Читать книгу Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band - Gerhard Henschel - Страница 6
ОглавлениеIm Turnverein gefiel es mir nicht mehr. Liegestütze und Übungen mit dem Scheißmedizinball, bis man auf dem letzten Loch pfiff, immer der Schweißmaukengestank im Umkleideraum und wie gerädert nachhause kommen.
Mama meldete mich wieder ab.
Aus irgendeinem Grund war Piroschka in eine andere Klasse versetzt worden, und ich wollte die Brocken schon hinschmeißen, aber dann kam ich eines Tages aus dem Wambachtal und sah Piroschka in der Rudolf-Harbig-Straße auf dem Fahrrad im Kreis fahren.
Ich kriegte einen Steifen, und es gab keinen Weg, in den ich abbiegen konnte. Was tun, sprach Zeus? Auf den Hacken kehrtmachen?
Je näher ich Piroschka kam, desto öfter sah sie zu mir rüber, und als bei ihr war, blieb sie stehen. »Ich hab gehört, du schreibst Gedichte«, sagte sie. »Kannst du mir mal welche davon zeigen?«
In meinem Zimmer zermarterte ich mir das Gehirn, was ich Piroschka genau geantwortet hatte. Daß die Gedichte erst den letzten Schliff kriegen müßten, aber danach würde ich sie ihr zu lesen geben, gut, aber was noch?
Hoffentlich hatte sie nichts von meinem Steifen gemerkt.
Für Piroschka brachte ich meine Gedichtekladde von der ersten bis zur letzten Seite auf Vordermann. Wörter ausradieren und gelungenere einsetzen. Ich schrieb auch noch ein neues Gedicht, nur für Piroschka, über den reißenden Wambach, der natürlich nicht überall reißend war, aber was war das Gegenteil von reißend?
Ich ging Mama fragen, die in der Küche stand und Brote schmierte. Mettwurst und Emmentaler.
»Was ist bei einem Bach das Gegenteil von reißend?«
»Na, du hast Sorgen«, sagte Mama. »Das Gegenteil von reißend? Seicht, würd ich sagen.«
Auf seicht reimte sich leicht und auf reißend beißend. Der Wambach. An manchen Stellen ist er seicht, an andern Stellen reißend. Rüberspringen kann man leicht, in ein Brötchen beißend.
Ich las Mama das Gedicht vor, und sie sagte: »Reim dich oder ich freß dich.«
In der großen Pause stand Piroschka mit Heike Zöhler und anderen Mädchen bei den Kletterstangen, aber ich genierte mich, da hinzugehen und Piroschka die Kladde mit meinen dichterischen Ergüssen zu überreichen. Ich verputzte mein Schulbrot mit Johannisbeergelee und schielte aus sicherer Entfernung zu Piroschka rüber.
Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.
In der Schule war kein Durchkommen, also wanderte ich mit der Kladde in der Hand ein ums andere Mal durch die Rudolf-Harbig-Straße, aber Piroschka war wie vom Erdboden verschluckt.
Renate brezelte sich für den Mittelball auf. Klopsaugen, gelber Mini mit großen roten Herzen und ein Stirnband mit roter Papierrose. »Aussehen tust du wie vom wilden Affen gebissen«, sagte Papa.
Die Freundin, die Renate abholen kam, hatte auch einen Minirock an, einen quietschbunten. Mareike hieß die.
Im Halbjahreszeugnis hatte ich eine Eins in Lesen und neun Zweien. Summa summarum fünf Mark fünfzig.
Volker war jetzt Klassenbester. Er sagte, bei den Deppen in seiner Penne sei das keine große Kunst, aber er hatte wieder Oberwasser.
Das Neueste vom Neuen war, daß wir plötzlich alle im Herbst für ein Jahr nach Amerika ziehen sollten. Das sei noch nicht spruchreif, sagte Mama, aber wir könnten uns schon mal mit dem Gedanken vertraut machen.
Nach Amerika! Am Mississippi leben, mit Schoschonen und Schaufelraddampfern, statt am gammeligen Rhein. Meine Pläne mit Piroschka konnte ich dann aber wohl in der Pfeife rauchen.
Mama erlaubte mir, Papas amerikanischen Weltatlas aus dem Schuber zu nehmen. Zentnerschwer, der Otto, und die Farbseiten stanken wie nichts Gutes.
Neben den Karten waren Fotos von Ölpipelines in der Wüste, von der Chinesischen Mauer und von Indern beim Reispflücken.
Die Rocky Mountains und die Niagarafälle. Kalifornien, Kentucky, Texas, Florida, Nebraska. Und dann dagegen: Rheinland-Pfalz.
Was war besser, Piroschka oder Amerika?
Hose wie Jacke. Mich würde sowieso keiner fragen.
Drei Möbelpacker schleppten ein Mordstrumm von gebrauchtem Klavier durch die Garage und die Waschküche in den Hobbyraum. »Die schwarzen sind die schwersten!«
Oma Schlosser hatte Geld dafür geschickt, mehr als tausend Mark. Renate war schon zum Klavierunterricht angemeldet. Wir andern sollten entweder Unterrichtsstunden nehmen wie Renate oder die Flossen von dem Klimperkasten lassen.
Oben konnte man das Klavier aufmachen und zukucken, wie sich die Hämmerchen bewegten, wenn Renate spielte. Nach dem Üben verriegelte sie die Tastenklappe und zog den Schlüssel ab.
Einmal stolperte sie beim Aufstehen, brach mit dem Ellbogen das Notenbrett ab und kriegte einen Anschiß, der sich gewaschen hatte.
Papa mußte das Brett wieder anleimen.
Dann kam die Taschengelderhöhung. Jede Woche zwanzig Pfennig pro Lebensjahr, aber nur, wenn wir sonntags bis Punkt zwölf Uhr die Zimmer aufgeräumt und die Schuhe geputzt hatten. »Beseitigt erstmal das Tohuwabohu hier in euerm Saustall«, sagte Mama. Sie habe keine Lust, sich den Mund fusselig zu reden.
Das Schuheputzen ging in der Waschküche vor sich. Der Einfachheit halber den Dreck mit Erdal zuschmieren und dann drüberbürsten, bis man lahme Arme hatte.
»Das ist ja wohl nicht dein Ernst«, sagte Mama. »In der kurzen Zeit? Wenn die gründlich geputzt sind, freß ich ’n Besen.« Bei den Schuhen war Mama pingelig. Die mußten picobello aussehen und glänzen wie Speckschwarten.
Abermaliges Antanzen. »Sind die jetzt gut?«
»Naja, mit einem zugedrückten Auge …«
Damit wir nicht alles gleich verklähten, hatte Papa für Volker und mich zwei kleine blaue Tresore gekauft, in die wir die Hälfte vom Taschengeld reinschmeißen mußten. Drei Hebel zum Drehen waren vorne an der Tür. Die richtige Zahlenkombination kannte nur Papa. Sonst würden wir doch nur auf dumme Gedanken kommen.
Wenn man die Tresore schüttelte, konnte man die Münzen rasseln hören.
Auf den 29. Februar war ich gespannt gewesen wie ein Flitzebogen, aber das war ein Tag wie immer.
In einem Film, der im Fernsehen kam, fiel eine Frau in Ohnmacht, kriegte was unter die Nase gehalten und wurde wieder wach. Riechsalz sei das, sagte Mama. Was die alles wußte.
Der Empfang war saumäßig, Ton dauernd weg und Schnee im Bild.
Aus der Tanzstunde kam Renate schweißbedeckt zurück. Sie hatte Jive und Pasodoble gelernt.
Dann war der Fernseher total im Arsch, und wir versäumten alle Folgen von Flipper, Pan Tau, Pippi Langstrumpf, Shiloh Ranch, Renn, Buddy, renn, Schweinchen Dick, Lassies Abenteuer, Westlich von Santa Fé, Semesterferien, Bezaubernde Jeannie und Dick und Doof, bis der Kasten repariert war.
Dalli-Dalli kuckte ich bei Stephan Mittendorf in Farbe. Das hätte ich bei uns nicht sehen dürfen, weil Mama der hopsende Hans Rosenthal auf die Nerven ging.
Farbfernsehen, da jiepere sie nun weiß Gott nicht nach, sagte Mama, aber ich fand das eine Million Mal besser als Schwarzweiß.
Mittendorfs waren halt reich, die konnten sich das leisten.
Nach der Reparatur trat Christian Anders in der Drehscheibe auf. Es fährt ein Zug nach nirgendwo, mit mir allein als Passagier. Das sei der größte geistige Dünnschiß aller Zeiten, sagte Renate. Sie nähte einen Reißverschluß in ihr Kleid für den Abschlußball.
In den Osterferien wurde Volkers Zimmer isoliert, vertäfelt und tapeziert, und im Vorgarten hoben Bauarbeiter das Fundament für die Böschungsmauer aus.
Jetzt hatte ich mein Zimmer für mich allein. Ich spielte Freude, schöner Götterfunken auf der Melodica, bis Papa hochrief, daß ich das Gehupe einstellen solle. Das sei ja zum Steinerweichen.
Renate hatte einen Ferienjob in der Kaufhalle in Koblenz. Da mußte sie Schokoladeneier und Bärentatzen abwiegen und verpacken, immer in Tüten zu einhundert Gramm, für zwei Mark fünfundsechzig in der Stunde.
Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.
Hinterm Haus flatterten Vögel rum, die nach Volkers Meinung Saatkrähen waren. Wegen der Krokusse durften wir auf dem Rasen nicht mehr bolzen. »Frühling ist, wenn die Krokusse lachen und die Lokusse krachen«, sagte einer der Arbeiter, die Erde für den Vorgarten brachten.
Am Bahnhof hängte Mama mir ein Schild um, auf dem stand, wie ich hieß, wo ich wohnte, wo ich aussteigen mußte und zu wem ich wollte, und im Zug suchte sie mir ein Abteil aus, in dem eine Oma saß, die mich im Auge behalten sollte: »Wären Sie so gut?«
Dann am Fenster, Mama auf dem Bahnsteig. »Mach unterwegs keine Dummheiten, hörst du?« Jaja. »Wo mußt du raus?« In Hannover. »Wo hast du deine Fahrkarte?« Hier. Nein, doch nicht. Wo war die hin? »O Gott, mach mich nicht schwach!« Der Schaffner pfiff schon. »Kuck nochmal ganz genau nach! Eben hattest du die doch noch!« Runtergefallen war sie.
»Wenn das nur mal gutgeht!« sagte Mama und winkte mir nach.
Die Oma schälte einen Apfel mit dem Messer, schnitzte das Kerngehäuse raus und bot mir ein Stück von dem Apfel an. »Wenn du groß und stark werden willst, brauchst du Vitamine«, sagte sie, aber ich war nicht scharf auf Obst aus den Popelpfoten von alten Omas.
Auf dem Bahnsteig in Hannover nahm mich Tante Dagmar in Empfang. »Willkommen in deiner Geburtsstadt!«
Wir gingen zum Taxistand. »Zu Fuß gehen können meine Erben«, sagte Tante Dagmar, und dann durfte ich mir aussuchen, was ich zuallererst wollte, Kuchen essen oder in den Zoo oder eine Langspielplatte aussuchen.
Erben hatte Tante Dagmar keine. Sie war auch nicht verheiratet. »Jeden Abend denselben Kerl auffem Sofa, dreißig Jahre lang? Und womöglich Papi zu dem sagen, und der nennt mich Mami?« Soweit komme das noch, aber nicht mit ihr.
Ohne Ehemann mußte Tante Dagmar selbst arbeiten gehen, weswegen sie aber auch viel Geld hatte und mir so mir nichts, dir nichts eine LP schenken konnte, eine von Bruce Low. Noah schrie: Herr, es gießt in Strömen hier! Der Herr sprach: Noah, hurry up und schließ die Tür!
In Tante Dagmars Wohnung war ein ganzes Regal mit Platten voll. Smetana, Mozart, Schubert und Beethoven, Eroica. Die vier Jahreszeiten und der gepfiffene River-Kwai-Marsch. Reinhard Mey live. Der Schwiegermuttermord von Jürgen von Manger.
Honululu, Uppsala und Maratonga.
Als ich schon im Bett lag, kam Tante Dagmars neuer Freund Jörg, der im Rundfunkorchester Flöte spielte, und ich konnte die beiden flüstern hören.
Trompete hätte ich besser gefunden.
Zum Frühstück durfte ich Cola trinken und mir fingerdick Käpt’n Nuß aufs Brötchen schmieren. Als Jörg das sah, ließ er sein Besteck fallen und sagte: »Sorry, mir vergeht der Appetit, wenn ich sehe, wie sich einer Scheiße aufs Brot kleistert«, wovon ich so lachen mußte, daß ich mich verschluckte und Krümel auf den Tisch hustete. Papa hätte mir eine gefenstert, aber Tante Dagmar lachte mit.
Ich durfte auch Kennen Sie Kino kucken und im Funkhaus, wo Tante Dagmar zur Arbeit ging, auf den Händen laufen. Da kriegte ich Applaus, wenn das jemand sah.
Einen Narren an mir gefressen hatte Tante Dagmars Kollegin Frau Leineweber, eine steinalte Dame mit großen Augen hinter den Brillengläsern. Für Frau Leineweber legte ich Sendeprotokolle zusammen und erhielt von ihr jedesmal zwei Mark zur Belohnung.
In der Kantine kaufte Tante Dagmar mir soviel Tortenstücke, wie ich verdrücken konnte. Paradiesisch. Ich sollte mir nur nicht den Magen verderben.
Weil sie keine Zeit mehr hatte, in die Stadt zu gehen, kaufte Tante Dagmar der Kantinentante zwanzig Eier ab, die sie auf dem Rückweg zum Büro in einem offenen Karton vor sich hertrug, und ich durfte einen Blick in das Zimmer werfen, in dem die Agenturmeldungen aus den Tickern gerattert kamen. Indira Gandhi, Tschiang Kai-schek und Papadopoulos.
Im Treppenhaus kam ein Typ mit giftgrüner Fliege an und sagte: »Klatschen Sie doch mal in die Hände, Frau Lüttjes!« Tante Dagmar machte das, und der Eierkarton fiel dem Typen vor die Füße, wobei fast alle Eier kaputtgingen und Eigelb hochspritzte.
»Wenn mir einer so blöd kommt, braucht er sich nicht zu wundern«, sagte sie, als wir zurück zur Kantine gingen, neue Eier kaufen.
Nachhause schrieb ich eine Ansichtskarte mit dem Maschsee vornedrauf. Daß Hannover die Wucht in Tüten sei und daß ich statt Mittagessen immer Kuchen und Negerküsse essen dürfe.
Tante Dagmar hatte Welfenspeise gemacht. »Da könnt ich mich reinsetzen«, sagte Jörg und gab Tante Dagmar zwischen zwei Löffeln einen Kuß auf die Nase. Papa hätte nur gesagt: »Schmeckt wie Zement.«
Über Ostern fuhren wir nach Jever. Am Bahnhof stand Gustav Gewehr bei Fuß, um uns abzuholen. Sein Stottern war nicht mehr so doll wie früher. Er sang sogar was: »Wer hat mein Glied so zerstört?«
Oma strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als wir da waren, und Opa stellte fest, daß ich gewachsen sei. »Du heiliger Strohsack!« In Opas Jugend seien die Menschen alle viel kleiner gewesen. Oder im Mittelalter erst. In die Ritterrüstungen von damals würden heute nur noch Halbwüchsige reinpassen.
Als ich im Schloßgarten eine Ente erschreckt hatte, war Tante Dagmar sauer. »Mit dir kann man nirgendwo hingehen«, sagte sie, und ich dachte zum ersten Mal im Leben daran, ihr was Schlechteres als eine Eins zu geben.
Pfauenfedern fand ich keine.
Die Reise zum Mittelpunkt der Erde war das beste, was an den Feiertagen im Fernsehen kam. Mammutpilze, heiße Dämpfe und fleischfressende Riesenechsen, ein unterirdischer Ozean mit Strudel und eine versunkene Stadt, in der ein Drache mit langer Schlabberzunge im Hinterhalt lag. Dann brach ein Vulkan aus, und der Drache wurde unter glühender Lava begraben.
In der Küche stand ein großes Einmachglas mit hartgekochten und gepellten Eiern in Salzwasser. Da ging Gustav hin, wenn er ein russisches Ei essen wollte. Ei halbieren, Dotter mit dem Löffel rauspolken, Essig, Pfeffer und Salz in die Mulde streuen, Senf drauf, Dotter umgekehrt wieder aufsetzen und runter damit. Ich aß auch einmal ein russisches Ei, und mir kamen die Tränen.
Beim Mittagsschlaf hatte Oma geträumt, eine Riesengesellschaft bekochen zu müssen. Sie habe immer solche Träume. »Ganze Paläste reinigen, Teppiche ausklopfen, Fische ausnehmen und all sowas daher. Hausfrauenträume eben!«
Gustav saß in seinem Zimmer und studierte Meyers Großes Personenlexikon. Er war berühmt dafür, daß er Lexikons auswendiglernte.
»Lexika heißt das.«
Im Regal standen ein Modell vom Eiffelturm und eine Bobbypuppe mit roter Weste und schwarzem Bobbyhut, ein Souvenir aus London. Und Bücher in rauhen Mengen. Der große Ploetz. Duden Stilwörterbuch. Das Handbuch des Deutschen Bundestages. Kulturfahrplan. Der Fischer Weltalmanach 1969. Kurze Geschichte Afrikas. Das treffende Zitat. Wer ist wer?
Um Gustav zu erschrecken, sprang ich ihm auf den Schoß, wobei ich sah, daß er innen in dem aufgeklappten Lexikon eine Zeitschrift mit Nacktfotos liegen hatte.
»Jetzt reicht’s aber, du Quälgeist«, rief er und schmiß mich raus.
Zu Opas 76. Geburtstag kamen schon vormittags acht andere Opas und qualmten Zigarren, bis man im Wohnzimmer keine Luft mehr kriegte.
Warum haben die Ostfriesen so flache Hinterköpfe? Weil ihnen beim Wassertrinken immer der Klodeckel auf den Kopf fällt.
Oma saß solange mit den anderen Omas in der Küche.
Als die Luft wieder rein war, ordnete Gustav im Wohnzimmer seine Bierdeckelsammlung. Rund dreihundert Stück hatte er schon beisammen. Daß es die umsonst gab, wollte ich nicht glauben, aber Gustav nahm mich mit in eine Kneipe, und da kriegte ich fünf Bierdeckel geschenkt vom Wirt.
Opa studierte das Kursbuch, um die beste Verbindung für uns zu finden. Dann und dann ab Jever, in Sande umsteigen, Ankunft in Hannover um soundsoviel Uhr, oder einen Zug früher nehmen und zweimal umsteigen.
So sei das im Krieg schon gewesen, sagte Oma. »Da freut man sich über einen Brief, und was steht drin? Meine liebe Emma, heute ist dein Brief vom achten neunten angekommen, der nur vier Tage gebraucht hat, während der vom neunten achten sechzehn Tage lang brauchte, im Gegensatz zu dem Brief Nummer vierzehn vom dritten sechsten! Zum Auswachsen!«
Von Hannover brachten Jörg und Tante Dagmar mich mit dem Auto zurück nach Koblenz. Dabei krakeelten sie ein Lied von einem Heideblümelein, das Erika hieß.
Mama machte Tante Dagmar eine Szene: Ob es stimme, daß ich immer nur Kuchen gekriegt hätte statt regulärer Mahlzeiten? »Ich kann bloß hoffen, daß du uns hier keinen verzogenen Bengel wieder abgeliefert hast!«
Renate wollte sich eine neue Single kaufen. Ich erzählte Stephan Mittendorf davon. Wir verabredeten uns für vier Uhr, mußten aber fast bis halb sechs warten, bis Renate sich an der neuen Single sattgehört hatte. How do you do, nanaaa, nana, nanaaa, nana …
Dann kam ein Anruf aus Jever: Tante Lina sei gestorben. An die konnte ich mich kaum noch erinnern. War das die aus Hooksiel gewesen?
Die Arbeiter, die die Holzverschalung für die Vorgartenmauer bauten, hatten Filzhüte auf.
Im Schulbus stritt ich mich mit Stephan Mittendorf, der für Rainer Barzel war, den alten Schleimscheißer, und nicht für Willy Brandt. Stephan Mittendorf hatte sie nicht mehr alle.
Frau Frischke schrieb die Zehn Gebote an die Tafel. Gegen das vierte, das siebente und das achte hatte ich schon wer weiß wie oft verstoßen, aber das behielt ich für mich. Melanie Pape wollte wissen, was mit Notlügen sei, ob man da eine Ausnahme machen dürfe.
»Strenggenommen nicht«, sagte Frau Frischke. Auch Notlügen seien Lügen. »Es gebe aber Grenzfälle, wo dem Nächsten mit einer Notlüge mehr geholfen sei als mit der Wahrheit.«
Also doch. Dann war ich beim achten Gebot aus dem Schneider. Meine Lügen waren immer Notlügen gewesen. Ohne Not hätte ich ja überhaupt nicht lügen müssen.
In der Turnstunde hätten wir auf dem neuen Trampolin hüpfen sollen, aber das war weggestellt worden, weil ein Mädchen aus einer anderen Klasse beim Springen auf die Trampolinkante geknallt war und sich den Fuß gebrochen hatte. Mit Tatütata ins Krankenhaus, und Herr Jungfleisch hatte vor der Turnhalle gestanden und sich hinten am Kopf gekratzt.
Stattdessen mußten wir jetzt um Holzkegel wetzen und an der Sprossenwand Übungen machen, von denen man Muskelkater im Bauch kriegte. Im Hängen die Beine anziehen, Knie an die Brust.
»Ächz, keuch, stöhn«, sagte Michael Gerlach, als er da baumelte.
In Heimatkunde ging uns Frau Katzer mit dem Rheinischen Schiefergebirge auf den Keks. Der Westerwald ist der nördlichste Teil des Rheinischen Schiefergebirges. Seine Grenzen heißen Sieg im Norden, Rhein im Westen, Lahn im Süden. Das Rheinische Schiefergebirge besteht aus fünf Teilen: Westerwald, Taunus, Eifel, Hunsrück und Süderbergland.
Wo jetzt der Rhein floß, sei früher ein Urstromtal gewesen, hoch überflutet und voller Plankton.
Das Deutsche Eck, aus Schwarzwälder Granitquadern errichtet, stehe auf einem Untergrund von Niedermendiger Basalt. Und gegenüber der Ehrenbreitstein: Da hätten schon die alten Römer eine Befestigung gebaut. Niemals mit Waffengewalt bezwungen worden. Kurfürst Klemens Wenzeslaus, 1739–1812.
Nach dem Schiefergebirge war das Kannenbäckerland dran. Frau Katzer diktierte. Der Mittelpunkt des Kannenbäckerlandes ist Höhr-Grenzhausen. Schon vor Jahrhunderten wurde in dieser Gegend Ton gefunden, eine weiße, fettglänzende Erde. Auch heute noch geben die Tonlager vielen Menschen Arbeit. Ein Teil des Tons kommt nach Neuwied und wird dort zu Zement verarbeitet. Der größte Teil aber wird im Kannenbäckerland verwertet. Er wird von großen Kränen ausgegraben, dann geschlämmt oder gereinigt. Dieser vorbearbeitete Ton wird auf der Töpferscheibe zu Vasen, Schalen oder anderen Gefäßen geformt. Anschließend müssen die Tonwaren an der Luft getrocknet werden, erst danach werden sie in Öfen gebrannt. Die Hitze beträgt 1200 bis 1400 Grad Celsius. Für die Glasur kommt Kochsalz in den Ofen. Wenn die Waren fertig gebrannt sind, werden sie verpackt und verschickt.
»Wenn die Katzer auf dem Kannenbäckerland so lange rumreitet wie auf dem Rheinischen Schiefergebirge, nippel ich ab«, sagte Michael Gerlach in der Pause.
Mit der ganzen Klasse sollten wir eine Vasenfabrik besuchen. Beim Broteschmieren platzte Mama der Kragen: »Weshalb muß auf Klassenausflügen eigentlich zehnmal soviel gefressen werden wie sonst?«
In der Fabrik war es staubig und laut, und die Arbeiter waren pampig und schrien rum. Bloß kein Kannenbäcker werden.
Ich sammelte Vasenscherben vom Boden auf, die ich auf der Rückfahrt im Bus mit Stephan Mittendorf seinen verglich. Welche wohl kostbarer waren.
Der gebrochene Pfeil sah auch Mama sich an, obwohl sie für Wildwestfilme nichts übrig hatte, aber der hier war mit James Stewart, und den mochte sie leiden.
James Stewart konnte Rauchzeichen machen. Er operierte einem Indianerjungen Schrotkugeln aus dem Rücken und verbündete sich mit dem Apatschenhäuptling Cochise, der verteufelte Ähnlichkeit mit Oma Schlosser hatte, wenn man sich die Indianersachen wegdachte. Wie aus dem Gesicht geschnitten.
Von den Weißen wurden die Apatschen immer nur aufs Kreuz gelegt.
Einmal mußte Volker nachsitzen und hatte dann noch Turnen, und ich sollte ihm den vergessenen Turnbeutel bringen. Viel Lust hatte ich nicht, aber Mama setzte mich in Marsch.
In der Schule mußte ich den Hausmeister fragen, wo die Nachsitzer Unterricht hatten. Das Klassenzimmer fand ich, aber nicht Volker. Da tobten die Großen und rissen mir den Beutel weg. Ein verknöcherter Pauker krickelte was an die Tafel, mit dem Rücken zur Klasse, wo unter großem Gejohle der Turnbeutel rumgeschmissen wurde. Frau Katzer wäre hochgegangen wie Apollo 16, wenn wir uns bei der so aufgeführt hätten, aber der alte Knacker vorne drehte sich nur halb rum, blinzelte über die Brille weg und sagte: »Ta, ta, ta, ta, ta!«
Irgendwer schmiß den Turnbeutel aus dem Fenster auf den Schulhof, und ich machte mich aus dem Staub. Sollte Volker doch ohne seinen Turnbeutel selig werden. Das war das letzte Mal, daß ich Volker was hinterhergeschleppt hatte.
Am Sperrmülltag rettete Papa auf unserer Straße einen defekten Benzinrasenmäher vor der Reise in die ewigen Jagdgründe und brachte viele Abende damit zu, den zu reparieren, aber immer fehlten noch Teile.
Das feuerrote Spielmobil mit Maxifant und Minifant und den Stoffhunden Wuff und Biff war mehr was für Wiebke. Ich war zu alt dafür.
In der Klasse kriegte ich an meinem zehnten Geburtstag ein Ständchen. Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen, aber ich konnte es kaum abwarten, wieder nachhause zu kommen, weil ich meine neuen Platten hören wollte. Die Armbanduhr, mein Hauptgeschenk, hatte ich schon an.
Auch Sachkunde ging mir am Arsch vorbei. Was Kürschner sind und wie man Leder gerbt.
»Deine Schallplatten laufen dir schon nicht weg«, sagte Mama. Ich mußte ihr beim Wäschesprengen helfen. Die Laken an zwei Ecken festhalten, und Mama spritzte aus einer Siebflasche Wasser drüber.
Auf der 3x9-LP waren Schlager von Roy Black und Anita, Bata Illic, Karel Gott, Daliah Lavi, Reinhard Mey, Katja Ebstein und Chris Roberts und dazu noch Musik von Max Greger und James Last.
Eine Fuge von Bach erinnert mich an dich. Renate sagte, Roy Black sei ein Sülzbubi. Was der sich zusammenschluchze, sei Kitsch in höchster Potenz, aber ich wollte mir die LP nicht madig machen lassen. Akkordeon, Akkordeon, ich träume heute noch davon. Zwei Mark gingen an die Aktion Sorgenkind.
Volker und Renate hatten ihre Penunze zusammengelegt und eine Single von Tony Marshall für mich erstanden. Wir singen Tralala und tanzen Hoppsassa.
Ein Sprichwörterquartett, von Onkel Dietrich ein Karl-May-Album und von Oma Jever und Tante Gertrud je fünf Mark. Davon kaufte ich mir die Singles Jeder Abschied kann ein neuer Anfang sein von Freddy Quinn und Du lebst in deiner Welt von Daisy Door auf Ariola. Auf der B-Seite war ein Instrumentalstück, Jericho Angels, ohne Gesang und eigentlich Betrug am Kunden. Da drückte man fünf Mark für eine Single von Daisy Door ab, und dann war hinten gar nichts drauf von der.
Zu Mittag gab es Gänseklein und Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Da konnte man mit dem Löffel Krater ausbaggern und die Soße reinlaufen lassen.
Das Quartett war mit Bildern. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, wo gehobelt wird, da fallen Späne, wer zuletzt lacht, lacht am besten und Gelegenheit macht Diebe. »Reißt mich nicht vom Hocker«, sagte Volker, als wir das erste Mal damit gespielt hatten.
Er war mehr für mein Karl-May-Album zu haben, aber mich ließ das kalt.
Von dem Umzug nach Amerika war keine Rede mehr. Dafür hatten Mama und Papa jetzt vor, im Urlaub mit uns allen nach Italien zu fahren. Mit dem Peugeot über die Alpen und dann an die Adria. Volker und ich waren Feuer und Flamme dafür.
Am Tag der Arbeit saß Renate auf der Terrasse und lernte was für Geschichte, und der Sohn vom Walroß geierte immer über den Zaun zu ihr rüber. Nicht ganz dicht, der Fidi.
Seit er mir mal sechzig Pfennig gepumpt hatte, war Volker mein Gläubiger und jaulte mir die Ohren voll wegen dem Geld. Von Rechts wegen war ich ja ein Krösus, aber wenn ich an meinen Schotter wollte, mußte ich den Tresor knacken, da führte kein Weg dran vorbei.
Durch Drehen und Ziehen und Ruckeln kriegte ich irgendwann die Kombination raus. Fünf, drei, null. Sesam, öffne dich! Genau neun Mark waren drin. Jetzt konnte ich immer ran an den Speck. Ich nahm zwei Mark weg, beglich meine Schulden, kaufte mir Tictac vom Rest und fühlte mich wie auf Wolke sieben.
Renate hatte es noch besser. Die fuhr zu einem Konzert von Ulrich Roski in der Rhein-Mosel-Halle und kam mit einem Plakat und einem Autogramm zurück.
Michael Gerlach und ich hatten uns vorgenommen, einmal sonntags bis zu dem Fernsehturm zu wandern, der vom Mallendarer Berg aus zu sehen war. Das muß ein schlechter Müller sein, dem niemals fiel das Wandern ein! Honigbrötchen fressen und erst abends wiederkommen.
Wir gingen der Nase nach durchs Wambachtal und den Berg hoch, an einer eingezäunten Wiese vorbei, mit Schafen und Apfelbäumen und einem Monstrum von Hirtenhund, genannt Attila, irre bellend und mit Geifer an den Lefzen. Der hätte uns liebend gerne zerfleischt, bei lebendigem Leibe.
Weiter oben, vor der Kuhweide, stand ein abgewrackter Traktor. Um die Weide war ein tickender Elektrodraht gespannt. Nie dranpinkeln, wenn man keinen Wert darauf legte, in einem Harem als Eunuche anzuheuern.
Die Kühe schleckten an hellroten Salzwürfeln, die am Zaun hingen. »Hättst du Lust, ’ne Kuh zu sein?« fragte Michael mich. »Ohne Hände, um die Fliegen zu verscheuchen, Wasser aus ’ner Blechwanne mit toten Insekten drin saufen und eines schönen Tages kaltblütig abgeschlachtet werden?«
Zwischen Misthaufen und Rübenfeldern führte ein Teerweg lang und an Masten mit Stromkabeln oder Telefonkabeln vorbei. Eher Telefon wohl, weil man die Kabel britzeln hören konnte. Da sabbelten die Leute.
Dann eine Kapelle. Abgeschlossen. Und in der Ferne der Fernsehturm. Um dahinzukommen, mußten wir links vom Weg ab, querfeldein ins Tal runter und den nächsten Berg wieder hoch.
Tote Bäume umkippen beim Abstieg und Wanderstöcke suchen, die was aushielten. Anhand von Sonnenstand und Uhrzeit hätte man rauskriegen können, wo Norden war, aber wie?
Unten durch Matsche, feuchtes Moos und Dornen. Dann kam ein Bach, und wir suchten lange nach einer Stelle, wo wir trockenen Fußes rüberkonnten. Nur ja nicht auf einem von den Steinen ausgleiten. Sonst durfte man pladdernaß den Rückzug antreten, krepierte an Lungenentzündung und konnte die Radieschen von unten betrachten.
Oberhalb vom Bach war eine Straße. Zum Verpusten setzten wir uns auf die Leitplanke. Von den Autos, die vorbeifuhren, hatten die meisten KO oder NR als Stadtkennzeichen, Koblenz oder Neuwied am Rhein. Als nächste Buchstaben hatten die Autos aus Neuwied CR. Alle, aber auch alle. NR-CR 304, NR-CR 67, NR-CR 750. Immer das gleiche. NR-CR, NR-CR, NR-CR. Ob die da keine anderen Buchstaben hatten beim TÜV in Neuwied?
Als gerade mal kein Auto kam, versuchten wir, einen Gullydeckel aus der Verankerung zu ziehen, aber der war zu schwer.
Dann die steile Anhöhe rauf. Hochziehen mußte man sich von einem Baum zum andern, Meter um Meter. Manche Stämme waren morsch und knackten ab, und an manchen wuchsen Schimmelpilze.
Auf, du junger Wandersmann, jetzo kommt die Zeit heran!
Oben war eine Ortschaft, Hillscheid. Dahinter ging es noch höher, und da fing auch der Wald wieder an. Vom Fernsehturm war nichts zu sehen, aber der mußte irgendwo in der Richtung stehen, die wir eingeschlagen hatten.
Eine Schutzhütte. Udo liebt Steffi, ins Holz geritzt, und ein Drahtpapierkorb mit ausgesoffenen Bierflaschen.
Dann eine Fichtenschonung, mit Aufklebern an den Bäumen: Kein Urlaubsort, wo Vogelmord! Dazu ein durchgestrichener Italienstiefel.
Nach endlosem Gelatsche ragte der Fernsehturm vor uns auf, neunundneunzig Meter hoch. Ob da oben Leute drin arbeiteten? Oder lief das alles automatisch? Ringsherum ein hoher Zaun.
»Vielleicht haben die da ja ’n Gästebuch«, sagte Michael. Da was reinkrickeln, nach dreißig Jahren wiederkommen und nachschlagen, was man damals geschrieben hat. Wir suchten nach einer Klingel am Tor, aber es gab keine. Nicht mal eine Bank zum Ausruhen gab’s da.
Und dann den ganzen langen Weg zurück.
Am Fußballplatz kriegte Volker von einem Jungen dessen Mofa geborgt und rief nach einer Runde auf der Aschenbahn: »Von jetzt an wird gespart!«
Jahr um Jahr auf ein Mofa zu sparen, das konnte auch nur Volker einfallen.
Renate hatte währenddessen Schluß mit Rüdiger gemacht, und Papa war zum Schrottplatz gefahren, um einen Rasenmähergriff zu organisieren.
Von dem Geld, das sie in der Kaufhalle verdient hatte, kaufte Renate sich einen Flokati, um in ihrem Zimmer die verhaßten grünen Fliesen abzudecken.
Seinen Geburtstag feierte Stephan Mittendorf großkotzig unten in Vallendar an der Kegelbahn in der Stadthalle, mit zehn Gästen. Haste was, dann biste was.
Es war reine Glückssache, wieviele Kegel umflogen. »Den Wurfarm muß man lange ausschwingen lassen«, sagte Oliver Wolter hundertmal. Wenn ich was getroffen hatte, rief er, daß das Anfängerglück sei, und wenn seine Kugel von der Bahn abkam, krähte er: »Da brate mir doch einer einen Storch!«
Der Kerl war so doof, wie er lang war.
Zu trinken kriegten wir Sprite und Cola, soviel wir wollten.
Die Kegel wurden automatisch wieder aufgestellt, was ich mir auch mal aus der Nähe ansehen wollte, aber da durfte man nicht hin, das war zu gefährlich.
Ich denke oft an Piroschka hieß ein Film, der im Ersten kam. Wenn das kein Wink des Himmels war. Den Film wollte ich kucken, koste es, was es wolle, aber ich versuchte, so gelangweilt auszusehen, wie’s nur ging, als er lief.
Die Piroschka in dem Film hatte Blumen und Schleifen im Haar und lief barfuß zwischen Heuhaufen rum. Die Frauen rauchten Pfeife und schälten Maiskolben, und die schnurrbärtigen Männer tanzten Csárdás oder geigten Zigeunerweisen und gaben sich Backenküsse. Von dem Bahnhofsschild, das man immer wieder sah, schrieb ich den unaussprechlichen Namen von dem Ort ab, in dem das spielte: Hóomezövásárhelykutasipuszta. Damit wollte ich Piroschka irgendwann mal beeindrucken. Oder Ungarisch lernen, und dann würden wir als Erwachsene zusammen nach Ungarn ziehen und uns daran erinnern, wie wir damals beide den Film gekuckt hatten, Piroschka in der Rudolf-Harbig-Straße und ich bei uns.
Weil sich Papas Versetzung nach Meppen anbahnte, wurde der Italienurlaub abgeblasen. Statt an der Adria rumzugammeln, wollte Papa lieber das Haus verschönern und es dann zu einem angemessenen Preis vermieten.
»Eben erst eingezogen und dann schon wieder umziehen mit Sack und Pack, das ist auch nicht das Gelbe vom Ei«, sagte Mama. Aber in Meppen konnte Papa mehr verdienen.
Im Wambachtal kletterten Michael Gerlach und ich auf zwei Bäume, Cockpit und Brücke, und spielten Raumschiff Enterprise. Der Weltraum. Unendliche Weiten. Sternzeit drei eins eins drei Komma nochwas.
»Käpt’n ruft Brücke! Nichtidentifiziertes Schiff im Anflug! Alarm für alle Decks!«
»Energieschirme ausgefallen! Sensorenwarnung! Wir werden angepeilt!«
»Mister Sulu, Transporterstrahl auf romulanisches Schiff!«
»Frequenz stabil! Photonentorpedos haben Ziel erfaßt! Batterie drei aktiviert und feuerbereit!«
Spock, halb Vulkanier, halb Mensch, der Schiffsarzt McCoy, genannt Pille, und Lieutenant Uhura. Die wurden nie von Käpt’n Kirk gefragt, ob sie im Zirkus großgeworden seien, weil auf der Enterprise die Türen von alleine aufgingen und wieder zu.
Laserpistolen hätte man haben müssen. Und sich aus dem Wambachtal auf den Mallendarer Berg beamen lassen können, wenn es anfing zu regnen.
»Da scheiß ich drauf«, sagte Volker, als ich mit meinem Sprichwörterquartett bei ihm ankam. Er lag auf dem Bett und las Zack, mit Comics über Rennfahrer, Marsupilami, Lucky Luke und die vier Daltonbrüder, von denen der längste auch der dümmste war. Gegen den war selbst Lupo eine Intelligenzbestie. Einmal wollte Lupo mit einem Geldschein bezahlen, den er selbst gefälscht hatte: Zwanzick Marck. Und Lupo wunderte sich noch, daß das nicht klappte.
In Konflikt mit dem Gesetz gekommen waren auch die Terroristen, von denen einer bei der Festnahme nur noch seine Unterhose anhatte in der Tagesschau. Oder sonntags die kleinen Strolche, ungekämmt, zerfetzte Hosen an und immer am Wegrennen vor Polizisten oder vor Hundefängern, die die Promenadenmischung mit dem schwarzen Ring um das eine Auge schnappen wollten.
Als Flipper seinem Herrchen Sandy half, drei Ganoven unschädlich zu machen, war ich wieder für die Polizei.
Die Bundesjugendspiele fanden bei großem Sauwetter statt. Michael Gerlach drückte sich vorm Kugelstoßen und kam beim Zweitausendmeterlauf als zweitletzter mit Hängezunge über die Ziellinie gebösselt. Ich war zehnter gewesen und hatte gehofft, daß Piroschka mir beim Endspurt zukuckt, aber die war nirgendwo zu sehen.
Krach mit Papa kriegte Renate, als sie in Hotpants zur Schule wollte. »In diesem Aufzug kannst du deinen Paukern nicht den Arsch ins Gesicht drehen«, sagte Papa, und Renate stampfte beleidigt die Treppe hoch.
Hausaufgaben. Werfall, Wesfall, Wemfall, Wenfall: Wer hat den Maikäfer zertreten? Uli war es. Wessen Maikäfer ist es? Hartmuts. Wem ist Hartmut böse? Uli. Wen beauftragt der fünfjährige Hartmut, den neunjährigen Uli zu verhauen? Fritz.
Auf dem Klavier übte Renate Love Story, die Forelle und Amazing Grace.
Zum Geburtstag kriegte Wiebke ein Kleid von Tante Therese, einen grünen Fummel, der an der Taille enger genäht werden mußte. Mädchen sein, das Allerhinternachletzte. Ohne Punkt und Komma über Wäsche reden und Handarbeiten machen, so wie Renate, die zuletzt eine Milliarde Wolltintenfische gestrickt hatte, mit Tischtennisbällen als Schädel, einen Türvorlegerdackel und ein Schildkrötenkissen namens Lord Nelson. Für die Füllung hatte sie alte Strumpfhosen von Mama genommen, und Lord Nelson miefte dementsprechend.
Den Benzinrasenmäher hatte Papa endlich wieder in Gang gesetzt und neu lackiert. »Mich laust derselbige«, sagte Mama.
Der Rasenmäher machte einen Höllenlärm, im Stehen noch mehr als beim Geschobenwerden. Papa mähte den Rasen nach einem ausgeklügelten System, von außen nach innen. Das Gras landete in einem Fangkorb. Als Renate mähte, machte sie das kreuz und quer, bis Papa das sah und ihr die Leviten las.
Auf dem frischgemähten Rasen wollte ich mit Wiebke Federball spielen. Den einzigen heilen, den ich in der Spielzeugkiste noch gefunden hatte, feuerte Wiebke gleich beim ersten Schlag über den Zaun in den Garten vom Walroß. Ich teilte ihr mit, daß sie ein doofes Arschloch sei, und sie rannte heulend ins Haus.
Mama war auf achtzig. »Daß du dich nicht schämst! Deiner kleinen Schwester sowas vor den Latz zu knallen!« Ich wurde ins Bett geschickt, am hellichten Tag. Ohne Wenn und Aber. Jalousie runter und Licht aus.
Wegen so einem Pipifax.
Ratzen müssen, wenn man noch kein bißchen müde war. Eine schöne Suppe hatte mir mein Schwesterherz da eingebrockt. Das schrie nach Rache. Manometer. Wiebke, die alte Zimtziege.
Augen zumachen, wie bei Was bin ich, wenn der Gong kommt und der Beruf eingeblendet wird. Die typische Handbewegung, und von Robert Lembke für jedes Nein ein Fünfmarkstück. Gehe ich recht in der Annahme, daß. Und wie die Leute sich wohl ärgerten, die am Schluß nur fünf oder zehn Mark im Sparschwein hatten statt fünfzig.
Im Urlaub verlegte Papa Pflasterplatten neben dem Haus und entdeckte ein Mäusenest unterm Komposthaufen. Er rief uns raus, damit wir zusehen konnten, wie die Mäusemutter alle ihre Kinder einzeln wegschleppte.
Auf einer Wiese im Wambachtal suchten Stephan Mittendorf und ich nach vierblättrigem Klee, weil der Glück bringen sollte. Ob ich noch verliebt sei in Roswitha Schrimpf, wollte Stephan wissen. Er würde es auch nicht weitersagen. Oder ob ich mich in eine andere verschossen hätte. »Haste doch, oder nicht? Kann ich dir doch an der Nasenspitze ansehen. Brauchst mir gar nicht noch länger was vorzugaukeln! Raus mit der Sprache!«
Er bohrte und bohrte, aber bevor ich ihm die Wahrheit sagte, mußte er schwören, daß er dichthielt.
»Die Piroschka!« brüllte der Blödmann dann. »Ich lach mich schlapp!« Hinter der sei er selber her. Schon alles versucht. Sich hinter die gesetzt im Bus und lauter Wörter mit Pi am Anfang benutzt, Pistole, Pingpong, Pillenknick, Pilot und Pickel, aber das sei Piroschka piepegal gewesen. Die interessiere sich nicht für Jungs.
Jedenfalls nicht für Stephan Mittendorf.
Tatform und Leideform. Der Lehrer lehrt die Schüler, die Schüler werden vom Lehrer gelehrt. Ob wir noch andere Beispiele nennen könnten. »Die Eltern tun die Kinder erziehen«, sagte Norbert Ripp, und Frau Katzer sagte: »Titen, taten, tuten! Die Eltern erziehen die Kinder, ohne tun!« Das sollten wir uns hinter die Ohren schreiben.
Von meinem Zimmerfenster aus sahen Renate und ich die fette Frau Winter die Straße runterwatscheln. »Die geht zum Bäckerwagen«, sagte Renate. »Kann’s vor Freßgier nicht mehr aushalten, die Alte.« Und tatsächlich, nach einer Viertelstunde watschelte Frau Winter die Straße wieder rauf, mit einem großen Tortenkarton in den Pranken.
Der Wagen von Bäcker Klinkeisen kam erst eine Weile später. Renate kaufte ein Oberländer Graubrot und kriegte noch drei Puddingteilchen geschenkt.
»Das wundert mich nicht, bei dem kurzen Fetzen von Rock, den du anhast«, sagte Mama. Sie brühte Bohnen aus dem Garten für die Gefriertruhe vor, im Vitavit-Topf.
Zum Davonlaufen schmeckte Sülze mit Remouladensoße. Ich hätte lieber was Normales gegessen, Hühnerfrikassee oder Bratwurst oder falschen Hasen mit Kartoffelbrei und Apfelmus.
Das Gegenteil von normal war anormal oder anomal oder abnormal, drei Wörter, die alle haargenau das gleiche bedeuteten. Hätte eins nicht gereicht?
Zum Nachtisch Kirschjoghurt. Weil Papa die leeren Becher für irgendwas brauchte, kamen sie statt in den Mülleimer in die Spülmaschine. Im Keller türmten sich schon Hunderte von leeren Joghurtbechern.
Auf dem Fußballplatz fand ein Spiel statt, und von den Zuschauern standen welche unter einem Sonnenschirm mit der Aufschrift EISKREM. Ich lief nachhause und mit allem Geld aus meinem Tresor im gestreckten Galopp wieder zum Fußballplatz, beide Hosentaschen dick mit Münzen voll. Eiskrem, was war das überhaupt? Noch leckerer als Eis bestimmt.
Aber als ich mit meinen sauer verdienten Groschen ankam, wurde ich ausgelacht. »Bloß weil das da steht, gibt’s hier noch lang keine Eiskrem zu kaufen, Junge!«
Das war ein dicker Hund. Hätten die Vollgasidioten nicht einen Schirm ohne Eiskremreklame aufstellen können?
Wenn man im neuen Freibad zu den Becken wollte, mußte man da, wo die Duschen waren, durch klirrend kaltes Wasser waten. Oder rennen, aber dann kriegte man Spritzer ab an den Beinen.
Im Nichtschwimmer war eine Rutsche, die ich benutzen mußte, wenn ich mich nicht von Stephan Mittendorf hänseln lassen wollte. Unten durfte man sich nicht lange die Augen reiben, sonst kriegte man den Hintermann ins Kreuz.
Auf den warmen Pflasterplatten zwischen den Becken verdampften die frischen Fußabdrücke in der Sonne. Stephan Mittendorf sagte, ich hätte Plattfüße. Das sehe man an der Form.
Im Schwimmer machte Renate Kopfsprung vom Startblock und tauchte bis zum anderen Beckenrand. Dann ging sie wieder zu ihrem Badelaken auf der Wiese und strickte an dem gelben Pullunder weiter, den sie Franziska schenken wollte.
Volker war auch da, mit Hansjoachim, der erzählte, daß er in einem anderen Schwimmbad mal gesehen habe, wie jemand einen Bauchklatscher vom Zehner gemacht hatte. Dem hätten die halben Eingeweide rausgehangen, Magen, Leber, Pansen, alles. »Da ziehe ich doch eine gepflegte Arschbombe vor«, sagte Volker.
Auf der Steinterrasse vor dem Sprungturm saß Piroschka. Sie rubbelte sich mit einem roten Handtuch ab und kramte dann aus einem Beutel ein Portemonnaie hervor. Damit ging sie zum Kiosk. Stephan Mittendorf und ich schlichen ihr nach.
Heute fängt ein neues Leben an. Deine Liebe, die ist schuld daran!
Am Kiosk kaufte Piroschka sich ein Eis, und bevor wir uns verstecken konnten, drehte sie sich um und kam genau auf uns zu.
»Tja, mein Lieber«, sagte Stephan Mittendorf und legte mir die Hand auf die Schulter, als Piroschka an uns vorbeiging, »wie wär’s, wollen wir Köpper machen? Vom Dreier?«
Dann stolzierte er zum Sprungturm, der Scheißkerl, um sich vor Piroschka mit seinen Künsten zu brüsten, und ich ging zum Wildwestfort am unteren Ende der Freibadwiese, aber das war bis an die Schneidezähne voll mit kreischenden Kleinkindern.
Umziehen konnte man sich in den Kabinen vorne am Eingang oder in einer von den Zeltspiralen auf der Wiese. Vorne eine Kette einhaken und im Inneren der Spirale die nasse Badehose ausziehen und auswringen.
Piroschka war schon weg.
In Heimatkunde hatte ich eine Vier im Zeugnis, aber das war mir egal. Sommerferien! Pofen bis neun, nach den Ferien in Koblenz aufs Gymnasium gehen und nie wieder mit dem Schulbus nach Vallendar fahren! Der Lauterberg konnte mir den Buckel runterrutschen und Frau Katzer desgleichen, mitsamt dem Kannenbäckerland und dem Rheinischen Schiefergebirge.
Michael Gerlach wollte mir die Sporkenburg zeigen, eine jott weh deh gelegene Ruine, zu der man nur mit dem Fahrrad hinkam.
Wem Gott will rechte Gunst erweisen. Hinter Simmern stand ein ausgebrannter Unfallwagen am Straßenrand. Wir setzten uns vorne rein, ließen die Zunge raushängen und machten Glotzaugen, so als ob wir gerade abgekratzt wären. Ein Autofahrer hielt an und sah erschrocken zu uns rüber, bis er merkte, daß wir ihn veräppelt hatten, und da ließ er eine Schimpfkanonade auf uns los.
Im Wald neben der Straße war ein Trimm-dich-Pfad, wo man auf Balken balancieren und über Hürden hüpfen sollte. »Da kann ich mich auch gleich die ganzen Ferien über in der Turnhalle einschließen lassen«, sagte Michael.
Zwischen Simmern und Neuhäusel ging die Straße einige Male hoch und wieder runter, so daß man Schwung holen konnte für die Steigungen, die komischerweise von weitem immer viel steiler aussahen als aus der Nähe.
Von Neuhäusel mußten wir noch bis Eitelborn strampeln. Dann in den Wald, scharf bergab, mit angezogener Handbremse. Steinen ausweichen, damit man keinen Platten kriegte. Das hätte noch gefehlt.
Nach einer Kurve führte der Weg wieder rauf, und da war sie, die Sporkenburg, mit himmelhohen Mauern. Abgesehen von zwei vollgeschissenen Kellerzimmern waren die Außenmauern alles, was von der Sporkenburg noch übrig war. Wenn wir schwindelfrei gewesen wären, hätten wir auf die Mauer krabbeln können, immer höher und höher, bis zu dem einen Eckturm, aber wir schafften nicht mehr als die ersten Meter, und auch die nur mit Überwindung.
Hier hatten früher Ritter ihre Turniere ausgetragen und Feinden, die die Burg belagerten, von den Zinnen aus siedendes Pech übergekippt. Musketiere mit Katapulten und blinkenden Hellebarden. Oder Hexen verbrannt, im Burghof, wo erst vor kurzem wieder irgendwer Feuer gemacht hatte. In der Asche lag eine zerknickte Fantabüchse.
Auf der Rückfahrt kam uns kurz vor Simmern ein Porsche entgegengerast, und dann hörten wir es hinter uns quietschen und scheppern.
Der Porsche war gegen einen Baum gerasselt, aber der Fahrer lebte noch. Der stand neben dem Wagen und rauchte. In gebührender Entfernung warteten wir auf das Eintreffen der Polizei. Wir könnten ja als Unfallzeugen gebraucht werden, dachten wir, aber als ich einem von den Polizisten meine Hilfe anbot, sagte der bloß: »Mach dich vom Acker.«
Dann eben nicht. Sollten die doch zusehen, wie sie ohne uns klarkamen.
In der Bäckerei neben dem neuen Sparladen in der Gutenbergstraße sollte ich Kaffee kaufen, ein Pfund Eduscho mild gemahlen, aber von wegen mild: Das Mahlen war so laut, daß man sich die Ohren zuhalten mußte.
Mit Volker fuhr ich zu den Fischteichen an der Straße zwischen Hillscheid und Vallendar. Dicht am Ufer schwammen Kaulquappen. Ich fischte welche raus und legte sie auf den Holzsteg. Dann mußte ich pissen, und als mir die Kaulquappen wieder einfielen, waren sie schon tot und vertrocknet.
Quäle nie ein Tier im Scherz.
Links von dem Weg ins Wambachtal waren Bäume gefällt worden. In den Kronen konnte man gut rumklettern, wie in einem Labyrinth. Da spielten Michel Gerlach und ich Danny Wilde und Lord Brett Sinclair. Einen Ast zur Seite biegen: »Darf ich Euer Sippschaft die Pforte aufpforten?«
»Ich bitte darum, denn sonst fliegt gleich ein Satz warmer Ohren durch die Luft.«
»Bitte nicht, Euer Durchlocht, sonst werdet Ihr das Gepökelte aus der Schnabeltasse lutschen!«
Michael Gerlach Lord Siegelverkleber nennen und sein Taschenmesser als Hosentaschenaxt bezeichnen. »Sehr wohl, Euer Merkwürden.«
Auf einem Stein saß eine Eidechse. Vielleicht war das eine von denen, die beim Fliehen den Schwanz abwarfen. Ich wollte sie mir schnappen, aber plötzlich war sie weg, von einer Sekunde auf die andere.
Als ich nachhause ging, machte ich wieder den Umweg über die Rudolf-Harbig-Straße, wurde von einem Platzregen überrascht und war bald naß bis auf die Haut. Der Regen rauschte, ich rannte, und dann sah ich eine Frau, die in der Haustür stand und winkte und mir zurief, daß ich reinkommen soll, mich unterstellen. Piroschkas Mutter war das. Neben ihr stand Piroschka. Die winkte auch.
Ich rief zurück, daß ich es nicht mehr weit hätte, und rannte weiter.
Im Badezimmer raufte ich mir die Haare und streckte meinem Spiegelbild die Zunge raus. Wenn Doofheit wehtäte! Da bietet sich die einmalige Chance, bei Piroschka zuhause darauf zu warten, daß der Regen aufhört, und mit Piroschka Monopoly zu spielen oder was weiß ich, und was macht Martin Schlosser? Galoppiert weiter, der Dämel. Hat sein Gehirn an der Garderobe abgegeben.
Renate arbeitete wieder in der Kaufhalle, wo sie kassieren mußte und die Wühltische aufräumen. Eine Frau, die da beim Klauen erwischt worden war, hatte versucht, durchs Klofenster zu entkommen.
In Jever konnte ich meiner Sammlung drei neue Pfauenfedern einverleiben. Außer Mama und mir war nur Wiebke mitgekommen. Renate wollte lieber in der Kaufhalle schuften, und Volker weilte mit Kasimirs an der Adria.
Wir fuhren zu einem Bauernhof bei Waddewarden, der einer alten Frau gehörte, einer Schulfreundin von Oma. Die Frau hatte drei Söhne, alles Hünen, die noch bei ihr wohnten. »Die haben Hände wie Klosettdeckel«, tuschelte Gustav mir zu.
Die Mutter von der Bauersfrau war schon fast hundert Jahre alt. Sie saß in der Küche auf einem Stuhl neben dem Ofen und sah so ähnlich aus wie des Teufels Großmutter auf dem einen Bild in Grimms Märchen, wo des Teufels Großmutter dem nackten Teufel die Haare entlaust.
Auf dem Bauernhof gab es Kälbchen, Kühe, Katzen, Schweine, Hühner und einen Heuboden. Beim Rumtoben sollte ich auf Forken achten im Heu. Mama war als Kind mal auf die Zinken einer Forke gesprungen und hatte den Stiel an die Stirn geknallt gekriegt.
Zum Tee gab es Weißbrot, das die Bauersfrau selbst gebacken hatte. Ich verschlang zwölf Schnitten mit Honig, und der eine von den Söhnen sagte: »De Jung hett awer ’n gesünn Aftiet.«
Nach dem, was Mama erzählte, hatte Papa in den fünfziger Jahren nach der Maloche im Pütt manchmal zwanzig Stullen verschrotet. Oder Pillen, was damals in Dortmund der Name für Stullen gewesen war.
In der Hörzu stand was über einen Jungen, der sich das Schienbein angestoßen und Knochenkrebs gekriegt hatte. Alles zerfressen, da hätten die Ärzte nichts mehr machen können, und der Junge sei qualvoll gestorben.
Ich befühlte meine Schienbeine, die ich mir schon oft irgendwo angestoßen hatte. Die Knochen waren uneben. Wenn ich Knochenkrebs hatte, dann im Endstadium.
Ich behielt das für mich, sonst hätte ich vielleicht den Rest meiner Tage im Krankenhaus verbringen dürfen.
Oma und Opa schenkten uns eine Reise nach Helgoland.
Auf der Fähre erhielt ich ein Stück Mohnkuchen und eine Cola mit Strohhalm. »Da halt dich man dran fest«, sagte Oma. »Das muß reichen, bis wir da sind!«
Von dem kleinsten und gemeinsten Mann bis rauf zum Kapitän.
Meine Cola reichte nicht mal eine Minute lang. Ich wollte lieber hoch aufs Deck als weiter in der stickigen Budike vor meinem leeren Glas sitzen und am Strohhalm lutschen, und ich zappelte auf der Bank rum, bis Mama sagte: »Dann schieb halt ab, du Wippsteert, aber sieh dich vor!«
Den Rest von meinem Kuchenstück verfütterte ich an die Möwen, die schreiend über der Fähre schwebten und sich die Krümel aus der Luft fingen, bis Mama ankam und mir die Hölle heißmachte. Ob ich den Verstand verloren hätte. Der teure Kuchen!
Gna, gna, gna.
Das beste war das Ausbooten. Fast noch auf hoher See von der Fähre in ein schwankendes Boot hüpfen und damit bis zum Hafen tuckern, aber Helgoland selbst war pottlangweilig. Zu den besten Kletterstellen durfte man nicht hin.
Bei den Fotos schnitt ich jedesmal ein Gesicht wie Doof von Dick und Doof, was ich von Michael Gerlach gelernt hatte, und als der Film entwickelt war, brummte Mama mir einen Tag Hausarrest auf. »Die ganzen Bilder hast du uns versaut mit deiner blöden Grimasse! Das ist nun der Dank für die schöne Reise! Scher dich in dein Zimmer!«
Dann durfte ich aber doch zukucken, als die neue Tiefkühltruhe von Neckermann gebracht und im Keller angeschlossen wurde. Die alte hatte den Geist aufgegeben.
»Primstens«, sagte Mama und machte den Deckel zu.
Von der Adria brachte Volker Fossilien mit, versteinerte Meeresschnecken, die er an ein Museum verkaufen wollte, aber Papa sagte, wenn ein staatliches Museum auf Kosten der Steuerzahler für dieses Geröll auch nur eine müde Mark hinblättere, wandere er noch am selben Tag nach Alaska aus.
An der Gartenseite war die Dachrinne verstopft. Papa stellte zwei Leitern dran, und dann sollten Volker und ich mit Rundspachteln den Kniest aus der Rinne schaben. Modrige, verfilzte Blätterklumpen und anderes angebackenes Zeugs. Papa wollte das, weil Besuch ins Haus stand, meine Patentante Gertrud und Onkel Edgar mit Kindern. Als ob die vorgehabt hätten, die Dachrinne unter die Lupe zu nehmen.
Gesehen hatte ich Tante Gertrud und Onkel Edgar noch nie. Die beiden waren schon alt, fast fünfzig, und Onkel Edgar hatte graue Schnurrbarthaare, so ähnlich wie Wiebkes Seehund vom Schrottplatz.
Weil ich höflich sein wollte, hielt ich Tante Gertrud die offene Prinzenrolle von de Baeukeler hin, die sie mir vermacht hatte: »Wollen Sie auch selber welche?« Da lachten mich alle aus. Siezt der Dösbattel seine eigene Patentante! »Du weißt wohl nicht, wer ich bin?« sagte Tante Gertrud, und ich ärgerte mich, daß ich der überhaupt was angeboten hatte.
Ihre Söhne Horst und Bodo, sechzehn und acht, machten Kopfstand auf dem Rasen und führten Yogastellungen vor. Bodo war nur ein Strich in der Landschaft, und Horst war Tante Gertruds Stiefsohn, ein Sprößling aus der ersten Ehe von Onkel Edgar, der sich dann hatte scheiden lassen, was ja wohl auch nicht die feine englische Art war.
Abends wurde im Wohnzimmer rumgehockt, und ich durfte den Wildwestfilm im Zweiten nicht kucken. Im Höllentempo nach Fort Dobbs, das wäre mir lieber gewesen als das Gerede über Bausparverträge, Bandscheibengeschichten und Ostpreußen, und ich war heilfroh, als der Besuch sich wieder verkrümelt hatte.
Dann kamen die Engländer, sieben Mann hoch. Tante Therese, Onkel Bob, Kim und Norman, ein Schwager und eine Schwägerin von Tante Therese, Stuart und Carol, und Collin, ein Sohn von denen, in Renates Alter, der kein einziges Wort Deutsch konnte.
Carol war spindeldürr und abenteuerlich aufgetakelt. Die Haare rotgefärbt, lila Lidschatten, rosalackierte Krallen, an den Ohren protzige Edelsteine und dazu eine Fistelstimme. »Solche Schreckschrauben werden auch nur in England gezüchtet«, hörte ich Papa sich selbst zuflüstern, als ich vor der Klotür wartete. Bei dreizehn Leuten im Haus kam es alle naselang vor, daß sämtliche drei Klos besetzt waren.
Nachmittags gab’s Kaffee, Kaba und Bienenstich auf der Terrasse. Sieh mal kucke. Ohne Besuch hätte Mama das alles im Leben nicht aufgetischt.
Als ein Geschwader Wespen über uns herfiel, bewaffnete Mama sich mit der Fliegenklatsche, in der oben noch Flügel, Beine und halbe Köpfe von zerdötschten Fliegen klebten.
Aus dem Nachbargarten kam die kleine Dörte Rautenberg gelaufen, rot mit Himbeersaft beschmiert bis über beide Backen.
»Who is that?« fragte Onkel Bob, und als er hörte, daß das Mädchen Dörte hieß, rief er: »Dirty! What a suitable name!«
Was daran so witzig war, mußte ich mir erst erklären lassen.
Aus Fix und Foxi kannte ich einen guten Witz mit Lupo auf dem Postamt. »Der Brief ist zu schwer«, sagt der Postbeamte, »da muß noch eine Marke drauf!« Darauf Lupo: »Witzbold, dann wird er ja noch schwerer!«
Auswendig hatte ich sonst keinen Witz mehr auf Lager, und ich wetzte ins Wohnzimmer, um Willy Millowitschs Witzebuch zu holen, aber Renate war dagegen. Witze vorlesen sei doof.
Wenigstens einen wollte ich aber loswerden. Eine größere Familie geht an einem schönen Frühlingstag spazieren. Nach geraumer Zeit blickt sich die Mutter um und stellt fest, daß die Tochter samt Bräutigam verschwunden ist. »Was machen denn die Kinder bloß?« fragt die Mutter unruhig. Der Vater erwidert lakonisch: »Nachkommen.« Das war ein Witz, den man nicht ins Englische übersetzen konnte.
Im Hobbyraum wurde ein Matratzenlager für die Jugend eingerichtet. Renate schleppte den Plattenspieler nach unten und legte für die Engländer die Platte von Ulrich Roski auf den Teller: Laß dir Ringe um die Beine schweißen, daß dich nicht die Schweine beißen, Baby.
Nach Boppard fuhren wir ohne Renate und Kim. Die wollten lieber in Koblenz Shopping machen, also Gürtel und hochhackige Schuhe begaffen und die Preise vergleichen.
In der Sesselbahn machte ich mir, als ein Windstoß kam, vor Schreck einen Strahl Pisse in die Hose, aber das merkte keiner.
Von oben konnte man auf die Rheinschleife sehen und die Schleppkähne, die da fuhren. Wie das wohl ausgesehen hätte, wenn da zwei zusammengeknallt wären und abgesoffen.
Ich lief mit Volker im Wald rum, bis Mama nach uns rief.
»Wollt ihr schon zurück?«
»Dreimal darfst du raten.«
Im Schwimmbad quasselte Renate drei Typen an, Jochen und Henry und Dirk, die sie alle zu ihrer Geburtstagsparty einlud. Das hätte ich mal bei Piroschka versuchen sollen. Da hätten sie mich doch gleich nach Andernach gebracht, ins Beklopptenheim.
Genaugenommen hätte Piroschka ja auch mal zu mir kommen können, um mich zu irgendwas einzuladen, die Transuse.
Ich sah mich überall nach ihr um, aber sie war nicht da, und auf dem Platz, wo sie sonst gesessen hatte, räkelte sich ein Opa, der Quick las.
Zum Geburtstag kriegte Renate Ringe, Taschentücher und Parfüm und solchen Kack. Mädchen waren schon arme Schweine.
Volker erzählte von den Riesenkraken, die ich nicht gesehen hatte, weil ich am Abend vorher bei Geheimnisse des Meeres vorm Fernseher eingeschlafen war. Seeungeheuer seien da noch gezeigt worden und gigantische Tintenfische mit achtzehn Beinen und drei Köpfen, aber es konnte auch sein, daß Volker mich auf die Schippe nahm.
Renates Partygäste kamen alle mit Platten: The Lion Sleeps Tonight, Guantanamera, Que sera und Popcorn, das Stück aus dem Synthesizer. Renates Freundin Mareike kam zusammen mit Susanne, einer Riesin aus Lahnstein, die eins neunzig lang war und auf der Kellertreppe den Kopf einziehen mußte.
Volker, Norman, Kim und Collin feierten auch mit. Hopsten da rum wie die Irren. One Way Wind und Old Man Moses. Haschu Haschisch inne Taschen.
»Frag die mal, ob die noch Salzstangen wollen«, sagte Mama, »und dann komm wieder rauf und sag mir, was die da unten treiben.«
Ich ging runter. Im Schummerlicht kauerten Pärchen, und zwei Weiber tanzten zu Butterfly, my Butterfly. Eine Welt voll Poesie, die Zeit blieb für uns stehn, doch der Abschied kam, ich mußte gehn.
»Und was machen die da?«
»Nichts.«
Als die Engländer abgereist waren, sagte Papa, daß er die Nase gestrichen voll habe von Logiergästen, insbesondere von Carol. Diesem wandelnden Tuschkasten weine er keine Träne nach. »Schlimmer als die Polizei erlaubt.«
Am letzten Ferientag ging ich noch einmal die Rudolf-Harbig-Straße lang. Vor Piroschkas Haus saß ein kleiner Junge und malte mit Kreide was aufs Pflaster. Das konnte ihr kleiner Bruder sein, und ich lächelte ihn gutmütig an, aber er streckte mir die Zunge raus und rief: »Du bist doof! Das hat die Piroschka gesagt!«
Und ich Idiot hatte mich da noch blicken lassen. Ich legte das Gelübde ab, nie wieder einen Fuß in die Rudolf-Harbig-Straße zu setzen. Und wenn Piroschka hier angewinselt käme, um sich zu entschuldigen, würde ich der die Tür vor der Nase zuknallen.
Da konnte sie Gift drauf nehmen, die dumme Pute.
Morgens drehte sich alles um Wiebke, weil es ihr allererster Schultag war, aber ich fand, daß so eine Einschulung pipileicht war im Vergleich zum Wechsel von der Grundschule aufs Gymnasium.
Papa fuhr mich hin, durch Urbar, dann am Rhein lang, am Deutschen Eck vorbei, durch Ehrenbreitstein und über die Brücke, und er zeigte mir auch die Stelle, wo wir uns mittags wieder treffen sollten, am Zentralplatz in Koblenz. Dann gingen wir zum Eichendorff-Gymnasium.
Die Zeremonie zur Begrüßung der Sextaner fand in der Aula statt. Da waren die Fensterscheiben lange nicht geputzt worden. Der Direx hielt eine Rede. Links hatte er einen braunen Lederhandschuh an, und der Arm war steif, das war eine Prothese, wie ich später erfuhr.
Ich kannte keine Sau in dem ganzen Laden, aber Papa sagte, ich würde schon noch rausbekommen, wie der Hase läuft.
Das Gymnasium war ein riesiger Kasten, kein Vergleich mit der Karl-d’Ester-Schule. Die hätte da glatt zehnmal reingepaßt. Und alles Jungs.
In der Klasse sicherte ich mir einen Platz ganz vorne. Ein grauhaariger Fritze mit Schlips und Anzug war der Deutschlehrer und gleichzeitig der Klassenlehrer. Er schrieb seinen Namen an die Tafel: Meier. »Zur Unterscheidung von dem Kollegen Meier, der Sport und Erdkunde unterrichtet, nennt man mich auch Deutsch-Griechisch-Französisch-Meier.«
Wir sollten Namensschilder malen. Wenn er die nicht lesen könne, behelfe er sich mit Eselsbrücken: »Keiner kommt mehr richtig mit, vorne Schulze, hinten Schmidt.« Bei uns hieß er deshalb der Schlaumeier.
Für uns beginne jetzt der Ernst des Lebens. Hier wehe ein anderer Wind als in der Grundschule. Nach den Kinkerlitzchen, die wir da gelernt hätten, kämen nun die schweren Brocken. Als Gymnasiasten dürften wir unsere Ausbildung nicht auf die leichte Schulter nehmen, sonst werde man uns schon nach kurzer Zeit wieder aussortieren, als Muster ohne Wert, und uns anheimstellen, die Laufbahn eines ehrbaren Straßenkehrers einzuschlagen. Erziehung habe was mit Zucht zu tun.
Ob uns das klar sei? Klar und Klärchen? Da sollten wir mal den einen oder anderen Gedanken dran verschwenden.
Neben dem Haupteingang stand eine beschmierte Büste auf einem Sockel, von Friedrich Mohr, Naturwissenschaftler und Pharmazeut, von dann bis dann. Die wußten auch nicht, was sie wollten. Nannten das Gymnasium Eichendorff und stellten ein Denkmal von jemand anderem davor.
Auf Papa hatte ich schon fast zwanzig Minuten lang gewartet, bis mir auffiel, daß ich an der falschen Stelle vom Zentralplatz stand. Als ich zur richtigen gelaufen war, rief Papa: »Da bist du ja endlich, du Tranfunzel!«
Im Auto fragte er mich, wie mir die neue Schule gefalle.
»Geht so.«
Mama sagte, daß sie als Schülerin immer zugesehen habe, einen Platz ganz hinten zu kriegen. Da habe sie den besten Überblick gehabt, und es sei weniger Keile ausgeteilt worden als weiter vorne. In die erste Reihe hätten sich nur die Streber gesetzt.
Zum Frühstück gab’s jetzt Brötchen, die der Bäcker an die Tür brachte. Zwölf Stück, für jeden zwei. Viel besser konnten es auch Mittendorfs nicht haben. Oder nur, wenn es bei denen Mohnbrötchen gab statt gewöhnlicher Brötchen.
Michael Gerlach war aufs Max-von-Laue-Gymnasium gekommen, gleich gegenüber vom Eichendorff, und wir saßen jeden Morgen im selben KEVAG-Bus, der auf dem Mallendarer Berg noch leer war und ab Urbar immer so proppenvoll, daß die Leute stehen mußten.
KEVAG: Koblenzer Elektrizitätswerk und Verkehrs-Aktiengesellschaft. Fast sowas wie Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft.
Ein Fiesling, der jeden Morgen in der Pfarrer-Sesterhenn-Straße zustieg, hatte spitze Ohren wie der Spock von Raumschiff Enterprise und zutzelte an seinen Zähnen.
Zwischen Urbar und Ehrenbreitstein stand der Bus immer eine halbe Stunde lang im Stau. Da war der Berufsverkehr dran schuld.
Die Pauker am Max von Laue seien alle hoffnungslos vergreiste alte Hosenscheißer, sagte Michael. Sein Bruder Holger gehe da schon zwei Jahre lang hin und sei restlos bedient von dem Verein.
Von der Pfaffendorfer Brücke aus konnte man die abgeknickte neue Brücke sehen, die noch immer in den Rhein hing.
Aussteigen mußten wir beide an der Christuskirche.
»Und da verließen sie ihn«, sagte der Schlaumeier, wenn jemand was nicht wußte, und: »Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen.« Oder: »Hier spielt die Musik!«
Ein Apostroph sei das Grabmal für einen verstorbenen Buchstaben. »Verstanden, Herr von und zu, auf und davon Schlosser?«
Fabeln von Lessing. Der böse Wolf war zu Jahren gekommen und faßte den gleißenden Entschluß, mit den Schäfern auf einem gütlichen Fuß zu leben. Und so weiter. Hier lernte ich auch, daß es Bibliothek hieß und nicht Bibilothek, Rückgrat und nicht Rückrad und nicht Augenbraunen, sondern Augenbrauen.
Was der Schlaumeier mit Kreide auf die naß abgewischte Tafel schrieb, war anfangs unleserlich und dann leserlich.
Den Unterricht in evangelischer Religion hatten wir bei einer ondulierten Gewitterziege namens Jutta Niedergesäß. Die hieß wirklich so. Bei der lernten wir Fremdwörter wie Genesis, Exodus, Leviticus, Deuteronomium und Septuaginta. Einer aus der Klasse hatte die Masche, immer Jesu Christi zu sagen statt Jesus Christus. Jesu Christi verkündet, Jesu Christi lehrt, Jesu Christi gebietet, hundertmal in jeder Stunde.
Herr Delling, der Mathelehrer, war ein fetter alter Saftsack. Glatze mit Geländer und kriegsversehrt. Das hohle Hosenbein war hochgeschlagen und oben am Gürtelbund angenäht.
Mathematik heute: Das Buch war grün mit bunten Karos vornedrauf. Enthält eine Menge nur ein Element, so spricht man von einer einelementigen Menge. Es gab Obermengen und Untermengen, Grundmengen und Erfüllungsmengen, Schnittmengen und Restmengen, Minuenden und Summanden und Subtrahenden. Dazu noch das Kommutativgesetz: Das Vereinigen von Mengen ist kommutativ. Und das Distributivgesetz: Die Kreuzmengenbildung ist bezüglich der Vereinigung distributiv.
Köln, Frankfurt, Stuttgart und München haben untereinander direkte Airbus-Verbindung. Gib durch geordnete Paare alle Möglichkeiten für einen Flug (von Stadt zu Stadt) an. Ist die Menge aus diesen Paaren eine Kreuzmenge? Begründe deine Antwort!
Da mußte man ja gaga sein, wenn man das beantworten konnte.
Multiplikand und Multiplikator, Quotient und Divisor, Punktmengen und Parallelogramme. Mit dem Geodreieck sollten wir orthogonale Geraden zeichnen, was mir tierisch auf den Wecker ging, weil ich schon die Namen von dem Scheiß nicht leiden konnte.
Englisch hatten wir bei Herrn Lauritzen, der einen Bart um den Mund rum hatte, wie mit dem Teppichmesser ausgeschnitten. Und feuchte Aussprache. Da hätte man einen Regenschirm aufspannen müssen.
The Good Companion. I see a cat. The cat is fat. Can you see the cat?
The zebra in the zoo is suffering from flue.
Einen Bart trug auch Herr Engelhardt, der Biolehrer, aber nur an den Backen und am Kinn. Das war der einzige Lehrer, der in Jeans zur Schule kam. Aber wechselwarme Tiere und die Magenteile der Wiederkäuer interessierten mich nicht für fünf Pfennig, so wenig wie in Musik bei Herrn Bosch die ganzen besengten Namen der Orchesterinstrumente. Kesselpauke, Violoncello, Fagott und Englischhorn.
In Geschichte seiberte ein Pauker mit Himmelfahrtsnase über Chaldäer, Assyrer und Phönizier, die Gesetzesstele des Hammurabi und die dorischen Wanderungen. Als wir als Hausaufgabe hatten, das Löwentor von Mykene abzuzeichnen, nahm ich Kohlepapier zuhilfe, aber weil ich es verkehrtrum eingelegt hatte, mit der schwarzen Seite nach oben, war hinterher ein Riesenschmierfleck im Buch.
Drei drei drei, bei Issos Keilerei. Die ollen Griechen auf den Bildern hatten alle superkleine Piepmätze.
Den schweren Diercke-Atlas, den wir in Erdkunde brauchten, hatte ich von Volker geerbt, mit Randbemerkungen in dessen Sauklaue und mit allen Tintenklecksen, die er da im Lauf der Jahre hineinpraktiziert hatte. Die Gefrierdauer der Flüsse und das Werden der heutigen Kulturlandschaft. Kalisalze, Braunkohle, Erdgas und Eisenerz.
In Erde meldete ich mich jedesmal zum Austreten, wartete auf dem Flur, bis der Sekundenzeiger oben war, und rannte los. Einmal schaffte ich die Strecke bis zum untersten Klo in weniger als zwanzig Sekunden.
In diesem Scheißhaus wohnt ein Geist, der jeden, der hier sitzt und scheißt, von unten in die Eier beißt.
Wer das liest, ist doof.
Wenn kein Unterricht war, wurde Skat gekloppt. In der großen Pause, in der kleinen Pause und in den Pausen zwischen den Stunden, immer und überall rotteten sich Schüler zusammen, holten die Karten raus, brüllten und fluchten und waren nicht mehr ansprechbar. Am schrillsten schrie Jesu Christi, vor allem, wenn ihm jemand von hinten ins Blatt kucken wollte.
Von den Kartenspielern hielt ich mich fern, aber auch von den Dösköppen, die sich die Hälfte jeder Pause in der Schlange vor der Hausmeisterluke die Beine in den Bauch standen, um Teilchen und Kakao zu kaufen. Dafür hätte ich auch kein Geld gehabt.
Ich lungerte mit Erhard Schmitz und Boris Kowalewski beim Fahrradständer rum. Erhard Schmitz, ein Kraftpaket aus Neuendorf, kam jeden Morgen mit seinem Peugeot-Rennrad zur Schule. Zehn Gänge hatte das, und er paßte in den Pausen wie ein Schießhund darauf auf. Boris Kowalewski war klein und dünn, aber er hatte lange blonde Haare und die größte Fresse von allen. »Du hast da ’n Pickel. Oder soll das dein Kopf sein?« Von solchen Sprüchen hatte der Hunderte in petto. »Hier zieht’s, mach’s Maul zu!«
Einer in der Klasse hatte Asthma, Frank Töpfer, eine Bohnenstange mit Hängeschultern und vorquellenden Knopfaugen, wie bei Heino fast. In Sport schied Frank Töpfer immer schon nach wenigen Minuten aus, und wenn er konnte, rückte er einem auf den Pelz und ließ Horrorgeschichten über seine Krankheit vom Stapel, wie schwer die sei und wie oft er zum Arzt müsse.
Wenn ich nach der fünften Stunde freihatte, ging ich ins Gewa am Zentralplatz, mit der bunten Spirale vornedran, die sich drehte, oder in die Löhrstraße zum Kaufhof, Langspielplatten ankucken, die ich mir gekauft hätte, wenn ich reich genug gewesen wäre. Am Tag, als Conny Kramer starb. Musikalisches Gerümpel von Insterburg & Co. und ein halbes Dutzend Platten von Reinhard Mey: Alles, was ich hahabe, ist meine Küchenschahabe, sie liegt auf meinem Ohofen, da kann sie ruhig pohofen.
Bei den Rolltreppen mußte man aufpassen. Eine Mitschülerin von Renate hatte mal gesehen, wie eine Frau mit den Haaren in die Rolltreppe gekommen und richtiggehend skalpiert worden war.
Das ganze Jahr den Schuh von Lahr.
Wenn es ging, setzte ich mich im Bus ganz vorne hin oder auf einen von den erhöhten Sitzen über den Reifen. An der Seite hing ein Hämmerchen. Notausstieg. Bei Gefahr Scheibe einschlagen.
Während der Fahrt durfte man sich nicht mit dem Fahrer unterhalten.
Sitzplätze: 48. Stehplätze: 52.
Hinter Ehrenbreitstein war Steinschlaggefahr. Da hätte mal ’ne Lawine runterkommen sollen. Peng, batsch, boing! Voll auf die Straße, so daß da für den Bus eine Woche lang kein Durchkommen mehr gewesen wäre.
In Urbar waren die Straßen so schmal, daß der Bus alle paar Meter hinter geparkten Wagen halten und den Gegenverkehr vorbeilassen mußte.
Einmal nahm ich alle meine Platten und noch welche von Renate und Volker zu Michael Gerlach mit. Alles von Freddy, Heino, Bruce Low, Daisy Door, Danyel Gerard und Cat Stevens, aber dann stellte sich raus, daß Gerlachs keinen Plattenspieler hatten.
Sechs Kinder und keinen Plattenspieler im Haus! Verrückt.
Eine Zeitlang war beim Abendbrot Erdnußbutter der letzte Schrei, bis Wiebke und ich uns dadran überfressen hatten.
Bei den Olympischen Spielen gewann Heide Rosendahl eine Goldmedaille im Weitsprung, mit Brille auf. Ich fand aber auch Olga Korbut gut, die russische Turnerin. Auf dem Schwebebalken Rad schlagen vor einer Milliarde Fernsehzuschauern in aller Welt, das war nicht von Pappe.
Verzichten können hätte ich dagegen auf Kanuslalom, Florettfechten, Rudern und Stabhochsprung der Herren.
Und dann die Geher. Ich war auch für Bernd Kannenberg, aber fünfzig Kilometer so zu gehen, wie mit vollen Hosen? Da machte der Speerwerfer Klaus Wolfermann eine bessere Figur.
Oder Ulrike Meyfarth, obwohl ich erst gedacht hatte, daß das die Terroristin sei. Und Shane Gould, die Schwimmerin aus Australien: dreimal Gold, einmal Silber, einmal Bronze. Fünfzehn war die, und ich war zehn und hatte noch nicht mal den Freischwimmer.
Am allerbesten war Mark Spitz mit seinen Goldmedaillen in der 4 × 100-m-Freistilstaffel, in 200-m-Delphin, 200-m-Freistil, in der 4 × 200-m-Freistilstaffel, in 100-m-Delphin, 100-m-Freistil und in der 4 × 100-m-Lagenstaffel. Das sollte dem mal jemand nachmachen.
Als ich von der Schule kam, machte Mama die Tür auf und sagte, daß was ganz Entsetzliches passiert sei. Araber hätten die israelische Olympiamannschaft überfallen und schon zwei von den Sportlern umgebracht. Und das in Deutschland, wo wir doch nun gehofft hätten, daß die anderen uns die Nazivergangenheit endlich vergeben könnten.
Behämmert war, daß deswegen der Film über die Abenteuer des Robin Hood aus dem Programm genommen wurde. Hätten die verdammten Araber nicht in der Wüste bleiben können, bei ihren Wasserpfeifen und Kamelen?
Renate wollte sich in Koblenz Wolle kaufen. Ich fuhr mit, und in der Kaufhalle mogelte ich hinter Renates Rücken ein Stück Seife in die Einkaufstasche. Rexona.
Als Renate das Seifenstück gefunden hatte, sagte sie: »Das bringst du genau wieder dahin, wo du’s hergeholt hast!«
Das war fast noch schwerer als das Klauen.
Am Samstag mußten wir im Garten Unkraut rupfen: Quecke, Giersch und Melde, und zwar mit Wurzel. Papa überwachte das. Alle anderen Pflanzen mußten gepflegt und gegossen werden, wenn sie nicht eingehen sollten, nur das Unkraut wuchs von alleine.
Mama erntete wieder kiloweise Bohnen. Als sie alle kleingeschnippelt, vorgebrüht und eingefroren hatte, ging die Tiefkühltruhe kaputt, natürlich am Wochenende, wo die Neckermänner nicht kommen konnten.
Ganz am Schluß hatten wir dreizehn Goldmedaillen, die DDR zwanzig, Amerika dreiunddreißig und Rußland fünfzig. Wenn man die DDR mitzählte zu Deutschland, hatten wir genausoviel wie die Amis.
Es gab aber zuviele doofe Sportarten wie Hammerwerfen, Kugelstoßen und Gewichtheben. Oder Ringen, wenn den Fettwänsten dann so der Po aus dem Trikot quoll.
Ich schwatzte Renate das Bravoposter von Mark Spitz ab, auf dem er seine sieben Goldmedaillen um den Hals hängen hatte und eine Badehose mit Stars and Stripes an. In zehn oder zwölf Jahren würde ich vielleicht auch so dastehen, über und über mit olympischem Gold geschmückt. Martin Schlosser, wie er leibt und lebt.
Wiebke konnte jetzt schreiben: Lisa, Uli, Ali, Susi, lila, Nina, Isa. Und Wiebke. Sie wollte auch Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt schreiben, aber dafür hatte sie noch nicht genug Buchstaben gelernt.
Von der neuen Rheinbrücke war schon wieder ein Teilstück eingestürzt, und sechs Leute waren draufgegangen. Was da wohl für Knallköpfe im Ingenieurbüro saßen. Berechneten alles falsch, und ein paar arme Schlucker konnten es ausbaden. Er könne die Sesselfurzer förmlich vor sich sehen, sagte Papa. Von dieser Bagage gebe es auch im BWB ganze Rudel.
Renate war nach Koblenz gefahren, um sich Karten für Insterburg & Co. zu kaufen, und ich ging in Renates Zimmer. Mal kucken, was es da so gab.
Im Schreibfach lag ein dunkelgrünes Ringbuch. Auf dem Umschlag prangten die mit Herzchen umkringelten Namen Rüdiger, Jochen, Henry und Erwin. Innen standen Hausaufgaben. Der Quintenzirkel, das Leben Mahatma Gandhis und der Verlauf der Französischen Revolution. Weiter hinten kam ein Sonderteil. Betrifft: Renates Party am 10. August 1972! Dann folgte ein Gedicht, das Renates Freundin Susanne verbrochen hatte.
Mareike und ich konnten die Party kaum mehr erwarten.
Es kam ganz anders, als wir gedacht,
aber es hat doch viel Spaß gemacht.
Zwar konnten nicht alle kommen,
dafür kamen über den Kanal aber Norman, Collin und Kim geschwommen.
Zu sechst ließen wir die Party steigen
und fingen an mit einem Reigen.
So ging es von fünf bis achte,
gemächlich und sehr, sehr sachte.
Um acht erschien dann Jochen.
Beschreibung: Muskeln, Haare und ein paar Knochen!
Er nahm die Sache in die Hand,
was Renate auch sehr lustig fand.
Collin hatte sich mittlerweile zurückgezogen
und war vor dem bärtigen Jochen davongeflogen.
Auf einmal waren zwei Paare entstanden,
die immer wieder zueinanderfanden.
Paar Number One, wer es wohl gewesen war,
das ist doch mal wieder klar.
Renate und Jochen, die schwebten im Glück,
Dancing und Kissing an einem Stück!
Von zehn bis zwölf, Mensch, what a time,
Jochen machte das aber auch wirklich fein.
»Zur Sache, Schätzchen«, hieß sein Ziel,
und es geschah, als Renate der Länge nach aufs Sofa fiel.
Ihr Bruder Volker war auch noch dabei,
und was da geschah, war für ihn durchaus nicht einerlei.
Er fand das Geschehen auf dem Sofa sehr interessant
und beobachtete seine Objekte gespannt.
Die Stimmung stieg, Renate war schon ziemlich blau,
und Jochen merkte dies genau.
Ich saß da und hatte meine Ruh’,
sah dem fröhlichen Treiben mit wachsamen Augen zu.
Jochens Bart gefiel mir am besten,
Renate hatte das Glück, seine Kitzligkeit zu testen.
Um zwölf war alles zu Ende,
und Jochen gebrauchte noch einmal seine Hände.
Diese Tat war meines Erachtens zu gewagt
und hat alle anderen Geschehnisse überragt.
Es war schon fast ein »Spiel vor der offenen Tür«,
aber Renate schien sehr viel Lust zu haben dafür!
Dienstag danach gingen die zwei ins Safari und Pizza essen,
und nach einem ausgedehnten Spaziergang haben sie noch ’ne halbe Stunde vor Renates Haustür gesessen.
Doch Renates Mutter hatte gute Ohren,
und Jochens Motor war noch längst nicht eingefroren …
Er arbeitete im Auto sehr beflissen,
nun, Renate wird das ja alles selber wissen!
Sieh mal einer an. Und das Gedicht ging noch weiter:
Paar Number Two, Mareike und Norman, they are fallen in love,
doch jetzt ist Norman wieder in diesem englischen Kaff.
Er schien ihr doch besser gefallen zu haben, als sie gedacht.
Nun ja, die Liebe ist eine Himmelsmacht!
Nach einigen Tänzen brodelte in ihnen schon das Feuer,
mir war die Sache von Anfang an nicht geheuer.
Norman schien anfangs etwas scheu,
doch er war ein ganz ausgefuchster Boy.
Nun, was soll ich hier noch viel erzählen,
Mary muß sich nun mit Liebeskummer quälen.
Ein Tip von mir, von Frau zu Frau,
es lohnt sich nicht, ich weiß es ganz genau.
So, das wär’s, meine Damen. Sendeschluß.
Gruß und Kuß, Eure Sus!
Das Ringbuch legte ich wieder genau an den Platz, wo ich es weggenommen hatte.
Was die da alles anstellten, wenn die unter sich waren!
Papa hatte für teuer Geld einen Preßlufthammer ausgeliehen und traktierte damit den Boden vor der Garage, der gepflastert werden sollte.
Meiner einer würde sowas lassen, hätte Bugs Bunny gesagt. Ich wollte später lieber ein fertiges Haus kaufen als eins bauen. Es standen ja überall welche rum, und ich fand’s schon mürselig genug, immer die Carrerabahn aufzubauen und wieder ab. Und wenn an dem Haus was zu reparieren wäre, würde ich das Knechte machen lassen und selbst solange Federball spielen. Oder in der Hängematte liegen und Pflaumen essen, eine Sorte, von der man hundert Kilo futtern könnte, ohne Dünnpfiff zu kriegen. Das war bestimmt besser, als als normaler Erwachsener mit dem Preßlufthammer rumzustoppeln und jeden Abend die Tagesschau kucken zu müssen, mit Nachrichten über trilaterale Abkommen zwischen Erzbischof Makarios, Haile Selassie und Abba Eban in Addis Abeba oder Phnom Penh oder Daressalaam. Und die Wettervorhersage, die sowieso nie stimmte. Wolkig mit Aufheiterungen, Tageshöchstwerte, atlantische Tiefausläufer, rechtdrehende Winde und das Piepen nach dem Windpfeil.
»Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist«, sagte Mama.
Auf dem Klavier übte Renate jetzt den Jägerchor aus dem Freischütz. Telefonisch wurde das auch Oma Schlosser mitgeteilt, damit die nicht dachte, jetzt hab ich denen das Klavier geschenkt, aber spielen tut ja doch keiner drauf.
Am Freitag dem 13. stieß ich mit dem Schienbein voll vor den obersten Treppenabsatz. Der Schmerz ließ irgendwann nach, aber ich konnte mir endgültig Knochenkrebs weggeholt haben, wie der Junge in Hörzu.
Michael und Holger Gerlach luden mich zu einem Radrennen ein. Start vor deren Haustür, erste Etappe bis Simmern, zweite Etappe von Simmern aus durch den Wald bis Vallendar.
Michael drehte auf wie eine Bergziege und kam dreißig Sekunden vor mir in Simmern an und fast eine Minute vor seinem Bruder.
Auf einem Schild stand, wann in Simmern Gottesdienst war.
Von einer Obstwiese klauten wir uns Birnen und schoben dann die Räder durch Simmern hoch. Jedesmal, wenn ich da durchkam, dachte ich, daß die Leute da einen an der Waffel haben mußten. Kein vernünftiger Mensch würde in ein Kuhkaff mit solchem Gefälle ziehen. Immer rauf und wieder runter, selbst wenn man nur mal eben hundert Gramm Bierwurst vom Kaufmann holen wollte, der in Simmern wahrscheinlich auch nur drei Stunden an drei Tagen in der Woche aufhatte, wenn überhaupt.
Bei der zweiten Etappe kriegte Michael eine halbe Minute Vorsprung vor mir und eine ganze vor Holger, von dem man nur hoffen konnte, daß er ehrlich war und nicht früher losfuhr als erlaubt.
Auf den letzten Kilometern vor Vallendar kam ich außer Puste. Michael konnte ich nicht mehr einholen, und als Holger freudestrahlend an mir vorbeizog, rief ich ihm zu, daß ich einen Wadenkrampf hätte und langsamer fahren müsse, was aber gelogen war.
Klar, bergab war Holger mit seinen sechzig Kilo Speck im Vorteil. Kurz vor Vallendar überholte er sogar ein Auto.
Abends im Bett schämte ich mich zu Tode wegen meiner Lüge mit dem Wadenkrampf. Ich war kein guter Verlierer.
Am Sonntag machte Johnny Weissmüller als Tarzan aus Leoparden, Nilpferden und Menschenaffen Kleinholz, und Mama sagte: »Ich möcht ja nur mal wissen, wie der sich rasiert«, womit sie bewies, daß sie keinen Funken davon verstanden hatte, was bei Tarzanfilmen wichtig war und was nicht.
Von der Elternsprechstunde im Hilda-Gymnasium kehrte Mama wutschnaubend zurück. Was sie auf die Palme gebracht hatte, war eine Bemerkung von Renates Deutschlehrerin, die darauf erpicht gewesen war, Mama zur Klassenpflegschaftsvorsitzenden zu ernennen, aber sie hatte abgelehnt, weil sie dazu nicht mobil genug sei ohne eigenes Auto. »Und da sagt die doch zu mir: Mein Gott, sind Sie unemanzipiert!«
My Bonnie is over the ocean. In Musik erzählte Boris Kowalewski mir einen Witz über einen Typen, der seinen Pullermann als Lasso benutzt, und als ich lachte, machte der Bosch mich zur Schnecke. Bei dem anzuecken war kein Zuckerlecken. Er schickte mich vor die Tür, und da mußte ich bis zum Ende der Stunde stehenbleiben wie bestellt und nicht abgeholt.
Scheiße in der Lampenschale gibt gedämpftes Licht im Saale.
Immer war was. In der Pause blies mir ein Lehrer den Marsch, weil ich eine Flurtür mit dem Fuß aufgestoßen hatte: »Machst du das zuhause auch so, du Rüpel?« Und als ich in Englisch Frank Töpfer den Stuhl unterm Arsch weggezogen hatte, stauchte mich der Lauritzen zusammen. Daß man nach so einem Sturz zeitlebens mit Querschnittlähmung im Rollstuhl sitzen könne, ob ich daran mal gedacht hätte? Und ob ich das verantworten könne? Sowas einem Mitschüler anzutun?
Oder im Bus. Ich hatte ja einen Schülerausweis, aber als ich einmal am Bahnhof eingestiegen war und am Zentralplatz wieder aussteigen wollte, zeterte der Busfahrer durchs Mikrofon: »Dat sinn hier keine Spazierfahrde, Jüngelsche!«
Sollte der Stinkstiefel sich doch gehackt legen.
In the Summertime von Mungo Jerry hätte ich gerne gekauft als Single, aber die war nirgends zu finden, weder bei Gewa noch sonstwo. Am beschissensten war die Auswahl bei Neckermann. Da wurde ich auch gleich wieder weggeekelt von einer Verkäuferin, die sagte, sie habe hier keine Verwendung für Vorgartenzwerge, die die Waren betatschten.
Scheiße auf den Autoreifen gibt beim Bremsen braune Streifen.
Auf den Platz, den ich für Michael Gerlach freigehalten hatte, pflanzte sich einmal im Bus eine fette Tante, obwohl noch massig andere Plätze frei waren, aber als ich der vorschlug, sich woanders hinzusetzen, schüttelte sie bloß den Kopf, und ich saß bis zum Mallendarer Berg eingequetscht da und wälzte Rachepläne. Der mal Juckpulver in den Kragen schütten oder eine Stinkbombe durchs Schlafzimmerfenster schmeißen.
Rache ist Blutwurst, und Leberwurst ist Zeuge.
Zur nächsten Sportstunde sollten wir Badesachen mitbringen, und mir schwante Böses, weil ich immer noch nicht schwimmen konnte, aber es war dann doch nur halb so wild. Im Hallenbad an der Mosel durften die Nichtschwimmer sich darauf beschränken, Zeiten zu stoppen.
Einen Fünfmetersprungturm gab es da und Maukenduschen gegen Fußpilz.
Auf dem Weg zurück zur Schule fiel mir siedendheiß ein, daß ich meine Armbanduhr im Umkleideraum liegengelassen hatte, aber mir fehlte der Mut, das zu sagen, alle damit aufzuhalten und mich auslachen zu lassen. Ich kam auch so schon nicht gut mit, weil mir ein Schnürsenkel gerissen war.
In der Casinostraße lag ein dreieckiger FDP-Aufkleber. Den pappte ich an meine Zimmertür. Jetzt war ich FDP-Anhänger, der einzige in unserer Familie. Hoch auf dem gelben Wagen sitz ich beim Schwager vorn, vorwärts die Rosse traben, lustig schmettert das Horn! Die FDP war gar nicht so verkehrt.
Als Oma und Opa Jever für zwei Tage zu Besuch kamen, staunten sie den Aufkleber an, und Oma sagte, daß sich auch Gustav schon als kleiner Steppke mit Politik beschäftigt habe. Von ihr hätten wir das nicht!
Über Renates Deutschlehrerin lachten Oma und Opa sich einen Ast. »Mein Gott, sind Sie unemanzipiert!« Nur weil Mama kein Auto hatte. »Was sollen denn wir zwei Alten da erst sagen!« rief Oma. »Wir haben ja alle beide kein Auto! Dann ist Vati wohl auch unemanzipiert?«
Oma nannte Opa immer Vati.
»Da hast du leider einen Bock geschossen, Martin«, sagte der Engelhardt, als wir unsere Arbeiten in Bio wiederkriegten. »Das ist ungenügend. Schlicht und ergreifend.«
Ich dachte, der nimmt mich auf den Arm, aber er hatte mir wirklich und wahrhaftig eine Sechs gegeben. Die erste meines Lebens. Fast alles, was ich geschrieben hatte, war rot angestrichen.
Wie sollte ich das Mama beibiegen? Die würde Zustände kriegen.
Selbst in der Pause mußte ich noch heulen. Ich stand hinter der Klotür und kriegte Platanenbommel und Kastanien zugekickt von Erhard Schmitz und Boris Kowalewski, die auch beide Sechsen geschrieben hatten. Denen waren ihre Noten vollkommen schnurz.
Eine Lehrerin, die ich nicht kannte, kam zu mir, um mich zu trösten, und der schüttete ich mein Herz aus.
»Und jetzt fürchtest du dich davor, was deine Eltern sagen werden?«
Sagen ist gut.
»Was werden die dir denn tun?«
Mich verprügeln natürlich.
»Na, na, na, so schlimm wird’s schon nicht werden«, sagte die Lehrerin, aber da war ich mir nicht so sicher.
Ich mußte Mamas Unterschrift fälschen. Dann brauchte ich das mit der Sechs niemandem auf die Nase zu binden. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Wir saßen beim Nachtisch, als das Telefon klingelte. Mama ging ran, und als sie wiederkam, sagte sie, das sei eine Frau Rademacher gewesen, Lehrerin am Eichendorff, und die habe ihr nahegelegt, nicht zu hart mit mir ins Gericht zu gehen wegen der Sechs in Biologie.
Mir blieb der Pudding im Halse stecken. Hätte ich der alten Kuh doch bloß nichts gesagt! Was mischte die sich denn hier ein? Und woher hatte die unsere Telefonnummer?
»Nun sitz nicht da wie so ’n Ölgötze!« sagte Mama. »Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen!« Weshalb ich denn die Sechs mit keiner Silbe erwähnt hätte bis jetzt?
Ich sagte, ich hätte noch bis nach dem Essen warten wollen.
Weil Oma und Opa da waren und ich nicht gut vor deren Augen vertrimmt werden konnte, kam ich glimpflich davon. Papa hüllte sich in Schweigen, und Opa, der früher selbst Lehrer gewesen war, sagte, bei einem guten Schüler sei eine Sechs kein Grund zur Aufregung. Sowas komme in den besten Familien vor. Das sei Künstlerpech.
Knutschen können hätte ich Opa dafür. Aber als rauskam, daß ich meine Armbanduhr verbaselt hatte, war auch Opa böse auf mich, und von Papa kriegte ich vor versammelter Mannschaft eine gepflastert.
»Und jetzt geh die Uhr suchen!« rief Mama.
»Hab ich schon.«
»Dann such nochmal!«
Mantel, Fuß und Rumpf der Muschel. Wer von Tuten und Blasen keine Ahnung habe, gehöre hinter sein Biologiebuch statt ins Wambachtal, sagte Mama, und ich hatte nicht viel zu lachen, bis ich im Eichendorff auf dem Korridor vorm Musikzimmer ein Zweimarkstück fand.
Am Kiosk beim Busbahnhof hatte ich die Qual der Wahl. Ich entschied mich für Nappos und Salinos und nahm einen Bus später, um Michael Gerlach nichts abgeben zu müssen.
Am Busbahnhof war auch das Verkehrsamt. Was die da wohl zu arbeiten hatten. Verkehr war doch von ganz alleine.
Die Rückfahrt verbrachte ich damit, mir die Lakritze aus dem Gebiß zu knibbeln.
Weil er den Schweinefraß in der BWB-Kantine nicht mochte, fuhr Papa mittags immer nachhause, aber erst so spät, daß man nach Schulschluß noch Zeit hatte, in Koblenz rumzuspazieren.
Vorm Kaufhof pries ein schnauzbärtiger Marktschreier einen Zick-Zick-Zyllis an oder Teflonpfannen.
Auf dem Bürgersteig nicht auf die Ritzen treten und in den Eingängen von Kaufhäusern nicht einatmen, weil in den Warmluftschleiern Schnupfenbazillen zirkulierten.
In der Spielzeugabteilung vom Kaufhof besah ich mir die Matchbox-Autos. Alle unerschwinglich, aber schnittiger als unsere alten Schrottkarren, und ich schob mir, ohne lange zu überlegen, das erstbeste Auto samt Verpackung unter den Parka, so wie seinerzeit Ingo Trinklein, klemmte es mit dem Arm fest und ging zitternd zur Rolltreppe.
Keiner hielt mich auf. So leicht konnte man die Eierköpfe da überlisten! Mit dem Auspacken wartete ich aber noch, bis ich außer Sichtweite war.
Eine weiße Luxuslimousine. Die Verpackung schmiß ich weg, und nach dem Mittagessen verzog ich mich in den Hobbyraum. Der Schlitten fuhr wie eine Eins und schnurgeradeaus, nicht wie die anderen Dinger, die Linksdrall oder Rechtsdrall hatten.
Klein, aber mein.
Damit Mama nichts merkte, wühlte ich das Auto in der Spielzeugkiste unter. Jetzt wollte ich auch die übrigen Spielzeugabteilungen abklappern.
Fuchs, du hast die Gans gestohlen!
Ich versorgte mich bei Quelle und in der Kaufhalle auf die bewährte Tour: Verpackung in die Hand nehmen, kucken, ob jemand kuckt, Auto unter den Parka schieben und ab. In der Kaufhalle ließ ich gleich drei Autos mitgehen, einen Oldtimer mit hohen Heckflossen, einen Sportwagen mit dunkelblauer Windschutzscheibe und einen goldenen Mercedes, bei dem man alle vier Türen, die Kofferraumklappe und die Motorhaube aufmachen konnte.
Im Hobbyraum ließ ich die Autos auf der freigeräumten Strecke zwischen Wand und Teppich Rennen fahren. Erst die ganze Flotte dicht zusammenstellen, dreimal Schwung holen und dann loslassen.
Ewiger Spitzenreiter war der Oldtimer, selbst wenn er die Startposition ganz links gehabt hatte, wo die Gefahr, mit einem der Heizkörperstege zu kollidieren, am größten war, aber da kam er fast immer dran vorbei. Es gab auch Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem orangen Sportwagen, aber der prallte vorne oft so heftig von der Wand ab, daß er dann weiter hinten liegenblieb als die anderen Autos.
Mein Fuhrpark mußte noch vergrößert werden. Sicherheitshalber ging ich nirgends öfter als einmal klauen. Nur bei Woolworth war ich noch nicht gewesen. Da lagen die Spielzeugautos auf Grabbeltischen.
Als ich unauffällig eins eingesteckt hatte, wollte ich gehen, aber da sah mich eine Verkäuferin so finster an, daß mein Herz einen Satz machte. Ich versuchte noch, freundlich zu lächeln, aber da packte mich schon jemand von hinten am Arm und sagte: »So geht’s ja nicht, junger Mann!«
Dann wurde ich abgeführt, quer durchs Geschäft zu einer Tür, eine Treppe hoch, einen Flur lang und in ein Zimmer, wo zwei Frauen mich in die Mangel nahmen.
Ich mußte so heulen, daß ich nicht viel mitbekam, nur die Wörter Ladendiebstahl, Anzeige, Polizei und Eltern, und davon mußte ich noch mehr heulen.
Ich war erledigt. Verratzt und verloren, wie der Kloß im Lesebuch aus der Grundschule. Wenn rauskam, daß ich ein Kaufhausdieb war, hatte ich ausgeschissen, bis ans Ende aller Tage. Grün und blau gehauen würde ich werden und dann ins Heim gesteckt oder ins Zuchthaus. Herzlichen Glückwunsch.
Die Frauen räumten meinen Ranzen aus und hielten mir meine Schulbücher vor die Nase. »Hast du die auch alle geklaut?«
Wie ich hieß, stand auf meinen Schulheften. »Und wo wohnst du?«
Kalli fiel mir ein, wie der dem Fischzüchter was vorgeflunkert hatte, und als ich nicht mehr ganz so laut schluchzen mußte, sagte ich: »In Neuwied.«
Die Weiber wollten mir nicht glauben. »In Neuwied? Und da gehst du in Koblenz zur Schule? Sei ehrlich, wo wohnst du?«
»In Neu-en-dorf!« rief ich, um so zu tun, als ob ich vorher nicht deutlich genug gesprochen hätte, und dann mußte ich wieder heulen.
»Ach, in Neuendorf wohnt der Herr! Und in welcher Straße?«
Straße war schlecht. Mir fiel ums Verrecken kein Straßenname ein, während ich gegen die Tränen kämpfte.
»Na, das kriegen wir schon noch raus«, sagte eine von den Frauen. Dann telefonierte sie mit der Polizei, und die andere fing an, ein Formular auszufüllen. »Martin Schlosser, wohnhaft in Neuendorf, stimmt das denn jetzt auch? Oder hast du uns da was vorgepillert?«
Ich konnte nicht mehr. Jetzt waren auch noch Polizisten im Anmarsch, um mich ins Kreuzverhör zu nehmen. Ich ergab mich in mein Schicksal und legte ein volles Geständnis ab. Wohnort, Straße, Hausnummer, Vornamen der Eltern, Telefonnummer, Geburtstag, Geburtsort. Mit mir war’s aus.
Zwei Polizisten holten mich bei Woolworth ab, und dann saß ich hinten im Peterwagen und machte mich klein, damit mich keiner sehen konnte.
»Ans Türmen brauchst du nicht zu denken«, sagte der Bulle, der am Steuer saß. »Hier kommst du nicht raus, da haben wir vorgebaut.«
Auf dem Polizeirevier wartete ich darauf, abgetastet und erkennungsdienstlich behandelt zu werden, aber ich saß nur auf einer Holzbank rum und bekam mit, wie einer von den Polypen bei uns anrief.
»Frau Schlosser?«
Jetzt war Mama dran.
»Wir haben Ihren Sohn Martin hier bei uns, und ich fürchte, der hat eine kleine Dummheit gemacht …«
Himmelangst war mir, als ich mit meinem Ranzen auf dem Schoß dasaß und auf Mama warten mußte. Gehörig zur Sau würde sie mich machen, und dann? Und ob ich jetzt vorbestraft war?
Aber wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.
Jedesmal, wenn die Tür aufging, dachte ich, jetzt isses soweit, aber es kamen immer nur Polizisten rein.
Der Wachtmeister oder was der war, der mit Mama telefoniert hatte, las Praline, eine Zeitschrift mit barbusigen Frauen vornedrauf.
Büro-Ordnung. § 1 Der Chef hat immer recht. § 2 Sollte der Chef einmal unrecht haben, tritt automatisch § 1 in Kraft.
Als Mama kam, war sie erst noch nett zu dem Wachtmeister, aber schon geladen wie eine Rakete. Draußen kriegte ich ein paar vorn Hals und eine Standpauke gehalten, die überhaupt nicht wieder aufhörte, auch die ganze lange Busfahrt über nicht, bei der wir stehen mußten, weil der Bus so voll war.
Ob ich die Absicht hätte, noch weiter auf die schiefe Bahn zu geraten? Und als verkrachte Existenz zu enden? »Weiß der Himmel, was wir mit dir noch anstellen sollen!« Sie sei mit ihrem Latein am Ende. »All die Jahre lang haben wir auf niederstem Level rumgekrebst und uns beide Beine ausgerissen, um die Familie hochzubringen, und zum Dank dafür dürfen wir dich heute von der Polizei abholen! Als ob ich nicht genug zu tun hätte damit, den ganzen Riesenhaushalt zu versorgen! Nichts als Schande bringst du über die Familie!« Ob ich vorhätte, uns alle ins Unglück zu stürzen? »Wir haben unser Menschenmöglichstes getan!«
Jetzt würden andere Saiten aufgezogen. Feierabend. Ende der Fahnenstange. Ich hätte den Bogen überspannt. »Bild dir ja nicht ein, daß wir diese Sache mit einem treuherzigen Augenaufschlag von dir für gegessen halten, und dann ist wieder Friede, Freude, Eierkuchen!« Jetzt werde gespurt. Eine Woche Zimmerarrest, sechs Wochen Hausarrest. Kein Taschengeld mehr und kein Fernsehen. »Und wenn du denkst, ich meine das nicht ernst, dann bist du schief gewickelt!« Da könne ich ruhig denken, ich hätte Rabeneltern. Alle früheren Ermahnungen hätte ich offenkundig für Larifari gehalten. »Und deine Krokodilstränen kannst du dir sparen, das zieht bei mir nicht!«
Und da waren wir erst in Ehrenbreitstein.
»Nun lassen Sie doch den armen Jungen in Ruhe«, sagte ein Mann zu Mama, und der kriegte schön was zu hören.
Zuhause wurde ich in mein Zimmer geschickt. »Komm mir ja nicht mehr unter die Augen heute!«
Unters Bett verkroch ich mich.
Irgendwann kam Renate rein und stellte mir mein Mittagessen auf den Tisch.
Wenn mir bloß ein Straßenname eingefallen wäre. Jetzt hätte ich die aus dem Handgelenk schütteln können. Schloßstraße, Kochstraße, Bergstraße, Baumstraße.
Hausverbot hatten sie mir erteilt bei Woolworth, aber das hätten sie sich schenken können. Den Arschlöchern noch was abkaufen? Ohne mich.
Woolworth, was für ein Scheißname das schon war.
Und die gemeinen Ziegen da, wieso hatten die mir nicht das Auto abgenommen und mich wieder laufengelassen? Kurz und schmerzlos? Statt so einen Aufstand zu veranstalten? Nach dem Schrecken, der mir bei Woolworth in die Glieder gefahren war, wäre mir auch ohne Polizei und Hausarrest die Lust aufs Klauen vergangen.
Von den Staubflusen unterm Bett mußte ich husten beim Weinen.
Das Essen war kalt geworden. Erbseneintopf und kein Nachtisch.
Neue Noten. Mama 6 und Papa 6. Renate 5, Volker 5. Und Wiebke?
Auch 5. Oder gleich Sechsen für alle, das war das einfachste.
Jetzt hätte ich mit Michael Gerlach ins Wambachtal gehen können, aber ich lungerte in meinem Zimmer rum und schob mit der Hand meine linke Kniescheibe hin und her.
Sechs Wochen lang als Trauerkloß versauern, Trübsal blasen und Däumchen drehen. In den Büchern wäre jetzt einer wie Karlsson vom Dach angeflogen gekommen, um einen aufzumuntern.
Meine Schienbeine fühlten sich rauh an. Zerklüftet, besser gesagt. Knochenkrebs, sowas in dieser Preisklasse wünschte ich auch den Hexen bei Woolworth an den Hals.
Ich würde bald ins Gras beißen.
Oder weiterleben, aber böse werden. Erst Schulschwänzer und dann Landstreicher oder Robbenfänger. Elendiglich zugrundegehen, wie Mugridge, das Köchlein, von dem nur der Schrumpfkopf übriggeblieben war.
Es regnete. Ich stellte das Fenster auf Kipp und konnte die nasse Straße riechen.
Sechs Wochen Hausarrest waren ganz schön happig.
Einen Schrecken kriegte ich, als mir die anderen geklauten Autos einfielen. Die mußte ich in der Versenkung verschwinden lassen. Gleich morgen früh. Bloß weg damit, bevor die jemand fand.
»Mein Beileid«, sagte Michael Gerlach, als ich ihm morgens im Bus die ganze Scheiße gebeichtet hatte.
In meinem Zimmer konnte ich hören, wie Volker sich vorm Fernseher bei Calimero und Männerwirtschaft beömmelte. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit war das.
Hoffentlich war schön oft Bildstörung, auch bei Schweinchen Dick, den Peanuts, Raumschiff Enterprise, Disco ’72, Shiloh Ranch, Barrier Reef und Dick und Doof.
Auf den Dachboden hätte man klettern müssen und die Antenne verbiegen.
Die Geschichte vom hölzernen Bengele. Wie ihm die Holzfüße in der Kohlenglut verbrennen, wie er von Fuchs und Katze übertölpelt wird und wie ihm im Faulenzerland Eselsohren wachsen.
Zum x-ten Mal las ich die beiden Jim-Knopf-Bücher und Fliegender Stern. Wie Grasvogel und Fliegender Stern zu den Weißen reiten und auf Schienen stoßen, die sie für eine silbern schimmernde, eiserne Zwillingsschlange halten.
Und Donald Duck, die Geschichte, in der Tick, Trick und Track beim Entenhausener Schneeplastikwettbewerb eine Statue von Erasmus Erpel bauen wollen, des Gründers von Entenhausen, um den ersten Preis zu gewinnen und ihn dann zwei armen Kindern aus der Fabrikvorstadt zu geben, und Donald, der das gleiche vorhat, kommt seinen Neffen in die Quere.
Dagobert Duck, der Superhyperultramilliardär, Primus von Quack und das Fähnlein Fieselschweif. Oder Donald im Jahre 2001: Da flogen fliegende Untertassen durch Entenhausen, und die Autos fuhren mit Atomkraftstoff.
Mal zählen, wieviele von Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern wir besaßen. Weil ich immer noch Zimmerarrest hatte, mußte ich Renate bitten, mir die zusammenzusuchen.
Der Kolumbusfalter, da war der Umschlag halb abgerissen. Hallo, hier Micky, Onkel Dagoberts Millionen, Donald, der König des Wilden Westens, Onkel Dagobert bleibt Sieger, Micky-Parade, Donald gibt nicht auf, Donald in Hypnose und Hexenzauber mit Micky und Goofy. In einer Geschichte verbündeten sich die Panzerknacker mit dem Fakir Rabad Rabadadi, der Onkel Donald hypnotisierte. Das wollte ich auch mal versuchen. Als ich aus meinem Zimmer wieder rausdurfte, setzte ich Wiebke im Hobbyraum in Hypnose: »Du machst jetzt alles, was ich will! Du bist hypnotisiert! Bring dein Stühlchen in den Heizungskeller!«
Tatsache, sie machte das. Dann kam sie wieder an.
»Jetzt bring dein Stühlchen hierher zurück!«
Als sie auch das getan hatte, kriegte ich es mit der Angst zu tun und lief hoch. Wie sollte ich das Mama und Papa erklären, wenn Wiebke plötzlich einen Dachschaden hatte?
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Allein die Bilder in Grimms Märchen, wie der da von den Bestien belagert und angeknurrt wurde.
Der Froschkönig, die zertanzten Schuhe und Brüderchen und Schwesterchen im tiefen Schlaf im hohlen Baum. Und Rapunzel, an deren Zopf man hochklettern konnte. Die mußte Nerven wie Drahtseile haben, daß die das aushielt.
Von Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein hätte ich nur Zweiäuglein haben gewollt.
Nach zwei Stunden befahl ich Wiebke, mir ein Nutellabrot zu schmieren. »Du spinnst wohl«, sagte sie, und ich konnte beruhigt sein. Die Hypnose hatte aufgehört zu wirken. Wiebke war wieder die alte Kratzbürste.
Stephan Mittendorf stand vor der Haustür. Ob ich Lust hätte, mit ins Wambachtal zu gehen. Wie sollte ich den jetzt abwimmeln?
»Heute hab ich keine Lust.«
»Und wann hast du Lust?«
»Weiß ich nicht.« Ich schob die Haustür hin und her. Unten wischte die Gummdidichtung über die Kacheln, und hinten im Flur stand Mama und hörte zu.
»Na, dann halt nicht«, sagte Stephan Mittendorf. »Ich hab ja noch andere Freunde.«
»Dann geh doch zu denen«, rief ich ihm nach und machte die Tür zu.
Sie bringe es nur schwer übers Herz, mich noch weiter einzusperren, sagte Mama. »Aber Strafe muß sein.«
Ich ging in mein Zimmer, Scrabble spielen mit mir selbst.
Wenigstens war ich nicht mehr das einzige schwarze Schaf, seit Volker in Englisch auf dem absteigenden Ast war.
Wegen irgendeinem Quark erschien dann abermals die Polizei. Der Streifenwagen stand vor Rautenbergs Haus. Bei denen hatten die Bullen versehentlich zuerst geklingelt.
Danach stieg Mama mir aufs Dach: »Das hast du nun davon! Jetzt weiß glücklich auch die ganze Nachbarschaft Bescheid!«
Dann kam eine Frau vom Jugendamt angeschissen und wollte auch noch irgendwas. Mama fertigte die an der Tür ab, und ich als derjenige welche hielt die Luft an, bis die aufdringliche Tante sich subtrahiert hatte.
Die sollte hingehen, wo der Pfeffer wächst.
Mittags deckte ich den Tisch, um Mama milde zu stimmen. »Flache oder tiefe Teller?«
Gabeln links und Messer rechts.
»Brauchen wir Nachtischlöffel?«
Endlich durfte ich wieder fernsehen. In Asbach Uralt ist der Geist des Weines. Das berühmte Nestlé-Filter-Frio-Verfahren, Moulinex, Schneekoppe und das Gard Haarstudio. Die gibt der Zahnarzt seiner Familie. Lavendel, Oleander, Jasmin, Vernel!
Fakt im Härtetest. Da wurde Schmutzwasser aus dem Hamburger Hafen in eine durchsichtige Waschmaschine gegossen. Eine harte Probe für die Vollwaschkraft von Fakt, aber nach dem Waschen war alles sauber. Fort mit dem Grauschleier. Weißes wird wieder weiß. Buntes wird wieder bunt.
Milch ist gegen Maroditis.
Neu war nach den Herbstferien, daß wir einmal in der Woche Religion bei Frau Niedergesäß in der nullten Stunde hatten.
Nullte Stunde, sagte Mama, das sei doch geisteskrank. Was die wohl als nächstes aushecken würden. Unterricht um Mitternacht oder was.
Ich mußte irrsinnig früh zur Haltestelle. Alle Sterne standen noch am Himmel, und es lag dicker Schnee auf dem Bürgersteig. Dafür war der Bus fast leer, am Rhein war noch kein Stau, und im Radio sang Wencke Myrhe einen Schlager über tausend rosarote Pfeile.
Das Eichendorff roch nach Bohnerwachs und war stockdunkel.
Am Friedrich-Ebert-Ring sprang die zweite Fußgängerampel immer genau dann auf Rot, wenn ich angerannt kam, aber ich flitzte trotzdem noch rüber. Einmal war ich spät dran. Die Autos starteten, als ich noch mitten auf der Straße war, und ein von hinten heranjagender Motorradfahrer streifte mich und riß mich fast um.
Da konnte ich noch von Glück reden. Um Haaresbreite wäre ich über den Jordan gegangen. Mir schlug das Herz bis zum Hals.
Ich hatte Schwein gehabt, unglaublichen Dusel. Dem Tod von der Schippe gesprungen war ich. Einen halben Schritt weiter vor, und Mama hätte mich im Leichenschauhaus besuchen können.
Im Eichendorff setzte ich mich auf einen der Sessel im ersten Stock, wo sonst nie jemand saß, und betete. Ein feste Burg ist unser Gott.
Nie wieder wollte ich bei Rot über die Straße laufen. Gut werden wollte ich, aus Dankbarkeit, in jeder Hinsicht. Mich an alle Verkehrsregeln halten, nie mehr abschreiben, nie mehr schwätzen, nicht mal mehr auf dem Füller kauen, der hinten schon eingedellt war davon.
Nach dem ersten Wintereinbruch taute der Schnee, und der Rhein hatte Hochwasser, aber die Straße nach Koblenz war noch befahrbar, sonst hätte ich schulfrei gehabt.
In Vallendar und anderswo liefen die Keller voll. Davon war ein Foto in der Zeitung. »Wer so dicht am Rhein wohnt, muß doch lebensmüde sein«, sagte Mama, und Volker sagte: »Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber ersaufen als verbrennen.«
Ersaufen war aber auch nicht angenehm. Nach Luft schnappen wollen und bloß Wasser einsaugen. Wie in dem Film vom Untergang der Titanic, wo die Leute in den überfüllten Rettungsbooten mit dem Ruder auf die Ersaufenden eingedroschen hatten.
Frauen und Kinder zuerst.
Oder auf einer einsamen Insel landen wie Robinson Crusoe und da dann mit Kannibalen kämpfen. Als das im Fernsehen kam und Robinson den Fußabdruck entdeckte, sagte Renate, das sei Kokolores, eine einsame Fußspur im Sand und keine andere dahinter und davor. »Da muß einer schon hundert Meter lange Beine haben, um so ’n Abdruck zu hinterlassen.«
Über die Sache mit dem Ladendiebstahl war allmählich Gras gewachsen. Ich durfte noch nicht wieder raus, aber ich konnte mich im Wohnzimmer aalen, von Renate gebackene Zimtsterne verkasematuckeln und Drehscheibe kucken, mit Heino: Ja, ja, so blau, blau, blau blüht der Enzian.
Dann kam ein Brief von der Polizei. Ich sollte nochmal vernommen werden, in Bendorf, in Begleitung eines Erziehungsberechtigten. Hatte der Scheiß denn nie ein Ende?
Um da hinzukommen, mußten Mama und ich erst zu Fuß nach Vallendar und dann mit dem Bus fahren. Das werde sie mir nicht so bald vergessen, sagte Mama, daß ich sie in diese hochnotpeinliche Situation gebracht hätte. Mit dem Herrn Sohnemann zum Polizeiverhör zu müssen. »Schäm dich, daß du das deiner alten Mutter angetan hast!«
In Bendorf hielt Mama mich fest an der Hand, und ich schaffte es nicht, nicht auf die Ritzen zu treten.
Der Polizist, bei dem wir im Büro saßen, holte aus einem Schubfach Blätter raus, besah sich die, faßte mich über den Brillenrand weg scharf ins Auge und sagte: »Ja, Martin, bis vor kurzem bist du für uns ja noch ein unbeschriebenes Blatt gewesen …«
Ich wurde rot, und es pochte in meinen Ohren.
Bendorf, Penndorf. Im Hochwasser absaufen sollte das Drecknest, mit Mann und Maus. Ich für mein Teil wollte Bendorf bis an mein Lebensende meiden. Weder auftanken da noch einkaufen noch aussteigen und alten Omis über die Kreuzung helfen. Das hatten die sich verscherzt.
Nach dem Elend in Bendorf hob Mama meinen Hausarrest auf, und ich tobte jubelnd durch alle Etagen, auf der Suche nach meinen Gummistiefeln. Eine Dreiviertelstunde Wambachtal war noch drin, und vielleicht würde Michael Gerlach mitkommen.
Im Hobbyraum stand Wiebke auf dem Klavierhocker und kraßelte oben auf dem Klavier in den Noten. Nur aus Spaß, um Wiebke zu erschrecken, ruckelte ich am Hocker, und sie fiel runter auf den Boden und schrie wie am Spieß.
Und schon hatte ich wieder Hausarrest, weil Wiebke sich bei ihrem Sturz den Arm gebrochen hatte.
Wiebkes weher Arm mußte regelmäßig im Krankenhaus in Vallendar geröntgt und massiert werden, und der arme Arsch, der sie begleiten mußte, runter und wieder rauf, war natürlich ich.
Erhard Schmitz kannte die Autogrammadresse von dem Turner Eberhard Gienger, und ich schickte ihm ein Gedicht: Von dort, von der Turnhalle komm ich her. Ich muß euch sagen, es freut mich sehr! Allüberall auf den Siegerpodesten sah ich Eberhard Gienger nesten.
Am ersten Advent nahm Renate Volker und mich nach Koblenz mit, zum Konzert von Reinhard Mey in der Rhein-Mosel-Halle. Die Eintrittskarten hatte Mama gestiftet.
»Und was sagt man dann?«
»Danke.«
Es war rappeldicke voll. Wir kriegten nur noch in der letzten Reihe links drei Plätze. Um was zu sehen, mußte man sich oben auf die Sessellehne setzen, aber wenn man das tat, wurde man von den Saalordnern angegiftet.
Papas Fernglas hätten wir jetzt haben müssen.
Die heiße Schlacht am kalten Büfett und Annabelle, ach Annabelle. Seit ich auf ihrem Bettvorleger schlief, da bin ich ungeheuer progressiv, ich übe den Fortschritt, und das nicht faul, nehme zwei Schritte auf einmal und fall aufs Maul.
Ein leuchtend oranges Hemd hatte Reinhard Mey an. Von Wand zu Wand sind es vier Schritte, von Tür zu Fenster sechseinhalb.
Irre, daß der alle Lieder auswendig konnte und sich nie verhaspelte, auch auf der Gitarre nicht.
Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und ein letztes Glas im Stehn. Das kam als Zugabe.
Ich wollte mir ein Autogramm holen, aber wo? Ob Reinhard Mey irgendwann rauskam zum Autogrammegeben? Ewig konnten wir auch nicht warten, weil wir zum Bus mußten.
Auf der Rückfahrt las Renate im Nibelungenlied. Das hatte sie für Deutsch auf. Nu was er in der sterke daz er wol wâfen truoc. Swes er dar zuo bedorfte, des lag an im genuoc. Totaler Pillefax sei das, sagte Renate.
Zwei Männer vom Kirchenchor gehen zum Weihnachtsliederabend. Fragt der eine den andern: Wer ist eigentlich dieser Owie? Fragt der andere: Welcher Owie? Sagt der erste: Na, der in Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, o wie lacht.
Diesen Witz gab der Schlaumeier zum besten.
Als im Fernsehen Musikladen kam und der Sänger von der einen Gruppe einen Hut mit Spiegeln dran aufhatte, ging Papa raus. Bei solcher Hottentottenmusik komme ihm die Galle hoch. Er habe auch noch was zu sägen in der Garage, und so entging ihm der Auftritt von Insterburg & Co., bei dem Karl Dall ein Lied geschenkt kriegen sollte von den drei anderen, Ingo Insterburg, Peter Ehlebracht und Jürgen Barz, die dann auch gleich was spielten. »Ist das schon mein Lied?« fragte Karl Dall, und Ingo Insterburg sagte: »Nee, wir haben erstmal nur das Packpapier abgemacht.«
Sind Tannennadeln trocken, falln sie vom Baum herab. O Mädchen, laßt euch locken, auch eure Zeit ist knapp!
Ingo Insterburg sang noch ein Lied über die Kaulquappen im Ententeich, die ihre Kiemen abgeben: Und dann verlieren sie ihr Schwänzelein, ich möchte nie eine Kaulquappe sein!
Wie Renate dabei ungerührt Mützen häkeln konnte, ging mir über den Verstand.
Frau Niedergesäß wollte einen weihnachtlichen Geschenkebasar veranstalten. Jeder sollte ein Geschenk mitbringen, die Geschenke sollten Nummern kriegen, und dann würde jeder auf gut Glück eine Nummer ziehen und ein Geschenk bekommen.
Mama gab mir für den Basar eine Packung Lebkuchenherzen mit. Mir kam das recht dürftig vor, aber Mama sagte, sie sei nicht Graf Koks. »Wenn deine Lehrerin darüber quakt, kannst du der von mir bestellen, daß Vater Staat das Kindergeld erhöhen soll, bevor ich mich für deine lieben Mitschüler in Unkosten stürze.«
Kindergeld, das hörte sich so an, als ob das eigentlich meins gewesen wäre.
Das Losglück bescherte mir einen Kompaß. Der konnte mir im Wambachtal von Nutzen sein, wenn Michael Gerlach und ich uns da mal verirren sollten.
Meine Lebkuchenherzen waren bei Jesu Christi gelandet. »Der Sausack, von dem die stammen, soll mir mal im Mondschein begegnen«, sagte er zu Erhard Schmitz, und der pflichtete ihm bei. Klassenkeile sei das mindeste, wenn sie den Pfennigfuchser beim Schlafittchen kriegten.
Für mich war ein Brief eingetroffen, von Eberhard Gienger, mit einer Autogrammkarte: Gienger am Barren. Hintendrauf stand: Und herzlichen Dank für das reizende Gedicht!
Ich war geplättet.
Renate reiste über Weihnachten nach England zu Tante Therese. Erst mit dem Zug, dann mit der Fähre, dann wieder mit dem Zug.
Mir war Weihnachten in Deutschland lieber. In England gab es Weihnachten bloß Grußkarten, die auf den Kaminsims gestellt wurden. Schluß, fertig, aus. Das hatte Tante Therese mal erzählt. Tolles Weihnachtsfest: Grußkarten aufreihen. Ich freute mich das ganze Jahr über auf Weihnachten und die letzten Tage davor so doll, daß ich’s fast nicht mehr aushielt. Die Engländer wußten gar nicht, was ihnen da entging.
Beim Winken wehte Renates langer weißer Schal im Fahrtwind.
Es war erst der 22. Dezember, aber vor ihrer Abreise hatte Renate auch die letzten beiden Adventskalendertürchen schon aufgemacht und die Schokolade verspachtelt.
Manche von den Bildern in Renates Kalender kamen mir bekannt vor, und ich hielt meinen eigenen daneben, zum Vergleich. Die Türchen waren verschieden numeriert, aber innen waren an der gleichen Stelle genau die gleichen Bilder. Den Ball, der bei mir am Vierten war, hatte Renate am Zwölften, am Dritten hatte sie das Reh, das bei mir erst am Zwanzigsten kam, und so weiter. Bei den Adventskalendern von Wiebke und Volker war das auch nicht anders. Überall die gleichen Bilder, obwohl vorne auf den Kalendern, bei geschlossenen Türchen, vier unterschiedliche Weihnachtsmänner zu sehen waren.
Mama saß am Eßtisch, knotete die Enden von zerrissenen Gummibändern zusammen und sagte, ich sei ein Einfaltspinsel. »Was soll ich denn jetzt bitteschön tun? Den Herstellern einen Brief schreiben? Sehr geehrte Herren, nach Rücksprache mit meinem Sohn Martin möchte ich Sie fragen, ob Sie die Güte hätten, nächstes Jahr eine Million Adventskalender zu produzieren, bei denen kein Bild wie das andere ist?«
An Heiligabend fuhren wir mit dem Peugeot nach Vallendar zum Gottesdienst. Weil Renate nicht da war, konnte ich am Fenster sitzen, aber ich mußte versprechen, auf der Nachhausefahrt mit Wiebke zu tauschen.
Macht hoch die Tür, das Tor macht weit.
Bei der Bescherung konnte man wieder mal sehen, daß Mädchen schlechter dran waren als Jungs. Ich kriegte zwei Detektivbücher, ein Märchenbuch, eine Olympiamünze im Wert von zehn Mark und ein neues Brettspiel: Schmugglerjagd. Volker kriegte einen Elektronikbaukasten mit Bausätzen für Morsegeräte und Alarmanlagen, und zusammen kriegten wir einen Tischkicker.
Und Wiebke? Söckchen, karierte Pantoffeln und aus Jever eine Strumpfhose, drei Nummern zu klein.
Für Mama hatte Papa einen Leifheit-Staubsauger besorgt, der ohne Strom funktionierte. Beim Schieben drehten sich die Bürsten von alleine. Wir probierten das mit Tannennadeln, Asche und Locherkonfetti aus. Die Hälfte blieb jedesmal liegen, und Papa ging mit dem Staubsauger in die Garage runter.
Das Märchenbuch war von Onkel Dietrich: Ungarische Märchen.
Schluck. Ob der was von Piroschka wußte?
Ein Paar Strümpfe lag noch rum, zusammengenäht.
»Nicht reißen!« rief Mama. »Sonst sind die doch im Nullkommanichts wieder kaputt!«
Dann rief sie in England an.
Als Festmahl für den ersten Weihnachtsfeiertag hatte Mama ein Kaninchen gebraten, aber das war ein zäher Brocken, trocken und kaum runterzubekommen. »Das hab ich ja nun auch nicht geahnt«, sagte Mama.
In Ermangelung von Zahnstochern schabte Papa sich die Fleischfasern mit einem angespitzten Streichholz aus den Zahnzwischenräumen, und als Oma Jever anrief und wissen wollte, was wir gegessen hätten, sagte er ihr, wir hätten einen etwas ältlichen Karnickelbock seiner gottgewollten Bestimmung zugeführt, aber es sei nur sehr bedingt statthaft, von einer kulinarischen Offenbarung zu sprechen.
Bei Schmugglerjagd traten Zöllner gegen Schmuggler an. Als Schmuggler mußte man kleine schwarze Scheiben in die hohlen Figuren stopfen und versuchen, sie an den Zöllnern vorbei auf die Ziellinie zu manövrieren. Wenn die Zöllner eine Figur kontrollierten, die nichts schmuggelte, hatte man als Schmuggler gut lachen, aber man mußte auch darauf achten, daß die Schmuggelware nicht rausrutschte beim Ziehen.
Und durfte man nun diagonal oder nicht? Die Regeln standen innen im Deckel, aber wo war der jetzt wieder abgeblieben?
Wiebke schob die Figuren, in denen sie was schmuggelte, so langsam übers Brett, daß man gleich Bescheid wußte.
Ziemlicher Quark waren die ungarischen Märchen. Da metzelten ununterbrochen todesmutige Ritter Drachen ab, um zartbesaitete Königstöchter zu befreien, und wenn der Kampf vorbei war, stand da: Wer’s glaubt wird selig, wer’s nicht glaubt, wird mehlig.
Pffft.
Dafür waren die anderen Bücher klasse, Rätsel um die verbotene Höhle und Meisterdetektiv Blomquist, auch wenn mir mulmig zumute war, als ich las, wie Kalle Blomquist die Polizei auf die Spur von Onkel Einar brachte, dem Juwelendieb. Mir hätte die Polizei noch weniger geglaubt als Kalle Blomquist, weil ich kein unbeschriebenes Blatt mehr war.
Rätsel um die verbotene Höhle stammte von Enid Blyton. Da spionierten gleich vier Kinder hinter Verbrechern her, eins mit einem dressierten Äffchen und eins mit einem Hund, einem Spaniel namens Lümmel, der wie ein wildgewordener Handfeger durch die Landschaft peeste. Unsereiner hatte nicht einmal ein Meerschweinchen. Geschweige denn das Glück, in einem Land zu wohnen, das von Verbrechern nur so wimmelte. Nach Juwelendieben graste ich den Mallendarer Berg vergebens ab.
Hinten standen die Titel von den restlichen Rätselbüchern drin. Rätsel um das verlassene Haus, um die grüne Hand, um den unterirdischen Gang, um den geheimen Hafen, um den wandelnden Schneemann und um den tiefen Keller.
Im Zweiten wurde Lederstrumpf wiederholt. Mitten im dritten Teil, klingeling, stand Stephan Mittendorf vor unserer Haustür. Ob ich schon die Neuigkeiten gehört hätte. Piroschka ziehe weg. In der Rudolf-Harbig-Straße stehe ein Möbelwagen, der werde gerade beladen.
Soso.
»Ist doch ganz gut«, sagte Stephan Mittendorf, »dann haben wir endlich unseren alten Streit nicht mehr.«
Als ob ich mich mit dem um Piroschka gestritten hätte.
»Du hast den Tod von Häuptling Pfeilspitze verpaßt«, sagte Volker, als ich wiederkam. Er lag auf dem Bauch, mit dem Kinn im Kissen.
Vom Tannenbaum waren mehrere Süßigkeiten verschwunden, und Mama machte Terror, aber ich war mir meiner Unschuld bewußt.
Jetzt konnte ich mich ja doch mal als Detektiv betätigen, auf eigene Faust und in eigener Sache. Dem Täter auf der Spur.
Renate und Wiebke schieden als Verdächtige aus. Renate war in England und hatte ein wasserdichtes Alibi, und Wiebke hätte vielzuviel Schiß gehabt. Meine Ermittlungen konzentrierten sich auf Volker, der für mich der Hauptverdächtige war.
Meisterdetektiv Martin Schlosser. Als Volker sich verdünnisiert hatte, ging ich in sein Zimmer. Im Papierkorb lagen Silberfolienschnipsel. Die steckte ich, um keine Fingerabdrücke zu verwischen, mit einer Pinzette aus Mamas Kosmetikschrank in eine Brötchentüte, malte eine Eins auf Papier, schnitt sie aus und klebte sie mit Uhu auf die Tüte, der ich einen Ehrenplatz im Schiebeschrank gab. Mein erster Fall und meine erste Indizientüte. Viele, viele würden noch dazukommen, aber am öftesten würden mich die Reporter nach der allerersten Tüte fragen. »Wie sind Sie denn Ihrem Bruder damals auf die Schliche gekommen, Herr Schlosser?«
Wenn Volker gedacht hatte, er sei fein raus, weil der Verdacht auch auf mich fallen mußte, hatte er falsch geraten.
Ich konnte frohgemut ins Wambachtal marschieren, das Kriegsbeil ausgraben und mit Michael Gerlach die Kaiowa angreifen. Wir waren Sioux.
Abends ging ich zu Volker hoch, ließ die Schnipsel aus der Tüte auf die Teppichfliesen rieseln und sagte: »Kannst du mir mal sagen, was das hier ist?«
Statt aus allen Wolken zu fallen, verpaßte Volker mir einen Arschtritt: »Schieb ab!«
Ich hatte nicht gewußt, daß Volker in der Zwischenzeit von Mama überführt worden war und eine Abreibung bezogen hatte.
Den Detektivberuf hängte ich an den Nagel. Im Handumdrehen die vertracktesten Fälle lösen und dafür noch in den Arsch getreten werden? Undank ist der Welten Lohn.
Bald würden 15 Milliarden Menschen die Erde bevölkern, stand im Stern. Dazu ein Foto von einer Masse nackter Asiaten, wie die Heringe zusammengepfercht in einem viel zu kleinen Raum.
»Da kann einem ja angst und bange werden«, sagte Mama.
Disco ’72 hieß jetzt Disco ’73. Daran mußte man sich erst gewöhnen.
In England hatte Renate auf Kims Pferd reiten dürfen und war auch im Wachsfigurenkabinett gewesen und in Kims Schule. Da hatte der Unterricht gleich nach Silvester wieder angefangen. Die Schülerinnen alle uniformiert und Renate als einzige in Alltagsklamotten, wie ein Paradiesvogel.
Carnaby Street, der Buckinghampalast und Big Ben. Und als der Käfig von Kims Goldhamster in der Badewanne stand, habe der Hamster ein zum Trocknen aufgehängtes Kleid durch die Gitterstäbe gezogen und angeknabbert, und Kim habe gekrischen: »It was the hamster!« Das sei zu einem geflügelten Wort geworden. Als die Milch übergekocht war und als der Wind die Tür zugeschlagen hatte: »It was the hamster!«
In England wurden Hamster so genannt wie bei uns, aber Esel hießen Donkeys und Affen Monkeys. Da sollte sich einer durchfinden.
Ihr eigenes Englisch fand Renate ganz passabel. Nur von dem Dialekt, den das einfache Volk da spreche, habe sie nichts verstanden, das sei ein einziges Kauderwelsch. Dafür habe sie auf der Fähre drei nette Typen kennengelernt, Wolfgang, Alec und Lorry. Sie hätten auch Adressen ausgetauscht.
Bei ihm in der Klasse heiße einer Gangwolf, sagte Volker, und Mama schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Gangwolf! Der arme Junge!«
Dann richtete Renate noch schöne Grüße aus von allen, auch von Stuart und Carol. Bei diesem Namen blies Papa die Backen auf und ließ geräuschvoll Luft ab. Von ihm kriege Carol jedenfalls keine schönen Grüße zurück. Von ihm könnten der höchstens unschöne Grüße bestellt werden.
»Nun laß mal gut sein«, sagte Mama.
Die merkwürdige Lebensgeschichte des Friedrich Freiherrn von der Trenck. Davon wollte ich den zweiten Teil kucken, aber Mama gab Tatort den Vorzug. Tote Taube in der Beethovenstraße.
»Mach nicht so ’n langes Gesicht!«
Das Augenpaar im Fadenkreuz und die Spirale über den Beinen von dem, der da irgendwo langrennt.
Es gab eine Verfolgungsjagd, hinter einem Mörder her, aber dann stieg ich nicht mehr durch. Politiker wurden mit Fotos erpreßt, und es hörte damit auf, daß eine tote Taube in der Beethovenstraße lag.
Da lobte ich mir das Rätselbuch von Enid Blyton. Immer, wenn ich das aushatte, fing ich gleich wieder vorne an, so gut war das.
Bei Renate war der Wohlstand ausgebrochen. Sie kaufte sich auf einen Schlag zwei Singles von Melanie und eine LP von Reinhard Mey: Ich bin aus jenem Holze geschnitzt.
In Renates Zimmer hörte ich mir die Reinhard-Mey-LP an. Ganz leis bläht der Wind die Gardinen auf, auf die Erbin zeigt mattschwarz ein stählerner Lauf, und ein gellender Schrei zerreißt jäh die Luft – auch das war wohl wieder der Gärtner, der Schuft!
Nach einer Party mit Kim und Norman und Collin und noch anderen hatte sich Renate in England einen Rollkragenpulli leihen müssen, wegen der vielen Knutschflecken. Das verriet sie aber nur Volker und mir. Ganz schwarzgelutscht gewesen sei ihr Hals.
Die neue Rheinbrücke hing immer noch ins Wasser. Ob die jemals fertig würde?
In Sport mußten wir den Fosbury-Flop üben, und Frank Töpfer sah von der Bank aus zu, wie wir uns da einen abbrachen.
Bei Quelle kaufte ich mir die Single Hello-A von Mouth & MacNeal. Die zierliche Frau und der dicke Sack. Wie die wohl keuchen mußte beim Bumsen, wenn sie unten lag und der auf ihr drauf. Oder bumsten die nicht?
Die Ravioli mittags waren außen abgekühlt, aber innen verteufelt heiß.
»Kaltes Kochen ist noch nicht erfunden«, sagte Mama.
Von Michael Gerlach kriegte ich zwei Kalle-Blomquist-Bücher geliehen. Eins mit einem Mord und eins mit einer Entführung. Beide gut, aber auf dem Mallendarer Berg kamen leider weder Morde noch Entführungen vor. Woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Während im Ersten Cleopatra lief, fing Papa an, seine alten VDI-Zeitungen nach Jahrgängen zu sortieren, auf dem Eßtisch, mit großem Geraschel. Als ob er das extra machte, weil es ihm gegen den Strich ging, daß der Rest der Familie auf der faulen Haut lag, bis auf Renate, die an einem Sommerpulli strickte.
Am Ende ließ sich Cleopatra von einer Schlange totbeißen.
Leise rieselt die Vier auf das Zeugnispapier. Fünfen und Sechsen dazu, freue dich, sitzen bleibst du!
Ich hatte in Betragen, Mitarbeit und Englisch Sehr gut und in Deutsch Gut, das waren drei Mark fuffzig. Renate hatte einen Notendurchschnitt von 2,7. »Das ist auch nicht grad ’ne Meisterleistung«, sagte Mama. Die war nie zufrieden.
Wiebke ist eine verträgliche, ruhige Schülerin, stand in Wiebkes erstem Zeugnis. Sie ist sehr eifrig, fleißig und gibt sich viel Mühe. Ihre Leistungen in Deutsch und Mathematik sind gut.
Unterschrieben von Frau Katzer. Gut, daß ich die los war. Die machte jetzt anderen Kindern das Leben zur Hölle.
Renate hatte einen Brief von ihrer Ferienbekanntschaft Alec gekriegt. Da stehe nur Kappes drin, sagte Renate.
»Ist das ’n Liebesbrief?«
Das gehe mich einen feuchten Käse an.
Bei Schmugglerjagd war schon fast die Hälfte vom Schmuggelgut verschwunden. Die fehlenden Scheiben ersetzten wir durch Weinkorkenbröckel.
Für dicken Schmutz war der neue Staubsauger nach wie vor zu schwach auf der Brust, und der alte machte solchen Lärm, daß man beim Saugen lauthals singen konnte, ohne daß das jemand hörte.
Kosaken müssen reiten, ihr ganzes Leben reiten, noch schneller als der Wind, teremm temm temm, weil sie dazu, teremm temm temm, geboren sind!
Von Ivan Rebroff, diesem Russen für Arme. Renate hatte die Single, aber die gefiel ihr nicht. »Kosaken müssen scheißen«, sagte sie immer.
Eine weiße Birke stand vor meinem Haus, da bin ich geboren, da bin ich zuhaus. Auch von Ivan Rebroff. Eine weiße Birke, genau wie bei uns, nur daß ich in Hannover geboren worden war.
Was mir auf den Senkel ging im Fernsehen: Die sechs Siebeng’scheiten, Teletechnikum, Cordialmente dall’Italia, Aqui España, Schaukelstuhl und Mosaik. Heute: Herzbeschwerden, Renteninformation, Bilanz der guten Taten und Rückengymnastik für runzlige Omas. Um das aus freien Stücken zu kucken, mußte man mit einem Bein im Grab stehen.
Volker schwärmte von Jason King, aber das kam zu einer Uhrzeit, wo eine halbe Portion wie ich schon in der Falle zu liegen hatte. »Wenn dir das nicht paßt, kannst du dir ja andere Eltern aussuchen«, sagte Mama.
Um mich zu rächen, wusch ich mich nur schlunstrig, und das Zähneputzen ließ ich bleiben.
Im Stern war ein Foto von einem japanischen Kind mit Quecksilbervergiftung. Die Augen gräuslich verdreht und die Finger verbogen. Das Meer war da durch Abwässer aus einer Chemiefabrik verseucht worden, und das Kind hatte einen quecksilberhaltigen Fisch gegessen.
Mir selbst ging’s aber auch nicht gut. Mein Hintern juckte, und in meiner Kacke waren weiße Würmchen. Doktor Kretzschmar verschrieb mir ein Puder für hintendrauf. Damit Mama meine Kackwürste untersuchen konnte, grub sie auf dem Boden den alten Kindernachttopf aus. Den sollte ich zwei Wochen lang benutzen.
Wenn das einer gesehen hätte.
»Das kommt davon, wenn du dir deine Flossen nicht wäschst«, sagte Papa. Mußte der gerade sagen mit seinem vier Meter langen Bandwurm.
Mit zwei Fingern pingelte ich mir was auf dem Klavier zusammen, und weil sie fand, daß ich Talent hätte, meldete Mama mich zum Unterricht an, bei Herrn Vogel, zu dem auch Renate einmal die Woche hinging. Das war ein stinkreicher Opa, der in einer Villa in der Gartenstadt wohnte und mit einer mindestens dreißig Jahre jüngeren Erbschleicherein verheiratet war. Die wartete nur darauf, daß ihr Alter den Löffel abgab, und dann würde ihr alles allein gehören.
Der Vogel roch aus dem Hals nach Kaffee und hatte so lange Fingernägel, daß es knackte, wenn er einem was vorspielte.
An der schönen blauen Donau.
»Nun mußt du aber auch bei der Stange bleiben«, sagte Mama.
Der junge Pianist. In Musik gab ich mir jetzt viel Mühe.
In den Sommerferien sollte in den Süden gefahren werden. Mama breitete Reiseprospekte auf dem Eßtisch aus. Wohin wir lieber wollten, auf eine Insel oder einfach in ein Land mit Strand?
Mama und Renate lernten vorsorglich Spanisch an der Koblenzer Volkshochschule. Der Kursus fand im Eichendorff statt, in einem Zimmer, wo an der Tür immer die Klinke abfiel.
Ein Arzt hatte versucht, einen Affenkopf zu verpflanzen. Dem einen Affen abgeschnitten und einem anderen auf den durchgehackten Hals gefisselt. Davon waren Fotos im Stern.
In Kürze sei das auch bei Menschen möglich. Nach einem Autounfall, wenn beim Fahrer das Gerippe zermatscht ist und beim Beifahrer der Schädel. Dann könnten die Ärzte den heilen Kopf an den heilen Rumpf nähen.
Auch nicht schön, mit dem Bierbauch von jemand anderem rumzulaufen. Oder aus der Narkose zu erwachen, und man hat ’nen anderen Kopf auf. Dann schon lieber mausetot sein, oder?
Karneval ging ich als Hippie. Auch ein Hippie muß mal Pipi, hatte Renate mir mit Filzstift auf die Wange geschrieben. Als ich so durch Vallendar lief, hielten mich Erwachsene am Ärmel fest, um den Spruch zu lesen, und dann prusteten sie los.
Humba, humba, humba, täterää.
Renate ging als Blumenkind mit großen aufgenähten Blüten auf Hemd und Hose.
Sonntagnachmittags kuckte Mama die Forsyte-Saga. »Da schlafen einem ja die Füße bei ein«, sagte Volker, und wir gingen in den Hobbyraum runter, tischkickern. Bis auf einen letzten waren von den Bällen alle verbummelt.
Die Mittelfeldkette wild rumwirbeln, in der Hoffnung auf einen Sonntagsschuß, die linke Hand immer an der Torwartstange lassen und an den Tisch hauen, wenn der Ball so liegengeblieben war, daß keiner mehr drankam.
10:6 für Volker. Das war das Glück der Doofen.
Bei der Revanche semmelte Volker mir gleich mit dem ersten Schuß ein Tor rein. Den hätte ich halten müssen, ich Arsch.
»Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung«, sagte Volker.
Von Renates heißgeliebtem Alec kam schon wieder ein Schrieb, obwohl sie den letzten gar nicht beantwortet hatte. Ein waschechter Liebesbrief. Dear Renate! Daß er, Alec, immer an sie denken müsse, all day long and during the night, too, und alle i-Punkte in Herzchenform, was Renate für sentimentalen Kiki hielt. Dieser Alec könne sie mal gernhaben.
Onkel Dietrich hatte seinen Besuch angekündigt und konnte jeden Moment vor der Tür stehen, und außer mir war niemand da.
Statt Stadt ohne Sheriff zu kucken, wollte ich einen Kuchen backen für Onkel Dietrich, ganz alleine.
Milch, Eier, Zucker. Ich verquirlte alles, aber wie ein Teig sah das nicht aus. Nicht fest genug. Da fehlte noch eine Zutat. Aber welche?
Wer will guten Kuchen backen, der muß haben sieben Sachen. Ich suchte mein Taschengeld zusammen, lief zu Spar und kaufte eine Packung Erdnüsse, Ültjes, für Nußkuchen. Einen Teig kriegte ich aber auch mit den Erdnüssen nicht zustande.
Dann kam Papa. »Was rührst du denn da für ’ne Pampe zusammen, um Himmels willen?«
»Einen Kuchen für Onkel Dietrich.«
»Ohne Mehl? Und wer hat dir den Floh ins Ohr gesetzt, da Erdnüsse reinzuschmeißen?«
Mehl, genau. Das hatte ich vergessen.
Ich sei ein Holzkopf, sagte Papa und verfertigte aus der Plörre einen Pfannkuchen für Onkel Dietrich, und der machte mir Komplimente. Das werde er seiner Frau mal stecken, wie köstlich so ein Pfannkuchen mit Erdnüssen schmecke. Das müsse die ihm jedes Wochenende kredenzen. »Sonst schlägt’s dreizehn!«
Morgens fuhr Onkel Dietrich mich nach Koblenz zur Schule, und ich sollte ihm meinen Geburtstagswunsch sagen, im Stau am Rhein. Wieder was von Karl May?
Örk. Viel lieber wollte ich noch ein Rätselbuch von Enid Blyton haben.
»Das müßte sich deichseln lassen«, sagte Onkel Dietrich.
Lodern zum Himmel seh ich die Flamme, das donnerte schön, wenn Renate mir das vorspielte, aber ich war noch nicht weit genug dafür.
Üben, üben, üben. Linke und rechte Hand, Baßschlüssel und Violinschlüssel. Kleine Werke großer Meister, für die klavierspielende Jugend mit musikgeschichtlichen Anmerkungen versehen von M.P. Heller, mit Pedalzeichen.
Crescendo und decrescendo. Piano, pianissimo, forte, fortissimo und fortefortissimo.
Armes Waisenkind, von Robert Schumann.
Im Zweiten lief jetzt dienstags immer Arpad, der Zigeuner. Die Serie spielte in Ungarn, wo Arpad gegen die Österreicher kämpfte.
Ich achtete darauf, ob im Abspann der Nachname Szentmiklossy vorkam. Kam er aber nicht.
Wo Piroschka jetzt wohl hin war? Ob die sich noch an mich erinnerte? Oder ob sie mich vergessen hatte? Aus den Augen, aus dem Sinn?
Ein Mitschüler von Wiebke war gestorben, und sie holte ein Klassenfoto raus, um uns zu zeigen, welcher das war.
Da hatte er noch dagestanden und gelacht, und jetzt war er tot. Innerlich vom Blutkrebs aufgefressen. Rote und weiße Blutkörperchen. Hämoglobin.
Ihr täten vor allem die Eltern leid, sagte Mama. Ein Kind so hochzupäppeln und dann mit ansehen zu müssen, wie das arme Würstchen sein Leben aushaucht.
Für Volker kam ein Blauer Brief: Leistungsrückgang in Geschichte und Englisch. Mama sagte, Volker sei helle genug, aber ein Faultier.
Die Osterferien verbrachte ich in Bielefeld bei Tante Gertrud und Onkel Edgar. In Bielefeld-Sennestadt, um genau zu sein.
Die Hinfahrt unternahm ich ganz alleine mit dem Zug. Koblenz, Bonn, Köln, Wuppertal, Bochum, Dortmund, Unna, Hamm, Gütersloh, Bielefeld, eine halbe Weltreise.
Den Kartoffelsalat kippte ich aus dem Fenster.
Nicht hinauslehnen. Do not lean out. E pericoloso sporgersi.
Tante Gertrud und Onkel Edgar wohnten in einem Bungalow im Grünen, aber Onkel Edgar wollte noch ein Dachgeschoß draufbauen. Vor lauter Eimern, Leitern, Balken, Ziegeln und Plastikplanen sah man fast den Garten nicht mehr. Die Garage war bis vornehin voll mit Brettern, und an den Hausecken standen randvolle Regentonnen.
Schlafen sollte ich auf einer Klappcouch in Bodos Zimmer. Die Tür war mit Aufklebern bepflastert: Rauchen macht schlank, Seid nett aufeinander, Bitte keine heiße Asche einfüllen. CDU, SPD, WDR.
Bodos Bruder Horst saß oft in seinem Zimmer und meditierte. Dann hing ein Warnschild an der Tür: Meditation! Betreten verboten!
Das Abendbrot mußte sich jeder selbst schmieren, am Tisch, auf Tellern statt auf Brettchen, und Tante Gertrud goß Bodo und mir Ovomaltine ein.
Auf die Frage, wie das Essen schmecke, hatte irgendeine Frau mal gesagt: »Man stopft’s so rein.« Tante Gertrud und Onkel Edgar hatten das gehört, und jetzt sagten sie es selbst immer: »Man stopft’s so rein.«
Als ich vom Butterklotz mit dem Messer was für mich abgesäbelt hatte, sagte Bodo: »Da ist wohl ein Schaufelbagger am Werk gewesen.« Tante Gertrud brachte mir bei, daß man Butter streiche und nicht schneide.
Bodo und ich durften uns ein Loch im Garten buddeln. Der war ohnehin verwüstet.
Tiefer und tiefer, mit Schippen und Schaufeln, auch im Nieselregen. Eine Goldader entdecken und steinreich wieder ins Haus kommen: »Kuck mal, Tante Gertrud, was ich dir mitgebracht hab!« Die rechnet dann mit gar nichts, und man packt einen Goldklumpen aus, wie Hans im Glück.
Oder auf Öl stoßen, und die Fontäne schießt tausend Meter hoch in den Himmel.
Am Karfreitag sollte ein Film über einen Jungen kommen, der von allen anderen gehänselt wird. Das stand in der Zeitung, und ich wollte mir den Film ankucken, aber Tante Gertrud erlaubte mir das nicht. »Was hast du denn davon, wenn du dir sowas Trauriges ansiehst? Kannst du mir das bitte mal sagen?«
Es regnete sich ein über Ostern. Bielefeld sei eben ein Regenloch, sagte Tante Gertrud. Sie wischte den Boden in der Küche, die nur ein winziges Kippfensterchen hatte, eine bessere Schießscharte.
Onkel Edgar war unterm Dach am Wirtschaften. Da regnete es durch, denn die Dachdecker hatten geschlampt. »Ein zweites Mal lasse ich diese Brüder nicht über meine Schwelle«, sagte er. Do it yourself, das sei das einzig Wahre. »Ich bin doch nicht mit dem Klammerbeutel gepudert. Im Gegentum!« Selbst sei der Mann, mit Geduld und Spucke.
Im Keller stand eine Tischtennisplatte, leider unbrauchbar, weil der Keller genauso vollgepremmst war wie die Garage. Rohre, Stangen, Balken, Schläuche, Dachpfannen, Originalverpackungen von Küchengeräten und Gartenwerkzeugen, ausgehängte Türen, alte Autoteile und mittendurch eine Schneise, in der man sich ducken und verrenken mußte, um weiterzukommen. Über Türme aus Backsteinen steigen oder quer gehen und den Bauch einziehen, wenn in einem Stapel was überstand.
Bodo und ich spielten Mikado, auf dem harten Sisalteppich in Bodos Zimmer. Oder wir trugen im Flur eine Rallye aus, auf zwei Schreibtischstühlen mit Rollen, bis Tante Gertrud uns das verbot, weil die Fußbodenleisten Schrammen abbekommen hatten.
Horst saß oft am Klavier. Er konnte Nocturnes von Chopin, auch mit zugehaltenen Augen. Stücke mit Kreuzen und b’s ohne Ende, in H-Dur, Des-Dur, Fis-Dur und cis-moll. Oder Kinderszenen von Robert Schumann: Von fremden Ländern, Bittendes Kind und Träumerei. Das tollste war, daß Horst sich beim Klavierspielen auch ausdenken konnte, was er spielte, und dazu noch aus dem Stegreif Texte singen, die sich reimten: »Liebes Blümelein im Garten, nach der Winterszeit, der harten, mußt du nicht mehr länger warten, denn gleich komm ich mit dem Spaten, und du kriegst eins draufgebraten!«
Einmal kuckte ich durchs Schlüsselloch, als Horst in seinem Zimmer meditierte. Da saß er, unter seiner Decke. Schon seit Stunden. Ich machte leise die Tür auf, ging zu ihm hin und stupste seinen Kopf an.
Nichts. Der befand sich in einer anderen Welt.
Am Abend nahm er mich ins Gebet: Er hätte sterben können, als ich ihn angestupst hatte! Beim Meditieren weile seine Seele außerhalb des Körpers. Das Betreten-verboten-Schild hänge da nicht umsonst!
Mit den Büchern in der Wohnzimmerschrankwand war nicht viel anzufangen. Götter, Gräber und Gelehrte, Biblisches Lesebuch oder Julius Schniewind: Die Freude der Buße. Viel Vergnügen.
Das Bücherregal in Bodos Zimmer hatte Schlagseite. Was ist was: Unsere Erde, Reptilien und Amphibien, Entdecker und ihre Reisen.
Und die Asterixhefte. Wie Obelix die Römer vermöbelt. Oder wie er sich in Falballa verknallt und nicht mehr sprechen kann: Wkrstksft! Und die Piraten, die von Asterix und Obelix jedesmal eins auf die Mütze kriegen. Die Galee’e kommt di’ekt auf uns zu! Methusalix, Stupidix und Schweineschmalzix. Fix und Foxi konnte man vergessen dagegen.
Einmal ließ der Regen nach, und wir übten mit Bodos Bogen im Garten Pfeilschießen auf eine Zielscheibe, die an einer der Birken hing, aber dann gab’s Essen, Buttermilchauflauf mit Rosinen, und als wir damit fertig waren, hatte der Regen wieder angefangen.
Vorm Einschlafen erzählte Bodo mir von der Tarzanschlinge im Wald, einer Liane, neben der er einmal ein Mädchen aus seiner Klasse geküßt hatte oder jedenfalls fast.
Dann zankten wir uns darum, wie Robinson Crusoe ausgeht. Ich wußte genau, daß Robinson überlebt und gerettet wird von der Insel, aber Bodo behauptete steif und fest, Robinson werde von einem Pfeil getroffen und gehe drauf.
Am Morgen zeigte Bodo mir die Stelle in seinem Buch, und da stand schwarz auf weiß, wie Robinson ums Leben kommt. Es war auch eine Zeichnung drin, wie er den tödlichen Pfeil in die Brust kriegt. In meinem Buch ging die Geschichte anders aus. Auch in dem Film, den ich gesehen hatte. Was für ein Beschiß.
Für die Jugend bearbeitet, stand vorne in Bodos Buch.
Streit gab es auch um das Perpetuum mobile in Jim Knopf und die Wilde 13. Das funktioniere nicht, sagte Tante Gertrud.
»Und warum nicht?«
»Das funktioniert eben nicht.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil es ein Perpetuum mobile nicht geben kann, darum nicht!«
Tolle Antwort.
Erst Horst machte sich die Mühe, mir den Denkfehler zu erklären: Wenn die vorne hängenden Magneten die Lokomotive anzogen, zog die Lok auch die Magneten an, statt sich zu bewegen. Das verstand ich, aber jetzt ärgerte ich mich über Michael Ende. Hätte der sich das nicht denken können?
Als einmal die Sonne schien, stromerten Bodo und ich durch den Wald. Da gab es eine Schlucht, die viel tiefer war als die im Wambachtal. Eigentlich war auch die Schlucht auf der Horchheimer Höhe nur Mickerkram.
Unten war eine Pfütze, so groß wie ein halber See. Wir versuchten, ein Floß zu bauen, wobei wir uns nasse Füße holten. Kwuutsch, kwuutsch, machte das Wasser in den Schuhen beim Gehen.
An einem warmen Tag unternahmen Onkel Edgar, Tante Gertrud, Bodo und ich eine Wanderung. Horst meditierte wieder.
Im Teutoburger Wald waren scharenweise andere Wanderer unterwegs, mit Kind und Kegel und mit Hunden, die den Schwanz so hielten, daß man ihnen genau ins Arschloch kucken mußte.
Auf Schusters Rappen. Onkel Edgar trug den Rucksack mit Knäckebroten und vier Äpfeln, für jeden einen. Unseren Durst könnten wir an Brunnen stillen, hatte Tante Gertrud gesagt, aber bis wir den ersten Brunnen gefunden hatten, waren zwei Stunden um.
Klares, frisches Wasser sei doch das köstlichste Getränk auf Erden, sagte Onkel Edgar. Ich hätte aber auch nichts gegen einen Fantabrunnen gehabt. Tante Gertrud nahm nur einen kleinen Schluck, um nicht zu müssen, bevor wir zurück waren.
Mittags kamen wir auf einem Bergkamm an, und es war heiß, aber Onkel Edgar wollte nicht Rast machen. Wer raste, der roste, und die Äpfel könnten wir auch im Gehen essen. Das Knäckebrot war schon alle.
Meinen Apfel sollte ich abnagen bis zum Kerngehäuse. Die Kriegsgefangenen hätten sich auf so einen Apfelgriebsch gestürzt wie auf eine Delikatesse, sagte Onkel Edgar.
Griebsch? Bei uns hieß das Grütz.
Wann wir wieder an einem Brunnen vorbeikämen, wollte ich wissen, und Tante Gertrud sagte, es sei nicht mehr weit bis nachhause, aber dann waren es doch noch drei oder vier Kilometer.
Auf dem letzten Stück Weg fand ich eine Colaflasche, in der noch was drin war. Die lehnte an einem Baum, und ich wollte sie aussaufen, aber Tante Gertrud verbot mir das. Da könne einer reingepinkelt haben. Schlechte Menschen brächten sowas fertig.
An meinem Geburtstag fuhren wir in die Innenstadt, und ich durfte mir eine Single aussuchen. »Ruhig auch was Klassisches«, sagte Tante Gertrud, aber ich wollte nichts Klassisches. Ich suchte mir Block Buster aus von Sweet und kriegte auch noch das Buch Rätsel um die grüne Hand und ein kackbraunes Hemd mit weißen Punkten.
Ein einziges Mal durfte ich Block Buster im Wohnzimmer hören, dann war Schluß mit lustig. »Verglichen damit klingt meine Schleifmaschine wie ein Kammerorchester«, sagte Onkel Edgar.
Als er mit Tante Gertrud zum Kirchenchor gefahren war und Horst meditierte, legte ich dann doch wieder Block Buster auf. Aus einem Regalfach suchte Bodo zwei Mikrofone raus, und wir tanzten trällernd damit durchs Wohnzimmer, bis das Deckenlicht anging und Tante Gertrud dastand und schimpfte. Ihr Vertrauen auszunutzen und Schindluder zu treiben mit der Stereoanlage, das hätte sie nicht von uns gedacht!
Wir verschwanden eiligst von der Bildfläche.
Im Zug nach Koblenz las ich Rätsel um die grüne Hand. Da dachte sich Stubs im Zug eine Lügengeschichte aus, daß er einer Atombombenverschwörung zum Opfer gefallen sei und von einer internationalen Bande verfolgt werde, der grünen Hand. Der alte Mann, dem er das erzählte, glaubte ihm jedes Wort und war erschüttert, aber dann steckte Stubs in der Klemme, weil sich rausstellte, daß der alte Mann sein Großonkel Johann war, und noch mehr, als ein mysteriöser grüner Handschuh auftauchte.
Mir passierte sowas nie. Wenn ich mal in der Klemme steckte, dann wegen schlechter Noten und nie wegen einer Atombombenverschwörung.
Von meinen nachgereichten Geburtstagsgeschenken waren die besten eine blaue Zottelweste von Renate und von Tante Dagmar die Single Diplomatenjagd von Reinhard Mey: Selbst den klapprigen Ahnherrn von Kieselknirsch trägt man mit der Trage mit auf die Pirsch.
Auf der Fensterbank stand noch der Osterstrauch mit gelben Stoffküken und lackierten Holzeiern.
Papa war nach Meppen versetzt worden, hatte sich da zwei Zimmer mit Bad gemietet und kam nur noch am Wochenende nachhause. »Und dafür haben wir hier nun gebaut«, sagte Mama. Das sei doch hirnrissig.
In meinem eigenen Robinson-Crusoe-Buch stand vorne das gleiche wie in dem von Bodo: Für die Jugend bearbeitet. Dann wußte also keiner von uns, wie die Geschichte wirklich ausgegangen war. Wozu mußten Abenteuerbücher überhaupt für die Jugend bearbeitet werden? Konnte man die nicht lassen, wie sie waren?
Ich übte viel Klavier, auch ohne Klavier, in der Schule, auf der Ablagefläche unter der Tischplatte, bis die Niedergesäß mir das verbot. Unterarsch hieß die bei uns.
Im Gewa kaufte ich mir ein Notenheft für eigene Kompositionen. Sonatinen von Schlosser. Das machte sich gut auf dem Umschlag.
In Mamas Konzertführer standen Notenbeispiele wie Sand am Meer, und ich dachte daran, die abzuschreiben, hintereinander weg, und dann so zu tun, als ob die Musik auf meinem eigenen Mist gewachsen sei. Nicht einmal ein Musikprofessor hätte gemerkt, daß das alles aus dem Konzertführer stammte, aber dann war ich doch zu faul, eine Million Halbnoten und Viertelnoten und Pausenzeichen zu übertragen und den ganzen anderen Kram. Andante molto mosso, Adagio assai und Allegretto scherzando.
Renate hatte wieder ein Elaborat von Alec erhalten. Darin kündigte er mit großem Tamtam seinen Deutschlandbesuch an und wollte wissen, ob er zweimal bei uns übernachten dürfe.
Zu Renates Entsetzen war Mama einverstanden. Den Einwand, daß Alec balla-balla sei und aussehe wie Klein-Doofi mit Plüschohren, ließ sie nicht gelten. »Stell dich nicht so an«, sagte sie zu Renate, und dann mußte Wiebke für Alec ihr Zimmer räumen und kam in meins.
Auf Mamas Geheiß mußte Renate Alec alle Sehenswürdigkeiten zeigen. Deutsches Eck, Kastorkirche, Schängelbrunnen und die Festung Ehrenbreitstein.
Abends wurde im Wohnzimmer Konversation gemacht. Eine Schönheit war Alec nicht, mit seinen gelben Hauern und den Hängeschultern, und er stellte seine Schuhspitzen immer nach außen. Die reinste Vogelscheuche.
Volker und ich sollten auch mal was sagen, um unser Englisch aufzupolieren.
»I am learning English at … was heißt Eichendorff-Gymnasium?«
»At school«, sagte Mama.
»At school«, sagte ich.
»Oh, do you?« fragte Alec und schielte zu Renate rüber, spitz wie Nachbars Lumpi. »Since when?«
»Since … was heißt seit letztem Jahr?«
»Since last year«, sagte Mama.
»Since last year«, sagte ich.
»Oh, good«, sagte Alec, und dann steckten wir wieder fest.
Für Sonntag hatte Renate sich ihren alten Freund Jochen ins Schwimmbad bestellt, um Alec eine Lektion zu erteilen. Das wollte ich sehen.
Jochen ließ sich wie aus Zufall ganz in unserer Nähe auf der Wiese nieder und winkte. Renate ging zu ihm hin, und dann fingen die beiden hemmungslos an zu knutschen und sich abzuschlecken; erst im Sitzen, dann im Liegen. Jochen hatte einen Sauerkohl wie Peter Ehlebracht von Insterburg & Co. und mordsmäßig breite Schultern.
Alec machte Stielaugen. Abends ging er früh schlafen, und als Mama ihn wecken wollte, war er spurlos verschwunden.
Papa hatte zehn Tage lang dienstlich in Ottobrunn zu tun, und in dieser Zeit stellte Mama einen Handwerker für die restlichen Terrassenarbeiten an. »Sonst wird das ja niemals was!« Wenn Papa deswegen Theater mache, nehme sie das auf ihre Kappe. »Der wird mir schon nicht den Kopf abreißen, der wird selbst ganz froh sein, wenn das fertig ist.«
Dann setzte sie Gladiolenzwiebeln, bis die Sonne unterging.
Seit einer Party bei Mareike hatte Renate einen Fimmel für Olaf, einen Juso, der am Eichendorff die Oberprima besuchte und in der Schubertstraße wohnte. Der holte Renate jetzt immer zum Spazierengehen ab. Blonde Haare, blaue Augen, rank und schlank und SPD. In der großen Pause ging er meistens einen heben im Posthorn in der Casinostraße. Er rief oft an, und Papa moserte über Renate und ihren süßholzraspelnden Filz, wenn sie das Telefon zu lange blockierte.
Olaf hatte keinen Schulranzen, sondern nur ein Buch und ein paar Hefte in der Hand, wenn er morgens an der Haltestelle stand. Das hätte mir auch gefallen. Oder die Schulsachen zum Bündel geschnürt an einer Strippe über der Schulter zu tragen wie Tom Sawyer, aber als ich einmal so losziehen wollte, kriegte Mama mich am Kanthaken zu fassen. Ob ich übergeschnappt sei.
Im Hobbyraum spielten Renate und Olaf vierhändig Klavier. Nicht so brillant wie Marek und Vacek, aber ganz gut, und dann gingen sie zum Kaffeetrinken in Renates Zimmer.
Nach einer halben Stunde schickte Mama mich zum Spionieren hoch, nach der alten Masche: »Frag mal, ob die noch Büchsenmilch brauchen.«
Platten hörten sie. El Condor Pasa.
Renates neuer Eumel war auch Redakteur bei einer Schülerzeitung, und er machte bei einer Verkehrszählung mit. Vom Bus aus konnte man ihn sehen, wie er auf einem Klappstuhl vorne an der Rheinbrücke saß und eine Strichliste führte.
Wenn ich in den Sommerferien in Spanien schwimmen können wollte, mußte ich mich ranhalten. So langsam war ich auch zu groß fürs Nichtschwimmerbecken. »Da gondelt zuviel Kinderpisse drin rum«, sagte Michael Gerlach, und wir wagten uns ins tiefe Becken, obwohl ich nur fünf Züge konnte und Michael nur Hundekraulen.
Wir übten am Rand und hielten uns fest, wenn uns die Kräfte verließen oder wenn irgendein Kotzbrocken im Delphinstil das Wasser aufwühlte, so daß man in den Wellen fast ersoff. Auf das Freischwimmer-Abzeichen legte Michael aber keinen gesteigerten Wert, weil man dafür nach fünfzehn Minuten Brust auch noch vom Einer springen mußte: »Für so ’n Stück Stoff setz ich doch nicht mein Leben aufs Spiel!«
Zur Prüfung kam Renate mit, um mir beizustehen. Sie meldete mich auch beim Bademeister an, aber sie hatte ihre Armbanduhr nicht mit, und als dem Bademeister einfiel, nach mir zu kucken, war ich schon fast eine halbe Stunde lang geschwommen und hatte blaue Lippen.
Dann noch vom Einer. »Nicht lange nachdenken«, sagte Renate. »Loslaufen und hopp!«
Das tat ich dann auch, aber ich hatte vergessen, mir die Nase zuzuhalten, und mir blubberte der Kopf mit Chlorwasser voll.
Mama hatte keine Zeit, mir das Abzeichen auf die Badehose zu nähen, weil Volkers Konfirmation bevorstand und Haus und Garten generalüberholt werden mußten. Papa fegte die Terrasse mit dem Piassababesen, und innen wienerte Mama alles blitzeblank. Beim Staubwischen entdeckte sie im Hobbyraum mein Kompositionsheft. »Sonatinen von Schlosser! Zum Schießen! Und keine einzige Note drin!« Das Heft war meins, und ich wollte es haben, aber Mama wollte es mir nicht geben. »Räum erstmal dein Zimmer auf, dann überleg ich mir, ob ich das hier allen zeige oder nicht!«
Am Pfingstsonntag ging es hektisch zu. Wiebke hatte Geburtstag, und die Gäste waren im Anmarsch: Onkel Walter und Tante Mechthild, Onkel Edgar und Tante Gertrud, Tante Luise und Onkel Immo und ein Rudel Vettern und Kusinen.
Eins, zwei, drei Autos standen vor unserm Haus auf der Straße, mit verschiedenen Stadtkennzeichen: DO, BI und HI.
Wiebke führte ihr Mainzelmännchen-Klebealbum vor. Anton, Berti, Conni, Det und Fritzchen. Und einmal packte Mama mich am Kragen, weil ich ein Kavalier sein und mich nicht vor anderen durch die Tür quetschen sollte.
Für die Konfirmation mußte Volker sich in Schale werfen. Der neue Anzug schlotterte ihm ums Gebein. Dazu ein breiter Streifenschlips aus Papas Beständen.
Mama hielt uns auf Trab. »Dein Haar ist heute auch noch mit keinem Kamm in Berührung gekommen!«
Fünfzig Pfennig kriegte ich für die Kollekte.
Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat. Das war Volkers Konfirmationsspruch. Zusammen mit Volker wurden auch Hansjoachim und Michael Gerlachs Bruder Harald konfirmiert. An der Wand stand:
128 | 1 + 3 |
429 | 1 – 4 |
234 | 1 – 3 |
155 | 1 – 6 |
141 | 1 – 3 |
Konfirmation heiße Befestigung, sagte Pfarrer Liebisch. »So wie ein junger Baum an einem Pfahl befestigt wird, um einen Halt zu haben, wird der junge Mensch in seiner Jugend an Gott befestigt, damit er im ganzen Leben einen Halt an Gott und Jesus Christus hat.«
Psalter und Harfe, wacht auf.
Papa drückte sich wieder vorm Abendmahl, weil er mit dem ganzen Brimborium nichts am Hut haben wollte, und Mama sagte, die Predigt sei ja man ein ziemliches Wischiwaschi gewesen.
Volker kriegte einen Haufen Geld von allen, den er nicht gleich wieder verquansen sollte. Papa nahm das Geld in Verwahrung.
Das beste Geschenk war ein Weltempfänger von Blaupunkt, mit Kopfhörern. Damit saß Volker stundenlang auf der Terrasse und lauschte verzückt den Melodien aus dem Äther.
»Darf ich auch mal?«
»Nein.«
Bodo blieb noch bei uns. Ich wollte ihm das Wambachtal zeigen, aber er kriegte Mumps und mußte Mundspülungen mit Salbeitee über sich ergehen lassen, bis Doktor Kretzschmar herausfand, daß Bodo eine Mandelentzündung hatte. Onkel Edgar kam und holte Bodo ab.
Die arme Sau.
Jetzt wollte ich auch den Fahrtenschwimmer machen. Der Sprung vom Dreier sei kein großer Akt, sagte Renate.
Vor mir war ein Opa dran, der wie ein Irrer wippte und dann einen Köpper machte. Das Sprungbrett hatte graue Schmutzflecken, und es war viel höher, als ich gedacht hatte.
Ich wollte noch warten, bis das Brett nicht mehr zitterte, aber hinter mir nölte ein Muskelprotz: »Na, wird’s bald?«
Ins Wasser fiel ich schief, und die Badehose rutschte mir runter, was hoffentlich keiner gesehen hatte.
Mit dem Fahrtenschwimmer-Abzeichen bewegte ich mich gleich viel mutiger durchs Schwimmbad. Einmal ums Nichtschwimmerbecken gehen, wo die blutigen Anfänger paddelten, oder lässig auf den Steinstufen vorm Sprungturm sitzen. Die Sonne glühte, und wenn ich reich gewesen wäre, hätte ich mir zehn Kilo Eis gekauft.
Michael Gerlach kannte eine Umkleidekabine mit Kucklöchern, durch die man einen Blick auf anderer Leute Podexe und Pimmel erhaschen konnte, was aber nicht ganz ungefährlich war. Es sollte schon vorgekommen sein, daß ein Spanner durch so ein Kuckloch eine Stricknadel ins Auge gerammt gekriegt hatte.
Eines Tages waren die Löcher mit Kaugummi zugeklebt.
Renate übte auf dem Klavier den fröhlichen Landmann, Stunde um Stunde, bis man’s nicht mehr hören konnte. Dideldumm schrumm schrumm, dideldumm schrumm schrumm …
Ich veranstaltete in Renates Zimmer meine eigene Hitparade mit allen Platten, die wir hatten. Auf Platz Eins stand bei mir Block Buster, auf Platz Zwei Diplomatenjagd, auf Platz Drei Harlekin von Danyel Gerard und auf Platz Vier Song of Joy von Miguel Rios.
Auf manchen Singlehüllen waren hinten noch andere Singles abgebildet. Erik Silvester: Zucker im Kaffee. Die hätte man alle haben müssen. Karamba, Karacho, ein Whisky, Karamba, Karacho, ein Gin!
Papa besaß genau zwei Langspielplatten: An American in Moscow und Ja, so san’s, die alten Rittersleut. Auf der sangen die Hot Dogs. Ein Ritter saß am Donnerbalken, in der Rechten seinen Falken. Ein Krach, ein Schrei, dann wurd es leise, ein Ritter wühlt sich aus der Scheiße.
Die andere LP hatte Renate für Papa gekauft, weil da ein Lied mit dem Titel Raskolnikoff drauf war, aber es war das falsche. Papa suchte eins, das er mal irgendwo gehört hatte und von dem er nur den Titel wußte, Raskolnikoff eben, und seitdem hatte Renate die Plattenläden danach durchforsten müssen.
Eine Single von Petra Pascal war dann die richtige gewesen. Da wurde ein Russe namens Raskolnikoff von einem deutschen Mädchen angehimmelt. Auf der Bank schien der Mond auf weißes Papier, da machten wir – Deutschunterricht, und er sagte mir oft, so gern wär er hier, doch ich sah das Heimweh in seinem Gesicht.
Das Ende vom Lied war, daß Raskolnikoff die Mücke machte. Er schrieb mir auf kariertem Papier: Es war Heimweh. Verzeih bitte mir! Dein Raskolnikoff.
Sonst hörte Papa nie Musik, aber Raskolnikoff fand er gut.
An American in Moscow war aber auch nicht ohne. When morning comes, I wonder why you have to go, so sad am I. Ein Neger sang das, mit tiefer Stimme.
An meinem Zeugnis war das beste die Eins in Musik. »Dann ist der Klavierunterricht ja wohl doch nicht nur rausgeschmissenes Geld«, sagte Mama.
Zur Einstimmung auf die Sommerferien hatte Renate sich Asterix in Spanien gekauft. Bald würden wir wissen, ob die da wirklich alle mit Kastagnetten klapperten und »Ayayay!« und »Olé!« schrien.
Wiebke war dafür, den Fernseher mitzunehmen, weil sie auch in Spanien Ferien auf Saltkrokan kucken wollte. Als sie hörte, daß man das da nicht empfangen könne, kriegte sie einen Tobsuchtsanfall. Volker und ich mußten auch auf unsere Lieblingssendungen verzichten, er auf Cannon und ich auf Die Spur des Jim Sonnett, aber Wiebke fing nur immer irrer an zu brüllen, und Mama rief, wir sollten augenblicklich aufhören, Wiebke zu triezen.
Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.
Sachen packen. Strümpfe, Hemden, Unterbüxen, als wichtigstes Utensil die Badehose und zum Lesen alle von Walt Disneys Lustigen Taschenbüchern, aber da machte Mama mir einen Strich durch die Rechnung: »Soweit kommt das noch, daß wir mit Achsenbruch liegenbleiben, bloß weil du zehn Zentner Schundhefte im Gepäck hast!«
Ich wählte Onkel Dagoberts Millionen aus, weil ich das noch nicht so oft gelesen hatte wie die restlichen Taschenbücher.
Volker wusch den Peugeot, und Renate machte trotz Kopfweh Kartoffelsalat.
»Ich möchte ja nur mal wissen, was ich in Spanien verloren hab«, sagte Papa. Da stumpfsinnig in der Sonne zu schmoren, obwohl noch so unendlich viel am Haus zu tun sei. »Und wenn wir wiederkommen, hat sich hier ’ne Hippiekommune eingenistet.«
Für alle Fälle sollten Rautenbergs einen Schlüssel kriegen.
Meine größte Sorge war, daß mir in den drei Wochen ohne Klavierstunde beim Vogel die Finger einrosteten.
Renate aß abends nicht mit. Sie hatte sich mit dickem Hals und Fieber ins Bett gelegt. Ob sie sich das bei Bodo geholt hatte? War Mandelentzündung ansteckend?
»Mach mich nicht schwach«, sagte Mama. Monatelang alles geplant bis ins kleinste und jetzt das. Sie sehe schon unsere ganzen Felle davonschwimmen.
Am Morgen mußte Renate mit Kamillentee gurgeln.
Vom Mallendarer Berg nach Tossa de Mar. Um acht sollte es losgehen. »Alles eingepackt? Auch euer Zahnputzzeug?«
Meine Waschtasche war weg.
»Das heißt nicht was, das heißt wie bitte!«
Um neun stand das Auto immer noch in der Einfahrt, mit uns auf der Rückbank. Renate und Volker an den Fenstern, Wiebke und ich in der Mitte.
Papa ging auf Nummer Sicher, testete den Luftdruck, sah zum hundertsten Mal nach dem Reservereifen und zog die Schrauben am Gepäckträger an. Der saß schon bombenfest, aber Papa sagte, der wackele noch wie ein Lämmerschwanz.
Als wir dann endlich rückwärts auf die Straße setzten, brach der Blinker hinterm Lenkrad ab.
»Es ist doch nicht zu fassen«, sagte Mama. »Ob wir hier wohl noch jemals zu Potte kommen?«
Papa suchte in der Garage nach einem Ersatzblinker. Dann mußte Wiebke aufs Klo. Renate wollte sich nochmal schlafen legen, aber das kam nicht in die Tüte.
Um halb zehn gab Papa die Suche auf und kloppte einen langen Nagel in den Blinkerstumpf.
Wenn die bunten Fahnen wehen, geht die Fahrt wohl übers Meer.
Als wir das erste Mal tanken mußten, stiegen wir alle aus, außer Renate, um uns die Beine zu vertreten. Ich trank Kaba, und als wir wieder losfuhren, purzelte mein ausgetrunkener Becher durchs offene Schiebedach ins Auto. Den hatte ich da oben abgestellt und dann vergessen, weswegen ich für den Rest des Tages der Arsch war.
»Stück ma ’n Rück«, sagte Volker alle paar Sekunden. Können vor Lachen. Weil es so eng war, kriegte ich mich laufend auch mit Wiebke in die Haare, und Mama sagte, wir sollten aufhören, uns zu piesacken. »Ihr raubt mir den letzten Nerv!«
Einmal drehte sich Papa beim Fahren um und tafelte mir eine.
Ohrfeige auf spanisch: Bofetada.
Die einzige, die mich in Ruhe ließ, war Renate. Die hing wie ein Häufchen Elend in ihrer Ecke und lutschte Kräuterbonbons.
Der Kilometerzähler stand auf 99995, und wir wollten sehen, wie er auf die Schnapszahl 99999 und dann auf 100000 umsprang.
Auch mit runtergekurbelten Fenstern war es hinten heiß wie im Backofen. Mama teilte uns Gesöffe aus der blauen Kühltasche zu.
»Zählt doch mal, wer wen öfter überholt, wir die anderen oder die anderen uns«, sagte Papa, und Wiebke und ich zählten eine Weile. Es stand bald 15:3 für uns, aber dann hingen wir hinter einem Vehikel mit angehängtem Wohnwagen fest, das mit gerade mal sechzig Sachen über die Autobahn kroch, und wir kamen nicht daran vorbei, weil die anderen uns nicht auf die Überholspur ließen. Mercedesse mit eingebauter Vorfahrt.
Den Fahrern, die uns überholten, schnitt ich Fratzen, bis Mama das sah. »Schluß mit dem Affentheater!« Ich sei unausstehlich.
Dann stand im Stau ein Anhänger mit zwei Pferden vor uns, und Papa sagte, er hätte lieber mal was anderes vor Augen als diese Pferdepöter.
»Scheiße«, rief Papa, »der Kilometerzähler!« Der stand schon auf 100006.
In Onkel Dagoberts Millionen rechnete ein Roboter aus, daß Onkel Dagoberts Vermögen sich auf genau 5 Billionen, 48 Milliarden, 25 Millionen, 103409 Taler und 65 Kreuzer belief. Wenn er trotzdem Geldsorgen hatte, flennte Onkel Dagobert in eine Tränenschüssel, und wenn er Donald anrief, hoppelte bei dem das Telefon.
In der ersten Geschichte kriegte Donald einen Kunstdünger für Gold in die Hände, wurde reicher als Onkel Dagobert, soff Entenwein und ließ sich ein Schwimmbecken bauen, das man bloß vom Hubschrauber aus in voller Länge sehen konnte. Aber dann löste sich das künstliche Gold in Nichts auf, und Donald war wieder bettelarm.
Nach zwei bunten Seiten kamen immer zwei schwarzweiße, und ich war jedesmal froh, wenn ich die durchhatte und wieder zwei bunte aufschlagen konnte.
In der nächsten Geschichte wurden Donald und die Neffen in Caramba-Romba von Negern gefangengenommen und mit Klößchen aus Heuschrecken und weißen Ameisen gefüttert, und in der übernächsten Geschichte mußte Donald als Hilfszoowärter arbeiten und sich anschnauzen lassen, weil er die Giraffen noch nicht gebürstet hatte.
Mir war der eine Fuß eingeschlafen. Der kribbelte, und als ich das Bein langmachte, sagte Mama: »Kannst du nicht mal fünf Minuten ruhig auf deinen vier Buchstaben sitzen, du Biest?«
Vor der französischen Grenze machten wir Rast. Mama holte den Kartoffelsalat aus der Kühltasche, und Papa wollte, daß wir uns kämmten, damit die Zollbeamten uns nicht für Strauchdiebe hielten und den Peugeot bis in alle Einzelteile zerlegten.
»Mal nicht den Teufel an die Wand«, sagte Mama, und Volker sagte: »Wenn man den Teufel nennt, dann kommt er schon gerennt.«
In Frankreich mußte man für die Autobahn bezahlen, deshalb fuhren wir auf der Landstraße weiter. Immer rauf und runter, wie zwischen Simmern und Neuhäusel. Ich fand das prima, aber Renate wurde es schwummrig davon.
»Wieder so ’n Sonntagsfahrer«, sagte Papa, wenn ihm das Auto vor uns zu langsam war.
Nach Onkel Dagoberts Millionen las ich einen von Mamas Krimis, der sterbenslangweilig war, bis sich zwei verfeindete Schurken in einem Getreidesilo einen Schußwechsel lieferten, aber man konnte sich das nur schlecht vorstellen, wenn man nicht wußte, was ein Getreidesilo war.
Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett.
Papa hatte für die Reise das große Karl-Valentin-Buch gekauft, daraus sollte ich was vorlesen. Der Auerochs, der Auerochs, der aß nicht auf und frug: Wer mogs? Oder das Gespräch mit dem Schutzmann: Wie heißen Sie denn? Wrdlbrmpfd. Wie? Wrdlbrmpfd. Wadlstrumpf? Wr-dl-brmpfd! Redens doch deutlich, brummens nicht immer in ihren Bart hinein. Valentin zieht den Bart herunter: Wrdlbrmpfd. Schutzmann: So ein saublöder Name! Schauns jetzt, daß Sie weiterkommen.
Sie sei bloß froh, wenn die ganze Blase in den Betten liege, sagte Mama und suchte ein Hotel aus, nach zwölf Stunden Fahrt.
Renate konnte gut Französisch, und sie sollte mit dem Portier verhandeln, aber sie wollte nicht, weil sie Fieber hatte, und sie zankte sich mit Mama.
Im Hotelflur stand ein Klavier, und ich wollte was drauf spielen, aber Mama zerrte mich weg. »Untersteh dich!«
Auf dem Klo war kein Becken. Da mußte man in der Hocke in ein dunkles Loch im Boden kacken und aufpassen, daß man sich nicht die Schuhe beferkelte.
Die Nacht verbrachten Volker und ich in einem Doppelbett, das in der Mitte so durchhing, daß wir immer zusammenrollten. Als Zudecke gab es nur ein dünnes Laken, und die Kopfkissen waren platt wie Briefmarken.
Am Frühstückstisch ließ Volker eine Bemerkung über meinen Mundgeruch fallen: »Der Odem wird zum Brodem.« Das machte mir den ganzen Urlaub über zu schaffen, weil immer jemand sagte, daß mein Odem zum Brodem geworden sei.
Vor der Weiterfahrt stellte Volker sich mit einer Baguettestange über der Schulter für ein Foto in Positur.
Kurz vor der spanischen Grenze verirrte sich eine Fliege ins Auto. »Scheucht die bloß raus«, sagte Papa, »sonst verhaften die uns noch, weil wir ’ne französische Fliege entführt haben!«
Mama sagte, daß wir mal aus dem Fenster kucken sollten, aber ich las lieber wieder Onkel Dagoberts Millionen. Renate und Wiebke dösten, und Volker schmökerte in einem von Mamas Krimis: Der Hund trug keine Socken.
»Das hätte mir früher mal einer bieten sollen«, sagte Mama. Für sie sei eine Radtour zum Theater in Oldenburg das höchste der Gefühle gewesen. »Und ihr sitzt da rum und würdigt die Pyrenäen keines Blickes!«
Lang und länger dauerte die Fahrt. Wir wollten das Meer sehen, aber das Meer ließ auf sich warten, und die Sonne ging unter, obwohl die da doch bei Tag und Nacht scheinen sollte. Eviva España.
Wiebke wollte immer wissen, wie weit wir’s noch hätten.
»Ihr könnt einem aber auch ’n Loch in den Bauch fragen«, sagte Mama, auf den Knien eine Landkarte, die sie im Taschenlampenschein studierte. Santa María de Llorell, Punta Porto Pí y Martosa und ob er aber über Oberammergau. Wir hatten uns verfranst. »Himmel, Arsch und Zwirn!«
Papa hielt an und riß Mama die Karte weg.
Renate stöhnte, Volker mußte pinkeln, und Wiebke und ich hatten Hunger.
Wir sollten uns am Riemen reißen, sagte Mama. Ihr hänge selbst der Magen auf halb acht.
Dann war das Meer zu sehen, aber in der Dunkelheit erkannte man nicht viel davon, nur weiße Schaumkronen hier und da. Wir fuhren auf einer gewundenen Küstenstraße weiter, mit Serpentinen, wo es an der einen Seite steil raufging und an der anderen steil runter, ohne Leitplanke.
Den Ferienbungalow fanden wir erst nach Mitternacht. Renate schmiß sich gleich ins Bett. Die kriegte ein Zimmer für sich allein, genau wie Volker, aber Wiebke und ich mußten uns eins teilen. Das hatte man gern. Geschlagene zwei Tage lang hinten in der Mitte sitzen und dann kein eigenes Zimmer kriegen.
Papa machte sich eine Flasche Bier auf und sagte, das könne ja heiter werden, wenn das hier schon nachts so pudelwarm sei.
Auf der Terrasse aßen wir Spiegeleier. Man hörte die Grillen zirpen. Tausende davon. Oder waren das Zikaden?
Mama lobte das Aroma der Luft und bewunderte den Sternenhimmel. Der große Wagen und der kleine Wagen, und dann ging wieder das sattsam bekannte Zwiegespräch zwischen Mama und Wiebke los: »Wiebke, weißt du noch, welches Sternbild du bist?«
»Zwilling.«
»Und Renate?«
»Löwe.«
»Und Volker?«
»Schütze.«
»Und Martin?«
»Martin ist Schwein!«
Das hatte ich mir schon des öfteren anhören müssen.
Die spanischen Brötchen waren Kaventsmänner, doppelt so groß wie die deutschen und nur halb so teuer. In Spanien war alles spottbillig.
Wir frühstückten auf der Terrasse, und Mama machte ein Foto von Wiebke mit Milchbart.
»Was hier fehlt, ist ein Komposthaufen«, sagte Papa. Er hatte kurze Hosen an, aber wenn Papa mal kurze Hosen anhatte, gingen die ihm immer noch fast bis zu den Knien.
Renate war bettlägerig, aber zum Strand wollte sie mitkommen, um Farbe zu kriegen.
Wir fuhren mit dem Peugeot hin und mußten das letzte Stück zu Fuß laufen. Mama achtete darauf, daß wir uns alle mit Sonnenmilch einschmierten. Piz Buin und Delial.
Die Wellen waren gut drei Meter hoch, und die Bucht war knüppelvoll mit Leuten. Spanier, Engländer, Franzosen, Holländer und Deutsche. Mama blies Wiebkes Schwimmärmel auf, und Volker zog die Ausrüstung an, die er sich von dem Geld fürs Peugeotwaschen gekauft hatte: Taucherflossen, Tauchermaske und Schnorchel.
Um in das eisekalte Wasser zu kommen, mußte man sich überwinden, auch wenn draußen noch so große Hitze herrschte.
Am allerbesten war es, auf dem Bauch auf der Luftmatratze liegend in den Wellen zu dümpeln, mit dem Gesicht zum Strand. Dann wußte man nie, wie hoch einen die nächste Welle tragen würde und ob man was abkriegte von der Gischt.
Da, wo man noch stehen konnte, spielten zwei Franzmänner mit einem blauen Niveaball und qualsterten ins Wasser, und ich paddelte von deren Spuckebatzen weg.
Wir eroberten uns einen Stammplatz neben einem Neger, der jeden Tag mit seiner französischen Frau und seinem Mulattenkind an den Strand kam, immer mit zwei Liegestühlen. Beim Aufstellen führte sich die Frau beinahe so dämlich auf wie Rudi Carrell einmal in der Rudi-Carrell-Show.
Papa schwamm weit raus, und als er wiederkam, sagte er, daß er in erster Linie mit schwimmenden Fäkalien Bekanntschaft geschlossen habe. Wegen seiner Operationsnarbe an der Seite sonnte Papa sich nie. Stattdessen lief er im Bademantel rum und machte Fotos. Von Renate eins beim Handstand im Meer, von den Wellen welche und Nahaufnahmen von den Seeigeln an den Felsen.
Der Sand war so heiß, daß man barfuß nicht drüberlaufen konnte. Mittags mußte man im Schatten liegen, wenn man sich keinen Sonnenbrand holen wollte oder einen Hitzschlag oder einen Sonnenstich.
Am Strand waren gute Kletterfelsen. Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen, Bergvagabunden sind wir, ja wir! Bald würde ich mich hier auskennen wie in meiner eigenen Westentasche.
Abends holte Mama gegrillte Hähnchen. Fast geschenkt und superknusprig, aber mit vielzuviel Pfeffer und Salz, praktisch ungenießbar. Davon qualmte einem der Schlund.
Aus einer Zehnliterflasche mit Korbgeflecht becherten Mama und Papa Rotwein, bis Papa sagte, er sei voll bis zur Halskrause.
Der Bungalow hatte Schönheitsfehler. Oft fiel der Strom aus, und durch den Badewannengully quoll Kacke in die Wanne, so daß wir uns lieber mit dem Gartenschlauch auf der Terrasse duschten.
Renate mußte zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt, auf spanisch Otorinilaringoloco. Keine Sonne, kein Sand, kein Salzwasser, riet der Arzt und verschrieb Renate Penicillinkapseln, aber davon kriegte sie rote Quaddeln auf der Haut, weil sie dagegen allergisch war.
Die meiste Zeit verbrachte sie im Bett, und bei Besuchen in ihrem Zimmer mußte man sich bedächtig bewegen, um die Mücken nicht aufzuscheuchen. Sechzehn saßen allein am Lampenschirm.
Die Mücken waren eine große Plage. Um einmal Ruhe zu haben vor denen, kaufte ich mir von meinem Taschengeld eine Dose Mückenspray, machte in Wiebkes und meinem Zimmer das Fenster zu, hielt die Luft an und sprühte nach und nach die ganze Dose leer, und in der Nacht danach war Ruhe im Karton.
Papa knackte Kürbiskerne für die Ameisen, die zwischen dem Garten und einer Verkehrsinsel eine Transportstraße unterhielten. Wo sie verlief, konnte man gut sehen, weil Papa den Ameisen Wattebäusche aufgeladen hatte. Die wurden von den Ameisen bereitwillig von A nach B verfrachtet.
Im Garten wuchsen Korkeichen, Ginster und Pinien. Papa fand auch eine Stabheuschrecke, die vom Geäst, in dem sie sich versteckte, kaum zu unterscheiden war.
Mimikry.
An einem Abend saßen Zigeuner auf der Straße vorm Haus und spielten Gitarre, aber dann kam bald die Polizei und machte dem Spuk ein Ende.
Wenn es nichts anderes zu tun gab, sammelten wir Wörter für das Camel-Filters-Preisausschreiben. Dafür sollte man möglichst viele Wörter aus den Buchstaben C, A, M, E, L, F, I, L, T, E, R und S bilden. Das war leicht. Alm, Amen, Amt, Eile, Elfe, Falter, Film, Leiter, Liter, Mai, Meer, Miete, Reif, Reife, Relief, Samen, Samt, Seife, Talmi, Tee und Trill und was uns sonst noch so einfiel. Papa schlug Stremel vor, aber Mama sagte, das würden die notariellen Aufsichtsheinis nicht akzeptieren. Mit Wörtern, die nicht im Duden stünden, würden wir keinen Blumentopf gewinnen.
Todlangweilig war es im Botanischen Garten. Um Wiebke zu beschäftigen, schlug Mama ihr vor, die Namen der Gewächse von den Schildern abzuschreiben. Dafür nestelte Mama einen Schmierzettel und einen Kuli aus der Handtasche.
Mispeln, Akazien, Feigenkaktus, Papyrus, Passionsblume, Luftnelke, Wasserhyazinthe und Bitterorangenstrauch. Nicht zu vergessen die Bäume: Ölbaum, Eukalyptus, Mandelbäumchen, Granatapfelbaum, Lorbeerbaum, Pfefferbaum, Zitronenbaum, Fächerpalme und Säulenzypresse. Bis Wiebke das alles notiert hatte, waren Jahrmillionen vergangen.
Auf einer Tafel stand ein Gedicht von Goethe. Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?
Papa stiftete jedem von uns ein Eis, das in der Hitze schneller schmolz, als man schlecken konnte, und mir klatschte eine halbe Kugel auf die Erde runter.
Renate zuliebe, die mit ihrer Mandelentzündung nicht ins Wasser durfte, wurde ein Schlauchboot gekauft, damit sie darin herumschippern konnte und auf diese Weise auch was vom Mittelmeer hatte.
Mangels geeigneter Luftpumpen mußten wir das Schlauchboot mit dem Mund aufpusten, wobei einem der Schweiß nur so runterlief. Wiebke machte es falsch, die saugte die durchs Ventil geblasene Luft immer wieder ein.
»Selig sind die geistig Armen«, sagte Volker.
Papa knotete das Schlauchboot mit einem Seil auf dem Dachgepackträger fest, und zwar so, daß an den Seitenfenstern lose Seilenden runterhingen, die beim Fahren festgehalten werden mußten.
Zum Boot gehörten zwei Paddel mit weißen Ruderblättern. Damit paddelte Papa testhalber alleine raus aufs Meer. Als er wieder an Land wollte, ging er mit dem Boot in der Brandung koppheister.
Es war auch mit Luftmatratze schwer, aus dem Wasser zu kommen. Da wurde man von den Brechern durch die Mangel gedreht, wenn man den falschen Moment erwischte.
Für den Ausflug nach Barcelona bügelte Renate ihre gelbe Trompetenhose. Volker zog sein Hemd mit Leopardenfellmuster an und fummelte einen Gürtel mit Löwenkopfschnalle durch die Jeansschlaufen.
In Barcelona konnte man mitten auf der Straße Affen kaufen, die in ihren viel zu kleinen Käfigen nicht mal genug Platz hatten, um sich umzudrehen. Meterhohe Käfigstapel standen da, und drinnen kauerten die Äffchen. Die Händler würden das absichtlich so machen, sagte Mama, damit man Mitleid kriege mit den armen Tieren.
»Das ist ja raffitückisch«, sagte Volker.
El Corte Inglès hieß ein Geschäft. Der kurze Engländer.
An der Kolumbus-Säule fütterte Wiebke die Tauben mit Brötchenkrümeln, und Mama schoß Fotos von uns allen.
Volker und ich kriegten jeder ein Plakat. Die konnte man sich in Barcelona drucken lassen, und dann stand da drauf, daß Volker ein Autorennfahrer sei und ich ein Stierkämpfer, allerdings nur auf spanisch.
Im Zoo saß gleich am Eingang ein angeketteter Papagei auf einer Stange und hackte mir mit dem Schnabel in die Hand, als ich ihn streicheln wollte.
Fast noch mieser waren die Flamingos. Im Zoo wollte man doch Affen und Löwen und Elefanten sehen und nicht so ’n Kroppzeug. Wenn schon Vögel, dann Aasgeier oder Adler.
Der Zoo hatte ein weißes Kamel, aber weil es keinen zweiten Höcker hatte, war es ein Dromedar. Volker bildete sich mächtig was darauf ein, daß er das wußte. Ob ich Tomaten auf den Augen hätte. »Das sieht doch ’n Blinder mit Krückstock, daß das kein Kamel ist!«
Papa fotografierte ein Zebra, das sich im Liegen am Kniegelenk leckte.
Ich wollte zu den Schimpansen, aber die machten gerade Siesta in ihrem Betongehege. Wenigstens in dem aufgehängten Autoreifen hätten sie ja mal schaukeln können.
Am Ausgang kaufte ich mir eine kleine Schatztruhe aus Holz und einen Pappstier. Dafür hatten meine paar Peseten eben noch gereicht.
Zum Stierkampf wollte Mama nicht und auch nicht zu der Kirmes, die in Barcelona das ganze Jahr über geöffnet hatte. Da hätte ich endlich mal Achterbahn fahren können, aber nein: »Für solche Extravaganzen haben wir jetzt keine Zeit mehr.«
Als Volker dann noch angeberisch mit dem neuen Kescher rumfuchtelte, den Papa ihm gekauft hatte, kriegte ich die Wut. Dem Schweinehund Volker, der die ganze Hinfahrt über am Fenster gesessen hatte, wurde ein Kescher nachgeschmissen, und ich durfte nicht mal Achterbahn fahren.
Die Luft anhalten, so wie Pepe in Asterix in Spanien, bis die Erwachsenen alles stehen- und liegenließen und zu Kreuze krochen vor einem.
Mama sagte, ich sei ein oller Quengelpott, aber dann kaufte sie mir auch einen Kescher, damit es nicht noch weiter böses Blut gab zwischen Volker und mir.
Zum Essen gingen wir in ein Restaurant. Der einzige freie Tisch war der neben der Klotür, und es wurden klotzige Preise verlangt für spanische Verhältnisse.
»Umsonst ist der Tod«, sagte Mama. Das teuerste beim Essengehen seien immer die Getränke, deshalb bestellten wir nur Paella für alle.
Sowas Leckeres hatte ich noch nie gegessen. Paella war viel besser als die spanischen Salzhähnchen. Ich aß meinen Teller freiwillig leer, wischte mit den letzten Reiskörnern den Rest von der Soße auf und war pappsatt.
»Fräsack da onten.«
Die Paella habe wie Tapetenkleister geschmeckt, sagte Papa. Er gebe aber zu, daß ihm eine gerechte Beurteilung der Qualität der servierten Lebensmittel aufgrund der Ausdünstungen aus dem stillen Örtchen nicht möglich sei.
»Nun hör aber mal auf, an allem und jedem rumzumäkeln«, sagte Mama. »Wir gehen doch nun wirklich nur alle Jubeljahre mal auswärts essen.«
»Gottseidank«, sagte Papa.
Mit den Keschern fingen Volker und ich keinen einzigen Fisch. Ganze Schwärme sah man da schwimmen, mit großen Oschis zum Teil, aber die Viecher waren zu flink.
Er wollte fangen einen Barsch, das Wasser ging ihm bis zum Knie.
Papa sagte, wenn man das nicht von der Pike auf gelernt habe, brauche man sich keinen Hoffnungen hinzugeben auf etwelches Anglerglück. Etwelches, was war denn das für ’n Wort?
Am letzten Abend fing Papa an, den Kofferraum mit Gepäck vollzuladen, und Mama bereitete aus Zitronen, Apfelsinen, Äpfeln, Pfirsichen, Rotwein, Puderzucker, Eiswürfeln, Schnaps und Mineralwasser eine Sangria zu.
Das sei ja ’ne ziemliche Plempe, sagte Papa, als wir auf der Terrasse saßen, und dann fiel wieder der Strom aus. Kurzschluß in der gesamten Siedlung.
Irgendwo hörte man einen schreien: »Scheißspanien! Morgen fahren wir nachhause!« Darüber mußte Papa so lachen, daß er sich Sangria aufs Hemd kippte.
Um die kühleren Stunden auszunutzen, wollte Mama spätestens um sieben Uhr morgens losfahren. Schon beim Anziehen mußten wir auf die Tube drücken.
Renate suchte überall nach ihrer Bürste. »Die kann sich doch nicht in Wohlgefallen aufgelöst haben!« sagte Mama und marschierte durch die Zimmer. »Da liegen ja noch eure ganzen Plünnen!«
Wir sollten in die Gänge kommen.
Startklar waren wir erst um halb elf, weil Papa noch so lange am Dachgepäck herumzuprüttjern gehabt und eine Dreiviertelstunde hustend auf dem Klo verbracht hatte.
Vor einer Baustelle steckten wir im Stau fest. Im Peugeot herrschte eine Affenhitze. »Da wird man ja rammdösig«, sagte Papa.
Wiebke weinte und durfte vorne auf Mamas Schoß sitzen, aber das war auch keine Dauerlösung. »Nehmt mir mal diesen Heizofen ab«, sagte Mama und reichte uns die schweißnasse Schwester zurück nach hinten.
Schlimm waren auch deutsche Autofahrer mit Hut.
Cuiseaux hieß der Ort und Hotel du Commerce das Hotel, wo wir uns einquartierten. Da waren die Hauswände von Efeu überwuchert, was gut aussah, aber Mama meinte, durch solches Gestrüpp kämen bloß Käfer und Spinnen ins Haus.
Wir kriegten Limo und Pommfritz. Weniger gut war, daß es wieder nur ein Lochklo gab.
Am zweiten Rückreisetag ging es Renate so miserabel, daß sie sich quer hinter Wiebke und mir und Volker auf die Rückbank legte. Wenn wir pupen mußten, sollten wir Renate warnen.
Pupen mußten wir unzählige Male. Nach einem besonders üblen Furz von mir kurbelte Papa sein Fenster runter und rief: »Da kriegt man ja das kalte Kotzen!«
Jedes Böhnchen gibt ein Tönchen.
»Man soll nicht immer von sich auf andere schließen«, sagte Volker, wenn er selbst einen ziehengelassen hatte. »Wer’s als erster hat gerochen, dem ist’s hinten rausgekrochen.«
Haha. Selten so gelacht.
»Könnt ihr nicht mal aufhören, euch zu kabbeln?« fragte Mama. »Und mein Nervenkostüm zu strapazieren?«
Zuhause stank’s wahrscheinlich total, da war ja drei Wochen lang nicht gelüftet worden. Ich wollte mit angehaltenem Atem in alle Zimmer rennen, die Fenster aufreißen und Durchzug machen, aber Mama hielt mich am Arm fest. »Benimm dich gefälligst!«
Mein Stierkampfplakat hängte ich neben dem Kleiderschrank an die Wand, über die Siegerurkunde von den Bundesjugendspielen im Stadion Oberwerth. Oder lieber an die Tür?
»Das kannst du halten wie ’n Dachdecker«, sagte Mama.
Im Krankenhaus kriegte Renate die Mandeln raus. Da machte ihr Olaf seine Aufwartung. Das war er seiner neuen Flamme ja wohl auch schuldig.
Massaker in Mosambik. Im Stern waren Fotos davon, aber Mama klebte die Seiten mit Uhu zu und sagte, wir würden nie wieder Taschengeld kriegen, wenn wir es wagen sollten, die aufzupulen.
Im Falle eines Falles klebt Uhu wirklich alles.
Ich zeigte Michael Gerlach meinen Stier, die Schatzkiste und das Plakat, und er sagte, daß er von sowas nur träumen könne. Mit seinen Eltern und drei von seinen fünf Geschwistern war er in den Ferien nur bei seiner Oma in Ransbach-Baumbach gewesen.
Dafür hatte er im Wambachtal eine Hütte entdeckt, die wie geschaffen war für unsere Zwecke, und noch eine andere, in der außer leeren Underbergflaschen und einer siffigen Matratze auch Werkzeug rumlag. Hämmer und Zangen und Schrauben und Nägel, die wir uns in die Taschen stopften, um die Beute zu unserer neuen Hütte zu schleppen, wie Ahörnchen und Behörnchen den Vorrat für den Winterschlaf.
Auf dem Weg begegneten wir einem Mann mit Schäferhund. Daß wir was in den Taschen hatten, war nicht zu übersehen. Wenn das der war, dem das Werkzeug gehörte, hetzte der vielleicht noch seinen Hund auf uns, und wir gingen schneller.
Wo wir unseren Staudamm gebaut hatten, lag ein rostiger Gasherd im Wambach. »Tjaja, die Leutchen«, sagte Michael.
Die Hütte wollten wir uns wohnlich einrichten. Da stand auch schon ein Stuhl drin, mit angekokelten Beinen.
In einer Ecke fanden wir ein Heft: Prinz Eisenschwanz. Darin wurde von den Schicksalen eines Prinzen berichtet, der soviele Frauen gevögelt hatte, daß er nach seinem Tod in eine Brunnenfigur verzaubert worden war, mit einem ewiglich sprudelnden Schwanz aus Eisen.
Ein Pferd, das auf der Anhöhe hinterm Attila mutterseelenallein in der Koppel stand, fütterten wir mit Grasbüscheln. Ich stieß mit einem Stock den Pferdepimmel an, was sich das Pferd auch gefallen ließ, und mit einemmal verlängerte sich der Pimmel bis fast zum Boden. Vor Schreck ließ ich den Stock fallen, weil ich dachte, ich hätte was demoliert an dem Pferd. Aber das machte nur große Augen und blieb wie angewurzelt stehen.
Auf dem Rückweg machte Qualle sich vor uns breit, das Arschgesicht vom Dienst, und fing an, mit Steinen nach uns zu werfen. Das Revier hier sei seins, und wir sollten uns dünnemachen.
Wir warfen die Steine zurück, bis Qualle mich am Kopf traf. Es tat nicht weh, aber ich blutete wie ein abgestochenes Schwein. Das sehe böse aus, sagte Michael. Wenn er ich wäre, würde er schnurstracks heimgehen und sich verarzten lassen.
Als Qualle das viele Blut sah, rief er, das sei doch alles nur Spaß gewesen. Das fand ich gut. Der sollte ruhig ein schlechtes Gewissen haben, der alte Schubiack.
Zuhause kuckte ich mich im Garderobenspiegel an. Ich sah gemeingefährlich aus. Kopf und Hals, Hände und Hemd und Hose, alles war voller Blut.
Ich öffnete die Wohnzimmertür, ging aber noch nicht rein.
»Mama?«
»Hier bei der Arbeit!« rief sie, weil sie das immer rief, auch wenn sie nur im Sessel saß und den Spiegel las.
»Ich komm jetzt gleich rein, aber du darfst dich nicht erschrecken.«
»Und wieso sollte ich das?«
»Weil ich was abgekriegt hab.«
Das glaubte sie mir nicht. »Jetzt mach nicht so ’n langes Gewese, komm einfach rein!«
Ich kam rein, und Mama sprang vom Sofa hoch. »Ogottogott!«
Ich kriegte einen Kopfverband.
Was war besser, nett zu sein wie der Bastian in der einen Fernsehserie oder stark wie der Seewolf? Mit Zeitgenossen wie Qualle und dem Ventilmops wäre der Seewolf leichter fertig geworden als der Bastian, aber ich hätte auch keinen Bock darauf gehabt, pausenlos die Besatzung zu schurigeln und notgedrungen kein Fernsehen kucken zu können in der Robbenjagdsaison. Gepfiffen hätte ich auf Kinderkram wie Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt, aber nicht auf Jim Sonett, Skippy, Lassie und Klimbim.
An ihrem siebzehnten Geburtstag, der auf den letzten Sommerferientag fiel, ließ sich Renate auf dem Rasen mit Jeansjacke, Minirock, Clogs und über der Schulter hängender Patchworktasche knipsen.
Volker saß auf der Terrasse und obduzierte sein Kofferradio. Widerstand und Ohm. Wiebke hüpfte durch den Wasserschleier aus dem tickenden Rasensprenger.
Meine Olympiamünze war inzwischen vielleicht schon mehr als zehn Mark wert. Eine Kapitalanlage fürs Leben. Oder sollte ich die doch lieber verscherbeln?
Zu Beginn des neuen Schuljahrs suchte ich mir einen Platz ganz hinten im Klassenzimmer, wie Mama es mir geraten hatte. Alles schön vor einem haben und den Paukern nicht vor der Nase rumsitzen.
Geschichte hatten wir bei einem backenbärtigen Stöpsel, der uns was von Romulus und Remus vorstotterte. Daß die als Säuglinge an den Zitzen einer Wölfin genuckelt und dadurch Rom begründet hätten. Patrizier und Plebejer. Und daß auch Koblenz einmal eine Römerstadt gewesen sei, Confluentes geheißen, weil hier bereits in der Antike Rhein und Mosel zusammengeflossen seien. Daher der Name Kowelenz oder hochdeutsch Koblenz.
In Deutsch nahmen wir ein Micky-Maus-Heft durch. Kater Karlo war da in Aktion zu sehen gegen Micky. Willi Dickhut meldete sich und sagte, daß in einem Bild die Schatten der Figuren in verschiedene Richtungen fielen. Willi Dickhut war oft schwer von Begriff, aber das mit den Schatten stimmte. Da wurde man ja nach Strich und Faden verscheißert. Ich nahm mir vor, bei Comics jetzt immer auf die Schatten zu achten, wohin die fielen.
Dienstags war Erdkunde. Rotes Karo für Kupfererz, oranges für Zinn, grünes für Nickel, gelbes für Gold, blaue Flecken für Buntmetallverhüttung und braune Kreise für Aluminiumindustrie. In den Aralsee hatte Volker Hammer und Sichel gepinselt, und die Asienkarte zum Ausklappen war abgerissen.
Im Physikhörsaal hatte ich mich auf einen Platz ganz hinten oben gepflanzt, wo man Ruhe hatte vor dem alten Lehrerquatschkopf vorne unten an der Tafel. Chemie ist das, was knallt und stinkt, Physik ist das, was nie gelingt. Die Tischplatte war mit Galgen und Hakenkreuzen beschmiert.
Heil Hitler, du geile Ficksau!
Ich spielte Schiffeversenken mit Boris Kowalewski.
»C 3?«
»Treffer.«
»C 4?«
»Treffer.«
»C 5?«
»Versenkt!«
Um die Ecke gebaute Schiffe waren nicht so leicht abzuschießen.
Der allerletzte Kack war Mathe. Teilerketten und Primfaktoren. Verkettet man einen Stauchoperator und einen Streckoperator, so erhält man einen Bruchoperator.
In Bio brachte der Engelhardt uns was über die inneren Organe bei. Schmeil: Der Mensch. Rote Muskelstränge und leere Augenhöhlen. Der Engelhardt pflückte nacheinander Lungenflügel, Niere, Magen, Leber, Herz und Milz aus einem Rumpf, der auf dem Pult stand. Wie die Speiseröhre arbeitet. Ob wir glaubten, daß Gegessenes aufgrund der Schwerkraft in den Magen falle. Wir durften darüber abstimmen, ob man im Kopfstand was essen könne. Die Mehrheit war dagegen. Ich enthielt mich der Stimme. Dann futterte Boris Kowalewski im Kopfstand einen Marsriegel auf, den der Engelhardt mitgebracht hatte. Es sei ein Trugschluß, sich die Speiseröhre als Fallrohr vorzustellen.
In den Pausen war es üblich, Brötchentüten aufzupusten und dann möglichst nah am Lauschorgan eines Mitschülers zerknallen zu lassen.
In Musik nahmen wir die Synkope durch.
Einem Münzhändler in der Altstadt bot ich meine Olympiamünze wie Sauerbier an und erhielt elf Mark dafür.
Ich kaufte mir ein MAD-Heft. Alfred E. Neumann mit seiner Zahnlücke. Auf einer Seite war zu sehen, wie Don Martin nach einer gewaltigen Mahlzeit mit einem Rülpser einen Vogel zum Absturz brachte.
Ich zeigte Papa das Heft, aber er sagte, das tauge nicht viel.
Von Frau Mittendorf bekam Mama zum Geburtstag eine Anthurie überreicht. Die fühlte sich an wie aus Plastik, war aber echt.
Von Papa hatte Mama einen Servierwagen gekriegt, einen Leifheit Regulus, den man zusammenklappen konnte.
Rautenbergs hatten Mama Weinbrandbohnen geschenkt, an denen man fast erstickte, wenn man die zerbiß.
Rhein in Flammen war ein Feuerwerk, das man vom Hang hinter der Kaiser-Friedrich-Höhe aus gut beobachten konnte. Renate war mit ihren Typen irgendwo zelten, aber Mama, Papa, Volker, Wiebke und ich fuhren alle Mann hin zu Rhein in Flammen. Die meisten Leute hatten sich Besäufnisse mitgebracht und pißten mitten in die Landschaft.
Manche Lichter sahen wie riesige rote und blaue Pusteblumen aus. Den Knall hörte man immer erst eine Weile später.
Klavier übte ich jetzt wie ein Besessener. Ich wollte so gut werden wie Elly Ney, die für den Vogel das Nonplusultra war. An der Saale hellem Strande. Schade, daß wir keinen Flügel hatten. Oder gleich einen ganz Schrank voll mit Flügeln, wie Schröder von den Peanuts.
Engelbert Humperdinck, so hätte ich nicht heißen wollen.
Einmal durfte ich in Musik was auf dem Flügel vorspielen, der da stand, und der Bosch gab mir eine Eins dafür. Auf Eins stand in Musik sonst nur Jesu Christi, aber der konnte kein Instrument spielen. »Johann Sebastian Bach ist ein großer Komponist, aber wenn ich eine Krone zu vergeben hätte, würde ich sie Mozart aufsetzen«, hatte der Bosch mal gesagt, und Jesu Christi hatte gekräht: »Und ich Bach!« Da hätte Bach auch gerade noch drauf gewartet, von diesem Wicht gekrönt zu werden.
Musik war immer montags in der fünften. An dem Tag, als ich vorgespielt hatte, bot der Bosch mir an, mich in seinem Auto bis Ehrenbreitstein mitzunehmen. Ich durfte nach vorne auf den Beifahrersitz. Von mir aus hätten wir ruhig noch eine Ehrenrunde auf dem Schulhof drehen können, damit das auch jeder mitkriegte.
In der Casinostraße sah ich Renate an der Ampel stehen. »Das ist meine Schwester!« rief ich. »Die hat denselben Weg, die können wir auch noch mitnehmen!«
Der Bosch fuhr an den Straßenrand, und ich winkte Renate zu uns her. Sie stieg hinten ein. Jetzt hätte uns bloß noch Volker über den Weg laufen müssen.
In Ehrenbreitstein setzte uns der Bosch an der Bushaltestelle vorm Bahnhof ab. Ich freute mich schon auf den nächsten Montag, weil ich da wieder mitfahren wollte. Als wir am Donnerstag hitzefrei kriegten, nahm ich mir vor, am Sonntagabend bei der Wettervorhersage aufzupassen. Die ganze Woche über konnte hitzefrei sein, nur nicht montags, wenn ich mit dem Bosch von Koblenz nach Ehrenbreitstein fahren konnte.
Aber dann fragte der Bosch mich gar nicht. Für den Fall, daß er es nur verschwitzt hatte, sagte ich Erhard Schmitz Bescheid. Der sollte mir an der Schulhofausfahrt ein Zeichen geben, wenn der Bosch in sein Auto stieg. Ich wartete hinter der Ecke und ging genau in dem Moment los, als der Bosch da rauskam, damit er anhalten mußte und mich sehen konnte, aber er ließ mich vorbeigehen und fuhr ohne mich weg.
Ob er stinkig auf mich war, weil ich vor einer Woche Renate hergewunken hatte? Oder war mir was rausgerutscht, was der Bosch in den falschen Hals gekriegt hatte?
Ich war mir keiner Schuld bewußt.
Als Michael Gerlach und ich zu unserer Hütte gingen, war da die Tür versperrt. Auch der hölzerne Fensterladen war zu. Wir prockelten daran rum, aber ohne Ergebnis, und dann wurde die Tür aufgestoßen, und Qualle sprang raus, mit markerschütterndem Geschrei.
Aus der Hütte kamen auch noch zwei Mädchen.
»Dreimal seid ihr hier rumgedappert«, schrie Qualle und lachte sich schrott über unsere Doofheit. Die Mädchen brachten Kaugummiballons vorm Mund zum Platzen und leckten sich die Fetzen von den Lippen.
»Und jetz würd isch vorschlaren, ’ne kleine FKK-Party zu mache«, sagte Qualle, als er sich wieder beruhigt hatte.
»Mit denen da?« fragte eins der Mädchen.
»Nää«, sagte Qualle. »Die könne sisch verpisse.«
Das ließen wir uns nicht zweimal sagen.
Qualle und seine Kaugummiweiber. Was die da wohl veranstalteten. Kleine FKK-Party, das konnte ja alles mögliche sein.
Ich sah eine Ratte durch die Garage huschen, und am nächsten Tag gab mir Mama fünf Mark mit, wovon ich in Koblenz eine Rattenfalle kaufen sollte.
Im Kaufhof fand ich eine. Das war ein Riesending. Das hackte einem bestimmt die halbe Hand ab, wenn man da reinfaßte.
Papa stellte die Falle mit fettem Speck als Köder in der Garage auf, und morgens lag eine Ratte drin, ein dickes Vieh mit einem ellenlangen Schwanz. Aus der Schnauze war Blut geflossen und auf dem Holz getrocknet.
In der nächsten Nacht ging wieder eine Ratte in die Falle, aber dann war Schluß.
Renate hatte einen Brief von Olaf gekriegt. Außendrauf stand: Bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte öffnen! Und innen: Danke danke danke danke danke danke danke danke danke danke danke danke danke für die Einladung zu Deiner Geburtstagsparty!
Renate machte Obstsalat und Ananasbowle, drückte Mitesser aus und bekuckte sich im Spiegel. Was sich farblich biß und was nicht.
Dann waren alle da, bloß Olaf nicht, und Renate saß ganz geknickt im Hobbyraum unterm Fenster, mit roten Augen.
Ich ging Olaf suchen. Auf dem Spielplatz vor dem Hochhaus kam er mir entgegen, mit einem Geschenkpaket unterm Arm und einer Schachtel Ferrero Küßchen für Renate. Er hatte sich einen Vollbart wachsen lassen.
Softly whispering I love you.
Von den Partygästen spielten welche den Flohwalzer. Später bekam ich noch mit, daß Renate in den Waschküchengully kotzte.
Frühmorgens ging ich in den Hobbyraum, Fressalien suchen. Es stank nach Bier, und auf den Plattenhüllen klebte Kerzenwachs. Simon & Garfunkel und Schobert & Black.
Salzstangen wären gut gewesen oder Pfanni-Sticks und Chio-Chips, aber ich fand nur breitgetretene Fischli und eine halbe Rolle Velemint.
An die Tür zum Geräteschuppen hatte jemand eine Milkataube gepappt, die nicht mehr abging.
Sail on silver girl, sail on by.
Am besten war die Otto-Platte, die einer von den Gästen vergessen hatte. Es wird Nacht, Senorita, und ich liege auf dir. Wie du vielleicht bemerkt hast, will ich gar nix von dir! Oder dann: Halb acht, halb neun, es wird schon heller, der Vater reitet immer schneller, erreicht den Hof mit Müh und Not, der Knabe lebt, das Pferd ist tot.
Es geht hier um einen jungen Mann, der ein wildes Kaninchen fangen möchte. Er setzt sich auf einen Acker und ahmt das Geräusch einer wachsenden Mohrrübe nach.
Renates Les-Humphries-LP lag ohne Hülle auf dem Boden und hatte einen Huppel gekriegt. Das sei von einer Kerzenflamme gekommen, sagte Renate, als sie aufgestanden war. Wir hatten ihr zum Spaß eine leergefressene Eierschale mit dem Loch nach unten in den Eierbecher gestellt.
Weil ich wollte, daß der Bosch mich wieder mitnimmt, meldete ich mich für den Chor an. Ars Musica: What shall we do with the drunken sailor. In manchen Liedern kamen unverständliche Wörter vor. Der Feber ist vergangen, Kum, Geselle min, Wer jetzig Zeiten leben will, muß han ein tapfers Herze, Ich armes welsches Teufli und Was wölln wir auf den Abend tun? Singen wölln wir gahn!
Chor war immer in der Aula, und beim Singen brüllte der Bosch einen an: »Deine Haare sitzen gut! Halt die Hände still!«
Junger Tambour kehrt fröhlich heim vom Kriege, junger Tambour kehrt fröhlich heim vom Krieg, e-ri, e-ran, ram-pa-ta-plan, kehrt fröhlich heim vom Krie-hie-ge. Jesu Christi schlug die Triangel dazu.
Meistens sangen wir was über Mägdelein, Turmwächter, fahrende Gesellen, rüstige Brüder, Schmiede, Hirten, Küfer und zarte Jungfrauen. Ja tanzen immerimmerimmerzu, tanzen immerimmerzu, ja tara ta ta ta ta, tara ta ta ta ta, tanzen immerzu! Oder: Hei, luliellala, holdri-o, holdri-a, holdri-o, gug-gu ho! Zum Abkacken. Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen, das gefiel mir schon besser.
Ganz was Neues im Bad war ein hellbraunes Stück Seife mit Kordel zum Aufhängen. Als ich auf dem Klo saß, kam Volker rein, der baden wollte, und ich sah, daß er schon büschelweise Schamhaar hatte.
»Eujeujeu«, sagte ich, und das war das letzte Mal, daß ich Volker nackend gesehen hatte.
Renate ging mit Olaf zu einer Jusoversammlung in Koblenz und kam als eingeschriebener Juso zurück.
»Jedem Tierchen sein Pläsierchen«, sagte Mama.
Morgens an der Bushaltestelle redete Olaf Renate mit »Schwester Genossin« an.
Mamas nach Venezuele ausgewanderte Freundin Kathrin war mit zwei von ihren fast schon erwachsenen Kindern auf Europareise und kam auch zu uns. Ansgar und Rita. Wir liehen uns Räder von Rautenbergs, und ich zeigte unseren Besüchern die Sporkenburg, aber beim Händewaschen zuhause meckerte mich Ansgar an, weil ich den Schmutz ins Handtuch geschmiert hatte, und da verging mir die Lust, dem und seiner Schwester jemals wieder irgendwas zu zeigen.
Nach dem Mittagessen schob Mama den Servierwagen ins Wohnzimmer, und in den Tassen schwappte der Kaffee über.
Weil die Venezolaner bei uns so froren, gingen sie mit dicken Wollsocken schlafen.
Als Papa die Heizungsanlage saubergemacht hatte, war er so dreckig, von Kopf bis Fuß, daß Mama ein Erinnerungsfoto knipsen wollte, zur allgemeinen Belustigung. Papa setzte sich dafür auf die Gartenbank vorm Küchenfenster.
Für den Ehemaligenball im Schützenhof in Jever hatte Mama abgenommen und sich einen langen silbernen Glitzerrock gekauft. F.d.H.: Friß die Hälfte.
Wir konnten solange ohne Eltern Fernsehen kucken. Daktari, Die Sendung mit der Maus, Im Reich der wilden Tiere, Rappelkiste und Shiloh Ranch.
Renate knutschte oben mit Olaf.
Am ersten Oktober kamen Mama und Papa zurück und brachten Oma und Opa Jever mit. Oma knibbelte immer an ihrem Hörgerät rum, das mörderisch pfiff.
Abends wurde das Glas darauf erhoben, daß Papa zum Leitenden Regierungsbaudirektor ernannt worden war, abgekürzt Eltederegbedir. Besoldungsgruppe A 16: Das roch nach Taschengelderhöhung.
Oma und Opa kurten dann in Bad Ems. Da badeten sie in Kohlensäure und kriegten Massagen. Es gab auch Brunnentrinken bei Musik.
In der Schule wurde es von Tag zu Tag dröger und blöder. Achsensymmetrie und Drehsymmetrie. Bei einer Klassenarbeit in Physik hatte ich das Buch aufgeschlagen zu meinen Füßen liegen, und der verkalkte Pauker merkte das nicht. Einmal kam er zu mir hoch, um sich anzusehen, was ich geschrieben hatte, und lobte mich noch. Der mußte blind sein.
Eine Stahlflasche enthält 20 l Wasserstoff unter 150 atü. Wieviel wiegt das eingeschlossene Gas?
In der großen Pause spielten wir Fangen. Sport, Spiel, Spannung! Ich jagte Boris Kowalewski bis zum Klo, wo er sich einschloß, und als ich unter der Tür durch nach ihm angelte, pißte er mir auf die Hand, der alte Schweinepriester. Den Rest der Pause verbrachte ich damit, die Pisse abzuwaschen.
Nach der Schule ging ich durch die Stadt. Unterm Dirndl wird gejodelt, Schulmädchenreport und Laß jucken, Kumpel. Als Volljähriger würde ich auch mal in einen Sexfilm gehen.
Singles kosteten jetzt eine Mark mehr.
Aus dem Camel-Filters-Preisausschreiben war irgendwie nichts geworden, jedenfalls hatten wir nicht gewonnen. Klarer Fall von denkste.
Renate brachte mir Canasta bei. Wir spielten in ihrem Zimmer, mit den neuen Loriotkarten, die Mama gekauft hatte. Tropfkerzen an und Tee dazu und Kekse. Renate nervte mich mit den schwarzen Dreien. Bei einer schwarzen Drei obendrauf konnte man den Stoß nicht nehmen. »Capito?«
Rote Dreien brachten hundert Punkte, und Zweien waren Joker.
Als ich das erste Mal den Stapel kriegte, hüpfte mir das Herz. Fünf Sechsen, fünf Fünfen und sechs Neunen, fast schon ein reiner Canasta. Drei Bauern, drei Damen, vier Könige und alle vier schwarzen Dreien. Irgendwas mußte ich zum Ablegen opfern. Eine Acht, mit Pokerface, weil ich schon vier Achten hatte, damit Renate dachte, ich würde keine Achten sammeln. Oder lieber noch damit warten und die vier schwarzen Dreien ablegen, eine nach der andern? Oder die Achten mit den drei bunten Jokern, die ich hatte, auf den Tisch packen, als vollständigen Canasta?
Ein reiner Canasta war mehr wert als einer mit Jokern. Ich legte eine von den Achten ab. Renate nahm die Acht auf, legte einen Achtercanasta mit Jokern aus und machte Schluß. Das nannte sich Handcanasta. Dafür gab es noch hundert Extrapunkte. Alles, was ich in der Hand hielt, wurde mir abgezogen, auch die drei bunten Joker, fünfzig Punkte für jeden.
Und da sollte man nicht den Glauben an die Menschheit verlieren.
»Leise zählen!«
Obwohl ich viel mehr ausgelegt hatte als Renate, war ich der Verlierer, nur wegen meiner Miesen.
»Du hast’s erfaßt«, sagte Renate.
Bei Samba-Canasta kriegte man die doppelte Anzahl von Karten, und es war ein Kunststück, die alle in der Hand zu halten.
An einem Abend stellte ich die Tropfkerzen weit auseinander und zündete auch Renates kleine Petroleumlampe an, weil ich gedacht hatte, je mehr Licht aus unterschiedlicher Richtung fällt, desto gemütlicher hat man’s, aber das war ein Irrtum.
Renate arbeitete jetzt als Putzhilfe bei uns im Haushalt für zwei Mark fünfzig in der Stunde und bei Rautenbergs für drei Mark fünfzig. Davon kaufte sie sich Augen-Make-up und anderen Modeschnickschnack.
Dann kam Volker in den Hobbyraum gestürmt: »Ich hab eine Sensation zu verkünden! Wir dürfen uns die Haare über die Ohren wachsen lassen!«
Verarschen kann ich mich alleine, dachte ich, aber es war die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe: Wir durften uns Mähnen wachsen lassen wie die Beatles. Papa hatte eingewilligt.
Mama sagte, das sei kein Grund, wie von der Tarantel gestochen durchs Haus zu poltern, aber Volker und ich waren nicht mehr zu bremsen. Daß wir das noch erleben durften. Das war ja fast wie in der Sciene-Fiction-Serie: Es geschah übermorgen.
Am ersten Herbstferientag war ich mit Michael Gerlach im Wambachtal gewesen und ging nichtsahnend nachhause, als ich in der Theodor-Heuss-Straße einen Mann sah, der ein Papier zerriß und die Fetzen hinter sich warf, was mir äußerst verdächtig vorkam.
Ich wartete mit dem Aufsammeln, bis er weg war. In meinem Zimmer machte ich mich ans Puzzeln und klebte die Fetzen in der richtigen Anordnung mit Pattex auf ein Ringbuchblatt, aber ich wurde nicht schlau daraus: 0195667, Spargiro, Durchschrift für Auftraggeber, Empfänger Eduard Althoff, Bankleitzahl, Konto-Nr. des Empfängers 4713, bei (Sparkasse usw.) oder ein anderes Konto des Empfängers, Stadtsparkasse Hameln, Verwendungszweck Dritte Tilgungsrate, DM 300, Konto-Nr. des Auftraggebers 2153, Auftraggeber O. Trebitsch, 5414 Vallendar, Kaiser-Friedrich-Höhe, 15.10.73, Ottokar Trebitsch.
Was es damit auf sich hatte, stand vorläufig noch in den Sternen, aber es war zu vermuten, daß dieser Trebitsch ein krummes Ding gedreht hatte und jetzt versuchte, die Beweismittel zu vernichten, indem er sie zerfetzt auf die Straße schmiß, weil er nicht daran dachte, daß es auf dem Mallendarer Berg einen Detektiv gab, der schwer auf dem Quivive war. Der Trebitsch konnte die Polizei an der Nase herumführen, aber nicht mich.
Ottokar Trebitsch. Der war genau meine Kragenweite. Ein Bankräuber wie Rammelmayr oder ein Gewohnheitsverbrecher und Raubmörder oder beides, bösartiger als Onkel Einar, Al Capone und Käpt’n Flint zusammengenommen. Haute alte Omas übers Ohr, war für eine Serie von Einbruchdiebstählen verantwortlich oder hatte hinterrücks Geld von einem Kind gestohlen, wie der fiese Möpp in Emil und die Detektive.
Irgendwas mußte der Trebitsch ja wohl auf dem Kerbholz haben, sonst hätte er das Papier nicht zerrissen. Daß er sein Hauptquartier in der Kaiser-Friedrich-Höhe aufgeschlagen hatte, wunderte mich nicht. Da wohnte ja auch der Ventilmops.
Ich zeigte Michael Gerlach die Indizien, die den Trebitsch belasteten, und wir unternahmen Patrouillengänge durch die Kaiser-Friedrich-Höhe. Übers Telefonbuch hatte ich auch die Hausnummer ausgetüftelt. Der Trebitsch wohnte in einem hundsgewöhnlichen Haus mit Heckenrosen als Tarnung.
Gerne hätte ich mal einen genaueren Blick auf das Anwesen geworfen, aber wir konnten ja nicht gut Zahlenstangen in die Erde stecken wie die Kripo und Fotos schießen, nur weil wir den Verdacht hatten, daß der Trebitsch in dunkle Machenschaften verwickelt war und im Keller Kinderleichen stapelte.
Mir kam dann die glorreiche Idee, in der ganzen Straße Ausgaben von Renates Schülerzeitung zu verteilen, Haus für Haus, Michael auf der linken Seite und ich auf der rechten, wo der Trebitsch wohnte.
Spectrum nannte sich die Schülerzeitung. Renate hatte einen Riesenstapel davon im Kleiderschrank. Auf der Titelseite war eine Zeichnung von einem feixenden Lehrer, der eine Schülermarionette in der Hand hielt.
Ich schob eine Schülerzeitung durch Trebitschs Briefschlitz und spähte ins Haus, aber nur kurz. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Es war nicht ausgeschlossen, daß der gerissene Hund da schon lauerte, mit der Knarre im Anschlag, um mir das Lebenslicht auszublasen. Ich sah einen Schirmständer und nahm Kohlgeruch wahr. Das konnte aber auch eine Finte sein, und der Trebitsch war schon über alle Berge und lebte irgendwo wie Gott in Frankreich von seinen zusammengeräuberten Millionen und lachte sich ins Fäustchen.
Wir hielten Kriegsrat. Zu den Bullen gehen? Die würden uns was husten. Und wenn wir denen das Papier zeigten, das der Trebitsch kleingerissen hatte, würde er sich irgendeine Ausrede aus den Fingern saugen.
Im Gewa in Koblenz hätte ich den Wisch fotokopieren können, aber da kostete jede Fotokopie fünf Mark.
Eine harte Nuß, der Fall Trebitsch. Da mußte man auf Draht sein. Aber irgendwann, das schwor ich mir, würde ich das Verbrechernest ausräuchern, das war so sicher wie das Amen in der Kirche, und ich würde ein Denkmal kriegen, so groß wie das größte von Erasmus Erpel in Entenhausen. Der Junge, der den gefährlichsten Gangster aller Zeiten hinter schwedische Gardinen gebracht hat. Der Trebitsch in Unterhose, auf offener Straße, wie die Typen von der Baader-Meinhof-Bande, und wie ich den dann der Polizei übergebe. Im Fernsehen übertragen, mit Eurovisionshymne. Da würde den Leuten die Spucke wegbleiben. »Du kriegst die Motten«, würden alle Kidnapper und Heiratsschwindler stöhnen, und in der Unterwelt würde das große Heulen und Zähneklappern ausbrechen, wenn einer meinen Namen erwähnte.
Oder juckte das den Trebitsch überhaupt nicht, wenn er ins Gefängnis mußte, und der saß die paar Jahre auf einer halben Backe ab und rächte sich dann an mir, so wie es der Indianer-Joe mit der Witwe Douglas vorgehabt hatte? Nasenflügel aufschlitzen und die Ohren einkerben?
Ich mußte dem Burschen halt was anhängen, wofür er lebenslänglich eingebuchtet wurde. Ich war nur noch nicht auf den richtigen Trichter gekommen.