moorbachs ließen sie uns hier: Hedda, Corinna und Bodo. Mit denen war nicht viel anzufangen. Pennen durften sie zu dritt in Mamas und Papas Ehebett.
Statt sich Werner Höfers Internationalen Frühschoppen anzutun, saß Renate beim Kartoffelschälen lieber in der Küche und hörte Radio.
I hear the drizzle of the rain,
Like a memory it falls …
Wiebke war mit den Moorbachmonstern zu ihrer Busenfreundin Carola abgezogen.
Am Nachmittag telefonierte Renate wieder lange mit Olaf. Sonntags waren die Ferngespräche ja billiger als unter der Woche, aber was Renate da verquasselt hatte …
Wir würden’s erleben.
Zu Opa Jevers Geburtstagsfeier sei sogar der Bürgermeister als Gratulant erschienen, erzählte Mama, und der Chor der Stadtkirche habe auf der Treppe in der Mühlenstraße ein Ständchen dargebracht. Und es sei doch schön, daß alle fünf Töchter Zeit gefunden hätten, sich aus diesem Anlaß wieder einmal zu Füßen des Familienoberhaupts zu versammeln. Selbst Therese aus England! Viel zu selten komme das vor. »Und beim Festmahl im Haus der Getreuen, da hat Vati sich nicht lumpen lassen! Was da alles aufgefahren worden ist, mein lieber Scholli! Und ihr, wie seid ihr hier zurechtgekommen?«
Papa sagte zu Volker, wenn er die mittlere Reife schaffe, dürfe er nach den Sommerferien aufs Maristengymnasium. »Also setz dich auf den Hosenboden und streng deinen Grips an!«
Im Dritten lief ein Film über einen Waisenknaben, der im Wald aufgewachsen war, unter Wölfen, so ähnlich wie Mogli, und da wäre er auch lieber geblieben, als geschnappt und zivilisiert zu werden. Konnte natürlich kein Wort sprechen und hatte noch nie mit Messer und Gabel gegessen. Wie in dem Lied von Reinhard Mey:
Er trinkt nicht vom Geschirre,
Den hat die Wölfin gesäugt!
Nachts schlich sich der Junge nach draußen, um den Vollmond anzuheulen, so wie früher als Wolfskind.
Irgendwie erinnerte der mich auch an Huckleberry Finn. Der hatte sich genauso ungern von der Witwe Douglas umerziehen lassen wollen. Und dann die permanente Beterei bei der … aber andererseits, so ein weiches, warmes Federbett, das hatte doch auch was für sich, verglichen mit ’ner steinigen Kuhle im Wald, ganz allein unter Wölfen und Eulen und Mäusen. Ohne Fernsehen, ohne Fußball? Ohne Geburtstagstorten und Asterixhefte?
Der neue Stern enthielt ein fettes Sonderheft über die USA, zu deren zweihundertstem Geburtstag. Fotos von Mammutbäumen im Sequoia-Park: Bis zu sechs Meter Durchmesser hatten die Dinger und waren neunzig Meter hoch und dreieinhalbtausend Jahre alt. Als Jesus ans Kreuz geschlagen worden war, hatten die da schon anderthalbtausend Jahre lang aufgeragt.
The American Way of Life. Wenn die Highways Schlaglöcher hätten, sagte Papa, würden die Amis einfach neue Highways in die Landschaft klotzen, parallel, statt die kaputten zu reparieren.
In dem Sonderheft stand auch was über die Pilgerväter, die im 17. Jahrhundert auf der Mayflower von Europa nach Amerika geschippert waren. Mutige Mannen! Und ich? Als Dreikäsehoch hatte ich mal kurz das Steuer festhalten dürfen, auf dem Fischerkahn von Onkel Bertus, irgendwo bei Hooksiel.
Weil ich mich für keinen der vielen Fortbildungskurse entschieden hatte, kriegte ich wieder einen Brief von dieser einen Firma da, deren Boß mir jetzt mitteilte, daß ich den Wert einer beruflichen Qualifikation nicht unterschätzen dürfe.
Mama wurmte es, daß ihre Fotos vom Abendrot in Namibia nichts geworden waren. Viel zu blaß! In natura hätten die Sonnenuntergänge viel grandioser ausgesehen. »Das ist ja fast zum Heulen«, sagte sie und beförderte einen ganzen Stoß Fotos in den Papierkorb. Wenn man die einklebe, würde man sich später nur jedesmal neu darüber ärgern.
Gegen einen der hartnäckigsten Verfolger, Eintracht Braunschweig, spielte Gladbach auswärts 0:0. Jetzt mußte mal wieder ein Kantersieg her, notfalls auch ohne den verletzten Jupp Heynckes.
Papa chauffierte Mama und Volker nach Rheine, von wo aus sie mit dem Zug zur Küste fahren wollten, um in Ostende eine Fähre über den Ärmelkanal zu nehmen. In Dover sollte dann Onkel Bob Gewehr bei Fuß stehen.
Kein Wölkchen am Himmel. Leuchtender Sonnenschein überm Haus und innendrin eine sturmfreie Bude, aber was hätte ich da schon groß erstürmen sollen?
Als ich genug vom Klavierüben hatte, blätterte ich in Mamas und Papas Büchern, aber die brachten’s nicht. »Die Brücke von San Luis Rey«, »Homo Faber« und »Schlaf schneller, Genosse«. Alles Mist.
Ich durfte dann nach Jever fahren, ganz alleine: Mit dem Eilzug nach Norden und von da nach einer Stunde Aufenthalt mit einem anderen Zug weiter bis zum Zielbahnhof. Die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge hatte Papa mir aus dem Kursbuch herausgesucht, und Renate hatte mir ein Freßpaket gepackt: sechs Apfelschnitze, drei harte Eier und zwei Käsebrote.
Als Reiselektüre hatte ich mir eins meiner Fußballbücher und ein altes Walt-Disney-Taschenbuch eingesteckt. Da überfiel die Hexe Hicksi Onkel Dagobert mit ihrem Besen Beelzebub, und in einer anderen Geschichte gerieten sich die Panzerknacker in die Haare. Einer mit der Nummer 4032318 beschwor seine zerstrittenen Kumpane: »Hört auf, euch zu hauen! Ihr verschwendet nur eure Energie!«
In dem Fußballbuch wurden Franz Beckenbauers Heber erläutert und zur Nachahmung empfohlen.
Beachtet: Das Knie des linken Schußbeines lag beim Abschuß über dem Ball, die linke Hüfte lag ganz weit vorne. Und die entgegengesetzte (rechte) Schulter hat Beckenbauer ebenfalls nach vorne in die Schußrichtung gedreht …
Und da gab’s ’ne Vollbremsung! Irgendwelches Zeug flog am Fenster vorbei, und der Zug kam quietschend zum Stehen, auf freier Strecke. Kurz vor dem Bahnhof Norden. Außerfahrplanmäßig.
Nach ’ner längeren Zeit, in der sich nichts getan hatte, stiegen welche von den Passagieren aus und wollten nachkucken, was da los sei. Einer kam mit der Nachricht zurück, daß der Zug an einem Bahnübergang ein Auto überfahren habe. Fahrer und Beifahrer seien exitus.
Ob das Leichenteile gewesen waren, die ich am Fenster hatte vorbeifliegen sehen?
Ich stieg auch einmal selbst aus, für ein paar Sekunden. Es war nichts zu erkennen, aber ich hörte das Tatütata von Polizeiautos oder Krankenwagen.
Den Anschlußzug in Norden konnte ich vergessen, und was Papa dazu sagen würde, war vorherzusehen. Daß ich noch zu dämlich wäre für Bahnreisen auf eigene Faust.
Nach einer guten halben Stunde kam irgendein hohes Tier an und sagte, daß die Lok ausgewechselt werden müsse.
Weiter ging es erst mit einer Stunde Verspätung.
Auf dem Nordener Bahnhof suchte ich als erstes nach dem Fahrplan, aber ich fand keinen. Dann suchte ich nach einem Bahnbeamten. Als ich endlich einen aufgestöbert hatte, fragte ich ihn nach dem nächsten Anschluß nach Jever. Der Bahnmensch zeigte auf einen Schienenbus, der gerade abfuhr, und sagte, der habe hier auf die Fahrgäste aus meinem Zug gewartet.
Davon hatte keiner irgendwas durchgesagt, und trotzdem war ich Knalldepp als einziger zu blöd dazu gewesen, pünktlich in diesen Schienenbus einzusteigen.
Der nächste fuhr, wie ich herausbekam, erst eine Stunde später ab und hatte dann noch eine halbe Stunde Aufenthalt in Esens.
Weil ich Omas und Opas Nummer nicht wußte, rief ich von einem Münzfernsprecher aus in Meppen an, damit von da aus jemand meine neue Ankunftszeit nach Jever durchgeben konnte.
Am Telefon führte Papa sich so auf, als ob ich selbst die Karambolage verursacht hätte: »Das war ja mal wieder klar, daß du irgendwo im Niemandsland strandest, wenn man dich Hornochsen auf die Menschheit losläßt!«
In Esens las ich das Buchkapitel über den Rechtsaußen George Best. »El Beatle«, so hatten sie den genannt, wegen seiner langen Haare. Trinken würde er gerne und viel, wenn auch nur das schale englische Schwachbier.
Dafür bummelt er oft bis zum Morgengrauen, und seine Flirts sind kaum zu zählen. »Wenn ich dreißig bin«, so hat er verkündet, »will ich eine Million haben; dann ziehe ich mich zurück.« Meinte er eine Million Pfund?
Die halbe Stunde Zwischenaufenthalt war schon lange rum, und der Zug hätte längst weiterfahren müssen. Um den Schaffner nach dem Grund für die Verzögerung zu fragen, lief ich bis in den letzten Waggon des menschenleeren Zugs und dann nach vorne, bis in den ersten Waggon, aber es gab keinen Schaffner.
Ruhig Blut, sagte ich mir, kehrte zu meinem Sitzplatz zurück und las das nächste Kapitel. Über Bobby Moore. Der war schon zweimal unrasiert vor der englischen Königin erschienen, um aus deren Händen einen Siegespokal zu empfangen. Das sei sein Aberglaube, hatte er gesagt: Vor entscheidenden Kämpfen rasiere er sich nie …
Inzwischen stand der Zug seit über einer Stunde reglos rum. Ob ich nicht doch mal aussteigen sollte, um mich bei irgendwem danach zu erkundigen, was da im Gange war? Aber wenn der Zug dann abfuhr, mit meinem Gepäck und ohne mich? Papa hätte mir den Kopf abgerissen.
Nachdenken und Bahnfahren. Oder Ausharren.
Als der Zug anderthalb Stunden lang stillgestanden hatte, wagte ich es doch. Bahnmenschen waren keine zu finden, und ich rief wieder in Meppen an und erfuhr von Papa, daß mir in Norden Kokolores erzählt worden sei: In Esens habe dieser Zug nämlich geschlagene zwei Stunden Aufenthalt!
Also wieder rein und noch ’ne halbe Stunde warten, und als die verstrichen war, ging’s endlich weiter.
In Jever kam ich mit insgesamt vier Stunden Verspätung an. Am Bahnhof holte Opa mich ab, mit dem Fahrrad. Meinen Koffer klemmte er auf dem Gepäckträger fest.
»Irrungen, Wirrungen«, sagte Opa, und er wollte alles über den Unfall wissen. Darüber werde morgen oder spätestens übermorgen sicherlich was in der Zeitung stehen.
Das wäre mir nur recht, dachte ich, denn dann hätten Oma und Opa es schwarz auf weiß, daß ich mich nicht aus Idiotie verspätet hatte.
In der Veranda standen noch viele von Opas Geburtstagsgeschenken auf dem Schreibtisch. Topfblumen und Alkoholika. Beim Gurkenschnibbeln und Toasten berichtete Oma vom Vettern- und Kusinentreffen in Rastede, wo zwar leider etwas viel Klarer gekreist sei, aber sie und Opa hätten zusammen vorgesungen und seien fast wie Stars gefeiert worden. »Da siehst du mal, was du für flotte Großeltern hast! So bejahrt und noch so rege!«
Papa rief an, nur um sicher zu sein, daß ich jetzt unversehrt am Ziel meiner Reise angelangt sei.
Oma hatte mir eines der Gästebetten im Keller frisch bezogen, und ich wäre auch gleich eingeschlafen, aber daran hinderte mich eine Mücke. Sobald deren Simmen etwas lauter erklang und dann verstummte, konnte man sicher sein, daß sie sich irgendwo auf einen draufgesetzt hatte, um Blut zu saugen. Ich machte das Licht an, um das Biest zu erledigen, und dann sah ich, daß an den Wänden mindestens dreißig Mücken saßen und nur darauf warteten, daß ich mich schlafen legte. Statt die Viecher alle totzuschlagen, wofür ich ein halbes Jahr gebraucht hätte, wickelte ich mich in die Bettdecke ein, so daß nur meine Nasenspitze noch rauskuckte, aber am nächsten Morgen hatte ich trotzdem Mückenstiche an den Armen, an den Unterschenkeln und am Hintern, sogar mitten in der Ritze.
Nach dem Frühstück ging ich in den Schloßgarten, wo ich eine Pfauenfeder aufgabelte, tief im Gesträuch, und zum Elf-Uhr-Tee kam ich zurück in die Mühlenstraße. Den Tee servierte Oma in der Veranda, mit ein paar Keksen, die viel delikater waren als die in Meppen. Dazu rief Oma auch Gustav herbei, der in seinem Zimmer Gesetzestexte am Pauken war, fürs Jura-Studium.
Im Keller bewahrte Gustavs seine Zeitschriftensammlungen auf, jahrgangsweise gebündelt, mit Paketschnur. Bravo und Spiegel. Die Hefte vom Jahrgang ’76 lagen noch lose rum. Eins mit einer Titelgeschichte über Bordelle: »Sex im Salon«. Bei den Fotos dazu ging’s zur Sache: Auf einem sah man, wie zwei Nutten einem nackten Mann den Rücken und den Pöter massierten, und auf ’nem anderen, wie eine Nutte einem Typen, der in der Unterhose dalag, zwischen die Beine faßte. Und es war nicht zu übersehen, daß dieser erwartungsvoll grienende Typ einen Ständer hatte.
Dreist – in ein Bordell zu gehen und sich da auch noch fotografieren zu lassen, mit einer Frauenhand auf dem Familiensilber!
Den Spiegel hatte Gustav schon mit zwölf gelesen und gesammelt, und vielleicht sollte auch ich mal damit anfangen, mich mit Politik zu beschäftigen und vorm Fernseher Bundestagsdebatten zu verfolgen, so wie Gustav, der dabei Pfeife zu rauchen pflegte: Exclusiv Cavendish Aromatic, »Prädikat zungenmild«. Neben sich auf dem Tisch hatte er dabei stets das »Handbuch des Deutschen Bundestages« liegen, eine mehrbändige Loseblattsammlung, in der alles drinstand, was man über die Bundestagsmitglieder wissen mußte, sogar deren Kinderzahl und welchen Hobbys sie frönten. Gustav wußte das fast alles auswendig, weil er immer, wenn ein neuer Redner ans Pult trat, sofort dessen Personalien nachschlug.
Der Politiker, den Gustav am wenigsten leiden konnte, war Horst Ehmke von der SPD. »Ähh!« rief Gustav, wenn er den erblickte. »Dieser widerliche Ehmke!« Bei dessen Anblick komme ihm die Galle hoch. Ehmke war aber auch wirklich kein Adonis. »Swienplietsch«, sagte Gustav, das sei das richtige Wort.
Aus Opas Bücherschrank holte ich mir einen schiefgelesenen Wälzer raus, über Adolf Hitler, und setzte mich damit in den einen Wohnzimmersessel. Alan Bullock: »Hitler. Eine Studie über Tyrannei«.
Adolf Hitler wurde am 20. April 1889, abends halb sieben, im ›Gasthof zum Pommer‹ in der kleinen Stadt Braunau geboren …
Und dann noch fast achthundert Seiten im pechschwarzen Umschlag. Ich blätterte zum Fototeil vor: Hitlers Eltern sahen absolut panne aus. Die Mutter wie ein verängstigtes Hühnchen und der Vater mit einem Oberlippenbärtchen wie aus der Staubsaugertüte. Oder dann so ein schielender Nazi auf einem Foto aus dem Bürgerbräukeller. Und Hitlers Freudentänzchen, 1940, bei der Nachricht von der Kapitulation der Franzosen.
In dem Buch wurde genauestens beschrieben, wie Hitler immer alle hinters Licht geführt und angelogen hatte. Großmäulig seine Friedensliebe kundgetan und im Hinterzimmer mit den Generälen heimlich schon die Aufmarschpläne für den Polenfeldzug ausgeheckt. Auch die eigenen Parteigenossen hatte Hitler abknallen lassen, wenn sie ihm im Weg gewesen waren. Und dann die Konzentrationslager, mit Gaskammern für die Juden …
Als Kleinkind war ich mit meinem Kett-Car ja mal einer Nachbarin in die Hacken gefahren. Die hatte ins Krankenhaus gemußt, und dann hatte es noch einen häßlichen Streit mit Papas Haftpflichtversicherung gegeben, weil die nicht dazu bereit gewesen war, das fällige Schmerzensgeld herauszurücken. Immer, wenn ich daran dachte, sah ich diese Frau mit ihrer blutigen Ferse vor mir. Als Vierjähriger ist man ja vielleicht noch nicht für alles verantwortlich, was man anstellt, aber Hitler hatte seine Verbrechen als Erwachsener begangen, in voller Absicht: Wie hatte der das bloß aushalten können? Zu wissen, daß er mit seiner Politik Millionen Menschen unter die Erde brachte? Und dann die Kriegskrüppel, die ja auch nach Millionen zählten: Arm ab, Bein ab, taubstumm, blind …
An Hitlers Stelle wäre ich verrückt geworden. Der größte Feldherr aller Zeiten, kurz GröFaZ.
»Der hätte gar nicht verrückt werden können, denn der war schon verrückt«, sagte Gustav am Abendbrotstisch, und Oma erzählte von einer Jüdin, die sich in ihrer Wohnstube aufgehängt habe, hier in Jever, in der Nazizeit. Eine Hebamme. »Und die hat deine Mutter auf die Welt geholt, mien Jung! 1929! Das werd’ ich nie vergessen. Und dann ist dieser frostige Winter gekommen, brrr! Da haben wir ja kaum gewußt, wie wir in der eisigkalten Wohnung unser frierendes Würmchen warmhalten sollten. Vielleicht ist aus deiner Mama ja deshalb so’n Frosteköddel geworden.« Und dann die Inflation: »Du leeve Tied! Zehn Millionen Mark für einen Liter Milch!«
Opa saß kauend und schweigend dabei und fingerte sich Wurstfasern aus dem Gebiß.
Ein Glück, daß wir den Krieg nicht gewonnen hatten. Sonst hätte ich jetzt in der Hitlerjugend dienen dürfen: Paraden, Schanzenbau und Wehrsport, das hätte mir ja nun echt noch gefehlt.
Die Nachricht von dem Eisenbahnunglück stand am Mittwoch im Jeverschen Wochenblatt, und das war der Beweis für meine Unschuld:
Zwei Mitarbeiter des Straßenbauamtes Aurich wurden am Montag bei einem Zusammenstoß mit einem Eilzug auf einem mit Lichtzeichen gesicherten Bahnübergang bei Loppersum (Kreis Norden) getötet. Nach Angaben der Polizei hatte der 54 Jahre alte Fahrer des Autos das Blinkzeichen nicht beachtet. Der Pkw wurde in der Mitte des Bahnübergangs des planmäßigen Eilzuges erfaßt und 25 Meter mitgeschleift.
Nun wußte man ja schon mehr, aber mir war immer noch unklar, was ich da am Zugfenster vorbeifliegen gesehen hatte.
Ein paar Tage davor war im Wochenblatt der Bericht von einer Tagung der Allianz-Versicherung erschienen, mit einem Foto von Opa, der bei dieser Tagung eine Rede gehalten hatte, auf plattdeutsch, im Audienzsaal des Schlosses. Den Artikel hatte Oma ausgeschnitten. In Jever gehörte Opa zur Lokalprominenz.
In der Veranda wimmelte es von Ameisen. Die krabbelten durch ein Loch im Fensterrahmen herein und waren nach Opas Meinung auf irgendwelches Ungeziefer in den Topfpflanzen aus. Auf den Fensterbänken bekämpfte Oma die Ameisen mit Backpulver, das sie nicht abkonnten, und im Vorgarten mit kochendheißem Wasser: Das kippte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, auf die verkehrsreichsten Ameisenstraßen. So erbarmungslos wie das eine Katervieh bei Wilhelm Busch:
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf, die Augen gluh.
Hinten im Garten rupfte Opa Löwenzahn und anderes Unkraut aus dem speckigen Kartoffelackerboden. (Drei Kreuze, daß ich nicht auch in Jever zu sowas herangezogen wurde.) Am Ende des Grundstücks hatte es früher mal einen Maschendrahtzaun gegeben und dahinter einen Bauernhof, und man hatte die Schweine mit Fallobst füttern können. Die waren ganz versessen darauf gewesen. In ihrer Freßgier hatten sie gequiekt und sich um jeden einzelnen Appel gebalgt, auch wenn er schon schimmelig und braun gewesen war, mit Wurmlöchern und weißem Pilzbewuchs.
Der Bauer hatte seinen Hof irgendwann verkauft, und jetzt war leider keine Sau mehr da.
Gegen Bayern trat Real Madrid diesmal mit Breitner an, und der wurde von den Bayern-Fans gnadenlos ausgepfiffen. Gerd Müller sorgte mit seinen Toren für einen 2:0-Sieg, und dann kamen noch Ausschnitte aus den anderen Spielen, aber die erwiesen sich, wie Gustav sich ausdrückte, als »weniger erquicklich«. Aus den europäischen Vereinswettbewerben schieden Eintracht Frankfurt und der HSV nach ihren Niederlagen aus.
»Da beißt die Maus keinen Faden ab«, sagte Gustav, und dann ging er pullern, ziemlich lange und laut, denn er hatte sechs Flaschen Bier getrunken.
Oma war am Abtrocknen, und im Küchenradio lief ein Hit dieser schwedischen Trallala-Band, mit der ich mich nicht anfreunden konnte.
Knowing me, knowing you (ah-haa)
There is nothing we can do …
Gustav erlaubte mir, seine Bücher zu lesen. Er besaß unter anderem »Alle meine Tore« von Uwe Seeler, eine Chronik der amerikanischen Präsidenten, und auch ein Buch über die Beatles, aber das hatte er selbst nicht bis zu Ende gelesen: Es tangiere ihn, wie er sagte, nur peripher, ob sich die Beatles die Zähne mit Blendamed oder Colgate putzten, dem Doppel-Stopper gegen Mundgeruch.
Das Nachschlagewerk »Das treffende Zitat« war nach Stichworten geordnet.
Das jüdische Volk wagt einen unversöhnlichen Haß gegen alle Völker zur Schau zu tragen, es empört sich gegen alle seine Meister; immer abergläubisch, immer gierig nach dem Gute anderer, immer barbarisch –, kriechend im Unglück und frech im Glück.
Ein Zitat von Voltaire. Ob das Buch aus der Nazizeit stammte? Nein, das war eine Neuauflage aus dem Jahr 1974, und Gustav verriet mir, daß auch Oma keine wind- und wetterfeste Demokratin sei. Wenn er mir das hier einmal stecken dürfe. Die habe zum Beispiel was gegen Hänschen Rosenthal, diesen hopsenden Fernsehfritzen, weil das ein Jude sei. Bei dessen Sendung Dalli-Dalli habe Oma mal gesagt: »Geh mir weg mit diesem Itzig!«
Eines Morgens machte Omas Herz Theater, und sie mußte zu Tante Doktor. Von der verschriebenen Medizin fühlte Oma sich schlagartig aufgemöbelt, aber was einfach nicht weichen wollte, trotz Tante Doktors Behandlung, war Opas ewiger Husten. Wenn Opa sich morgens im Badezimmer mit elektrischem Gebrumm rasierte, konnte man das Gehuste und Geröchel gut bis in die Küche hören. Das waren die Salven, die jeden Morgen ertönten, während Oma den Frühstückstisch deckte. Brettchen, Tassen, Butterdose, Teelöffel, Messer, Marmeladengläser und Kandiszuckertopf.
»Vati hat wieder seinen ollen Pferdehusten«, sagte Oma dann.
Als im Radio ein Bericht darüber kam, daß irgendwelche kubanischen Söldner in Angola gelandet seien, um dort den Frieden zu sichern, kuckte Opa mich böse an und rief: »Waffen! Was haben denn Waffen mit Frieden zu tun?«
Opa hatte einen Rochus auf die Kubaner, aber was da wirklich los war in Angola, zwischen Russen, Amis, Angolanern und Kubanern, das entzog sich meiner Kenntnis.
Vorm Einschlafen las ich in Gustavs alten Fußballbüchern. Wie Helmut Rahn 1954 den Siegtreffer im WM-Endspiel erzielt hatte, aus der Sicht von Fritz Walter:
Der Ball flitzt knapp am Pfosten vorbei in den Kasten und auf der anderen Seite schon wieder heraus, so unheimlich schnell ist seine Fahrt. Der Schiedsrichter pfeift …
Oder Uwe Seelers Memoiren: »Der Lütte muß in einen Kindergarten«, hatte Seelers Mutter eines Tages gesagt, »er wird zu wild. Er hat jetzt schon nichts mehr im Kopf als nur noch Fußballspielen!«
Friede sei mit dir, o Frau Seeler.
Mama rief an und sagte mir, daß ich mich als Konfirmand am Karfreitag ruhig auch mal in Jever in der Kirche blicken lassen könne. Das sah auch Oma so, und wir gingen zusammen hin.
Die Stadtkirche war 1959 abgebrannt, weil da wohl ein Bauarbeiter im Dachstuhl seine Zigarette nicht richtig ausgedrückt hatte. Vor den Flammen gerettet worden war das Edo-Wiemken-Diekmal, das man jetzt noch in der Kirche bekucken konnte. Das stand hinter einer Glaswand. Ein riesiges geschnitztes Dingens aus dem sechzehnten Jahrhundert, zur Erinnerung an Edo Wiemken, den letzten Häuptling des Jeverlands.
Der Kirche war größer und lichter als die in Meppen, aber das Gesinge hörte sich nicht viel besser an als in der Gustav-Adolf-Kirche.
Wenn ich einmal soll scheiden,
so scheide nicht von mir!
Für die Kollekte steckte Oma mir zwei Groschen zu, und sie hielt Ausschau nach Bekannten und entdeckte auch so einige: Frau Mammen, Frau Petersen, Frau Pfaff, Frau Börger, Herrn Kammrath, Frau Dingsbums und Herrn Sowieso. Alte Freunde der Familie, die hier schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten zur Gemeinde gehört hatten und jetzt auf Krückstöcke und künstliche Hörhilfen angewiesen waren.
Am Nachmittag fuhren wir allemann mit Tante Gisela im Auto ins Wangerland, nach Ziallerns, ein sogenanntes Wurtendorf mit krähenden Hähnen, blühenden Osterglocken und einer angeblich niemals versiegenden Süßwasserquelle. Durch die Gärten streunten goldgelbe und schwarze Katzen.
Das müsse man mal gesehen haben, sagte Oma, und Opa sagte, eine Wurt sei eine künstliche Erhöhung aus Kuhmist und Marschenklei. Die hätten die Bewohner hier schon vor Jahrhunderten errichten müssen, als der Meeresspiegel angestiegen war, sonst hätten sie sich nasse Füße geholt.
Wir gingen einmal rundherum und fuhren dann wieder nachhause.
Am 28. Spieltag fegte Gladbach Karlsruhe mit 4:0 vom Platz. Und Klaus Fischer hatte schon wieder zwei Tore geschossen.
Für die Eiersucherei am Ostersonntagmorgen fühlte ich mich eine Spur zu alt, aber ich tat Oma und Opa den Gefallen, ihnen vorzugaukeln, daß ich es ganz toll fände, im Garten schlecht versteckte Ostereier aufzuspüren. Die ersten drei fraß ich nach dem Pellen auf einen Satz auf und bekam plötzlich keine Luft mehr. Gustav klopfte mir auf den Rücken, und Opa schüttelte den Kopf.
Die nächste Autoreise führte uns zum Knyphauser Wald bei Rispel, einem Örtchen in der Nähe von Wittmund. Fichten gab es da zu sehen, Birken, Buchen, Wassergräben und einen voluminösen See, aber der Knyphauser Wald war nicht so der Bringer. Bis auf den See hätte ich das alles auch in Meppen haben können.
Papa kam mit Renate und Wiebke, um mich wieder abzuholen. Sie hatten mir einen Brief von Michael mitgebracht.
Hallihallo!
Ferien! Endlich Zeit, Dir den angekündigten langen Brief zu schreiben. Vorher war zuviel los: Klassenarbeiten, Hausaufgaben, Pauken … na, das hat ja jetzt alles ein Ende, zumindest für kurze Zeit. Aber wenn ich ehrlich bin … eigentlich war es gar nicht die Schule, die mich so beansprucht hat, sondern mein neuer Elektronikbaukasten. Auf der Verpackung stand ganz groß drauf: Hieraus kann man ein Radio bauen. Zwar nicht wörtlich, aber sinngemäß. Also fing ich gleich an meinem Geburtstag zu basteln an. Ich dachte, das sei so wie bei ’nem Modellflugzeug: Man setzt sich hin, legt alle Teile zurecht und baut sie dann einfach zusammen. Von wegen! Da mußten erstmal Versuche gestartet werden mit Parallelschaltungen, Wechselschaltungen, Wasserstandsmeldern und all so ’nem Zeugs, was nicht das Geringste mit ’nem Radio zu tun hat. Und weil wir (meine lieben Brüder natürlich auch) alles ganz richtig machen wollten, haben wir diesen ganzen Dreck auch zusammengefrickelt. Nach ein bis zwei Wochen war es dann endlich soweit: In dem Anleitungsbuch kam die Aufbauschaltung für ein Mittelwellenradio. Ich schloß mich in meinem Zimmer ein (das wollte ich ganz alleine machen) und fing an. Mensch, war das ein Kuddelmuddel aus Drähten, Widerständen, Kondensatoren und anderen Gerätschaften, von denen ich noch nie was gehört hatte. Außerdem mußte ich noch ’ne 6 m lange Antenne aus Draht anfertigen. Mein ganzes Zimmer war bis obenhin mit Drähten vollgestopft. Als schließlich alles fertig war, schob ich feierlich den Knopf nach links, steckte mir die Hörer in die Ohren und lauschte versonnen in die Stille, die mich umgab. Nach stundenlangem Suchen fand ich heraus, daß ich einen Draht ins falsche Loch gesteckt hatte. Also nochmal die Ohrhörer angelegt, Knopf nach links und gelauscht. Jetzt brachte sich immerhin ein leises Rauschen zur Geltung. Nach dem Versetzen einiger Drähte und eifrigem Drehen am »HF-Gewindekern«, der irgendwo versteckt unter den Drähten lag, hörte ich irgendwo im fernen Weltenraum eine menschliche, wenn auch ausländische, Stimme. Da ich inzwischen einige Übung im Drehen und Versetzen hatte, gelang es mir sogar, die verzerrten Umrisse von so etwas Ähnlichem wie Musik zu vernehmen, allerdings sehr leise. Aber diese armselige Ansammlung von Drähten und Kondensatoren auf meinem Tisch als Radio anzusehen, das brachte ich trotz größter Willenskraft nicht fertig.
Doch es war noch nicht aller Tage Abend, denn in meinem Kasten befand sich noch eine ansehnliche Zahl von Drähten, Kondensatoren usw., und es gab auch einen Drehknopf für die Senderwahl und zwei andere, einen für die Lautstärke und einen, um das lästige Rauschen wegzukriegen. All das in einem hübschen weißen Gehäuse mit einer dunklen Abdeckplatte. Sogar für die drei Batterien war Platz. Das sah ja alles sehr vielversprechend aus. Aber dann begann eine Pechsträhne: Zuerst ging mir einer von den Drehknöpfen kaputt (4,50 DM). Dann zerbarst ein Transistor (2,50 DM). Sodann zerriß ein Ohrhörer (1,20 DM). Das mußte ich alles neu bestellen (ein Bestellschein lag bei) und den Betrag per Zahlkarte überweisen (1,00 DM). Summa summarum kostete mich die Kaputtgeherei also 9,70 DM plus 2,00 DM für die Verpackung. Also 11,70 DM. Dazu noch die ganze Schererei mit dem zur Post gehen, Zahlkarte ausfüllen … und dann das Warten. Übrigens hatten die mir auch einen neuen Bestellschein geschickt, und auf dem kostete der Drehknopf schon 6,50 DM. Uff!
Endlich kam das Päckchen an, aber ohne Ohrhörer, weil die Vollidioten keinen hatten. Nachlieferung in zwei Wochen. Und als ich glücklich alles wieder beisammenhatte, machte ein Kondensator schlapp. Da ich zum Bestellen keine Lust mehr hatte, ging ich in das nächste Elektrogeschäft und holte mir einen für zwanzig Pfennig. Jetzt frag ich mich, warum ich wegen der anderen Sachen nicht auch in das Geschäft gegangen bin. Na ja, auf jeden Fall klappte das mit dem Radio dann leidlich gut, und ich konnte sogar bald auf diese Scheißdrahtantenne verzichten.
Meine Mutter hatte am 9. Geburtstag. Was kriegt sie? Ein Radio!
Und dann ist mir noch was Blödes passiert: Der Bogen von meiner Geige ist mir durchgebrochen. Ich hatte den Harald in die Seite gepiekt, na, und da hat er halt zugehauen. Mein Geigenlehrer hat gesagt, das billigste Ding sei so 50 DM teuer. Mich hat bald der Schlag getroffen. Zum Glück hat Holger sich als Bastler betätigt und den Bogen mittels Holzleim und weißen Klebestreifen wieder zusammengepappt. Wenn ich nach der Konfirmation genug Geld habe, dann hole ich mir einen neuen. Hoffentlich hält der alte noch so lange.
Das mit dem Zelten in den Sommerferien, das klappt auch nicht. Harald hat kein Geld mehr, um sich ein Zelt zu kaufen. Der Holger hat sowieso kein Geld, und ich … das geht alles für den Bogen drauf, denn soviel Zaster werde ich zur Konfirmation auch nicht bekommen, daß es dazu reicht.
So, Schluß für heute, und ich werde auch nicht mehr so schreibfaul in nächster Zeit (hoffe ich).
Schö, Michael
P.S. Zum Damespiel: Ich geb’s auf!
Eine Gemeinheit! Feige aus dem Spiel auszusteigen, nur weil ich das schon so gut wie gewonnen hatte!
Immer klappte alles nicht. Immer, immer kriegte man eins vor die Zwölf, mittenrein, wenn man sich auf was Schönes gefreut hatte, und sei’s auch nur ein Sieg im Damespiel oder ein Zelturlaub in den Ferien.
Auf der Rückfahrt nach Meppen wollte ich in meinem Fußballbuch lesen, aber Wiebke war am Kotzen, Papa am Mosern und Renate wegen irgendwas am Flennen. Da hätte sich auch der stärkste Mann der Welt nicht mehr auf Franz Beckenbauers Beschreibung seiner Ballannahmetechnik konzentrieren können.
In Meppen mußte Papa abends gleich wieder los, um Mama und Volker vom Bahnhof in Rheine abzuholen.
Wiebke lief zu ihrem geliebten Hamster hoch, und Renate sagte, daß Papa Mama versprochen habe, in der Zeit ihrer Abwesenheit den VW zu reparieren, aber daraus sei nichts geworden. Und nun müßten sie und Mama mit dem Zug nach Bielefeld juckeln. »So ein Umstand! Wenn Papa den VW in ’ne Werkstatt gebracht hätte, wäre der längst wieder verkehrstüchtig!«
Gegen Mitternacht kamen Mama, Papa und Volker in Meppen an. Bei der ewig langen Überfahrt nach Hoek van Holland, sagte Mama, hätten hoher Seegang und infolgedessen allgemeine Übelkeit obwaltet.
Im Wohnzimmer entkorkte Papa eine Flasche Weißwein. Nachdem alle angestoßen und den ersten Schluck getrunken hatten, sagte Papa, daß er mit sich zu Rate gegangen sei und beschlossen habe, sich einen Tag freizunehmen und Renate am Donnerstag nach Bielefeld zu fahren.
Das war ein Wort.
»Dann fahr ich aber mit!« rief Mama.
Wiebke schlief schon, aber ich noch nicht, und zur Feier des Tages kriegte ich nun auch mal einen Schluck Wein zugeteilt. Der schmeckte säuerlich, und als ich ihn runtergewürgt hatte, wußte ich nicht, was ich davon halten sollte.
Mama schwärmte von den Londoner Museen (eins davon mit Thomas Edisons erster Glühbirne). London, das sei eine Weltstadt aus lauter Kleinstädten. Übrigens hätten da herrenlos herumstehende Gepäckstücke dem nächsten Bobby gemeldet werden sollen, wegen der vielen Bombenattentate, und einmal habe Mama genau einem solchen Gepäckstück gegenübergestanden, aber keinen Bobby gesehen, und ’ne halbe Stunde später sei die Stelle von der Polizei abgeschirmt und von Menschen umlagert gewesen. Volker habe sich währenddessen Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett angesehen. Und nun noch was ganz anderes: Im feinen Pipps Hill Country Club, sagte Mama, hätten Volker und sie das Schwimmbad benutzen dürfen, weil Tante Therese und Onkel Bob da »members« seien. »Und Norman, dieser Größenwahnsinnige, der hat sich jetzt ’n Sportwagen mit Lotusmotor angeschafft!«
Nur habe Volker leider nie die Klappe aufgemacht und sich bloß immer verschämt »Hello« und »Good-bye« abgebängt.
Dann wurden Klamotten ausgepackt, von Marks & Spencer, die schwere Menge. Für mich fiel ein gnatschblaues, mit meterlangen Kragenlappen versehenes Hemd ab, dem mit unbewaffnetem Auge anzusehen war, daß man nicht mehr in die Sauna zu gehen brauchte, wenn man das Ding einen Tag lang getragen hatte.
»Don’t drink water because fish shit in it«, sagte Papa.
Am Ostermontag kriegte Papa Volker, Wiebke und mich zur Gartenarbeit ran: Klee aus dem Rasen rupfen. Keinen anderen Menschen auf der Welt hätte das kümmerliche bißchen Klee zwischen den Grashalmen gestört, aber Papa war jedes einzelne verdammte Kleeblättchen ein Dorn im Auge. Der Klee würde sich über den ganzen Rasen ausbreiten, wenn man nichts dagegen unternehme, behauptete Papa, und dann hätten wir irgendwann keinen Garten mehr, sondern ’ne Unkrautplantage.
Na und? Ich hätte lieber in ’ner Unkrautplantage gewohnt, statt den Rasen stundenlang nach wildwüchsigen Kleeblättern zu durchforsten. Und das an einem der heiligsten Feiertage der Christenheit!
»Nun stell dich doch nicht so bockbeinig an«, sagte Mama. »Gartenbesitzer müssen halt auch mal was tun für ihr Paradies! Ihr freut euch doch auch alle darüber, daß wir hier ’n schönen Garten haben und nicht irgendwo im Hochhaus eingepfercht sind!«
Nein, darüber freute ich mich nicht im mindesten.
In Deutsch las der Wolfert eine Erzählung des Dichters Heinrich von Kleist vor, eine »Ankedote aus dem letzten preußischen Kriege«, von anno dunnemals. Wie da ein Reiter gegen die Franzosen losgeritten sei:
»Bassa Manelka!« ruft der Kerl, und gibt seinem Pferde die Sporen und sprengt auf sie ein; sprengt, so wahr Gott lebt, auf sie ein und greift sie, als ob er das ganze Hohenlohische Korps hinter sich hätte, an; dergestalt, daß, da die Chasseurs, ungewiß, ob nicht noch mehr Deutsche im Dorf sein mögen, einen Augenblick, wider ihre Gewohnheit, stutzen, er, mein Seel, ehe man noch eine Hand umkehrt, alle drei vom Sattel haut, die Pferde, die auf dem Platz herumlaufen, aufgreift, damit bei mir vorbeisprengt, und »Bassa Teremtetem!« ruft, und »Sieht Er wohl, Herr Wirt?« und »Adieus!« und »auf Wiedersehn!« und: »hoho! hoho! hoho!« – – So einen Kerl, sprach der Wirt, habe ich zeit meines Lebens nicht gesehen.
Kleist, sagte der Wolfert, sei der bedeutendste Grammatiker der deutschen Literaturgeschichte.
Auf dem Pausenhof stürzten Hermann Gerdes und ich mit Luftsäbeln aufeinander los: »Bassa Menelka!« rief Hermann, und ich rief: »Bassa Teremtetem!«
Besser das als alle Dreieckskongruenzsätze in Mathe oder in Erde die natürlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Agrarnutzung und des Wandels der Agrarlandschaften in den USA und in der UdSSR. Kolchosen und Sowchosen. Obwohl ja auch die zur Allgemeinbildung gehörten.
Morgens um halb acht klingelte es an der Tür: ein Eilbrief, für Renate von Olaf! Wiebke flitzte damit hoch in Renates Zimmer. Was in dem Schrieb drinstand, würde man wahrscheinlich nie erfahren.
In Englisch kam ich auch ohne größere Anstrengungen einigermaßen zurecht. Das fiel mir irgendwie so zu.
New York is the most active city on earth, with the world’s biggest harbour, busiest station, largest department store, highest skyscraper, largest theatre.
Die Insel Manhattan hatte ein Holländer den Indianern vor 350 Jahren für ein paar Glasperlen und anderen Krimskrams abgekauft.
In Physik lernte ich das Wort »Proportionalitätsfaktor« kennen. Der reinste Zungenbrecher. Fischers Fritze fischte frische Proportionalitätsfaktoren.
Mittags stürzte ich mich auf Michael Gerlachs neuesten Brief.
Gähn!
Mensch, ist das hier langweilig! Nichts los, nichts zu tun, zu nichts Lust. Deshalb sitz ich ja auch um elf Uhr nachts noch hier und schreibe dämliche Briefe an noch dämlichere Ostfriesen in Meppen.
Vor Tatendrang zu bersten würde mir auch nicht helfen, denn was nützt einem der Tatendrang, wenn keine Taten da sind? Außer Geschirrspülen und Staubsaugen? Noch nicht mal Lust zum Schlafengehen hat man. Zumindest nicht vorher. Morgen penne ich garantiert bis 12 Uhr mittags, wie ich das bisher an jedem Ferientag gemacht habe. Außer an einem, da sind der Harald, der Holger und ich zum Köppel gefahren. Was heißt gefahren, geächzt! Zumindest ich. War total fertig. Beinah wäre ich auf’m Rad noch eingeschlafen, bloß die rasenden Kopfschmerzen waren hinderlich. Na, der Rückweg ging dann ja, den schmalen Serpentinenweg runter und dann über Ransbach-Baumbach.
Dabei habe ich mir den rechten Zeigefinger an der Gangschaltung aufgerissen. Irgend so’n tückischer Draht lünste vor, und schon war’s zu spät. Sauerei, verdammte. Hindert außerordentlich am Schreiben, so’n aufgeschlitzter Finger. Aber was tut man nicht alles gegen die Langeweile. Selbst größte Schmerzen scheut man nicht.
Jetzt isses halb zwölfe. Scheiße.
Bin immer noch nich’ müde. Wenn ich schon das ungemachte Bett sehe, vergeht mir die Lust am Pennen. Überhaupt sieht meine Bude aus wie’n Saustall, nur ohne Sau (oder irre ich mich?). Daran ist diese vermaledeite Antenne vom Elektronikbaukastenradio nicht unschuldig. Die fliegt nämlich irgendwo hier im Zimmer rum. Momentan in meinem Gesicht. Aber daran hab ich mich schon gewöhnt, an dieses bribblige Gefühl in der Nase, wegen meiner Brille. Die is’ kaputt, und weil ich zu faul bin, sie zur Reparatur zu bringen, laß ich sie einfach in meine Nase pieken. Das hält mich wenigstens wach, tagsüber.
Die Patrone vom Füller läßt nach. Wahrscheinlich, weil er wie verrückt ausläuft, aber nich’ aufs Papier, nee, auf meine Finger. Besonders auf den aufgeschlitzten. Au, das brennt. Mensch, geht’s mir dreckig!
So, mir reicht’s. Vielleicht schreib ich den Brief morgen weiter, wenn ich besserer Laune bin, was allerdings sehr unwahrscheinlich ist.
Du hast Pech, ich hab einigermaßen gute Laune. Wir haben den ganzen Vormittag Monopoly gespielt. Ich hab verloren. Harald und Holger sind noch dran. Sonst ist nichts los gewesen.
Bleibt noch Tschüß zu sagen. Und: Happy Birthday to you!
Ach Gott, ja, mein 14. Geburtstag! Der würde ohne Feier über die Bühne gehen. Wen hätte ich schon dazu einladen sollen, außer Hermann Gerdes?
Ich schrieb zurück, daß auch Meppen vom Virus der Langeweile befallen worden sei und herzzerreißend unter dessen Knute stöhne. Das heißt, der einzige, den ich stöhnen hörte, war ich selbst. Alle anderen schienen das Leben in Meppen für ganz normal zu halten, abgesehen vielleicht von Renate, der bei jedem ihrer Besuche spätestens am dritten Tag die Decke auf den Kopf fiel.
In ihrem alten Zimmer war Renate am Packen. Im Flur standen schon drei Koffer, ein pralles Einkaufsnetz, ein Papierkorb mit Kleiderbügeln, Pappröhren mit Postern, eine Henkeltasche mit dem zusammengefalteten Bettüberwurf, zwei Klappstühle und ’ne rote Holzkiste mit Küchengeschirr, und quer in der Landschaft lag Renates Flokati, eingerollt und verschnürt.
Unser Haus auf dem Mallendarer Berg sollte nicht wieder neu vermietet, sondern endgültig verkauft werden. Das eröffnete Mama uns abends beim Schnittenschmieren. In den Sommerferien wollten Papa und sie Haus und Garten auf Zack bringen und die Immobilie dann an den Meistbietenden verscheuern.
Aus der Traum!
Und dann sollte Mama ein neues Auto bekommen. Von dem durchgerosteten VW hatte Papa die Faxen dicke.
Am Donnerstag kaufte ich mir nach der Schule zum erstenmal im Leben den Spiegel, von meinem eigenen Taschengeld. Wenn Gustav dazu in der Lage war, dann konnte ich das ebenfalls.
Mama war nach dem Frühstück mit Papa und Renate nach Bielefeld abgedüst und hatte Volker vorher alle Handgriffe beigebracht, die er kennen mußte, um Wiebke, mich und seine Wenigkeit mittags mit Dosenravioli zu versorgen.
Zum Nachtisch pfefferte Volker drei Kirschjoghurtbecher auf den Tisch. »Löffel könnt ihr euch ja wohl selber holen!« Und dann braute er sich in der Küche einen Kaffee zurecht.
»Auto-Preise – Die Konzerne schlagen zu«, so hieß die Titelgeschichte der aktuellen Spiegel-Ausgabe.
Nachdem Daimler Anfang 1976 getreu den Bräuchen der Branche die Vorstellung seiner neuen »kleinen Klasse« zu einem Aufschlag von etwa acht Prozent genutzt hatte, folgten ungeniert die Produzenten von Massenautos: Ford legte, noch vor Abschluß der Lohnrunde, fünf Prozent Preisaufschlag vor, Volkswagen erhöhte am 29. März im Durchschnitt um 4,6 Prozent. Die General-Motors-Tochter Opel folgte einen Tag später: Ihre Verkäufer verlangen seither 4,7 Prozent mehr.
Ob man sich das merken mußte? Gustav hatte sich das bestimmt alles bereits am Montag durchgelesen und es bis ins kleinste Detail in seine Gehirnwindungen eingekerbt, irgendwo neben den Ergebnissen jedes Spieltags der Bundesliga seit 1963.
Wenn es zur Zeit Christi schon Atomreaktoren gegeben hätte, dann wäre laut Spiegel jetzt erst ein Prozent der Zeit abgelaufen, in der der Atommüll von damals radioaktiv gestrahlt hätte. Ein einziges mageres Prozentchen, nach zweitausend Jahren! Das hatten irgendwelche Physiker ausgerechnet. Also produzierten die Atomstromfabrikanten unserer Tage Müll, den unsere Nachfahren noch in rund zweihunderttausend Jahren wie die Schießhunde bewachen müßten. Da konnte man ja wohl nur mit den Ohren schlackern. So eine Frechheit! Hier die dicken Leuchtreklamen anbringen, und die Zeche dafür durften noch im Jahr 201976 die Nachfahren bezahlen, denen wir unsere Atommüll-Endlagerstätten vererben wollten? Was konnte da nicht alles vorfallen, in zweihunderttausend Jahren, wenn man bedachte, was allein in den letzten fünfzig Jahren los gewesen war: Zweiter Weltkrieg, Hiroshima, Korea-Krieg, Vietnam-Krieg …
Im Spiegel stand auch ein Artikel über bayrische Katholiken, die mit einem »Gebetssturm« gegen den Sexualkundeunterricht kämpften, damit »alles wieder echter und sauberer wird« und die Kinder aus dem »Teufelskreis der Onanie« wieder zu »Zucht und Ordnung zurückfinden«.
Dann gab es noch Berichte über den Linksruck in Italien und das sadistische Härtetraining der US-Streitkräfte, und man erfuhr, daß Uli Hoeneß für eine Autogrammstunde zweitausend Mark verlangte.
Höchst interessant. Man ließ sich ja praktisch für dumm verkaufen, wenn man den Spiegel nicht las. Den wollte ich mir jetzt jede Woche holen und ihn am besten auch sammeln, so wie’s Gustav tat.
Pastor Böker bereitete uns auf den Konfirmationsgottesdienst vor und auf die Prüfungsfragen, die wir da zu beantworten hätten, in Anwesenheit der Gemeinde. Er spielte das schon mal durch: Wer wann was gefragt werde und welche Antwort man dann zu geben habe.
Lug und Trug. So wie früher in der Grundschule die vorab mit der Klassenlehrerin abgesprochene Stunde, wenn der Schulrat mit der Aktentasche auf dem Schoß ganz hinten gesessen hatte, um ein objektives Bild von der Qualität des Unterrichts zu gewinnen.
Am Ende würden wir einzeln nach vorne gerufen und eingesegnet, wobei wir knien müßten, und dann gäb’s die Konfirmationsurkunde.
Üben mußten wir auch das Verzehren der nach Pappe schmeckenden Oblate und das Nippen am Weinkelch.
Volker und ich hatten schon alle Jalousien runtergelassen, als Mama und Papa wiederkamen.
Renates Zimmer sei man winzig, aber nicht weit weg von der PH, sagte Mama. Einen Kleiderschrank hätten sie noch besorgen müssen, weil da nur ein Mini-Exemplar gestanden habe. Und dann stutzte sie: »Häch? Wie kommt’n der neue Spiegel hierher?«
»Den hab ich mir gekauft«, sagte ich.
»Aha? Und wovon?«
»Von meinem Taschengeld.«
»Na, kiek mol eener an! Aus Kindern werden Leute, was? Aber jetzt hopp ab ins Bett, wenn ich bitten darf. Marsch, marsch! Und vergiß nicht wieder, dir den Hals zu waschen!«
In einem Märchenfilm spielte die blutjunge Judy Garland ein Mädchen, das mitsamt ihrem Hündchen von einer Windhose ins Zauberland Oz geweht wurde und da sofort eine abgrundtief böse, grüngesichtige und spitznasige Hexe an den Hacken hatte. Um wieder nachhause zu kommen, brauchte das Mädchen Hilfe von einem Zauberer. Ein ziemlicher Mumpitz, das ganze, mit ’ner lebendigen Vogelscheuche, äpfelschmeißenden Bäumen und reichlich viel Singsang.
Somewhere over the rainbow
Bluebirds fly …
Und dann kam raus, daß alles nur ein Traum gewesen war. Wie blöd!
Tags darauf stand Mama mittags in meinem Zimmer und sortierte alte Plünnen aus: Jeans mit durchgescheuerten Knien, zu klein gewordene Oberhemden, verfärbte T-Shirts, Gürtel mit kaputter Schnalle und fransigen Kanten, ausgeleierte Unterhosen und Kniestrümpfe mit Kuhllöchern.
Es war eine weise Entscheidung gewesen, den Stern mit den nackten Nubierinnen nicht in meinem Kleiderschrank zu verstecken.
Oma Jever rief an, in heller Aufregung: Gustav sei vom Fahrrad gestürzt, in Göttingen, mitten im dicksten Stoßverkehr, und ohnmächtig ins Krankenhaus verbracht worden, in die Chirurgische Poliklinik, wo die Ärzte eine schwere Gehirnerschütterung festgestellt und ihm strengste Bettruhe verordnet hätten. Wenn er zu früh wieder aufstehe, werde er bis an sein Lebensende an Kopfschmerzen laborieren!
Einfach so, aus heiterem Himmel, sei an dem Rad der Lenker abgebrochen, wegen Materialermüdung möglicherweise, und Gustav, der sich an überhaupt nichts erinnern könne, müsse bei dem Unfall mit dem Kopp auf das Metallgestänge geknallt sein. So reime Gustav sich den Unfallhergang jedenfalls selbst zusammen, im nachhinein.
»Da hat er ja noch Glück im Unglück gehabt, unser Studiker«, sagte Mama, die als junge Frau auch ganz gern irgendwas studiert hätte, wenn das bezahlbar gewesen wäre, und dann ging sie in die Küche, Stullen schmieren. »Der soll sich bloß nicht so anstellen! Mutti hier mit seinen Wehwehchen zu beeindrucken, das sieht ihm mal wieder ähnlich, dem fetten Kerl!«
In der EM verpaßten uns die Spanier mit dem 1:0 in der 21. Minute einen Nasenstüber, aber in der zweiten Halbzeit konnte Erich Beer, der tüchtige Herthaner, ausgleichen. 1:1. Die Siegestrauben hatten für beide Mannschaften zu hoch gehangen, und darauf lief es auch hinaus, als wir die C-Jugend von Hesepe zu Gast hatten. Deren Mittelstürmer war ein Brecher im Kaliber von Bud Spencer und rannte mich einfach um. Bumm! Dafür kriegte er einmal die Gelbe Karte, aber viermal walzte er ungestraft über mich hinweg. Daß das Spiel unentschieden ausging, 4:4, hatten wir allein Didis Torinstinkt zu verdanken.
Nach der Schule kaufte ich mir am Montag bei Meyer den neuesten Spiegel. In der Titelgeschichte ging es um die Frau von Mao Tse-tung und deren Rolle in der chinesischen Politik. Tschiang Tsching, 63, war heiß darauf, als Nachfolgerin ihres Mannes Mao, 82, China zu regieren. Dieses Riesenland! War die denn plemm, die Alte? Hätte die nicht besser daran getan, Pullis für ihre Enkelkinder zu stricken?
In einer »Hausmitteilung« wurden diverse Schreibweisen des Namens des libyschen Staatschefs aufgelistet: Khadhafi, Ghaddafi, Ghadhafi, Gadaffi, Gadafy, Kazafy, Quaddafi und Gaddafi. »Lübien«, das sagte man, aber geschrieben wurde das: Libyen.
Im Spiegel stand auch was über den hessischen CDU-Abgeordneten Manfred Kanther, 36, der die Todesstrafe für »Terroristen deutscher Bauart« gefordert habe, über die Schnakenplage am Oberrhein, die Funktionsweise der Selbstschußautomaten an der DDR-Grenze, die Studentenunruhen in Frankreich und die Mammographie, eine maschinelle Art der Durchleuchtung weiblicher Brüste bei der Suche nach Krebszellen.
Der Radowski gab mir eine Sonatine von Dussek auf. G-Dur, op. 20. Die sollte ich Ende Mai bei einem Konzert in der Musikschule vorspielen. Wenn das nur mal gutging!
Ich freute mich über die Abwechslung, weil ich endlich Johann Sebastian Bachs erste zweistimmige Invention abhaken durfte, obwohl die immer noch nicht richtig saß, aber das Klavierstück von diesem Dussek war auch keine Erholung. Da verhaute ich mich oft, und bei jedem Fehler kreischte Mama aus der Küche: »Falsch!«
Ich hätte lieber mal was Flotteres gespielt. Tanzmusik. Boogie-Woogie, Rumba und Cha-Cha-Cha statt immer nur dieses dröge Etüdenzeugs.
Das Beste, was ich zu meinem vierzehnten Geburtstag geschenkt kriegte, war, außer dem Geld, ein Buch mit Geschichten von Edgar Allan Poe, das Onkel Dietrich mir zugedacht hatte. In dem Brief, der dabeilag, berichtete er vom Terrassenbau in Wiesbaden:
Du mußt wissen, daß jeder Stein und jeder Krümel Sand an der Straße abgeladen und dann mit der Schubkarre bis zum Haus gebracht werden muß. Alles in allem haben wir 5 m3 Erde und 9 m3 Kies und Sand weggefahren sowie 2800 Steine zur Verwendungsstelle befördert. Zum Nachbarn habe ich eine Wand aus Kalksandsteinen gemauert, die gleichzeitig einen Grill aufnimmt. Den Boden habe ich aus Klinkersteinen gemacht, die wie bei den ostfriesischen Straßen hochkant verlegt worden sind. Auf der Terrasse steht ein runder Betontisch, dessen Platte einen Durchmesser von 1,30 m hat, so daß die gesamte Familie bequem daran Platz findet …
Irgendwie schien das den Schlossers im Blut zu liegen, dieses ewige Bauen und Basteln und Fliesenlegen. Gut, daß wir hier schon ’ne heile Terrasse hatten, auch wenn Papa das Terrassendach für erneuerungsbedürftig hielt. Das bestand aus irgendeinem durchsichtigen Material, und auf der Oberseite hatten sich fette Blätterplacken angesammelt.
In einer der Geschichten von Poe stach ein Tierquäler und Säufer seinem schwarzen Kater ein Auge aus und erhängte ihn dann, aber der Kater spukte in seinen Träumen herum, und der verrückte Säufer kaufte sich einen neuen, ebenfalls einäugigen, der ihm bald unheimlich wurde, und als er mit einer Axt nach ihm haute, ging die Frau von dem Säufer dazwischen, und da erschlug er sie mit der Axt und mauerte die Leiche im Keller ein. Und als er der Polizei selbstgewiß die Kellerräumlichkeiten vorführte, fing hinter der Mauer der Kater zu schreien an. Die Polizisten stemmten die Mauer auf, und dahinter hockte der mitsamt der Leiche eingemauerte Kater auf deren Kopf.
Gut war auch die Geschichte, in der ein Mörder die Leiche seines Opfers unter den Zimmerdielen versteckt hatte. Die Polizei konnte er zwar davon überzeugen, daß der Mann, den er erstickt hatte, aufs Land gefahren sei, aber in seiner Einbildung hörte der Mörder das Herz des Opfers immer lauter und lauter schlagen, so daß er außer Rand und Band geriet und alles gestand.
Oder dann die Geschichte von dem lebendig Begrabenen oder die von dem gefesselten Kerkerhäftling, auf den sich im Zeitlupentempo ein schwingendes, halbmondförmiges Pendel herabsenkte, mit messerscharfer Klinge … Das war zehn Nummern besser als alles von Enid Blyton, die im übrigen bei Edgar Allan Poe abgekupfert hatte: Der Schimpanse, den sie in »Rätsel um die grüne Hand« als dressierten Dieb überführt hatte, stammte von dem mörderischen Orang-Utan aus Poes Kriminalgeschichte vom »Doppelmord in der Rue Morgue« ab.
Aus der Stadtbücherei wollte ich mir noch mehr von Poe besorgen. Dessen Geschichten waren weißgott spannender als meine anderen Freizeitbeschäftigungen, als da wären die chemische Analyse der Aggregatzustände der Stoffe und die physikalische Unterscheidung der Hubarbeit von der Reibungsarbeit.
Bei Comet kaufte ich mir einen Plastikball, um damit im Garten rumzukicken, aber dem Ball ging gleich beim ersten Schuß die Luft aus, und dann raste auch noch irgendein fremder Köter durchs offene Gartentor rein, stürzte sich auf den Ball und biß hinein.
Eins achtzig hatte sie mich gekostet, die Pille.
Weil die Drucker streikten, gab’s am Montag keinen neuen Spiegel zu kaufen. Die Verleger boten 5,4 % Lohnerhöhung, die IG Druck und Papier forderte 9 %, und der Gewerkschaftsboß Leonhard Mahlein regte sich über die »Aussperrung« auf, was ich nicht verstand, weil die Streikenden doch sowieso streikten. Da hätte es ihnen doch egal sein können, wenn sie »ausgesperrt« wurden. Oder nicht?
Mama boste sich über die Fotoabteilung von Ceka, weil die Englandfotos noch immer nicht fertig waren. »Das ist das allerletzte Mal gewesen, daß ich mich mit diesen Tröpfen eingelassen habe«, sagte Mama, aber das Problem war eben, daß die Filmentwicklung in Fachgeschäften wie Mundus viel mehr Geld verschlang.
Tante Dagmar teilte uns telefonisch mit, daß sie Anfang Mai nach Venedig und an den Gardasee reisen werde. Nach Venedig wollte Mama auch noch irgendwann einmal, bevor dieses illustre Lagunenstädtchen im Meer versank: »Ich hab’s nun mal nicht so bequem wie meine Schwestern, die zweimal im Jahr in Urlaub fahren können, und nach Venedig zieht’s mich mehr als nach Hebelermeer! Und nun mach mir mal die Tür auf!«
Ich tat wie geheißen, und Mama trug einen Stapel gebügelter und gefalteter Bettlaken, der ihr vom Bauch bis zum Kinn reichte, ins Obergeschoß hinauf.
Mama bügelte auch Papas Taschentücher, obwohl gebügelte Taschentücher zum Reinrotzen genausogut waren wie ungebügelte. Mama bügelte sogar Papas Unterhosen.
Der Kindesmörder Jürgen Bartsch hatte sich von Ärzten kastrieren lassen wollen, um sicherzustellen, daß er nie mehr einem Kind etwas antun werde, und nun war er bei der Operation an Herzversagen gestorben, in der Narkose.
Sie könne diesen Mann verstehen, sagte Mama. Der habe seine perverse Veranlagung erkannt und unter seinem eigenen Trieb gelitten, und er sei dazu bereit gewesen, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Das müsse man diesem Menschen zugutehalten, und vielleicht sei es das beste, auch für ihn selbst, daß er nun unter dem grünen Rasen liege. »Wer will denn schon mit so ’ner Schuld beladen durchs Leben gehen? Sich an Kindern zu vergreifen und die auch noch abzumurksen hinterher … hurrijassesnee! Und denk mal erst an die armen Eltern! Das kann man sich gar nicht vorstellen, was die durchzumachen haben. Die werden doch zeit ihres Lebens nicht mehr froh!« Und ich sollte Mama eins versprechen, in die Hand: »Daß du nie, nie, nie zu irgendeinem Fremden ins Auto steigst! Egal, was der dir sagt!«
Jürgen Bartsch, Andreas Baader und Hans-Georg Rammelmayr: Das waren die drei größten Gangster meiner Zeit, die ich dem Namen nach kannte. Und wen gab’s sonst noch so, aus vergangenen Tagen? Nero, Judas, Al Capone. Jack the Ripper und Billy the Kid.
In der Meppener Tagespost stand, daß am Donnerstagvormittag eine partielle Sonnenfinsternis zu erwarten sei, die um 10.24 Uhr ihr Maximum erreichen werde, aber davon war nicht viel zu merken, als ich in der Schule hockte.
Michael Gerlachs Schrift wurde von Brief zu Brief winziger. Da hätte mir ein Experte für Hieroglyphen gute Dienste leisten können.
Traramtrari!
Kommt Ihr wirklich in den Sommerferien? Wäre ja astrein! An Eurem Garten habe ich allerdings bis heute nichts entdeckt, was einer Aufbesserung bedürfte. Aber ich hab ja auch nur den Vorgarten gesehen. Und kommt Ihr die ganzen Sommerferien oder nur einen Teil davon? Denn wenn ich Schule aushab, kann man ja auch noch weggehen oder sonst was unternehmen. Mensch, ich bin schon ganz aufgedreht. Heißa! Wenn ich da aber so viel aufhabe wie heute, dann wird nicht viel aus den Unternehmungen.
Du wirst staunen, wenn Du das Reha siehst, jetzt wo’s fertig ist. Sieht eigentlich ganz passabel aus, besonders abends, wenn die überall das Licht anknipsen. Bin ja mal gespannt, wann sich da der erste Selbstmörder runterschmeißt. Die Schule gleich gegenüber ist auch schon im Rohbau. Komisch, für Schulen brauchen die nur die halbe Zeit. Typisch.
Wir werden übrigens am 30. konfirmiert. Am Dienstag ist »Generalprobe«. Hinknien üben und so weiter. Kann ja heiter werden.
Jetzt sind schon wieder sechs Tage vergangen. Und es hat sich etwas Unerwartetes begeben: nichts! Wer zum Deibel hat die Langeweile erfunden? Unbestreitbar einer meiner Vorfahren. Muß ich von ihm geerbt haben, dieses Talent.
Seit einer Woche ist mein Fahrrad kaputt. Bin aber zu träge, um mir Flickzeug zu kaufen. Aber ich würde mich wahrscheinlich auch dann nicht aufs Fahrrad schwingen, wenn’s repariert wär. Dazu bin ich nämlich auch zu faul.
Und jetzt bin ich auch noch schreibfaul geworden, gerade in diesem Moment.
Also, bis dann, und hoffentlich werden die Sommerferien nicht langweilig!
Tschüß, Michael
Stinksauer war Papa über die Telefonrechnung: 29 Mark hatte eins von den Afrikatelefonaten gekostet und ein anderes gar stolze 74! Er werde diese Sabbelkiste abschaffen und verschrotten, rief Papa und knallte die Kellertür hinter sich zu.
Mama klebte ihre Afrikafotos in zwei Alben, eins für uns und eins für Oma Schlosser. Einkleben mußte Mama auch die Fotos von der Englandreise, in das soundsovielte Elternalbum und andere Abzüge in Volkers Album: Trafalgar Square und Piccadilly Circus. Leider hatten die meisten Bilder aus England einen Blaustich.
Im Anschluß daran mußte Mama noch einen dicken Briefumschlag mit Fotos von Opas achtzigstem Geburtstag zur Post bringen, für die Jeveraner.
Fünfzehn Runden brauchte Muhammad Ali, um den Herausforderer Jimmy Young nach Punkten zu besiegen. Die Runden, fand ich, waren immer viel zu schnell wieder zu Ende gewesen, und Muhammad Ali hatte sich das Gesicht öfter als nötig mit beiden Boxhandschuhen zugehalten und sich in die Ringseile gelehnt.
Die tropfnassen Spargelstangen, die Mama mittags auf die Eßteller verteilte, sahen irgendwie unanständig aus, wie dünne Pimmelchen mit weichgekochter Eichel obendran, aber wenn das außer mir noch jemand dachte, dann behielt er es für sich, und ich war selbst nicht scharf darauf, bei Tisch die Ähnlichkeit zwischen Pimmeln und Spargelstangen zu thematisieren.
In der Begegnung zwischen Bremen und Gladbach, die 2:2 ausgegangen war, hatte Peer Roentved einen Elfer verschossen. Am Vorabend hatte Klaus Fischer mal wieder zwei Treffer gelandet, diesmal in Düsseldorf. Klaus Fischer – der neue Gerd Müller?
Als Professor sollte Gregory Peck in einem Spionagefilm von einem zwielichtigen Ölmagnaten einen Haufen Geld für die Entzifferung einer Schriftrolle bekommen und verknallte sich in dessen Frau, die von Sophia Loren gespielt wurde und ihn davor warnte, daß ihr Mann die Absicht hege, ihn kaltzumachen, und dann ging’s in die Vollen, mit Verfolgungsjagden und Schießereien.
Was die Leute alle an Sophia Loren so schön fanden, begriff ich nicht. Die mit ihren meterlangen Wimpern und der komischen Frisur?
Viel besser war am Sonntagabend der Film mit Jack Lemmon und Walter Matthau im Ersten. Die spielten zwei Männer, die zusammenwohnten, obwohl sie gar nicht zusammenpaßten, so wie Felix und Oscar in der alten Fernsehserie Männerwirtschaft, aber dieser Film schien noch älter zu sein. Der war offenkundig das Vorbild für die ganze Serie gewesen.
Die Wohnung gehörte dem schlampigen und verlotterten Trunkenbold und Sportreporter Oscar, und er ließ den von seiner Frau verlassenen Ordnungsfanatiker Felix bei sich wohnen, allerdings nur zähneknirschend, weil der ihm ständig die Sachen hinterherräumte und die schönsten Pokerpartien ruinierte, indem er Oscar und dessen Kontrahenten fettige Appetithäppchen vorsetzte.
Bei Felix Unger und Oscar Madison wäre ich gern eingezogen. In deren Domizil hätte es mehr zu lachen gegeben als in der Georg-Wesener-Straße 47. Felix hätte einen gut bekocht und einem jeden Morgen das Bett gemacht, und an Oscars Seite hätte man Sportveranstaltungen besuchen und Schabernack mit Nachbarinnen treiben können.
Es miechte mal wieder. Ein rauschender Regenguß wäre mir lieber gewesen als dieses tagelang anhaltende Tröpfchengepinkel. Wenn man morgens zur Schule fuhr, konnte man dem Himmel schon ansehen, was los war, und dann saß man in der ersten Stunde mit dem Nachgeschmack naßkalter Anorakbommeln da und durfte sich die Mathescheiße anhören.
Nach der Schule wollte ich mir bei Meyer den neuen Spiegel kaufen, aber es gab keinen, weil die Drucker immer noch streikten. Konnten die sich nicht endlich mal zusammenraufen, die Arbeitgeber und die IG Druck und Papier?
Gustav sei aus dem Krankenhaus entlassen worden, solle aber etwas kürzertreten als gewöhnlich, sagte Oma Jever am Telefon.
Wer das Pech hatte, in einem Buch von Edgar Allan Poe vorzukommen, der konnte sich auf was gefaßt machen. So erging es auch dem Jüngling Arthur Gordon Pym, der sich aus Abenteuerlust als blinder Passagier an Bord eines Walfängers schlich und im Versteck unter Deck fast verhungert und verdurstet wäre. Auf dem Schiff war eine blutige Meuterei ausgebrochen, und dann geriet es auch noch in Seenot, mit dem Ergebnis, daß Pym und drei andere Männer auf dem Wrack im offenen Meer umhertrieben, von Haifischen bedrängt und halb irrsinnig vor Hunger und Durst. Damit sie nicht alle krepierten, schlug einer vor, auszulosen, wer umgebracht werden sollte, um von den Kameraden aufgefressen werden zu können, und das Los traf den, der den Vorschlag gemacht hatte. Ironie des Schicksals!
Und dann fraßen sie den Erstochenen auf, natürlich roh, bis auf die Eingeweide und den Kopf.
Bevor die Rettung in Gestalt eines Segelschiffs nahte, starb der beste Freund von Pym an Wundbrand, aber wenn die beiden Überlebenden gedacht hatten, daß sie in Sicherheit wären, dann hatten sie sich getäuscht: Die Reise ging zum Südpol, immer neuen und unheimlicheren Gefahrenquellen entgegen, bis an die Grenzen des Verstandes und der Welt, und am Ende verlor sich der Erzähler irgendwo im weißen Nichts, umgellt von Vogelschreien: »Tekeli=li! Tekeli=li!«
Das hätte auch Hermann gefallen, und ich empfahl ihm dieses Buch.
Am Mittwoch lag der Spiegel nur als Notausgabe zum Verkauf aus, ohne Inhaltsverzeichnis und mit seltsamen Schrifttypen und einer Titelgeschichte über Korruption in Deutschland: »Und alle wollen sie ein Bakschisch«. Ich schlug das Wort im Volksbrockhaus nach.
B’akschisch [pers.] der, Trinkgeld.
Zu entnehmen war dem Spiegel auch, daß Astrid Lindgren in Schweden 102 % Steuern zahlen müsse und der Filmemacher Ingmar Bergman sogar 139 %. Die hatten ja wohl nicht mehr ihre Sinne beieinander, die Schweden.
Eine Notiz in der Rubrik »Personalien« brachte die mangelhaften Englischkenntnisse des Außenministers der Vereinigten Staaten ans Licht:
Henry Kissinger, 52, deutschstämmiger US-Außenminister, hatte auf einer Pressekonferenz wieder eimal Schwierigkeiten mit der englischen Sprache. Auf die Frage, warum Präsident Ford in einer Wahlkampfrede den kubanischen Regierungschef Castro als »internationalen Gangster« bezeichne, das Außenministerium aber sehr viel schwächere Vokabeln gebrauche, antwortete der Außenminister, der Präsident formuliere seine Kritik eben »more plastic«, während er selber sich komplizierter ausdrücke. Was Kissinger mit »more plastic« meinte, war »plastischer«, die Journalisten jedoch verstanden das Substantiv »plastics«, das in der Sprache als Sammelbegriff für alle Kunststoffe steht, und bohrten nach: »Plastik schmilzt, wenn es heiß wird. Meinten Sie es so?«
Ganz hinten im Heft war etwas über den schlüpfrigen Inhalt eines neuen französischen Spielfilms zu erfahren:
Bei der Erstkommunion drückt Daniel sein wohl eher aus heiliger Erregung steif gewordenes Glied sanft an den Rücken des Mädchens vor ihm, während er für die Hostie Schlange steht … und er erlebt auch die Wonnen, zum erstenmal durch raschelnde Petticoats einen Mädchenschenkel zu spüren.
Wie sich das wohl anfühlte. Den Film hätte ich gern gesehen. Vielleicht würde der ja mal im Fernsehen kommen, im Spätprogramm, wenn Mama und Papa schon schliefen.
Abends klagte Renate am Telefon darüber, daß alle Seminare und Vorlesungen überfüllt seien, und es würden auch dauernd Veranstaltungen ersatzlos gestrichen, und dann kam »Dracula« mit Christopher Lee als Vampir, der in Transsylvanien Menschen nachts das Blut aussaugte und dann auch Appetit auf das Blut der Verlobten eines Besuchers aus England verspürte. Die Tage verschlief Graf Dracula in einem Sarg, weil Sonnenlicht für ihn tödlich war, und nachts ging er auf die Jagd. Wer von ihm gebissen worden war, der verwandelte sich selbst in einen Vampir. Töten konnte man Vampire nur durch Sonnenlicht oder durch einen mitten ins Herz gerammten Holzspieß.
Diesen Gruselfilm kuckten sich auch Volker und Wiebke an. Nur Mama hatte schon nach zwanzig Minuten genug davon und ging raus und mistete die Vorratskammer aus und kam alle paar Minuten wieder rein: »Wem gehört dieser verdreckte Handschuh hier?«
In der letzten Szene zerfiel Graf Dracula im Sonnenschein zu Staub.
Für Anfang Mai war es draußen schon viel zu schwül. Es klebte einem das Hemd am Leib, sobald man in die Sonne ging, und das mußte man leider, wenn man dazu vergattert worden war, Underbergfläschchen einzusammeln, Unkraut zu schöveln und Klee auszurupfen.
Im neuen Stern protestierten Mütter gegen die Zumutung, ihre Säuglinge zu stillen (»Ich bin doch keine Kuh«).
Nach allem, was ich wußte, hatte auch Mama mich als Baby nicht gestillt. Das hätte ihr zu doll wehgetan, weil ich sie beim Stillen immer gebissen hätte, und so sei ich dann eben als Flaschenkind aufgepäppelt worden, nicht anders als meine Geschwister, und denen habe das ja auch nicht geschadet, wie man sehen könne. Renate habe der Speisebrei allerdings gewaltsam reingezwängt werden müssen.
Keine schöne Vorstellung. Aber Mama an den Brüsten zu nuckeln? Es war schon merkwürdig genug, daß ich ihr bei meiner Geburt gesund zwischen den Beinen rausgeflutscht war. 1961 hatte auch Mama das Schlafmittel Contergan eingenommen, ohne daß aus mir ein Contergankind geworden wäre, mit verstümmelten Armen und Beinen.
Im Stern stand auch ein Artikel über den CSU-Abgeordneten Friedrich Zimmermann. Der war mal wegen fahrlässigen Falscheids zu vier Monaten Gefängnis verurteilt und dann doch wieder freigesprochen worden, aufgrund einer medizinischen Expertise, in der gestanden hatte, daß er seinen Eid im Zustand »verminderter geistiger Leistungsfähigkeit« abgelegt habe, wegen einer »Unterzuckerung des Bluts« infolge einer »Überfunktion der Schilddrüse«. Seitdem trug er den Spitznamen »Old Schwurhand«.
Vor dem Gesetz, sagte Mama, seien alle Menschen gleich, aber manche seien eben gleicher. »Besonders die von der CSU!« Bestimmte Bazis würden immer wie Fettaugen obenauf schwimmen, auch wenn sie noch so viele Leichen im Keller hätten.
Die Englandfotos waren immer noch nicht abholbereit.
In Norditalien hatte die Erde gebebt. Hunderte von Toten, und Tante Dagmar war doch gerade da! Stärke 7,1 auf der nach oben offenen Richter-Skala.
»Da hätte sie eben zuhausebleiben sollen, die dumme Kuh«, sagte Papa, der allen Urlaubsreisen generell ablehnend gegenüberstand. Den alten VW hatte er an die Firma Kamps verkloppt und 700 Mark dafür eingehandelt, weil der Motor und die Reifen noch einigermaßen gut waren.
Einen Teil des Geldes investierte Papa in die Anschaffung einer Hängematte, die er hinten im Garten zwischen zwei Kirschbäumen anbrachte.
Beim Schaukeln in der Hängematte fielen mir glitzernde Fäden von Spinnengeweben zwischen den Ästen auf. Man konnte die Augen beim Schaukeln aber auch zumachen und an gar nichts denken oder schläfrig in den Himmel hinaufschauen, bis man von Papa angepupt wurde: »Nimm dir jetzt mal die Terrassenbeete vor, du Faulpelz!«
Das einzige Familienmitglied, das man niemals in der Hängematte liegen sah, war Papa.
Als Renate zu Besuch kam, sah Mama sich deren Ausgabenbuch durch und zog daraus den Schluß, daß Renate zu verschwenderisch gelebt habe: Rotwein? Und satte achtzehn Märker für eine Vergnügungsfahrt nach Koblenz und zurück? »Und machst du dir da etwa jeden Tag ’n Festessen in Bielefeld?«
Renate hielt dagegen: Sie habe sich bislang nur ein einziges Mal ein Schnitzel geleistet und sonst überhaupt kein Fleisch, und außer der einen Flasche Rotwein bei Olafs erstem Besuch habe sie in der ganzen langen Zeit keine weitere Weinpulle mehr gekauft, aber da kriegte Mama ’n Hals: »Was die Telefongespräche mit deinem geliebten Olaf kosten, das geht selbstverständlich von deinem Taschengeld ab! Das will ich doch mal festgehalten haben! Du kannst hier nicht einfach ’n Vermögen vertelefonieren!«
»Tu ich doch auch gar nicht«, greinte Renate, und ich suchte das Weite.
Neu oder nicht älter als zwei Jahre sollte der Zweitwagen sein, den Mama und Papa aussuchen wollten. Dafür fuhren sie bis Rheine.
Renate, Volker und ich mußten währenddessen in einer Ecke des Gartens Steine ausgraben. Wiebke hatte sich mal wieder zu einer Kindergeburtstagsfeier abgemeldet.
Die reinste Schutthalde hatte man da vor sich. So als ob an dieser Stelle extra mal ’ne Fuhre Kiesel hingekippt worden wäre, irgendwann im Pleistozän, allein für uns, zur Samstagsvormittagsbeschäftigung. In der Erde ringelten sich Würmer, Asseln und Käfer, ein Getier immer noch abstoßender als das andere. Die konnten einem leidtun. Was ein Scheißleben, als winziges Krabbelvieh in Meppen durchs Erdreich zu krauchen und da Milbengebeine oder Mäusekot zu fressen.
»Bloß gut, daß dieser olle Zankapfel jetzt weg ist«, sagte Renate, womit sie die Ruine des VW-Käfers meinte.
Papa ging in den Keller, um nach dem Rasensprenger zu suchen, und Mama sagte, daß die Sache mit dem Zweitwagen noch nicht entschieden sei. »Das will alles gut überlegt sein, denn so’n Auto kost’ ja auch ’n Haufen Geld.«
Ein Schützenfest war das Rückspiel gegen Bayer Uerdingen: Vier Minuten vor Schluß stand es 6:0, und den Ehrentreffer in der 87. Minute konnten sich die Uerdinger in Geschenkpapier einwickeln lassen.
Abends zofften sich Mama und Renate wieder übers Geld. Renate sollte weiter Buch führen und die Taschengeldausgaben rot markieren und nach Ablauf eines Monats alles zusammenzählen. Mama wollte dann mit ihr die einzelnen Posten überprüfen, ob die Ausgaben nötig gewesen seien oder nicht, aber Renate hatte keine Lust, Kassenbons zu horten und die dann mit Mama einzeln durchzudiskutieren.
Noch nachts um halb zwei war’s brühwarm. Damit das Fenster offenblieb, hatte ich einen meiner Pullunder in den Rahmen geklemmt. Leider wurde irgendwo in der Nachbarschaft ’ne große Party gefeiert. Ein Prosit der Gemütlichkeit.
Es wird Rabatz gemacht
Solange bis die ganze Bude kracht …
Und diese Kacke hatte ich mal gut gefunden, als Zehnjähriger oder wann. Um wieder einpennen zu können, mußte ich das Fenster verrammeln. Lieber an ’nem Hitzschlag sterben als an Verblödung.
Am Muttertag buk Renate morgens Brötchen, und im Küchenradio lief der neueste bekloppte Schlagerdünnpfiff.
Oh, Schmidtchen Schleicher mit den elastischen Beinen,
wie der gefährlich in den Knien federn kann …
Renate begriff nicht, was ich daran auszusetzen hatte. »Du kommst hier runter, und das erste, was du tust, ist meckern! Mecker, mecker, mecker, so geht das den ganzen Tag bei dir! Mach dich doch mal nützlich, du oller Meckerpott! Hilf doch mal Wiebke beim Tischdecken, statt mich hier mit deiner Stinklaune zu ärgern!«
Die Terroristin Ulrike Meinhof hatte sich in ihrer Gefängniszelle erhängt. Das war die Nachricht des Tages. »Ich glaube ja, die Frau hat eingesehen, daß sie sich da in irgendwas verrannt hat«, sagte Mama. »Sonst bringt man sich doch nicht um. Und schon gar nicht am Muttertag.«
Nach dem Mittagessen – Lasagne mit Hühnerragout – reiste Renate ab. Ihr Klapprad hatte sie schon zwei Tage davor mit der Bahn aufgegeben.
Papa brachte Renate zum Bahnhof. Zum Winkewinkemachen war’s mir zu heiß, und ich fand auch, daß Renate übertrieben hatte mit ihrer Gardinenpredigt über meine Meckerei, denn »Schmidtchen Schleicher« war einfach Scheiße, und was anderes hatte ich mit meiner Kritik ja gar nicht zum Ausdruck bringen wollen.
»Nun muß sich Papa aber endlich um den Garten kümmern«, sagte Mama. »Schließlich müssen wir vor den gestrengen Augen der Verwandtschaft bestehen, wenn du konfirmiert wirst.«
Oma Jever rief an, um uns darüber aufzuklären, daß Tante Dagmar noch am Leben sei und sich telefonisch aus Venedig gemeldet habe.
Auf die erhoffte Lustreise nach Venedig mußte Mama noch warten. In den Pfingstferien würden wir ja erst einmal zur Hausverschönerung nach Vallendar fahren und in den Sommerferien abermals.
Unkrautschöveln bei Affenhitze, das war mein Los als Konfirmand. Papa begoß alle Beete und Bäume mit Wasser aus dem Gartenschlauch. Dreißig Grad im Schatten waren’s, aber da, wo ich zu schöveln hatte, gab es keinen Schutz vor der Knallsonne, und wenn ich ins Haus ging, um meinen Durst zu löschen, war ich bei den ersten Schritten halbblind. Meine Augen brauchten eine Weile, um sich vom grellen Sonnenschein an das Dämmerlicht im Haus zu gewöhnen.
Einen Flächenbrand auf der E-Stelle hatten die Spezialisten da erst nach fünf Tagen unter Kontrolle bekommen.
Den Spiegel kriegte man die ganze Woche über nicht zu kaufen. Da faßte man schon mal den Beschluß, sich eine eigene Spiegel-Sammlung anzulegen, und dann streikten die Drucker.
Mindestens so gut wie die Geschichten waren auch die Gedichte von Poe. Traurig, meistens, aber tröstlich. Der war auch mal unglücklich verliebt gewesen. »Song« hieß eins, in dem ein Mann von einer Frau erzählte, die bei ihrer Hochzeitsfeier rot wurde, weil sie womöglich den falschen Mann geheiratet hatte, nämlich einen anderen als den Verfasser des Gedichts:
I saw thee on thy bridal day,
When a burning blash came o’er thee,
Though happiness around thee lay,
The world all love befor thee …
In einem anderen Gedicht machte sich ein Rabe breit, um Mitternacht, indem er sich auf eine Büste setzte und unentwegt »Nevermore« krächzte, um einem trauernden Witwer die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner verstorbenen Frau zu nehmen.
And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting,
On the pallid bust of Pallas just above my chamber door;
And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming,
And the lamp-light o’er him streaming throws his shadow on the floor;
And my soul from out that shadow that lies floating on the floor
Shall be lifted – nevermore!
Mit dem Jenseits und dem Grauen vor der ausweglosen Einsamkeit schien Edgar Allan Poe es irgendwie gehabt zu haben, fast bis zur Nekrophilie. Auf seine Liebe zu Annabel Lee waren selbst die Engel im Himmel so neidisch, daß sie die Frau in einem See ersäuften, doch die Liebe blieb über den Tod hinaus bestehen:
For the moon never beams without bringing me dreams
Of the beautiful Annabel Lee;
And the stars never rise but I see the bright eyes
Of the beautiful Annabel Lee …
Ob Poe verheiratet gewesen war? Ähnlich hätte ihm das nicht gesehen. Oder wenn schon, dann mit einer Frau, die ihm kurz nach der Hochzeit weggestorben wäre, an Cholera oder Schwindsucht.
In der Nacht kam Mama im Nachthemd in mein Zimmer gestürzt und verriegelte das Fenster. Draußen heulte der Wind, und es ging ein fetter Regenschauer nieder.
In den Radionachrichten war morgens die Rede von einem jähen Temperatursturz um zwanzig Grad.
Die Schwitzerei hatte ein Ende, aber dafür kam man in der Schule an wie ein nasses Handtuch.
Im Bundestag beschimpften welche von der CDU/CSU Herbert Wehner, den Fraktionsvorsitzenden der SPD, wegen seiner Vergangenheit als Kommunist, und da merkte man, wie er innerlich kochte. »Wissen Sie«, sagte er, »daß ich Kommunist gewesen bin, habe ich nie geleugnet. Ich werde mein Leben lang büßen dank derer, die patentierte Christen sind und sich als solche bezeichnen!«
In ihrem nächsten Brief wollte die Berufsfortbildungsfirma von mir wissen, ob mir mein Leben gleichgültig sei oder ob ich’s nicht doch besser fände, neue berufliche Chancen zu erkennen?
Die ließen nicht locker. Die wollten mir ein schlechtes Gewissen machen, und deshalb taten sie so, als ob sie traurig darüber wären, daß ich mich nicht gerührt hatte seit ihrem letzten Schrieb.
Ich steckte den Brief in den Mülleimer, aber ein schlechtes Gewissen hatte ich trotzdem.
Die Sonatine von Dussek mußte ich noch üben und das Vaterunser für die Konfirmandenprüfung auswendig lernen, die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, die Gottesdienstordnung und von wann bis wann Martin Luther gelebt hatte.
Du sollst nicht ehebrechen. Was heißt das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir keusch und züchtig leben in Worten und Werken und ein jeglicher sein Gemahl lieben und ehren.
So wie Mama und Papa. Oder Cindy & Bert.
Wozu aber, verdammt, hatte der liebe Gott einen denn überhaupt mit dem Geschlechtstrieb ausgerüstet, wenn man keusch und züchtig leben sollte? Da kam ich nicht mit, aber ohne Konfirmationsgeschenke wollte ich auch nicht ausgehen.
Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden. Und an Jesus Christus, Gottes eingebornen Sohn, unseren Herrn, der empfangen ist vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben; niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten …
In die Tarifverhandlungen zwischen den Verlegern und der IG Druck und Papier hatte sich als Schlichter der Politiker Friedhelm Farthmann eingeschaltet.
Zwei Treffern von Bayern München versagte der ungarische Schiri im Endspiel um den Europapokal der Landesmeister die Anerkennung, aber dann machte Bulle Roth in Glasgow durch ein Freistoßtor die schwachen Hoffnungen des AS St. Etienne zunichte.
Ich gönnte den Bayern ihren Sieg. Wenn sie sich jetzt vollaufen ließen, würden sie mit geschwächter Kondition in die Schlußphase der Bundesligasaison gehen. Das war mein Hintergedanke.
Im Tarifstreit hatten sich die Arbeitgeber und die IG Druck und Papier auf einen Kompromiß geeinigt: 6 % mehr Lohn und für April und Mai ein Festbetrag von 275 Mark.
Schlauer wär’s gewesen, wenn die Streithähne sich gleich darauf verständigt hätten, ohne dieses wochenlange Tauziehen.
Der einzige Vorteil, den das Dauerregenwetter hatte, war die Unterbrechung der Gartenarbeit, dachte ich, bis Papa mich dazu zwang, im strömenden Regen mit einem stumpfen Küchenmesser das Unkraut aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen vor der Haustür zu schaben, und da kroch ich dann herum, im wasserabweisenden Ostfriesennerz, mit Kapuze über, während Wiebke sich mit Mittelohrentzündung und ’ner Wärmflasche im Federbett aalte und Fix & Foxi las.
Laut Wettervorhersage sollte es bald wieder wärmer werden, und dann würde die Gartenarbeit erst richtig losgehen.
Bei Kamps hatten Mama und Papa einen VW-Polo bestellt. Mama legte einen Leitz-Ordner dafür an und schrieb mit Filzstift in Schönschrift »Polo« auf das Rückenschild.
9250 Eier sollte die Kiste kosten. Im Prospekt stand, daß der Polo einen Wendekreisdurchmesser von 9,6 Metern habe und ’ne beheizbare Heckscheibe.
Das Auto mit dem eingebauten Fahr-Spaß. Kilometer für Kilometer.
Bis zum Erbrechen debattierten Mama und Papa über Schadenfreiheitsrabatt, Teilkasko, Lastschrifteinzug, Nockenwelle, Verbundglas, Radstand, Scheibenbremsen und Zündverteiler, und ich schwor mir, als Erwachsener niemals ein Auto zu kaufen, weil ich keine Lust dazu hatte, meine Lebenszeit mit so einem Dreck zu vertun.
In Düsseldorf holte Gladbach einen Punkt und führte jetzt, drei Spieltage vor Saisonende, die Tabelle an, mit fünf Punkten Vorsprung vor dem HSV, Bayern, Kaiserslautern und Braunschweig. Theoretisch konnte noch so einiges danebengehen.
In der Sportschau war zu sehen, wie Sepp Maier im Münchner Olympiastadion eine vor dem Tor herumwatschelnde Ente einzufangen versuchte, mit Hechtsprüngen, aber er kriegte sie nicht zu fassen; die Ente flatterte immer wieder auf und davon.
Für solche Späße war Sepp Maier gut. Man nannte ihn auch die Katze von Anzing. Auf das Spielgeschehen übte die Ente aber keinen Einfluß aus: Bayern München schlug den VfL Bochum mit 4:0.
Nach dem Abendbrot warf Papa sich in Schale, für einen Kegelabend mit Kollegen von der E-Stelle. Blauer Anzug, blauer Schlips. Daß Papa da nicht aus Übermut hinging, wäre mir auch klar gewesen, wenn er beim Anziehen nicht unausgesetzt über die »Scheißkegelei« und die »Rindviecher« geflucht hätte, mit denen er es da zu tun haben werde.
Am Sonntag verloren wir 0:7, und ich hatte ein Eigentor geschossen. Das heißt, der Ball war, als ich mich in das Getümmel vorm Tor gestürzt hatte, unglücklich von meinem Oberschenkel abgeprallt, und ich hatte danach alles Menschenmögliche gegeben, um die Niederlage abzuwenden.
Zwischen Mama und Renate herrschte dicke Luft, weil Renate sich in Bielefeld bei einer Fahrschule angemeldet hatte, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. Und dabei war Renate schon lange volljährig. Mußte sich Mama da wirklich noch telefonisch in jeden Pipifax einmischen?
Am Montag erschien eine dicke Spiegel-Doppelnummer mit einem Leserbrief von jemandem, der es rührend fand, daß die Redaktion sich in der letzten Ausgabe vorab für streikbedingte Druckfehler entschuldigt hatte: Eine gelegentlich verrutschte Krawatte gebe gerade einem »Bestangezogenen« wohltuend menschliche Züge.
Abends im Bett faltete ich meine Hände: Lieber Gott, wenn du willst, daß ich an dich glaube, dann mach doch bitte, daß sich Tanja Gralfs in mich verliebt.
Die fand ich nämlich gut.
Bei Wöbker kaufte ich mir ein Schachspiel, für dreizehn Mark, mit Plastikfiguren und einem Brett aus Pappe. Aber was hieß das schon? Wenn ich der neue Bobby Fischer war, brauchte ich kein Brett aus Edelstahl und keine handgedrechselten Türme, Läufer und Springer nach Entwürfen von Chirico oder Salvador Dalí. Großmeister Martin Schlosser. Die Eröffnungen mußte man studieren, das war wichtig, und dann galt es, im Finale nicht die Nerven zu verlieren.
In Schach war Volker mir überlegen, so wie früher in Mühle, das merkte ich bald, und Wiebke verstand rein gar nichts von dem königlichen Spiel. Einen ebenbürtigen Kontrahenten fand ich erst in Hermann, aber schon im dritten Spiel sah ich kein Land mehr, obwohl ich Hermann die Regeln selbst beigebracht hatte. Der stellte meiner Dame eine Falle, und als sie hineingetappt war, ließ er meinen König über den Jordan gehen. Schachmatt!
Um Hermann Paroli bieten zu können, zog ich die Fachliteratur aus der Stadtbücherei zu Rate. »Freude am Schach« von Gerhard Henschel: Da wurde einem geraten, bei der Eröffnung zuerst die Mittelbauern zu ziehen, um den Offizieren den Weg freizumachen. Hast du die Mitte, dann hast du die Zukunft. Schäfermatt, Französische Partie und Sizilianische Verteidigung. Vielleicht schlummerte in mir ja wirklich ein Schachgenie à la Alexander Aljechin oder Bobby Fischer, der schon als Fünfzehnjähriger Schachmeister der Vereinigten Staaten geworden war, dachte ich, aber als ich Volker noch einmal herausforderte, klaute der mir gleich im neunten Zug meine Dame und setzte mich im dreizehnten matt.
Ausgeliehen hätte ich mir gern auch das eine oder andere Buch über Aktmalerei und Aktphotographie, aber damit traute ich mich zu der fetten Schreckschraube am Tresen der Stadtbücherei nicht hin.
Vor der Konfirmation schickte Mama mich zum Friseur: Fassonschnitt, zehn Mark, und das Wechselgeld sollte ich wiederbringen.
Im Friseursalon lag ein altes Micky-Maus-Heft zwischen den Illustrierten. Da klebten Tick, Trick und Track Onkel Donald einen langen künstlichen Bart an, während Donald ein Nickerchen machte, irgendwo im sonnigen Süden, und als er wach wurde, behaupteten sie, daß er nach dem Stich einer Tsetsefliege 24 Jahre lang geschlafen habe. Sich selbst hatten sie als Erwachsene verkleidet. »Damit du im Bilde bist: Track ist inzwischen Arzt, Trick Anwalt, und ich hab’ die Fachhochschule für Frisöre besucht! Mit Erfolg!« Donald wollte das nicht glauben. Seiner Erfahrung nach konnte das ja auch kaum angehen, denn von den Entenhausenern wurde nie einer alt. Vielleicht hätte mal jemand nachzählen sollen, wieviel Zeit Donald Duck, in allen Geschichten zusammengerechnet, mit seinen Neffen schon verbracht hatte. Bestimmt ’n paar Jahrzehnte. Das einzige Indiz dafür, daß auch Entenhausener alterten, waren die Rückblenden in Onkel Dagoberts Goldgräberjugend im Klondyke.
Jedenfalls verlangte Donald Beweise: »In so einer Zeitspanne muß sich die Welt doch stark verändert haben. Das will ich sehen. Mit eigenen Augen!« Die Neffen reagierten ratlos: »Was nun, Leute?« – »Er erwartet von uns Erscheinungen aus dem Jahr 2000!« Und sie schwindelten ihm was vor: »Also … äh, die Häuser sind heut aus Gummi, damit nichts passiert. Es schwirren so viele Raketen in der Luft rum und Sputniks und so.« Damit hatten sie Donalds Neugierde geweckt: »Los, wir fahren in die nächste Stadt! Ich will die Wunder des Jahres 2000 sehen.« Und gerade hier, wo’s spannend wurde, kam ich dran.
Wer hatte bloß diese Scheißfriseurbesuche erfunden? Und welcher innere Zwang spornte Frauen dazu an, sich die Haare so affig hochtoupieren zu lassen wie die Gewitterhexe, die soeben den Laden verließ? Und wie wohl die Frisuren der Weiber im Jahr 2000 erst aussehen würden?
Bis ein passender Anzug gefunden war, mußte ich mich in mehr als ein Dutzend Beinkleider quälen, und dann folgte noch die Schuhsuche. Mir langte schon der Gestank in den Schuhgeschäften. Da wäre ich am liebsten jedesmal gleich rückwärts wieder rausmarschiert, aber Mama setzte ihren Willen durch und nötigte mir ein schwarzes Paar Halbschuhe auf.
An der Kasse zückte sie einen Fünfzigmarkschein und kriegte nur sehr wenig Wechselgeld zurück.
War denn Jesus selbst nicht barfuß rumgelaufen in Jerusalem? Oder mit billigen Jesuslatschen?
In der Gustav-Adolf-Kirche mußten wir das würdevolle Schreiten zum Altar und das Hinknien, das Weintrinken und das Oblatenverspeisen üben, und zuhause trug Papa mir auf, die Grashalme an der Rasenkante rings um die Terrasse mit der Gartenschere zu stutzen.
Wenn ich jemals irgendwelche Neffen oder Nichten haben sollte, dann würde ich bei denen zuhause niemals mit der Lupe im Garten herumkriechen.
Abends holte Mama Renate vom Bahnhof ab. Sie sei heute auf den Tag genau drei Jahre mit Olaf zusammen, sagte Renate. Er hatte nicht mitkommen können, wegen seiner Verpflichtungen bei der Bundeswehr. Nach der Zeit beim Barras werde er wahrscheinlich Jura studieren, am besten natürlich in Bielefeld.
In seiner Eigenschaft als Juso hätte Olaf auch in Bonn Karriere machen können. Im Kabinett von Helmut Schmidt wurden ja immer wieder einmal Plätze frei für ehrgeizige Neulinge. Als neutraler Beobachter der politischen Szenerie war ich allerdings nicht erpicht auf Umbesetzungen im Kabinett, nachdem ich mir gerade alles so schön gemerkt hatte: Genscher Außen, Maihofer Innen, Friderichs Wirtschaft, Apel Finanzen, Vogel Justiz, Leber Verteidigung, Matthöfer Forschung und Technologie, Arendt Arbeit, Franke Innderdeutsche Beziehungen, Ertl Landwirtschaft, Ravens Raumordnung, Rohde Bildung, Bahr Entwicklungshilfe, Gscheidle Verkehr und Focke Jugend, Familie und Gesundheit.
»Und hast du nun endlich dein Zimmer gestaubsaugt?«
»Mach ich gleich …«
Den Staubsauger die Treppe raufzuschleppen, das war ein Akt. Und Wiebkes Zimmer sah viel übler aus als meins.
»Schluß da oben mit dem Hickhack!« rief Mama. »Ich komm gleich hoch und werd euch helfen!«
Bei der Zimmerpatrouille riß sie meinen Kleiderschrank auf. »Außen hui und innen pfui!«
Als ob sich die Verwandten dafür interessiert hätten, wie gründlich mein Strumpfkorb aufgeräumt war und ob da irgendwelche Halmafiguren drin rumflogen.
Abends klebte Mama am Eßtisch wieder Fotos aus Afrika ein. Papa setzte sich dazu und wollte den Sherry probieren, den Mama eigentlich für morgen und übermorgen gekauft hatte, und zu Renate, die im Wohnzimmer am Stricken war, rief Papa rüber: »Los, komm her, dann kriegst du auch was zu saufen!«
There was something in the air that night
The stars were bright, Fernando …
Von ihm aus, sagte Papa, könnten ihm alle, die uns als Gäste ins Haus stünden, den Buckel runterrutschen. Auch Onkel Rudi. Der erst recht! Daß der Jurist geworden sei, das sehe ihm ähnlich: Maulaffen feilhalten und anderen Leuten in ihre Arbeit reinquatschen, das sei das tägliche Brot der Juristen. Wenn sich alle Menschen an die Zehn Gebote hielten, wären die Juristen arbeitslos.
Noch weniger hielt Papa von Politologen, aber als er diesbezüglich in Fahrt kam, war der Sherry alle. Das sei egal, sagte Papa. Dafür sei es heute abend hier im trauten Verein der Familie gemütlicher gewesen als morgen abend mit der ganzen buckligen Verwandtschaft. Und dann ging er in den Keller. Und dann kam er noch einmal hoch und brüllte: »Martin! Dein Fahrrad steht noch immer draußen!«
Am Samstag trudelten die ersten Konfirmationsgäste ein, während Deutschland gegen Spanien spielte. Nach einem Fallrückziehertor von Uli Hoeneß hupte draußen Tante Hilde, die Tante Dagmar als Beiladung aus Hannover nach Meppen befördert hatte. Die stellten sich alle so an, als ob sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hätten, und nachdem Klaus Toppmöller kurz vor der Halbzeit das 2:0 erzielt hatte, machte Mama den Fernseher aus.
Renate kochte Tee und Kaffee, und dann ging es Schlag auf Schlag mit den Besüchern: Oma und Opa Jever, Oma Schlosser, Tante Jutta und Onkel Dietrich. Da saß ich gerade auf dem Klo. »Und wo steckt der Konfirmand?« rief Onkel Dietrich.
Tante Gertrud und Onkel Edgar konnten erst am Sonntag kommen, weil sie abends noch in Bielefeld zum Kirchenchor mußten.
Im Flur nahm Onkel Dietrich mich in den Schwitzkasten: »Na, du Räuber? Immer noch der alte Frechdachs?«
Mama und Renate hatten auf der Terrasse die Kaffeetafel gedeckt. »Und wie war das nun mit dem Erdbeben?« fragte Tante Jutta, und Tante Dagmar sagte, daß in Venedig die Wände gewackelt hätten. »Telefonverbindungen kaputt, zwei Stunden Strom weg und andere Scherze«, aber mehr habe sie davon nicht mitbekommen. Viel kniffliger sei das Einkaufen in Italien gewesen. Wenn man da mit einem großen Schein bezahle, würden einem statt Wechselgeld Bonbons, Briefmarken oder Zahnstocher hingelegt. Es gebe sogar Hotels, die ihr eigenes Hausgeld druckten. Und am letzten Tag sei sie beim Aussteigen aus einem Motorboot in den Gardasee geplumpst, mit Klamotten an. »Und das war kalt, das kann ich euch wohl sagen!«
»Und schwimmst du auch nach Montreal?« fragte Onkel Dietrich. Bei den Olympischen Spielen in München hatte Tante Dagmar als Hosteß gejobbt.
»Würde ich zwar gerne, darf ich aber nicht«, sagte sie. »Wahrscheinlich bin ich dafür schon zu alt! Und wie geht’s dem Star des Abends?« (Damit war ich gemeint.) »Was machen deine fußballerischen Erfolge?«
Ich erstattete Bericht.
»Also bitte«, sagte Tante Dagmar, und dann ging sie ins Haus, ihre Stola holen. Ohne diesen Fummel um die Schultern war es ihr auf der Terrasse zu kalt.
Tante Gisela fehlte, weil sie in Göttingen dem rekonvaleszenten Gustav beistehen mußte. Dem habe der Arzt für den Rest des Sommers das Sonnenbaden verboten, sagte Oma Jever.
»Und hat Tante Gisela nicht sogar auf ihren Urlaub verzichten müssen deswegen?« fragte Renate.
»Nee, die reist erst im Juni nach Abano Terme«, sagte Tante Dagmar, die immer über alles am genauesten Bescheid wußte. »Morgens Fango, abends Tango.«
Wiebke führte dem Volk ihren Hamster vor, der aber lieber pofen wollte.
Abends hatten alle einen in der Kiste. Renate war erkältet und heiser. Ihr eines Auge tränte, und sie düngte ihre Nasenlöcher mit Rhinospray. Die Vorlesungen, sagte sie, seien überbelegt, und auch sonst liege vieles im argen. Ein Dozent sei neulich nicht erschienen, wegen Besoffenheit, und Oma Schlosser erzählte, daß Tante Doro am Knie operiert werden müsse.
Sieben Gäste übernachteten bei uns im Haus.
Nach dem Frühstück knotete mir Papa einen seiner Schlipse um den Hals, und ich sah aus wie ein Streber.
Tante Gertrud und Onkel Edgar waren noch immer nicht da, als wir zur Gustav-Adolf-Kirche aufbrachen. Im Peugeot rieselte Papas Zigarettenasche auf meine Hose, und Mama reichte mir ein angelülltes Tempotaschentuch nach vorn, mit dem ich die Bescherung wieder wegtupfen sollte.
»Mensch, doch nicht so, du Unglückswurm! Was machst du denn! Du schmierst ja alles erst so richtig breit!«
Vor dem Portal mußten alle Konfirmanden warten, bis die Gemeinde sich in der Kirche versammelt hatte, und dann in Zweiergruppen einmarschieren. Ich ging neben Stefan Rüßkamp in die Kirche hinein, vom Orgelspiel umtost, und ich war dem lieben Gott dankbar, als ich vorn einen Sitzplatz gefunden hatte, in der zweiten Reihe.
Dem Vater aller Güte, dem Gott, der alle Wunder tut und allen Jammer stillt, sei Ehre, sang der Chor. Dann kam eine Lesung aus dem Evangelium, dann wurde wieder gesungen, »von guten Mächten treu und still umgeben«, dann kam das Glaubensbekenntnis, und dann mußte man noch einmal das Gesangbuch aufschlagen. Zwischendurch gingen irgendwelche Mädchen mit Klingelbeuteln rum, und man mußte Geld reinschmeißen, als Dankopfer für die »Patengemeinde Marienberg«, von der kein Mensch wußte, was es mit der auf sich hatte.
Hier sind die starken Kräfte, die unerschöpfte Macht,
das weisen die Geschäfte, die seine Hand gemacht …
Das Gebet, predigte Pastor Böker, sei das Atemholen der Seele. Als Christen seien wir mit der Taufe in Jesum eingepflanzt, und wir dürften vom Kelch des Nachtmahls trinken. Gottes Herz sei dazu bereit, uns zu empfangen, auch wenn wir irregegangen seien wie Schafe ohne Hirten. Wir sollten unsere Augen aufheben zu der großen, seligen Gnadengemeinschaft mit Gott, der uns aus dem Bösen endlich gar hinausführen werde, und je mehr unser Gebet eine zwingende Forderung werde, desto eher werde Gott unsere Bitten erfüllen.
Ob das auch für Bittgebete um das Wohlergehen von Borussia Mönchengladbach galt?
Auf meinem linken Knie hatte sich eine Fliege niedergelassen. Ich scheuchte sie weg, aber sie kam sofort wieder angeflogen. Wer wußte schon, auf welchem Kackhaufen die vorher gehockt hatte? Ich scheuchte das Mistvieh wieder weg, und dann setzte es sich auf Stefan Rüßkamps Kragen in der Reihe vor mir.
»Ich weiß, daß mein Erlöser lebt«, sagte Pastor Böker. In der Obhut Gottes seien wir geborgen. Halt und Hoffnung: Siehe, habe Gott der Herr gesagt, er sei bei uns alle Tage bis an der Welt Ende. Wer den Sohn liebhabe, zu dem komme der Vater, und wer nach Christo sich sehne, den werde der Vater trösten. Es verzeihe uns der Herr, daß wir uns unterfingen, mit Ihm zu reden, dieweil wir ja nur Staub und Asche seien, und noch mehr verzeihe Er uns, daß wir als Kinder des Allerhöchsten nicht besser zu ihm redeten. »Herr, lehre uns beten, hilf uns glauben, laß uns alles überwinden um Jesu Christi willen! Amen.«
Nach Christo sehnte ich mich weniger als nach dem Ende der ganzen Veranstaltung, und so wurde ich eingesegnet, und ich erhielt meine Konfirmationsurkunde.
Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.
Nach dieser Zeremonie mußten wir singen.
Ich bin getauft auf deinen Namen,
Gott Vater, Sohn und Heilger Geist,
ich bin gezählt zu deinem Samen,
zum Volk, das dir geheiligt heißt …
Erst bei der dritten Strophe sang auch die Gemeinde mit, und dann kam das Abendmahl. Den Becher wischte Pastor Böker jedesmal mit einem Lappen ab. Das zweite heilige Sakrament nach der Taufe.
»Lasset uns beten«, hieß es dann.
Gemeindelied, Fürbittgebet, Vaterunser, Segensspruch, Kyrieleison, Orgelsolo und Schluß: Nun war ich durch, aber ich mußte noch fotografiert werden, gemeinsam mit allen Konfirmanden vor der Kirche. Die Mädchen setzten sich vorn auf Stühle, dahinter kam eine Reihe Jungs, und in der dritten Reihe mußten sich die restlichen Jungens auf Stühle stellen und grinsen.
Daß inzwischen auch die Bielefelder eingetroffen waren, Tante Gertrud und Onkel Edgar plus Bodo, kriegte ich erst zuhause mit, als Onkel Edgar mir im Flur herzhaft die Hand schüttelte.
Auch die Lohmanns ließen sich kurz blicken. Deren eine Tochter war im selben Durchgang konfirmiert worden, so wie drei andere Typen aus meiner Klasse.
Renates Auge tränte immer noch. »Arme Renate, hat vor Rührung geweint!« rief Onkel Edgar.
Aber ich war der Held des Tages, und ich kam mir vor wie Konsul Bollerstedt.
Von Tante Dagmar kriegte ich eine Armbanduhr, von Oma und Opa Jever eine Schreibmaschine, von Onkel Dietrich einen AGFAMATIC 2008 pocket Sensor mit Ledertasche, Handgelenkschlaufe, Repitomatic-Funktion, acht Philips-topflash-Blitzwürfeln zum Aufstecken und einem Farbfilm mit zwanzig Bildern, von Tante Gisela per Brief zwanzig Mark, von Mama und Papa ein Zeit-Abonnement, von Tante Gertrud zwei Bildbände über das Dritte Reich und eine dazugehörende Schallplatte mit Reden von Hitler und Goebbels und außerdem eine Unterschriftenmappe, 500 Blatt Papier, ein Tangramspiel und einen Wimpel von Arminia Bielefeld und von Oma Schlosser ein Buch: »Womit wir leben können. Das Wichtigste aus der Bibel in der Sprache unserer Zeit. Für jeden Tag des Jahres ausgewählt und neu übersetzt von Jörg Zink«. Und dazu noch ein Fremdwörterlexikon und einen Zehnmarkschein von Tante Lena aus Bochum. Begegnet war ich der noch nie. Der eckigen Handschrift konnte man ansehen, daß es die von einer uralten Frau war.
Das Altsein ist oft recht schwer und will auch gelernt sein. Nun muß ich aufhören, denn die rechte Hand streikt …
Was ich an Bargeld eingesackt hatte, belief sich auf müde dreißig Mark.
Als Mama und Renate die Bratenplatten und Soßenschüsseln ins Wohnzimmer geschleppt hatten, stand Papa von seinem Stuhl auf, stellte sich dahinter, wischte sich den Mund an einer Stoffserviette ab und hielt dann eine Ansprache, der er die Bemerkung voranschickte, daß er vom lieben Gott nicht als Redner geboren worden sei. Dabei hielt Papa sich mit beiden Händen an seiner Stuhllehne fest.
Die Konfirmation, sagte er, sei ein Schritt zum Erwachsenwerden. »Zum Erwachsenwerden, wohlgemerkt, nicht zum Erwachsensein!« Denn das Erwachsensein, das sei noch einmal etwas anderes als das Erwachsenwerden.
Daß ich noch nicht erwachsen war, wußte ich selbst. Das hätte Papa mir nicht unbedingt noch einmal aufs Brot schmieren müssen.
Zum Nachtisch gab’s Birne Helene, und dann schoß ich viele Fotos. Opa Jever auf der Terrassenmauer, Oma Jever in der Küche, Tante Dagmar im Flur, Onkel Dietrich beim Naseputzen, Tante Gertrud vorm Komposthaufen und Wiebke und Bodo zu zweit in der Hängematte.
Renate goß den Gästen Bier und Sekt und Wasser nach. Was ich albern fand, war, daß Oma Jever und Oma Schlosser einander siezten, obwohl ich die alle beide duzte. »Könnt ihr euch nicht duzen?« fragte ich, und da sahen sich die beiden Großmütter an und giggelten wie die Backfische. Und dann sollte ich ihnen was zu trinken bringen, damit sie ihre Duzfreundschaft begießen könnten.
Beim Kaffeetrinken um halb fünf hatte man die Wahl zwischen Kirschtorte und Nußtorte, und als die Verwandten endlich alle abgedackelt waren, führte ich mir mein neues Fremdwörterlexikon zu Gemüte. Bordell, Defloration, Ejakulation, Intimität, Klitoris, Koitus, Kondom … Masturbation, Nuditäten, Nudistik, Onanie, Orgasmus … Penis, Pollution, Sexualpathologie, Smegma, Syphilis … Vagina, Vaginismus, Vaginitis und Zölibat …
Ich fand auch die Wörter Analfistel, Gonokokken, Penetration und Pessar. Und sowas kriegte man nun zur Konfirmation geschenkt.
Nymphomanie war ein »psychischer Aufregungszustand mit starker geschlechtlicher Erregung beim weiblichen Geschlecht«, und ein Pedant war ein »kleinlicher, peinlich genauer, auf Unwesentliches Wert legender Mensch«.
Ich fragte Mama, ob Papa ein Pedant sei, und sie mußte ein paar Sekunden lang überlegen, bis ihr als Antwort einfiel, daß es darauf ankomme, was man darunter verstehe. Es gebe da ganz unterschiedliche Auffassungen.
Im Bett sah ich mir die Leuchtzeiger meiner Armbanduhr an. Wenn man die vorher unter eine Glühbirne gehalten hatte, leuchteten sie strahlend hell.
Am Montag erzählte Hermann mir, daß Cassius Clay am Samstag in der Fernsehshow von Rudi Carrell von einer Omi aus Jux k.o. gehauen worden sei. Und der Holzmüller habe zur Konfirmation zweitausend Mark eingesackt.
Nach der Klavierstunde durfte ich die Sonatine in der Aula der Musikschule auf dem Konzertflügel üben. Die Tasten gingen zehnmal schwerer runter als auf unserem Klavier.
In meinem Zimmer legte ich die Platten von Tante Gertrud auf. Die hatten Schmiß. Da rief Joseph Goebbels aus:
Läutet die Glocken von Turm zu Turm!
Und dann, mit wachsender Begeisterung:
Läutet die Männer, die Greise, die Buben!
Läutet die Schläfer aus ihren Stuben!
Läutet die Mädchen herunter die Stiegen!
Läutet die Mütter hinweg von den Wiegen!
Dröhnen soll sie und gellen, die Luft!
Rasen, rasen im Donner der Rache!
Läutet die Toten aus ihrer Gruft!
Deutschland, erwache!
Dann kam eine Rede von Adolf Hitler. Darin feierte er mit Gebrüll »das neue Deutsche Reich der Größe und der Ehre und der Kraft und der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit! Amen!«
»Hast du sie noch alle?« fragte Mama, mit einem Stapel gebügelter Unterhosen auf dem Arm. »Was hörst du dir denn hier für einen Käse an?«
Sie sei froh, sagte Mama, daß sie die Hitlerzeit heil überstanden habe.
Den Wettstreit gegen Richard Dunn in der Münchner Olympiahalle gewann Muhammad Ali nach fünf Runden durch technischen Knockout.
Um vom Bund das Geld für die nach dem Umzug neu angeschafften Vorhänge und Gardinen erstattet zu kriegen, mußte Papa sämtliche Fenster ausmessen und alle Maße in ein Formular eintragen, und wenn man ihm dabei zu nahekam, brüllte er: »Nimm deine Knochen da weg!«
Beim Tangramspielen bestand das Ziel darin, schräg geformte Holzstücke zu einem Rechteck zusammenzuschieben. Da hätte ich mich auch freiwillig zum Nachsitzen in Mathe melden können, und ich schmiß die Tangramklötze in die Ecke.
In Englisch sollten wir so tun, als ob wir Urlaubspostkarten zu schreiben hätten. Going on Holiday.
Thought you’d like a card from the end of England. The weather has been really terrific since we’ve been here. So we’ve been able to go swimming every day …
Von wegen. Eigentlich ’ne Frechheit, in der Schule schmachtenden Sträflingen solche Lügen abzuverlangen.
Zum Vorspielabend in der Musikschule kam Mama mit. Die Aula war proppenvoll, aber in der vorletzten Reihe eroberten wir noch zwei Sitzplätze.
Ich mußte an achter Stelle auftreten, so ziemlich in der Mitte des Konzertprogramms. An sechster Stelle kamen irgendwelche ungarischen Weisen, und danach stand eine Trompetensuite von Telemann auf dem Programmzettel: Andante, Allegro, Siciliano, Presto und Vivace. In den rauschenden Beifall riefen ein paar Leute »Bravo!« hinein, und dann war ich an der Reihe, mit meinem Stücksken, das nach der Trompetensuite wirken mußte wie Hänschenklein.
Zuerst mußte ich noch an der Sitzbank herumkurbeln, weil die zu tief war, und dann fielen mir die Scheißnoten runter. Wie bei Dick und Doof. Oder wie in einem Comic, aber dann hätte mir anschließend ’ne Gedankenblase überm Dassel schweben müssen: »Nicht verspielen! Nicht verspielen! Nicht verspielen!«
Und obwohl ich mich tatsächlich nicht verspielte, fiel der Applaus erschütternd mager aus. »Das war ja so kurz, daß sich das Hingehen kaum gelohnt hat«, sagte Mama, statt mir zu gratulieren. Bis die mich da als neuen Artur Rubinstein hochleben ließen, hatte ich noch viele Übungsstunden vor mir.
Der jüdische Pianist Rubinstein hatte das Gelübde abgelegt, nie wieder in Deutschland Klavier zu spielen, aber dann war er doch noch einmal aufgetreten, in Hamburg, achtzehn Jahre nach Kriegsende, und Mama sagte, daß wir Rubinstein dafür dankbar sein könnten. Die Nazis hatten dessen Familie fast vollständig ausgelöscht.
Es regnete sich ein, und zwar so elendiglich, daß man die Hoffnung aufgab, jemals wieder einen Sonnenstrahl zu erblicken. Unablässig war’s am Miegen, wie Mama das nannte, und zu Papa sagte sie, daß es am besten wäre, in unser Haus als nächsten Mieter wieder einen Bundesbediensteten reinzusetzen. So einen könne man besser an die Kandare nehmen als einen Freiberufler.
Weil ich mein Zimmer nicht ordentlich genug aufgeräumt hatte, war Mama kurz davor gewesen, mir den Film zu verbieten, in dem Jack Lemmon als Kameramann bei einem Footballspiel von einem Schwarzen über den Haufen gerannt wurde. Als tückischer Rechtsverdreher setzte der mit Jack Lemmon alias Harry Hinkle verschwägerte Winkeladvokat Walter Matthau alles darauf an, die Versicherung zu betrügen und möglichst viel Geld aus dem Vorfall herauszuschinden. Widerlich war das, aber auch lustig. Walter Matthau, dieser Typ. Der konnte mit seiner Knautschfresse nur Ganoven spielen.
Im Stellenanzeigenteil der Zeit stand eine Annonce der Firma Phonogram International. Gesucht wurden
Translators willing to work on a freelance basis for the translation of classical record-sleeve texts from English into German.
Bei dieser Firma wollte Mama sich als freie Journalistin bewerben, um auch mal wieder ein eigenes Bein an den Grund zu kriegen.
Weiter hinten in der Zeit befand sich eine Rubrik namens »Zeit-Lupe«, in der Leute unter 21 jede Woche ihren Senf zu einer Frage abgeben durften.
Kann man aus der Geschichte lernen?
Ich setzte mich an meine Schreibmaschine und legte los. Die Politik von heute, schrieb ich, habe zwar kaum noch was mit abenteuerlichen Kreuzzügen und der Verehrung von Kaisern und Königen zu tun, aber aus den Fehlern früherer Staatsmänner etwas zu lernen, das sei durchaus möglich. Innen- und außenpolitisch anwenden könne man das Gelernte natürlich nur, wenn man selber in der Politik etwas zu sagen habe.
Marke drauf und ab die Post.
Am drittletzten Spieltag steckte Gladbach eine Heimschlappe ein. 0:2 gegen Schalke! Der HSV und Kaiserslautern hatten beide verloren und waren weg vom Fenster, aber Bayern und Braunschweig hatten beide Unentschieden gespielt. Wenn Gladbach jetzt noch zweimal hoch verlor und Bayern oder Braunschweig hoch gewannen, dann adieu, du holder Traum von der Meistertitelverteidigung! Der nächste Gegner war allerdings der Abstiegskandidat Kickers Offenbach. Der mußte zu packen sein.
An die holländische Firma ließ Mama einen ellenlangen Schrieb los, in dem sie auch auf ihre familiäre Situation und ihren Werdegang als Hausfrau einging.
Obwohl meine praktischen Fertigkeiten auf musikalischem Gebiet (Klavier, Geige, Gitarre) eher bescheiden sind, habe ich doch stets großes Interesse an allen Zweigen der Musik gehabt …
In meinem ganzen Leben hatte ich Mama noch keine Sekunde lang musizieren gehört, weder auf dem Klavier noch auf der Geige noch auf der Gitarre, und von Mamas großem Interesse an allen Zweigen der Musik hatte ich auch noch nicht viel gemerkt. Sonst wäre ja jeden Abend ein Streit ausgebrochen zwischen Mama, die sich Opern oder Sinfoniekonzerte im Radio anhören wollte, und dem Rest der Familie, der aufs Fernsehen scharf war. Und was sollte diese Firma mit der Information über Mamas bescheidene Fertigkeiten als Hausmusikantin anfangen? Das konnte da doch unmöglich irgendwen interessieren.
An Mamas Stelle hätte ich die Sentenzen über unser Kleinfamilienleben weggelassen aus dem Bewerbungsschreiben.
In der neuesten Spiegel-Titelgeschichte ging es um »Schul-Angst«, an der angeblich Tausende von Kindern litten.
Nervös oder aggressiv, verzweifelt bis zum Selbstmord – Schulkinder. Woran liegt es, daß trotz aller Bildungsbemühungen die Klassenzimmer häufig Krankenzimmern gleichen?
Der Unterricht im Meppener Kreisgymnasium mochte ja der langweiligste der Welt sein, aber von einem Selbstmord hatte ich noch nichts läuten gehört.