Читать книгу Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band - Gerhard Henschel - Страница 5
ОглавлениеWeil ich mit Ingo nicht mehr spielen durfte, war ich wieder viel mit Uwe zusammen im Wäldchen. Wir spielten Old Shatterhand und Winnetou. Ich wollte lieber Old Shatterhand sein, weil der auch mal kämpfte und schoß. Winnetou ritt immer nur von einem Stamm zum andern, um Frieden zu stiften.
Einmal mußte Winnetou dann aber doch mit Großer Bär kämpfen, dem Häuptling der Komantschen. Obwohl er wußte, daß er den Kampf mit Uwe als Winnetou verliert, wollte Heinz Großer Bär sein. Als der Kampf im Gange war, kam Claudia dazu und wollte Paloma sein, die weiße Taube der schäumenden Wasser, aber die konnten wir nicht gebrauchen.
Mit ihrem Dreirad karriolte Wiebke vom Gartentor aus los, aber nachhause kam sie dann ohne das Dreirad zurückgelaufen und konnte nicht sagen, wo sie es liegengelassen hatte.
Mal fanden wir das Dreirad unten bei der Hausruine und mal umgekippt auf dem Spielplatz. Schließlich schrieb Mama mit einem dicken Filzstift auf die Unterseite: Dieses Dreirad gehört Wiebke Schlosser, Horchheimer Höhe, An der grünen Bank 10.
Wenn wir das Dreirad nicht mehr wiederfänden, würde es vielleicht ein netter Mensch zu uns zurückbringen.
In meinem Zeugnis stand, daß ich das erste Schuljahr mit gutem Erfolg besucht hätte. Lesen würde ich fließend mit Sinnentnahme. Ich hätte eine gute Wortvorstellung und gute Auffassungsgabe. Die Schrift sollte sorgfältiger werden. Martin hält sich noch immer in der Mitarbeit zu sehr zurück. Versetzt!
Für das neue Haus bastelte Mama aus Eichenlaub und Krepp einen Richtkranz, der spät abends noch auf dem Dachstuhl angebracht wurde. Die Zimmerleute hatten im Rohbau für das Richtfest nur eine verdorrte Fichte hinterlegt.
Volker kuckte im Fernsehen alles über den Mondflug von Apollo 11, und er malte Raketen, aber auch Rehböcke auf der Lichtung und Sauen in der Suhle.
Der Start war so langsam gewesen, daß man dachte, die Rakete kommt nie bis zum Mond.
Renate ging in den Garten, um die Astronauten zu sehen, wie die in den Mondkratern rumkrauchten.
Bei Wiebkes Brille mußte jetzt das andere Glas zugeklebt werden, was Wiebke so wütend machte, daß sie die Brille ins Klo warf.
Vor der Reise nach Jever fuhren wir nochmal zur Baustelle. Das Haus war riesig und grau. Es regnete, und der Richtkranz lag aufgeweicht im Schlamm.
Im Zug durfte ich nicht wippen, nicht auf dem Gang rumlaufen, keine Klimmzüge am Gepäckfach machen, die Füße nicht auf den freien Platz legen und nicht mit dem Aschenbecherdeckel klappern. »Laß das!«
Wiebke und Volker wollten auch mal auf den Gang raus, durften aber nicht. »Wie ein Sack Flöhe«, sagte Mama.
Ich öste mich. In der Tür war ein kleines Gitter mit Luftlöchern, das man aufschieben und wieder zuschieben konnte, aber das durfte ich auch nicht.
Auf den freien Platz in unserem Abteil setzte sich eine dicke Frau, die mich fragte, wie alt ich sei. Schon sieben? Dann sei ich ja wohl alt genug, um mir die Strümpfe hochzuziehen. Meine Strümpfe waren runtergerutscht, aber was ging das die dicke Frau an? Hochziehen mußte ich die Strümpfe trotzdem, um des lieben Friedens willen.
Die dicke Frau pellte sich ein Ei, das hartgekocht war. Aus dem Reisekoffer holte sie einen kleinen Salzstreuer. Die Schale krümelte sie in den Aschenbecher.
Für uns hatte Mama Schnitten mit Jagdwurst und Käse eingepackt und zwei Flaschen Sprudel. Den kriegten wir in unseren Kababechern zugeteilt. Wiebkes Becher war rot.
Als ein anderer Zug an unserem vorbeifuhr, zitterte die Fensterscheibe. Ich hielt mir mit den Fingern die Ohren zu. Wenn man das in kurzen Abständen machte, Ohren zu auf zu auf zu auf zu, hörten sich alle Geräusche ganz verrückt an.
Renate las ein Buch, obwohl sie am Fenster saß. Ich wollte auch mal am Fenster sitzen, und das durfte ich dann, in Gottes Namen.
Am Fenster konnte man sich einbilden, man würde neben dem Zug herrennen, auf den Telefonkabeln lang, auf anderen Geleisen, auf der Straße und mit Salto über Häuser rüber, die im Weg standen.
Als ich aufs Klo mußte, brachte Mama mich hin, aber das Klo war besetzt. Im nächsten Waggon war noch eins. Zwischen den Waggons war eine Stelle, wo es schepperte und krachte, und man sah durch einen Spalt, wie der Zug über die Schienen raste.
Das Wasser aus dem Hahn durfte man nicht trinken. Wenn das giftig war, wollte ich mir damit auch nicht die Hände waschen.
In Sande mußten wir auf den Triebwagen warten. An der Wand hing ein Kaugummiautomat. Ich bettelte, bis Mama mir einen Groschen dafür gab.
In dem Automaten waren Kaugummis und Ringe, aber der Groschen verklemmte sich im Schlitz, und die Luke war leer. Ich faßte nur in irgendwas Schmieriges rein.
»Ijasses«, sagte Mama. Wo ich denn nun schon wieder die Pfoten dringehabt hätte.
In dem Zug nach Jever war es heiß, und es gab nicht genug Platz für alle. Eine große Fliege flog wieder und wieder gegen die Fensterscheibe.
»Ellenserdamm, Ellenserdamm …« Das habe ihr Opa früher immer aus dem Schienenrattern rausgehört, wenn er von Jever nach Ellenserdamm gefahren sei, sagte Mama. Wir sollten mal hinhören. Ellenserdamm, Ellenserdamm …
Mamas Opa, Opa Thoben, war in Jever Bahnhofsvorsteher gewesen.
Oma Jever hatte Schaschlickspieße gemacht mit Kartoffeln und Paprika und als Nachtisch rote Grütze mit Frischmilch.
Mama schimpfte über die Handwerker, was die schon alles falsch gemacht hätten beim Hausbau, da sei das Ende von weg. Und es sei auch alles viel teurer geworden als ursprünglich geplant. Bis auf weiteres könnten wir uns keine großen Sprünge mehr erlauben.
Es wurde auch von früher erzählt. Einmal hätten sich Renate und Volker in Jever im Wohnzimmer eingeschlossen und dann den Schlüssel nicht mehr gefunden. Sie hätten geheult und durch die Tür gebrüllt: »Hier kommen wir nie, nie, nie wieder raus!« Die hätten sich da schon als Skelette liegen sehen. Papa habe das Türschloß aufbrechen müssen, und am nächsten Sonntag sei der vermißte Schlüssel dann in der Kirche aus dem Gesangbuch gefallen, Oma in den Schoß.
Oder von ganz früher, als Mama sich auf freier Wildbahn vor Tieffliegern verstecken mußte. Opa Thoben habe immer Feindsender gehört und auf die Nazis geschimpft, aber als Adolf Hitler ihm mal die Hand gegeben hatte, sei er doch im allerhöchsten Maße gebumfidelt gewesen.
In einem Fach unterm Fernsehtisch lag die Bildzeitung. Rocker-Terror am Wochenende. Lokal zertrümmert, Lehrlinge beraubt: Zwei Verletzte. In meinem Horoskop stand, daß ich ab 13.30 Uhr steigende Erfolgschancen hätte.
Opa nahm uns mit ins Schloßmuseum. Da stand ein Hochrad. Der Sattel war so weit oben, daß man gar nicht wußte, wie man da draufkommen sollte. Mit solchen Scheesen waren die Leute in Opas Jugend auf der Straße rumgegurkt. Als die Bilder laufen lernten.
Früher sei Jever von Fräulein Maria regiert worden, sagte Opa. Die habe sich der Sage nach in einem unterirdischen Gang unterm Schloß verirrt und sei darin verschollen. Noch heute würden einmal am Tag die Glocken geläutet, die Fräulein Maria helfen sollten, den Rückweg zu finden. Das sei das Marienläuten.
Wenn Oma auf die andere Straßenseite zu Mammen ging, um Öl und Mehl und Waschpulver zu kaufen, kam ich mit, weil ich da immer einen Bonbon zugesteckt kriegte. Auf der Horchheimer Höhe gab es für Kinder fast nie was umsonst, nur in Koblenz in der Apotheke. Oder beim Schlachter.
Auf dem Schützenfest kriegten wir Zuckerwatte. Wenn man die aufhatte, konnte man noch den Holzstengel auskauen.
In der Losbude hing als Hauptgewinn ein Teddy, der doppelt so groß war wie Wiebke. Mama und Oma gaben uns vier Lose aus, aber das waren alles Nieten.
Leider nicht gewonnen!
Auf der Erde lagen noch viele verbrauchte Lose, und ich suchte nach einem, das keine Niete war. Es konnte ja jemand aus Schusseligkeit übersehen haben, daß er was gewonnen hatte.
Beim Schießstand schoß Oma drei Rosen ab und verteilte sie an Mama, Renate und Wiebke, aber der fiel ihre aus dem Riesenrad runter, und unten fanden wir sie nicht mehr wieder.
Renate hatte sich gebrannte Mandeln gekauft, die auch abends noch immer nicht alle waren. Den Rest spare sie sich für später auf, sagte Renate. Die mußte einen eisernen Willen haben.
In der Dachkammer war eine Schnake, ein Riesenvieh mit langen Flügeln und viel zu vielen Beinen. Volker schlug die Schnake an der Wand mit einem Buch platt: Was finde ich am Strande?
Nach dem Mondflug waren die Astronauten mit einer Kapsel im Pazifik gelandet. Ein Bergungshubschrauber brachte sie zu einem Flugzeugträger. »Doll«, sagte Opa, als das im Fernsehen kam, und Mama sagte, auf den Mond würden sie keine zehn Pferde kriegen.
Die Astronauten hatten auch Mondgestein mitgebracht. Sie trugen Schutzanzüge und kamen in Quarantäne, weil man nicht wußte, ob sie sich auf dem Mond mit Krankheitskeimen angesteckt hatten.
Wenn man nach dem Mittagessen aus dem Haus ging, überfiel einen die Hitze.
Im Schuppen standen die vorsintflutlichen Fahrräder von Oma und Opa. Die Luftpumpe sah aus wie einer von den Apparaten, mit denen man woanders eine Explosion auslösen kann.
Eine Holzschubkarre. Schiebkarre, sagte Opa dazu.
Merkwürdig waren auch die Kartoffeln im Kartoffelkeller. Die waren zusammengewachsen, hatten Knorpel oder sahen aus wie Köpfe mit schiefen Nasen.
Die Spinnweben im Keller wickelte Oma mit dem Zeigefinger auf, wischte ihn an der Wand ab und setzte sich dann zum Klönen an den gedeckten Teetisch unter der Birke.
Für hundert Gramm Johannisbeeren zahlte Oma jetzt acht Pfennig.
Als einmal alle im Garten waren, machte ich Omas alte Handtaschen auf, die unten im Schlafzimmerschrank standen. In einer war ein Zwanzigmarkschein. Den steckte ich ein und kaufte mir davon in dem Souvenirgeschäft in der Mühlenstraße einen Spielzeugfernseher. Hinten sah man durch ein Loch ein buntes Bild, und wenn man auf einen Knopf drückte, kam das nächste. Stierkämpfer, Tänzerin, Schiffshafen, Kirche, Gebirge. Dann kam wieder der Stierkämpfer.
Ich hatte auch noch Wechselgeld gekriegt.
Oma und Opa hatten jetzt einen Untermieter, Herrn Wübben. Der wohnte in dem Zimmer gleich rechts von der Treppe und pinkelte nachts in seinem Zimmer in leere Bierflaschen, statt aufs Klo zu gehen. Gustav wußte, wo der Schlüssel für Herrn Wübbens Zimmer hing, und er schloß es für mich auf, um mir die vollgepinkelten Bierflaschen zu zeigen. Die standen da um das ganze Bett rum.
Oma sagte, daß Frau Apken nun fast gänzlich durch den Wind sei. Die sitze von morgens bis abends auf einem Stuhl im Wohnzimmer und kucke Löcher in die Luft.
Frau Kaufhold kochte jeden Tag für Frau Apken mit.
Freitags gab es Fisch vom Wochenmarkt, Scholle oder Seelachs, und es steckten immer Gräten drin, auch wenn keine drinsein sollten. Mit ihrer Scholle war Oma unzufrieden. Die schmecke nicht nach ihm und nicht nach ihr.
Als Volker sich eine Gräte innen oben ins Zahnfleisch gespießt hatte, sagte Mama, das sei immer noch besser, als wenn er die quer in den Hals gekriegt hätte.
An der Flurwand hing eine kleine Trompete. Mit der hatte Oma im Krieg die Nachbarn in Moorwarfen warnen müssen, wenn telefonisch Fliegeralarm durchgegeben worden war.
Neben der Trompete hing das Wappen von Jever, eine Burg zwischen zwei Löwen.
Oma wollte bei anderen Omas Mitgliedsbeiträge für einen Verein kassieren, bei dem Opa im Vorstand war, und ich durfte mit.
Zuerst gingen wir zu einer dürren alten Frau, die am Kirchplatz wohnte. Wir setzten uns an den Küchentisch, und die Frau zückte ihr Portemonnaie. Oma holte ein Heft raus und machte hinter dem Namen von der Frau einen Haken rein, und da sah ich, daß Omas Handtasche genau die war, aus der ich die zwanzig Mark genommen hatte. Daß Oma die Handtaschen aus dem Schrank noch benutzte, hatte ich nicht gewußt. Aber daß da Geld fehlte, schien Oma nicht zu merken.
Mit dem Spielzeugfernseher, den ich unter meinem Nachtschränkchen versteckt gehabt hatte, ging ich auf das wilde Nachbargrundstück und warf ihn da in eine Brennesselhecke.
In Hooksiel durften Volker und ich eine Schlickschlacht machen, in Badehosen, und uns bis zum Gehtnichtmehr mit Schlick bekleistern.
Am Horizont fuhren Schiffe. Volker sagte, das seien Ozeanriesen. Auf einem davon würde er gerne mal um die ganze Welt fahren, aber das hatte er nur gesagt, damit ich zu den Schiffen kuckte und nicht sah, wie er ausholte, um mir eine Riesenportion Schlick in die Fresse zu schmeißen.
Abends wurden Krabben ausgepult, die Granat hießen. Da habe sie einen Japp drauf, sagte Oma. Im Fernsehen wollte sie G’schichten aus dem Theater an der Wien kucken, was aber so langweilig war, daß ich lieber Renate half, in der Hörzu bei Original und Fälschung nach den Unterschieden zu suchen. Da hatte auf einem Bild eine Leiter eine Sprosse weniger als auf dem anderen, oder eine Wolke hatte einen oder zwei Wülste zuviel.
Dann rief Papa an und wollte von Oma wissen, ob sie es noch aushalte mit all den Blagen.
Ins Bett nahm ich wieder die Meckibücher mit, um nochmal zu sehen, wie die Pferde mit Meckis Kutsche über die Milchstraße galoppieren und der Fliegenpeter auf der Insel im Sirupsee rumkriecht.
In Koblenz stand Papa auf dem Bahnsteig und rauchte Pfeife.
Durchs Heckfenster vom Käfer zeigte Renate auf den Mond und sagte, das sei der Fingernagel Gottes. Und der riesenhafte Reifen, der als Werbung für eine Autowerkstatt kurz vor der Horchheimer Höhe an der Straße stand, sei der Autoreifen vom lieben Gott. Das sagte Renate immer, wenn wir da vorbeifuhren.
Am Morgen klingelte ich bei Stracks, aber Uwe war bei einer Tante in Trier und sollte erst nachmittags wiederkommen.
Ich spielte alleine im Wäldchen, bis ich mußte. Um den Weg abzukürzen, lief ich durch den Garten und zur Kellertür runter, aber da mußte ich schon so nötig, daß ich stehenblieb und in den Waschküchengully pinkelte, und als ich Mama die Treppe runterkommen hörte, konnte ich nicht mehr aufhören.
»Dir geht’s wohl zu gut, du Pottsau!« rief sie, und ich kriegte Hausarrest.
Zu Uwe durfte ich dann aber doch noch kurz rübergehen.
Seine Brüder würden immer dämlicher, sagte Uwe, aber Claudia sei am allerdämlichsten. Die hatte jetzt einen Pony, der ihr so tief ins Gesicht hing, daß sie die Haare immer hochpusten mußte.
In Knaurs Kinderbuch in Farben wurde die ganze Welt erklärt. Was es für Berufe gibt und was Autoschlosser, Uhrmacher und Bildhauer für Kleider anhaben, wie es im Maulwurfsbau aussieht, welche Tiere vor hundert Millionen Jahren gelebt hatten, womit sich die Leute vor zehntausend Jahren gekämmt hatten und daß ein Wandersmann fünf Kilometer in der Stunde schafft. Was ist schwerer, ein Kilo Eisen oder ein Kilo Bettfedern?
Das Wildschwein ist ein Allesfresser.
Volker durfte schon wieder mit Kasimirs nach Italien fahren, an die Adria. Er nahm auch die Angel mit, die er da beim letzten Mal gefunden hatte. Hoffentlich fing er nichts.
An einem Samstag mußte Renate den Haushalt machen und auf Wiebke und mich aufpassen, weil Mama und Papa vorhatten, bis zur Dämmerung auf der Baustelle zu wuracken.
Ich wollte unverdünnten Kirsch-Tritop trinken. »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich«, sagte Renate und ließ mich, aber ohne Wasser schmeckte der Tritop nicht. Davon krampfte sich einem das Gesicht zusammen.
Renate erlaubte mir auch, in den Wilhelm-Busch-Büchern zu lesen. Bei dem einen fehlte der Schuber, und bei dem anderen war der Rücken lose.
Hänsel und Gretel, wie sie die Hexe in den Kochtopf stoßen und den dicken Menschenfresser in den Fluß werfen. Oder Fipps der Affe, wie er einem Neger, der ihn fangen will, mit dem Schwanz den Nasenring rumdreht. Dem Neger wird das Herze bang, die Seele kurz, die Nase lang!
Hans Huckebein, der Unglücksrabe, der sich selbst erhängt. Und der Eispeter, der beim Schlittschuhlaufen erfriert und beim Auftauen zu Wasser zerfließt, das die Eltern in einem Topf ins Regal stellen.
Bei Krischan mit der Pipe kamen lauter Ungeheuer aus dem Pfeifenkopf, der Runkelmunkel und ein schwarzer Mohr.
Das Bad am Samstagabend: Da rauften sich zwei Brüder in der Wanne, bis sie umkippte und die Brüder ins Bett gesteckt wurden, fast wie Volker und ich.
Unheimlich war das bunte Bild von den zwei Kindern, die sich um einen Apfel stritten, irgendwo in einem düsteren Zimmer.
Dann kamen Tante Therese und Kim zu Besuch. Kim hatte eine Beatlesfrisur, die Papa schauderhaft fand. Renate wollte auch eine haben, und Papa sagte, sie sei wohl des Wahnsinns fette Beute.
Wir fuhren zur Baustelle und dann auf die Festung Ehrenbreitstein. Von oben sah man den Rhein und die Mosel, das Deutsche Eck und Lützel, wo wir mal gewohnt hatten. Lützel sei ein Schandfleck, sagte Mama. Was da für ein Volk versammelt sei, und dann der Müll von den Campingurlaubern am Ufer! Drei Kreuze, daß wir dieses Kapitel hinter uns hätten.
In der Festung Ehrenbreitstein waren früher Leute gefangengehalten worden, angekettet, in Verliesen mit Stroh, so wie bei Richard Löwenherz. Einmal am Tag war ein Wächter gekommen, um den Gefangenen alte Brotkanten und einen Krug mit fauligem Wasser zu bringen.
Nach dem Ausflug hatte Renate eine Zecke im Oberschenkel. Die müsse man besoffen machen, sagte Papa. Er träufelte Spiritus auf das Hinterteil der Zecke, und dann zog er sie mit einer Pinzette raus.
Abends fuhr Papa auf den Mallendarer Berg, um im Rohbau Fenster einzusetzen und Leitungen zu verlegen.
Einmal klingelte Claudia bei uns, weil sie mir bei Stracks im Keller was zeigen wollte. Ich ging mit. Was Claudia mir zeigen wollte, war ihr Arschloch, und sie wollte auch meins sehen.
Claudia ließ den Rock runter und ich die Hose. Machen durfte man das bestimmt nicht, aber ich zog mir hinten die Backen auseinander und versuchte, das Arschloch von Claudia zu erkennen, die mit dem Rücken zu mir stand und ihre eigenen Arschbacken auseinanderzog. Mir lief das Blut in den Kopf, und ich konnte nur sehen, daß Claudias Arschloch rot war.
Erst nachts im Bett fiel mir ein, daß es leichter gewesen wäre, wenn wir das nicht gleichzeitig gemacht hätten, sondern erst ich und dann Claudia, oder andersrum.
Im neuen Schuljahr gab uns Frau Kahlfuß Verkehrsunterricht. Rotes Auge heißt: bleib stehen! Keinen Schritt mehr weitergehen! Grünes Auge zeigt dir an: du kannst gehen, freie Bahn!
Für die Bastelstunde hatte Mama mir eine kleine stumpfe Schere mit grünen Griffen gekauft. Aus Bastelbögen sollten wir Muster ausschneiden und auf Papier mit Uhu neu zusammenkleben. Oben aus der Tube floß immer noch was raus, das man nicht mehr brauchte, und klebte am Tubenhals fest. Wenn es trocken war, konnte man’s abzupfen.
Gedichte, die wir aufgekriegt hatten, lernte ich erst auswendig, wenn andere sie aufsagten. Wer hat die schönsten Schäfchen? Die hat der goldne Mond, der hinter unsren Bäumen am Himmel droben wohnt. Wenn ich als dritter oder vierter aufgerufen wurde, konnte ich die Gedichte, aber dann nahm Frau Kahlfuß mich als ersten dran, und da konnte ich nichts. Das sei ihr nicht entgangen, sagte sie, daß ich zu faul sei, Gedichte zuhause auswendig zu lernen.
Dann mußte ich noch zum Rechnen an die Tafel und konnte schon wieder nichts. Frau Kahlfuß knallte mir eine, und ich mußte in der Ecke stehen, Gesicht zur Wand, bis die Stunde um war.
In Rechnen war ich nicht gut. Als wir 26 weniger 14 ausrechnen sollten, zog ich 10 von 20 ab, hatte noch 10 übrig, zog davon die 6 von den 26 ab, hatte noch 4 übrig, zog davon die restlichen 4 von den 14 ab und kam auf Null als Ergebnis, aber das war falsch, und Frau Kahlfuß strich mir das in meinem Rechenheft rot an.
Mama sagte, das sei eine Milchmädchenrechnung.
Besser war ich in Diktaten. So ist es bei Schlampinchen. Alles liegt durcheinander. Der Bleistift ist abgebrochen. Das Buch ist zerrissen. Das Heft ist schmutzig. Der Füller ist leer. Das Mäppchen ist offen. Die Schule ist aus. Es läutet. Die Kinder räumen auf. Den Bleistift in das Mäppchen, das Mäppchen in den Ranzen, den Ranzen auf den Rücken, schnell nach Hause!
Grundwörter und Bestimmungswörter. Dädalus und Ikarus. Oder Singen: Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König.
Zur Schluckimpfung mußten wir uns in einer langen Schlange aufstellen.
Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam.
Die Becher waren aus Plastik und mußten nach dem Austrinken in einen Mülleimer geworfen werden.
Uwe ging jetzt auf dieselbe Schule wie ich, als Erstkläßler, und in den Pausen tat ich immer so, als ob ich Uwe noch nie gesehen hätte.
Einmal war es aber so verabredet, daß Herr Strack uns beide mit dem Auto von der Schule abholen sollte. Auf Uwe mußten wir lange warten. Herr Strack trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. Claudia saß hinten neben mir, blies die Haare hoch und lutschte an ihrem Tintenkiller.
Als ich einen Armvoll Schmutzwäsche nach unten bringen sollte, war in der Waschküche ein Feuersalamander, gelb und schwarz. Er saß in einer Wasserpfütze und ließ mich nicht aus den Augen.
Papa fing den Salamander ein und sperrte ihn in ein leeres Gurkenglas mit eingestanzten Luftlöchern im Schraubverschluß.
Dem Salamander gaben wir Fliegen von den Fensterbänken und Wurst zu essen. Ich wußte, wo ein Tümpel im Wald war, und da gingen wir mit der ganzen Familie hin. Papa trug das Glas. Als wir da waren, schraubte er den Deckel ab und hielt das Glas so hin, daß der Salamander auf einen Ast kriechen konnte, der aus dem Tümpel ragte.
Der Feuersalamander hob den Kopf und sprang dann ins Wasser, wo er mit schlängelndem Schwanz verschwand.
Bei A&O gab es bunte Pfandmarken. An der Garderobe holte ich mir welche davon aus Mamas Manteltaschen, lief mit den Marken zum Ladenviertel und kriegte dafür ein Fix-und-Foxi-Heft mit Lupo, Professor Knox, Oma Eusebia und Lupinchen.
Das Heft legte ich ins Treppenhaus und tat dann so, als ob ich das da gefunden hätte, aber Renate glaubte mir nicht. Sie sagte, das hätte ich da selbst hingelegt. Wer hätte schon so bedasselt sein sollen, das als Geschenk bei uns ins Treppenhaus zu legen?
Wenigstens verpetzte sie mich nicht.
Das Haus auf dem Mallendarer Berg kriegte ein Garagentor, und im oberen Bad setzte Papa ein Kippfenster ein. Weil Mama graue Badezimmerkacheln haben wollte und Papa grüne, wurde das untere Bad grün gekachelt und das obere grau.
Renate fand die grünen Kacheln pottscheußlich, aber sie sollte ja auch oben wohnen.
Als Mama und Papa mit Wiebke zu einer Baumesse nach Neuwied gefahren waren, nahm ich Wiebkes Roller, was ich sonst nicht durfte. Renate kam auf ihrem Fahrrad mit.
Wir düsten immer wieder die steile Parkgaragenauffahrt unterm Ladenviertel runter, bis ein Auto den Roller kaputtfuhr. Ich hatte gerade noch rechtzeitig abspringen können.
Mama sagten wir, daß wir den Roller irgendwo verloren hätten. Ohne Renate hätte Mama mir das nicht geglaubt.
Wiebke weinte um den Roller, und Papa mußte ihr versprechen, Volkers alten zu reparieren.
Von der Baumesse hatten Mama und Papa mehrere Pfund Prospekte mitgebracht. Bei Gesprächen über den Hausbau fielen komische Ausdrücke wie Gasbeton, Eternit, Furnier, Bitumen, Dachfirst, Loggia, Pergola, schwimmender Estrich, Honneffer Modell und Edelkratzputz. Oder Raiffeisenbank, Bundesmittel, Betonelemente, Darlehen, Beamtenheimstättenwerk, Bims und Rigips und der springende Punkt bei der Sache.
Statt Bonanza kam jetzt Big Valley, mit Ranchern, die so reich waren, daß sie eine Palme im Treppenhaus hatten und auf dem Eßtisch Karaffen mit Glasstöpseln.
Angeführt wurde die Familie von einer alten, weißhaarigen Frau, die immer gleich merkte, wenn sie einer anzuschwindeln versuchte. Die Cowboys mußten Weidezäune flicken, Pferde striegeln, Sättel einfetten, beim Rodeo mindestens acht Sekunden lang auf wilden Pferden sitzenbleiben, beim Gewehrschießen mit der Schulter den Rückstoß abfangen und üben, wie man den Colt um den Zeigefinger wirbelt. Nach Schlägereien legten sie sich rohe Steaks auf die Augen. Mama sagte, echte Kinnhaken würden nicht so laut knallen wie im Fernsehen. Die Geräusche kämen davon, daß einer mit der Peitsche auf tote Schweine haut.
In den Bergen lauerten Klapperschlangen, und in der City war ein Saloon, wo die Cowboys bei Schießereien erstmal mit dem Gewehrgriff ein Loch ins Fenster kloppen mußten.
Im neuen Haus strich Papa die Ölkellerwände mit Spezialfarbe, fünfmal nacheinander, was Mama überflüssig fand. Sie schimpfte auch über die Stifte der Firma Gerstacker, die den großen Heizkessel intelligenterweise genau vor das Garagentor gestellt hatten.
In Westlich von Santa Fé schlug sich ein Vater mit seinem Sohn im Wilden Westen durch. Der Vater konnte mit seiner Winchester schneller schießen als alle andern Cowboys mit dem Revolver, und er mußte auch oft dem Sheriff helfen.
Bei denen gab es keine Ölkellerwände, die gestrichen werden mußten. Wenn Papa ganz alleine mit mir im Wilden Westen gewesen wäre, hätte er auch mit der Winchester schießen müssen, aber Papa war kriegsbeschädigt und hätte wahrscheinlich keine Lust dazu gehabt, mit ’ner Winchester rumzuballern. Die einzige Waffe, die Papa hatte, war ein Totschläger, ein brauner Lederknüppel, der oben auf dem Boden lag, für den Fall der Fälle.
Im Fernsehen lief jetzt auch Vorsicht Falle! Die Kriminalpolizei warnt: Nepper, Schlepper, Bauernfänger, mit Eduard Zimmermann, der beim Sprechen schmatzte. »Warum muß der Kerl bloß immer so schmatzen?« fragte Mama. Wenn das Schmatzen kam, schmatzten wir alle mit.
Auf der Kinderseite vom Stern stand, wie man Regenwürmer aus der Erde lockt. Der Natur auf der Spur. Man sollte ein Brett schräg in die Erde stecken und mit den Fingern auf das Brett trommeln, dann würden die Regenwürmer aus Furcht vor Maulwürfen und Regen in Scharen an die Erdoberfläche kommen.
Volker und ich testeten das im Garten, weil Papa für den Komposthaufen Regenwürmer brauchte, aber bei uns kam kein einziger nach oben.
»Die lesen eben nicht den Stern«, sagte Volker.
In dem Dornengestrüpp vorm Wäldchen hatten fremde Kinder meinen Bumerang gefunden und warfen damit rum. »Da mußt du hingehen und denen sagen, daß das deiner ist«, sagte Mama. Ich wollte erst nicht, aber dann ging ich doch, und die fremden Kinder gaben mir den Bumerang zurück. Ich hatte gedacht, die würden mich auslachen.
Als sie weg waren, schmiß ich den Bumerang hoch übers Wäldchen, aber er kam nicht wieder. Ich holte Uwe, und wir suchten das ganze Wäldchen ab, ohne den Bumerang wiederzufinden.
In die Schlucht hatte jemand eine alte Waschmaschine geworfen. Ob die noch ging?
Bei unseren Legosteinen gab es welche, die wackelig waren. Andere backten so fest zusammen, daß man sie nicht mal mit den Nägeln und den Zähnen wieder auseinanderkriegte.
Im Bett las ich in Hauffs Märchen. Kalif Storch und sein Großwesir, die beide das Zauberwort vergessen hatten, das sie wieder zu Menschen machte. Traurig wandelten die Verzauberten durch die Felder.
Onkel Dietrich kam zu Besuch, um Papa beim Einsetzen der Türzargen im Dachgeschoß zu helfen. Ich wollte meine gesammelten Witzfotos aus dem Stern vorzeigen und durfte mich auf Onkel Dietrichs Schoß setzen. Der Fußballer, dem der Arsch halb aus der Hose hing (Au Backe!), die Katze im Waschbecken (Einmal Katzenwäsche bitte!), der nackte Junge mit den Revolvern im Holster (Milder Westen) und das Reh, das hinter einem Baum hervorlugte (Kuckuck, Herr Grzimek!).
Für die Werkbank, die Papa in der Garage im neuen Haus anbringen wollte, hatte die Firma Bollmann schiefe Winkeleisen geliefert.
Als Geschenk zu Papas Geburtstag schrieb ich aus dem Gedächtnis was aus der Fernsehserie Kapitän Harmsen auf.
– Moin Willem!
– Moin Puttfarken! Du, Puttfarken, alles klar?
– Alles klar. Du, Willem?
– Ja?
– Is’ was?
– Nee.
– Schlecht geschlafen?
– Nee, schlecht geträumt. Hab geträumt, Hannibal hat mir ’n großen Zeh abgebissen.
– Was schläfst du auch mit bloße Füße!
Papa mußte auf Dienstreise nach Italien. Vorher holte er in Ehrenbreitstein die Schiene für die Faltwand ab und setzte im neuen Haus die Garagenfenster ein.
»So bei kleinem kommen wir weiter«, sagte Mama, und dann mußten wir still sein, weil sie auch mal was im Fernsehen kucken wollte. Die seltsamen Methoden des Franz Josef Wanninger. Ich fand Percy Stuart besser.
Wenn man das dickere Ende von einem Ahornflügelchen aufgepult und auseinanderklappt hatte, konnte man sich das auf die Nase kleben, und es fiel nicht runter.
Frau Kahlfuß brachte uns bei, wie man Kastanienmännchen bastelt, aber wir durften sie nicht mit nachhause nehmen. Die sollten auf der Fensterbank stehenbleiben.
Einem Postkartenheini kaufte Mama an der Tür zwei Krippenbilder ab, mit dem Mund gemalt von Contergankindern. So gut wie die hätte ich nie malen können, schon gar nicht mit dem Mund.
»Sei bloß froh«, sagte Mama. Als ich noch in ihrem Bauch gewesen war, hatte Mama nämlich auch die Contergantabletten genommen, aber ich war gesund geboren worden.
Zusammen mit Renate und Volker durfte ich in Koblenz wieder ins Kino gehen. Wir fuhren mit dem Bus hin, über den Rhein, und stiegen am Zentralplatz aus. Renate wußte, wo wir von da aus langgehen mußten.
Der Film war mit einem VW-Käfer, der auf den Hinterreifen fahren und Leute mit Öl anpinkeln konnte. Beim Autorennen überholte der Käfer alle anderen Autos. Auf der Zielgeraden brach er auseinander, und die hintere Hälfte von dem Käfer rollte noch vor der vorderen über die Ziellinie.
In Italien hatte Papa den schiefen Turm von Pisa fotografiert, aber der Film mußte erst noch entwickelt werden.
Wenn man wollte, daß Papa lachte, mußte man »pföne Mupfel« sagen, so wie der Pinguin in Urmel aus dem Eis, der »schöne Muschel« nicht aussprechen konnte. Papa fand auch den See-Elefanten gut, der beim Singen mit den Augen klapperte.
Urmel, Schnuller um den Hals, und Mama Wutz: »Öff öff!« Sogar darüber lachte Papa.
Auf der Baustelle setzte er die Haustür ein. Als wir abfuhren, winkte uns ein kleines Mädchen mit Brille nach.
Das sei Ute, sagte Wiebke. Diese Ute war die zweitjüngste Tochter unserer neuen Nachbarn, Rautenbergs. Die jüngste hieß Dörte. Söhne gab es da keine. Jetzt hatte Wiebke auf dem Mallendarer Berg schon eine Freundin, aber ich hatte noch keinen Freund. Den würde ich mir erst umständlich suchen müssen.
Wenn ich schlaf, dann träume ich: Jetzt bringt Niklaus was für mich. Ich wollte wachbleiben, bis der Nikolaus was brachte, aber das schaffte ich nicht.
Morgens war mein Stiefel vor der Zimmertür mit grünen Papierservietten ausgelegt und mit noch mehr Süßigkeiten gefüllt als im Jahr davor. Normal waren Schokolade, Kekse und Nüsse. Diesmal gab’s auch Schokoladenzigaretten, bei denen man nicht wußte, ob man das Papier mitessen konnte, und einen großen Stutenkerl mit weißer Tonpfeife. Der Pfeifenstiel war so geformt, daß man die Zähne nicht zusammenkriegte. Oder man mußte die Pfeife quernehmen, aber dann zeigte der Pfeifenkopf zur Seite.
Als Mama noch klein gewesen war, hatte ihr der Nikolaus in Moorwarfen immer eine Scheibe Schwarzbrot und zwei Stück Würfelzucker für die Pferde vom Milchmann hingelegt. Ich hatte Mitleid mit Mama, weil ich dachte, sie und ihre Schwestern hätten damals gar nichts für sich selbst gekriegt, aber das hatte ich bloß falsch verstanden. Auch nach Moorwarfen war der Nikolaus mit Schokolade gekommen, sogar im Krieg.
Mama und Papa waren todmüde, weil sie noch bis tief in die Nacht mit Kollegen von Papa den Bau besichtigt hatten. Papa hatte die Bautrockner neu beschicken müssen, und dann war der Autoschlüssel verschütt gegangen, und die Straßen waren spiegelglatt gewesen. Erst um halb vier Uhr nachts waren Mama und Papa wieder auf der Horchheimer Höhe angelangt.
O Tannebaum, o Tannebaum, der Lehrer hat mich blaugehaun. Ingo Trinklein kannte auch noch andere Lieder, die man nur auf der Straße singen konnte. Von den blauen Bergen kommen wir, unser Lehrer ist genauso doof wie wir. Oder Peter hat ins Bett geschissen, mitten aufs Paradekissen.
Es gab Eintopf mit Wurzeln, und Papa schimpfte über Herrn Winter, den Nachbarn, der auf dem Mallendarer Berg an der anderen Seite von unserem neuen Haus wohnte und sich angestellt hatte wie der erste Mensch, nur weil ein paar Krümel Sand über die Grundstücksgrenze gerieselt waren. Seine Gartenerde sei nämlich schon »gefräst«, hatte Herr Winter erklärt.
Das könne ja noch heiter werden mit diesem Uhu, sagte Mama.
Immerhin war jetzt die Eßplatzscheibe drin. Aber die große Wohnzimmerscheibe hatten die Heinis von Raab Karcher nicht eingesetzt. Die hatte einen Haarriß.
Mama telefonierte viel mit Raab Karcher, und ein Versicherungsfritze mußte kommen und den Haarriß begutachten.
Kurz vor Weihnachten brachten Leute von Raab Karcher die neue Wohnzimmerscheibe, aber als sie die einsetzen wollten, fiel sie hin und ging zu Bruch.
Mama sagte, wenn sie das alles geahnt hätte, wäre sie in Moorwarfen geblieben und Kuhmelkerin geworden.
Renate malte ein Bild vom Weihnachtsmann, wie er durch den verschneiten Tannenwald stiefelt, und Volker malte mit Wachsmalkreide einen Weihnachtsmann, der im Hubschrauber einschwebt.
»Nun singt doch mal!« rief Papa, weil wir vor der Bescherung nicht laut genug mitsangen, als die Weihnachtsplatte lief.
O du fröhliche, o du selige.
Ich kriegte ein Mondfahrzeug, ein Wildwestspiel, ein Daktari-Malbuch, einen neuen Schlafanzug von Tante Dagmar, von Renate ein Heft, in das sie alle Geschichten von Reinhold dem Nashorn eingeklebt hatte, und drei neue Bücher: Neues vom Räuber Hotzenplotz, Märchen aus Tausendundeiner Nacht und Tschitti Tschitti Bäng Bäng.
Volker hatte ein Gewehr, ein Försterbuch und von Onkel Walter noch ein Buch mit Tiergeschichten gekriegt und Wiebke eine Puppe, eine Puppenküche, neue Turnschuhe und einen Hahn aus Holz mit Buntstiften im Rücken. Die Puppe wurde von Wiebke auf den Namen Dagmar getauft.
Am wenigsten neidisch war ich auf Renates Geschenke, eine weiße Fellmütze mit langen Enden und ein Ringbuch und Wäsche. »Kuckt mal, was für ein tolles Kleid!« rief Renate. »So ein schönes! Neuste Mode!« Tante Therese hatte Renate ein Bastköfferchen geschickt, das knirschte, wenn man es hochhob.
Renates neues Ringbuch hatte einen Schlüssel zum Abschließen. »Dokumentenmappe nennt man das«, sagte Mama.
Dann sollten wieder Fotos gemacht werden. »Na los!« brüllte Papa. »Ihr sollt euch neben den Tannenbaum stellen!«
Für Mama und Papa hatte Renate einen Kochlöffel lackiert und Haken für Topflappen und Gummibänder reingedreht.
Von Tante Therese hatte Wiebke einen Schottenrock gekriegt und Mama Parfüm. Für Volker und mich waren Wollmützen in dem Paket aus England.
»Du ahnst es nicht«, sagte Mama beim Auspacken. »Ja, ist es denn die Possibility?« Und: »Kaum zu glauben Komma!« Als Papa ein Deodorant-Spray aus Jever ausgewickelt hatte, rief Mama: »Ach du dickes Ei!«
Wiebke sollte Oma Jever am Telefon Von drauß, vom Walde aufsagen, mußte aber husten und blieb stecken.
Das Wildwestspiel war gut. Es gab blaue Indianer, die mit der Büchse zielten, rote Indianer mit Tomahawks, grüne Cowboys mit Lassos und gelbe Cowboys, die ihre Flinte überm Kopf hielten und leicht umkippten, aber weil das Spiel meins war, konnte ich immer die blauen Indianer nehmen.
Man mußte würfeln und versuchen, die anderen Indianer und Cowboys zu schlagen und bei sich einzusperren, aber man konnte auch in die Gefängnisse von den anderen rein, um Gefangene vom eigenen Stamm zu befreien. In der Mitte vom Brett war ein Feld, wohin man sich flüchten konnte.
In dem Heft von Renate las ich alle alten Geschichten von Reinhold dem Nashorn wieder nach. Wie Reinhold seinem Sohn Paulchen das Fußballspielen verbietet und dann selbst ein Loch ins Fenster schießt oder wie er von Soldaten für einen General gehalten wird, weil ihm ein Suppentopf auf den Kopf gefallen ist. Wie Reinhold Haarwuchsmittel benutzt und ein Fell kriegt, wie er durch eine blankgescheuerte Glastür kracht und wie er Paulchen tröstet, der von der eingekauften Wurst nur einen winzigen Zipfel vor den kläffenden Hunden retten konnte. Reinholds Trost nach all den Hunden: »Besser heil – als Wurst und Wunden!«
Auf Volkers Tierbuch war ein Bär vornedrauf, aber die Geschichten wollte ich nicht lesen. Die Abenteuer eines Sperlingsmännchens.
In Tausendundeine Nacht waren mir die Bilder zu krakelig.
Neues vom Räuber Hotzenplotz war am besten. »Das duftet ja ganz abscheulich gut hier!« rief der Räuber Hotzenplotz und vertilgte die Bratwürste von Kasperls Großmutter ratzeputz, daß es nur so schnurpste. Dann entführte er die Großmutter auf dem Fahrradgepäckträger, und sie mußte die Augen zumachen, weil Rollsplitt auf der Straße lag. Rollsplitt spritzte hoch, wenn man drüberfuhr.
Wachtmeister Dimpfelmoser suchte dann Hilfe bei der Witwe Schlotterbeck, einer staatlich geprüften Hellseherin mit einem Hauskrokodil, das ein verhexter Dackel war.
Den Räuber Hotzenplotz verspotteten Kasperl und Seppel als Aumenpflaugust mit Klaumenpfnödeln, und dann kriegten sie soviel Bratwurst mit Sauerkraut, bis sie Bauchweh davon bekamen, und sie waren so glücklich, daß sie mit keinem Menschen getauscht hätten, nicht einmal um den Preis einer Dauerfreikarte auf der Achterbahn.
Im Fernsehen kam Lederstrumpf. Der konnte Tomahawks auffangen, die feindliche Indianer auf ihn geschleudert hatten. Irokesen, Delawaren und Huronen.
Zusammen mit Lederstrumpf kämpfte der Mohikanerhäuptling Chingachgook. Es gab auch den Irokesenhäuptling Gespaltene Eiche. Als nach dem letzten Teil von Lederstrumpf noch Big Valley kam, sagte Mama, daß wir schon viereckige Augen hätten.
Mit Stracks lieferten wir uns im Garten über den Zaun eine Schneeballschlacht. Ohne Handschuhe kriegte man dabei erst kalte und dann warme Hände. Das liege an der Durchblutung, sagte Volker.
Am Neujahrsmorgen traten Ingo Trinklein und ich das Eis auf zugefrorenen Pfützen ein und suchten die Straßen nach Krachern ab, aber wir fanden nur Raketenstiele, abgefackelte Knallfrösche und nasse Knallerpappen mit Warnungen: Nach dem Anzünden nicht in der Hand halten! Nur im Freien verwenden!
Auf dem Mallendarer Berg kümmerte Papa sich um die Elektroinstallation im neuen Haus. Danach saßen wir auf Röhrenbetonsteinen in der Garage, und Volker schälte mit dem Taschenmesser einen Apfel. Papa hatte eine Kabellampe in die Garagentorschiene gehängt.
Ich wollte Volker helfen, machte es aber falsch. »So doch nicht, du Idi!« rief er, weil ich mit der Hand fast in die Messerklinge gekommen war.
»Jetzt hört mal auf damit, ihr Weihnachtsmänner«, sagte Papa. Er sah sich in der Garage um und sagte, daß wir dafür nun auch lange genug auf dem Zahnfleisch hätten kriechen müssen.
Als wir zurückfuhren, durfte ich vorne sitzen, und Papa zeigte mir, daß er vom Auto aus das Licht an den Pfählen am Straßenrand anschalten und ausschalten konnte. An und aus, an und aus, wie ein Zauberer.
Der Kommissar hatte ein Telefon vorne am Beifahrersitz, aber vom Kommissar durfte ich nur den Vorspann kucken, im Schlafanzug.
Immer wenn er Pillen nahm war Renates Lieblingssendung, mit Stanley Beamish, der fliegen und Hubschrauber vom Himmel auf die Erde ziehen konnte, wenn er eine von den Wunderpillen geschluckt hatte, die aber nur eine Stunde lang wirkten.
Seine große Stunde kam – immer, wenn er Pillen nahm.
Vor dem Umzug holte Oma Jever Wiebke ab. Im neuen Haus war noch kein Strom. Auch Türen und Teppiche fehlten. Papa hatte sich einen LKW geliehen.
In der Küche war ein Fußbodenmensch auf allen vieren und verlegte Mipolam, und im Flur hackten Arbeiter Löcher in den Putz für neue Treppenstufenschlitze.
Die alte Wohnung mußte besenrein übergeben werden. Auf der Fensterbank fand ich noch eine Kleiderbürste, die wir fast vergessen hätten.
Abends suchten wir bei Kerzenlicht nach der Bettwäsche. Das Essen mußte Mama auf einem Gaskocher heißmachen, und sie sagte, sie sei bald reif für die Klapsmühle.
An den Kacheln überm Waschbecken im unteren Badezimmer waren Magneten, an denen man die Seife aufhängen konnte, und vor der Küchentür war ein tiefer Schacht. Da mußte man rüberspringen, wenn man in den Garten wollte.
Nervtötend war, daß wir kein Fernsehen kucken konnten, solange wir keinen Strom hatten. Nicht mal Werbefernsehen. Ob 30, 60 oder 95 Grad, ich hab stets Riesenkraft parat!
Mein Zimmer ging nach vorne raus, und durchs Fenster konnte ich den Wald sehen. Bis Volkers Zimmer oben fertig war, mußte er noch in meins mit rein, wo das Doppelstockbett stand.
Ich kam auf die Christliche Simultanschule Vallendar. Die war unten im Tal. Da fuhr ein Schulbus hin. »Vor den neuen Mitschülern brauchst du keine Manschetten zu haben«, sagte Mama.
In der neuen Schule waren die gleichen Kufenstühle wie in der alten, aber sonst war alles anders. Die Lehrerin hieß Frau Weißpfennig und war ganz mager. Drei Klassen auf einmal, eine im ersten, eine im zweiten und eine im dritten Schuljahr. Frau Weißpfennig ging immer hin und her und gab allen nacheinander was Verschiedenes auf.
Wir mußten jetzt mit Füller schreiben. Mama hatte mir einen grünen Geha gekauft, mit Fensterchen, durch die man sehen konnte, ob die Patrone noch voll war. Innen war auch noch Platz für eine Reservepatrone.
In der Klasse war einer mit Sprachfehler. Wenn der sagen sollte: »Kasper hat Glück gehabt«, dann sagte er: »Tasper hat Dlütt dehabt.«
Neben mir saß ein langer Lulatsch, der einen Kopf größer als Frau Weißpfennig war, aber sonst nichts konnte. Am schlechtesten war Benno Anderbrügge, ein Fettsack, dessen Hefte Eselsohren hatten und außendrauf Tintenkleckse.
Vorne auf dem neuen Lesebuch war ein Bild von einer Kutsche im Wolkenbruch, aber die Kinder in der Kutsche lachten.
Tobias Knubbelnas, der Igel.
Auswendig lernen sollten wir ein Gedicht über drei Spatzen, die im Winter auf einem Ast saßen. Sie rücken zusammen dicht an dicht, so warm wie der Erich hat’s niemand nicht.
Auf dem Pausenhof wußte ich nicht, was ich machen sollte. Die Mädchen spielten Gummitwist und die Jungen Fangen.
Ich freundete mich mit Barbara an, die zu dick war, um andere Freunde zu haben. Wir spielten Verstecken, unter den Mänteln im Flur, bis uns der Hausmeister das verbot.
In Religion nahm Frau Weißpfennig das Alte und das Neue Testament mit uns durch. Adam und Eva, Kain und Abel, der Turmbau zu Babel, die sieben Plagen mit der Verwandlung von Blut in Wasser und dann Jesus, wie er auf einem Esel nach Jerusalem geritten war.
Samaria, Judaea und Idumaea. Zeloten, Pharisäer, Sadduzäer, Aussätzige und die Ehebrecherin, die gesteinigt werden sollte, das konnte man gar nicht alles behalten. Das Scherflein der Witwe, die wundersame Brotvermehrung und das Gleichnis vom Weinberg. Was war eigentlich an Zöllnern so schlimm, daß die von allen verachtet wurden?
Frau Weißpfennig zeigte uns auch Bilder von blinden Indern mit Geschwüren im Gesicht, damit wir mal sehen konnten, wie schlecht es anderen Menschen ging.
Irgendwann hätten siebzig verschiedene Leute die Bibel übersetzt, und alle Übersetzungen hätten Wort für Wort miteinander übereingestimmt.
Wir lernten auch was über Gotik und Romanik und gingen mit der ganzen Klasse in eine katholische Kirche, wo wir die Fenster abmalen sollten. Sankt Marcellinus und Sankt Petrus. Außer mir waren nur fünf andere evangelisch: Melanie Pape, Norbert Ripp, Michael Gerlach, Oliver Wolter und Andreas König. Die mußten auch alle mitkommen.
Die Katholiken hatten Bänke zum Niederknien und Beichtstühle in der Kirche. Im rechten Querschiff stand ein Rokoko-Altar.
Katholiken hätten eben die eine oder andere Schraube locker, sagte Mama. Wenn denen der Papst was sage, hielten sie das für Gottes Wort, und wenn sie gesündigt hätten, würden sie das eben kurz beichten gehen, und dann glaubten sie, daß alles wieder in Butter sei. »Aber laß dir den Katholen gegenüber ja nicht anmerken, was wir über die denken!«
In Zeichnen sollten wir eine Baustelle mit dem Füller malen. Mir lief die Patrone aus, und die einzigen beiden Bilder, die Frau Weißpfennig nicht an die Wand hängen wollte, waren das verschmierte von Benno Anderbrügge und das durchgeweichte, wellige von mir.
Mama machte arme Ritter, was zu meinen Leibgerichten gehörte, und die zischten schon in der Pfanne, aber vor dem Essen mußte ich mir im Badezimmer die Tintenfinger schrubben, mit der Wurzelbürste.
Wir hatten als Hausaufgabe, unseren Schulweg zu beschreiben, und ich dachte mir eine Geschichte aus: Mama vergißt, mich zu wecken, ich renne los und merke erst auf der Straße, daß ich noch nackt bin, renne zurück, verknackse mir den Fuß und hämmere an die Haustür, die dabei in Scherben geht.
Frau Weißpfennig rief mich auf, und ich sollte den Aufsatz vor der ganzen Klasse vorlesen. Weil ich mich nicht traute, nahm Frau Weißpfennig mein Heft und las den Aufsatz selbst vor. Dabei schüttelte sie oft den Kopf, aber die ganze Klasse schrie Zeter und Mordio vor Begeisterung.
Jetzt hatte ich bessere Freunde als die dicke Barbara, und ich nahm Reißaus, wenn sie angedampft kam.
Einmal trieb sie mich vor dem Schultor in die Enge und sagte: »Martin, wollen wir nicht wieder Freunde sein?«
Volker hatte in seiner neuen Schule einen Lehrer, der nach dem Unterricht immer sagte: »Man möge mir den Mantel reichen!« Dann mußte einer spritzen und den Mantel vom Haken holen. Und in Musik hätten sie singen müssen: »Der Faulenz und der Lüderli, das sind zwei rechte Brüderli.« Alles Quatsch mit Soße.
Beim Karnevalsumzug in Koblenz wurden Spielepackungen von den Wagen geworfen, Mensch ärgere Dich nicht und Malefiz, aber wenn man da hinwollte, wurde man umgerannt. Kowelenz olau.
Dafür hatte ich die Taschen voll mit Karamelbonbons, und ich probierte nochmal aus, wieviele ich davon in den Mund stecken konnte. Einer ging immer noch rein, aber der Kloß war so groß geworden, daß ich nicht mehr drauf kauen konnte, nur am Rand, und als ich den Kloß nach einer Stunde aufhatte, war mir der Appetit auf die restlichen Bonbons vergangen.
In Jever hatte Wiebke vier Pfund zugenommen und das Wort mürselig gelernt, was mühselig heißen sollte.
Zu der neuen Kindertonne, die im Flur stand und wo unsere Mützen, Schals und Handschuhe reinkamen, sagte Wiebke Tinnatonne.
Es war tiefster Winter.
In meinem Zeugnis stand, daß ich gute Leistungen gezeigt hätte. Martin müßte sich aber auch einmal von sich aus am Unterricht beteiligen und nicht immer auf eine Aufforderung zum Sprechen warten.
Das sei ja wohl ein Witz, sagte Mama. Die größte Sabbeltasche vom Mallendarer Berg kriegt in der Schule die Kusen nicht auseinander!
Mitte Februar bauten Handwerker den Raumteiler zwischen Küche und Wohnzimmer ein. Ein Arbeiter schleppte Teppichfliesen hoch. Dralon mit Kräuselvelours. Um die Faltwand zwischen Wohnzimmer und Büro kümmerte Papa sich nach Feierabend selbst. Die Faltwand war beesch, aber Renate sagte, die sei »kackafarben«, und die Fliesen würden stinken.
Renate meckerte auch über die grünen Fliesen in ihrem Zimmer oben, weil die aus dem Wohnzimmer auf der Horchheimer Höhe stammten und noch Kabaflecken und Schmelzflockenkleckse hatten.
Wegen dem Hochwasser auf dem Rhein mußte Papa Renate und Volker auf einem riesigen Umweg über eine Autobahnbrücke nach Koblenz zur Schule fahren und mittags wieder abholen. Nur zu meiner Schule in Vallendar kam das Hochwasser nicht hin.
Strom kriegten wir jetzt von Rautenbergs, über ein Verlängerungskabel, das aus dem Gästeklofenster hing.
Rautenbergs waren weder evangelisch noch katholisch, sondern Adventisten, die alles mögliche nicht durften. Einmal kam Frau Rautenberg rüber, um Mama zu missionieren, aber Mama machte lieber Kaffee für Frau Rautenberg und sich selbst, und beim Kaffee erzählte Frau Rautenberg, daß ihr Mann ihr verboten habe, Lippenstift zu benutzen. Wer rote Lippen haben will, soll drauf rumbeißen, habe Herr Rautenberg gesagt.
Wir hatten ja viel Krempel, aber Rautenbergs hatten noch mehr. In deren Garage waren alle Sachen so untergebracht, daß das Auto eben noch reinpaßte, und wenn es nicht drinstand, sah man an der Lücke, daß es ein VW sein mußte.
Von seinen Töchtern wollte Herr Rautenberg, daß sie immer kuckten, ob was Kaputtes an der Straße stand, eine Waschmaschine oder ein alter Fernseher. Dann fuhr Herr Rautenberg da hin und nahm das mit, und die Tochter, die den Fund gemeldet hatte, kriegte fünfzig Pfennig. Aber weil schon sieben kaputte Fernseher und fünf kaputte Waschmaschinen im Haus standen, wollte Frau Rautenberg nichts neues Kaputtes mehr und bot den Töchtern eine Mark dafür, daß sie den Schnabel hielten, wenn sie was gesehen hatten.
Herr Rautenberg hatte eine Zeitung abonniert, die Such & Find hieß, und wenn da jemand inseriert hatte, daß eine alte Trockenschleuder über sei, dann kaufte er die.
Herr Winter gab Mama den Rat, Feuerdorn zu pflanzen, damit uns keine Hunde in den Vorgarten kackten: »Da kieksense sich die Eier.«
Als er einmal an seiner Hecke schnippelte und ich nicht Guten Tag zu ihm gesagt hatte, blaffte Herr Winter mich an, daß ich ja wohl ein ganz sturer Patron sei. Von da an konnte ich den Kerl nicht mehr leiden, und ich war froh, daß ich nicht Wiebkes Zimmer hatte und durchs Fenster immer auf dem sein Haus kucken mußte.
Die Leute mit dem Garten, der anfing, wo unserer aufhörte, hießen Wölk, aber bis wir da mal hintergekommen waren, hatte Papa Herrn Wölk schon auf den Namen das Walroß getauft, weil Herr Wölk so fett war. Der saß in seiner Hollywoodschaukel oder schwabbelte am Zaun lang und wachte darüber, daß niemand am Sonntag Gartenarbeit machte, weil das in dieser Katholengegend verboten war.
Im Haus fehlten jetzt noch die Tapeten in der Diele, die Doppeltür zwischen Diele und Wohnzimmer, fast alles in Volkers Zimmer und die Treppe nach oben. Da kam man nur über eine Leiter hoch.
Die Treppe draußen konnte noch nicht gemacht werden, weil die Erde gefroren war.
Handwerker, die den Schnött hochzogen, brachten Latüchten im Flur an und montierten einen Automatikherd in die Küche, aber eigenen Strom hatten wir immer noch nicht.
Der Hobbyraum war vollgepfropft mit Brettern, Papptonnen, Bierkisten und Kartons voller Gerümpel. Ich turnte dadrin rum, fiel hin und kriegte Nasenbluten.
Mama legte mir einen kalten Waschlappen ins Genick.
Komisch, daß ein Lappen im Nacken gegen Nasenbluten half.
Ende März kriegten wir endlich Strom, das Treppengeländer und alle Lichtschachtgitter, und ich kriegte überall Pickel.
Mama ging mit mir nach Vallendar zu Doktor Kretzschmar. An der Wand im Wartezimmer hing ein gerahmter Zettel: Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger.
Die Sprechstundenhilfe steckte mir einen Zitronenbonbon zu.
»Weißt du auch, wieso die Herren Herren heißen und die Damen Damen?« fragte Doktor Kretzschmar mich. Das wußte ich: »Weil die Herren herrlich sind und die Damen dämlich!«
»Ihr Sohn hat einen guten Humor«, sagte Doktor Kretzschmar zu Mama, und dann stach er mir mit einem Pieker in die linke Ringfingerspitze, was sauwehtat.
Ich hatte Windpocken und mußte alleine in Wiebkes Zimmer schlafen, in Renates altem Klappbett.
Kratzen durfte ich mich nicht.
Ich kriegte ein langärmeliges Schlafanzugoberteil und auf die Pickel Puder und Zinkcreme.
Am Ostersonntag brachte Wiebke mir drei harte Eier und einen Schokoladenosterhasen ans Bett, aber ganz hektisch, weil sie Angst hatte, sich anzustecken.
Während der Windpocken verpaßte ich Flipper, die kleinen Strolche, die Shadocks, Tarzan, Big Valley, die erste Folge von Invasion von der Wega und den Start der neuen Apollorakete.
Volker hatte die Direktübertragung gesehen. Er konstruierte jetzt Überschallfernbomber auf Papier. Wie Daniel Düsentrieb.
Jugend forscht.
In einem von Papas alten Micky-Maus-Heften war eine Geschichte, wo Daniel Düsentrieb mit einer von ihm selbst erfundenen Rucksackrakete rumflog, die auch eine Farbspritzpistole war. Dem Ingenieur ist nichts zu schwör!
Fliegen konnte auch Donald Duck. Einmal schrieb er mit Rauch aus dem Flugzeugauspuff Reklamesprüche an den Himmel, für Labbisuppe und für Onkel Dagobert, als der für den Stadtrat von Entenhausen kandidieren wollte, aber dann kamen Wolken, Wildgänse und Wind, und am Himmel sah Onkel Dagobert plötzlich aus wie ein Affe, wie ein Esel und wie jemand, der ein Kind mit dem Besen verhaut.
Als reichster Mann der Welt konnte Onkel Dagobert in seinem Geldspeicher in Talern baden, aber andere kriegten nie was davon ab. Am schärfsten wachte der alte Geizhals über seinen ersten selbstverdienten Taler, den ihm die Hexe Gundel Gaukeley ständig abjagen wollte.
Donald hatte nie Geld. Der mußte als Hundefänger, Telegrammbote, Walfänger und Feuerwehrmann schuften, und alles ging schief. Als Stationsvorsteher mußte er auf hungrige Truthühner aufpassen, die ihm den Ärmel abfraßen.
Mit Daisy Duck hätte ich mich anstelle von Donald aber nicht abgegeben. Die hatte schon so doofe Schuhe an und ging auch mit Gustav Gans aus, dem Glückspilz, der auf der Straße immer volle Portemonnaies entdeckte und sie Donald vor der Nase wegschnappte.
Als Donald Duck mal Glück gehabt hatte, sang er zusammen mit Tick, Trick und Track: Gustav Gans, ja, der kann’s! Doch unser Schwein ist auch nicht klein!
Auf Tick, Trick und Track paßte nur Onkel Donald auf, der nicht so schlau war wie seine drei Neffen und oft auch ärmer. Dann stahl er ihnen was aus dem Sparschwein. Dafür wollten Tick, Trick und Track sich nicht waschen: Wir pfeifen auf Pomade, auf Seife, Kamm und Schwamm! Und bleiben lieber dreckig und wälzen uns im Schlamm!
Als einmal eine führerlose Lokomotive auf einen vollbesetzten Eilzug zuraste, rechneten Tick, Trick und Track alleine aus, wo Onkel Dagoberts Hubschrauberpiloten die Schaumgummimatratzen abwerfen mußten, um in letzter Sekunde den Zusammenstoß zu dämpfen. Im Fernsehen wurden Tick, Trick und Track dafür von einem Nachrichtensprecher gelobt, und Onkel Donald standen Fragezeichen überm Dez.
Renate kam rein, um mir ein Geschenk zu bringen, aber das gab sie mir erst, als ich versprochen hatte, niemals jemandem was davon zu sagen. Das Geschenk war aus Knüpferli gebastelt.
»Das ist ein Sackwärmer«, sagte Renate.
Der Sackwärmer paßte, und Renate lachte sich schief, aber ich mußte ihr noch einmal versprechen, nie, nie, nie jemandem was davon zu sagen.
Vorm Haus war alles kahl, und die Außenwände waren noch nicht verputzt. Um in ihr Zimmer zu kommen, mußte Renate immer noch über die Leiter klettern. Innen im Haus hatten die Handwerker Würmchenmuster in den Putz gekratzt.
Weil Frau Weißpfennig schwanger war, hatten wir als Vertretung Frau Klemm, die Ohrringe anhatte und uns Blumennamen beibrachte: Rittersporn, Holunder, Goldregen und Klatschmohn. Sie nahm auch Nutzpflanzen mit uns durch. Weizen, Gerste und Roggen, Sandhafer und Saathafer.
Zum Geburtstag bekam ich ein Fahrrad. Von den restlichen Geschenken waren ein Kinderlexikon und ein Stempel mit meinem Namen und meiner Adresse die besten.
Dazu ein Stempelkissen. Den Stempel knallte ich in das Lexikon und dann in alle meine anderen Bücher rein.
In dem Lexikon, das erst für Jungen und Mädchen von 10 bis 14 war, stand auf der ersten Seite was über Aale. Im Sargassomeer laichen die Aale und sterben dann vor Entkräftung.
Schlosser kam nicht vor, Koblenz auch nicht, Vallendar auch nicht, Mallendarer Berg auch nicht, aber Walt Disney.
Der Mensch. Während du diesen Satz liest, bildet dein Körper 24 Millionen rote Blutkörperchen; jede Sekunde 8 Millionen.
Mama ermahnte mich, mit dem Rad nicht leichtsinnig zu sein. Neun von zehn Verkehrsteilnehmern seien Vollidioten, und man müsse immer mit der Blödheit der anderen rechnen.
Volker und ich kundschafteten die Straßen aus, die wir noch nicht kannten. Von der Robert-Koch-Straße ging rechts ein Weg zu einem geteerten Spielplatz ab. Da stand ein mehrstöckiges Mietshaus, in dem samt und sonders Asoziale wohnten.
Auf der Wippe saß ein dicker Junge mit rotem Pullover, so daß keiner die benutzen konnte. Das sei Qualle, sagte Volker. Vor dem könne er mich nur warnen. Das sei ein Angeber, der Kleinere gerne mal umwerfe und sich draufsetze, Knie auf die Arme. Muckireiten hieß das.
Wir fuhren weiter zum Aussichtsturm auf der Kaiser-Friedrich-Höhe. In einem Zwinger tobte ein Dobermann rum. Ich dachte schon, der bricht aus, aber das Gitter hielt.
Vor dem Turm war eine abgesperrte Tür. In der Gastwirtschaft nebenan konnte man sich für dreißig Pfennig den Schlüssel borgen. »Dann will ich mal blechen«, sagte Volker.
Die Plattform oben war höher als die Wipfel der Eichen, die da standen. Man sah das Deutsche Eck, die Mosel und die Kähne auf dem Rhein. Nur die Horchheimer Höhe war zu weit weg.
Rechts ging der Wilgeshohl runter, eine Straße, die so steil war, daß sie bei uns auch die Sprungschanze hieß. 24 % Gefälle.
Da wollte Volker runter und dann durchs Wambachtal wieder rauf.
Er fuhr vor. Um noch mehr Tempo zu kriegen, duckte er sich, obwohl er schon einen Affenzahn draufhatte.
Ich war leichter als Volker, aber ich wollte nicht langsamer sein. In der Kurve ließ ich die Handbremse los. Die Kurve ging nach links. Ich wollte auf der rechten Straßenseite bleiben, aber das Fahrrad fuhr von ganz alleine auf die linke Seite rüber, und ich hatte zuviel Tempo, um mit Handbremse und Rücktritt noch was machen zu können.
Wenn mir ein Auto entgegengekommen wäre, hätte mich das zu Brei gefahren, aber es kam keins.
Nach der Kurve konnte ich das Fahrrad wieder auf die rechte Straßenseite lenken und bremsen und anhalten. Mir wackelten die Knie.
Mus und Grus wäre ich gewesen.
Unten in Vallendar war eine Weide mit einem Esel, der herzzerreißend schrie und blökte. Das hörte man noch kilometerweit.
Volker kannte einen Weg in den Wald, wo es wieder zum Mallendarer Berg zurückging. Im Waldtal floß ein Bach, der Wambach, weshalb der Wald Wambachtal hieß. Der Wambach fing schon früher an, aber es gab eine Quelle im Wambachtal, aus der frisches Wasser in den Wambach floß. Volker zeigte mir die Quelle, und wir schlürften was von dem Wasser, Hände aufgestützt.
Auf der anderen Seite vom Weg war ein eingezäuntes Grundstück mit Wasserbecken. Da züchtete jemand Fische.
Wir pflückten einen Blumenstrauß für Mama, ohne genau zu wissen, welche von den Blumen unter Naturschutz standen.
Sag, wer mag das Männlein sein?
Mama saß mit einem Haufen löchriger Wäsche an der Nähmaschine und lutschte Garn an. Nach dem Nähen wollte sie noch plätten.
Papa sagte, er würde irgendwann Plastikanzüge kaufen für Volker und mich. Dann könnten wir in der Waschküche mit dem Gartenschlauch abgespritzt werden.
Erwogen wurde auch die Anschaffung einer Turnmatte zum Raufen für uns, aber nicht ernsthaft.
Als Tarzan gegen eine Bande von Elfenbeinjägern kämpfen mußte, nörgelte Renate darüber, daß der sich im Urwald nie einen Splitter in den Fuß trat.
»Wenn man immer barfuß rumläuft, kriegt man Hornhaut an den Fußsohlen«, sagte Volker. Das hatte gesessen.
Vor Renates Konfirmation räumte Papa den Hobbyraum leer und klebte Tapeten, die wie grüne Zaunbretter aussahen. Dann wurde der alte Kinderzimmerteppich ausgerollt.
»Jetzt könnt ihr hier Krach schlagen, soviel ihr wollt«, sagte Mama.
In der einen Ecke oben war ein Gerät, in dem es knackte, wenn bei uns oder bei Rautenbergs jemand anrief. Wir hatten einen Zweieranschluß.
Papa holte Oma Schlosser ab und brachte in einem Anhänger ihr altes Sofa mit. Das kam in den Hobbyraum. Es hing durch, aber man konnte drauf rumspringen und den Sitz hochklappen.
Ihr Konfirmationskleid fand Renate zu lang, aber Oma Schlosser fand es zu kurz, also machte Mama den Saum wieder auf und das Kleid noch zwei Zentimeter länger, und Renate war stocksauer.
Bevor die anderen Konfirmationsgäste kamen, brachte Mama Volker und mir den Diener und Wiebke den Knicks bei.
Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen. Mama wollte von der Straße aus ein Foto von sämtlichen Gästen auf dem oberen Balkon machen, und weil die Treppe noch nicht stand, stiegen alle die Leiter hoch, nur Oma Schlosser nicht.
In der Kirche mußten wir singen. Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren! Ehren, nicht Ähren. Meine geliebete Seele, das ist mein Begehren.
Der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet.
Die Predigt hielt der dicke Pfarrer Liebisch, bei dem Renate in Koblenz am Hilda-Gymnasium auch Religion hatte. Wer da im Unterricht nicht aufpaßte, kriegte vom Liebisch ein Schlüsselbund an die Rübe geschmissen.
Am Abendmahl durfte ich noch nicht teilnehmen. Papa hätte gedurft, aber er wollte nicht, und als Renate ihn fragte, pflaumte er sie an: »Das tu ich eben nicht!«
Von Tante Dagmar hatte Renate eine Knautschlacktasche und rote Schuhe gekriegt, von Tante Dorothea eine Korallenkette, von Tante Grete einen Weißgoldring mit Zuchtperle, von Oma und Opa Jever Geld und von Oma Schlosser einen Volksbrockhaus und eine Schreibtischlampe mit rauher Oberfläche, die wie angebranntes Rührei aussah.
Vallendar stand auch in dem Volksbrockhaus nicht drin, aber Koblenz, und es war sogar das Deutsche Eck abgebildet.
Unter Schlosser stand: 1) Friedrich Christoph, Historiker, *1776, †1861, Prof. in Heidelberg; »Weltgeschichte für das dt. Volk«. 2) Johann Georg, Schriftsteller, *1739, †1799; Jugendfreund und Schwager Goethes.
»Da kannst du dir ’n Ei drauf pellen«, sagte Mama.
Was ich im Volksbrockhaus unter Martin gefunden hatte, zeigte ich ihr nicht mehr.
Im Wambachtal fanden Volker und ich einen Schilfdschungel. Das Schilf war höher als wir, und wir konnten uns Pfade reintreten, an verschiedenen Stellen, ohne uns zu treffen, aber die Schilfblätter hatten scharfe Kanten. Ich schnitt mir an der linken Hand den kleinen Finger auf.
Bei dem Fischzüchter kletterten wir über den Zaun und warfen mit Kieselsteinen nach den Fischen. In dem Schuppen, der da war, bedienten wir uns aus einer Sprudelflasche und nahmen eine Rolle Draht mit, aber weil wir nachher nicht wußten, was wir damit anfangen sollten, warfen wir sie in den Wambach.
Wir entdeckten auch ein Vogelnest. Um reinkucken zu können, mußten wir ein Brennesselfeld durchqueren und einen Baum hochkraxeln. Die Eier waren grün mit braunen Sprenkeln und ganz klein.
Expeditionen ins Tierreich.
Volker sagte, daß wir auf Eichelhäher achten müßten. Das seien Nesträuber. Wenn die uns sähen, würden sie unserer Spur folgen und die Eier fressen.
Ich glaubte das nicht, aber als wir einen Tag später wieder in das Nest kuckten, lagen nur noch die zerbrochenen Eierschalen drin.
Amsel, Drossel, Fink und Star.
Als die Handwerker die Treppe zum Obergeschoß einbauten, war der Lärm beim Bohren so groß, daß man dachte, gleich kracht das Haus ein.
Bleckondecker, Bleckondecker, Bleckondecker, Bleckondecker …
»Der Dreck überall ist gräsig«, schrieb Mama in einem Brief an eine Freundin, die in Neuseeland wohnte.
Pfingsten bereitete Mama Hackbraten mit Kohlrabi zu und als Nachtisch Karamelpudding. Der Kohlrabigestank waberte schon den ganzen Vormittag über durchs Haus, und ich wußte, wenn ich die Kohlrabistifte nicht runterwürge, krieg ich keinen Pudding.
»Mach nicht so ’n Theater«, sagte Mama.
Ich fragte sie, ob sie als Kind Kohlrabi gemocht habe.
»Sitz gerade!«
Im Fernsehen gab es nur Volkstänze und Gottesdienste, und ich fuhr mit dem Rad weg, bis Tarzan kam, der Bezwinger der Wüste. Weil Renate und Volker sich auf den beiden Sesseln breitgemacht hatten und mir das Sofa zu weit weg stand, lag ich auf dem Boden, mal auf dem Bauch, mal auf der linken und mal auf der rechten Seite. In die Haut an meinem einen Oberarm hatte sich schon das Teppichfliesenmuster eingedrückt.
»Du hast wohl deine drolligen fünf Minuten«, rief Volker, als ich ihm das rote Sofakissen an die Birne geschmissen hatte, und wir liefen zu einem Kämpfchen in den Hobbyraum, wo ich mir an der Türkante den Musikknochen anstieß.
Einmal weckte mich Volker sonntagmorgens, und wir schlichen uns aus dem Haus, als alle anderen noch filzten. Volker hatte einen Zettel auf dem Eßtisch hinterlassen: Martin und ich, wir schlimmen Gören, wollten euch nicht beim Frühstück stören, darum sind wir leise und verlogen aus der Wohnung ausgeflogen.
Wir nahmen Plastiktüten mit und machten eine Radtour in die Gartenstadt, wo es ein Neubaugebiet mit wilden Kirschbäumen gab. Da pflückten wir so viele Kirschen, daß unten schon der Saft aus den Tüten tropfte.
»Das kommt ja wie gerufen«, sagte Mama.
Leber mit Zwiebeln, Bohnen und Kartoffeln und dann die Kirschen. Papa verzog das Gesicht, aber er sagte nicht wie sonst so oft, daß der Nachtisch wie Zement schmecke, was ich schade fand.
Jetzt hatte auch Wiebke zum Geburtstag ein Fahrrad gekriegt, ein ganz kleines. Auf der Straße hielt ich das Rad am Lenker und am Sattel fest und schob Wiebke damit hin und her. Nach einiger Zeit mußte ich bloß noch den Sattel festhalten, und als es dunkel wurde, konnte Wiebke alleine fahren, nur noch nicht wenden. Dafür mußte sie anhalten und absteigen.
Im Hobbyraum bauten Volker und ich die alte Lego-Eisenbahn auf. Geriffelte und glatte Schienen, krumme und gerade. Ich verwechselte immer die langen Außenkurvenschienen mit den kürzeren, die nach innen gehörten, und mußte alles wieder auseinanderreißen.
Als wir fast fertig waren, stellte Volker fest, daß die Batterie von der Lok keinen Saft mehr hatte.
An einem Sonntag fuhr Mama uns auf die Horchheimer Höhe. Volker wollte mit Kalli angeln gehen und ich zu Uwe.
Ich kletterte wieder an den Laternen hoch, aber da war irgendein neues Zeug drauf, und ich hatte nach dem Klettern grünbeschmierte Beine.
Im Wäldchen versuchten wir nochmal, den großen Stein auszugraben, wobei ich mir einen Finger aufschlitzte. Die Wunde blutete, und wir liefen zu Uwe nachhause. Herr Strack holte einen Erste-Hilfe-Koffer aus der Schrankwand und machte mir einen Mullverband.
»Das wäre ja auch noch schöner gewesen, wenn du mal ohne Blessuren nachhause gekommen wärst«, sagte Mama, als Kallis Vater Volker und mich zurückgebracht hatte.
Volker hatte einen Aal gefangen, der noch lebte. Papa packte den Aal und schnitt ihm in der Küche mit der Brotschneidemaschine den Kopf ab, wobei das Blut aus dem Hals sprudelte.
»Herrijassesnee!« rief Mama.
Der Aal sei jetzt tot, sagte Papa, aber das Ende ohne Kopf war immer noch am Zucken. Das sprang auch aus der heißen Bratpfanne wieder raus und peitschte auf dem Kachelfußboden rum. »Das sind nur Nervenreflexe«, sagte Papa, aber sobald er den Aal zu fassen gekriegt hatte, flutschte der ihm wieder aus der Faust raus.
Irgendwann verließen den Aal die Kräfte. Volker durfte ihn alleine aufessen.
Im Garten hatte Papa ein Gemüsebeet angelegt, mit Stangenbohnen, und am Zaun schoß eine Sonnenblumenhecke empor, richtig strahlend, so als ob wir schon was in der Glücksspirale gewonnen hätten.
Gleich vorm Haus ging eine Sackgasse runter, die aber keine war, weil man von da aus zu Fuß ins Wambachtal konnte. Ich wollte eine Urwaldstadt finden, so wie Tarzan, aber das beste, was ich fand, war ein Tierschädel. »Könnte von einem Rehbock sein«, sagte Volker.
Waren das in den Tarzanfilmen eigentlich immer Krokodile oder Alligatoren?
Wir drehten Steine um. Da saßen oft Würmer drunter und Kellerasseln, die machten, daß sie wegkamen.
Wiebke wollte nie ins Wambachtal mitkommen, weil sie eine Heidenangst hatte, sich dreckig zu machen. Schön doof. So etepetete konnten bloß Mädchen sein.
Einmal flüsterte Volker mir zu, daß er und ich in Renates Zimmer kommen sollten, aber heimlich, und wir schlichen uns hoch.
Mit Mamas Erlaubnis hatte Renate den alten Plattenspieler bei sich im Zimmer angeschlossen und die Weihnachtsplatte aufgelegt: Musik für festliche Stunden. Daß sie dazu Striptease für uns tanzen wollte, hatte sie Mama aber nicht unter die Nase gerieben.
Von den Schleiern, die Renate sich umgehängt hatte, warf sie beim Tanzen einen nach dem anderen ab. Erst den grünen, dann den gelben, dann den anderen grünen und zuletzt den roten. Dann stand sie im Bikini da und machte einen Knicks.
Wir mußten schwören, nichts davon zu verraten.
Wenn das Licht aus war, erzählte Volker mir, was er in der letzten Nacht geträumt hatte. Volker konnte in Fortsetzungen träumen. Der nächste Traum fing immer genau da an, wo der vorige aufgehört hatte. Im letzten waren Volker und ich als Däumlinge in einem kleinen Hubschrauber über den Rhein nach Koblenz geflogen. Volker sagte, er sei schon gespannt, wie es jetzt weitergehe.
Morgens beim Anziehen erfuhr ich die Fortsetzung. In Volkers neuem Traum waren wir über Volkers Schulhof geflogen, und ein Lehrer hatte versucht, unseren Hubschrauber an den Kufen zu packen, aber so hoch, wie wir flogen, hatte der Pauker nicht hüpfen können.
Im Stern war Reinhold das Nashorn von dem kleinen Herrn Jakob abgelöst worden, der bei weitem nicht so gut war.
Enttäuscht war ich auch, als Mama sagte, die Sänger in der Hitparade würden gar nicht singen, sondern nur den Mund auf- und zumachen. Das sei Playback. Echt sei nur das Gebabbel von Dieter Thomas Heck, dieser die Sau grausenden Quasselstrippe.
Im Zeugnis hatte ich drei Einsen, vier Zweien und sieben Dreien. Für jede Eins gab es eine Mark und für jede Zwei fünfzig Pfennig. Das waren zusammen fünf Mark für mich, die ich verjubeln oder sparen konnte.
In Vallendar kaufte ich mir zwei Lakritzpfeifen und ein Micky-Maus-Heft, das ich im Hobbyraum unterm Sofasitz versteckte, weil Mama von Micky Maus nicht viel hielt.
Aus Venezuela kam eine Freundin von Mama zu Besuch, Kathrin, mit ihrem Sohn Manaure, einem kleinen Frechdachs in Wiebkes Alter. Renate ging mit Wiebke und Manaure auf den Spielplatz, aber als Renate wieder nachhause wollte, wußte sie nicht mehr, welches von den Kindern Manaure war, und Wiebke wußte das auch nicht. Da mußte erst die Mutter geholt werden.
Dann biß Manaure Wiebke in den Arm und sagte zur Entschuldigung: »Ich hab sie nur geklemmt!«
Dann kam auch mal Uwe auf den Mallendarer Berg. Wir zogen Badehosen an, ließen Wasser in die Wanne laufen und sprangen da rein und wieder raus und wieder rein.
Wer länger tauchen kann. Nase zuhalten und runter. Der andere mußte die Sekunden zählen. Ich fand, daß Uwe pfuschte und zu langsam zählte, aber er gab mir sein Ehrenwort.
Mama wollte wissen, ob wir so ein Höllenspektakel veranstalten müßten? Das gehe ihr durch Mark und Pfennig.
Die Sprudelkiste, die Papa eingekauft hatte, war nachmittags schon halb alle.
Aus Rautenbergs Garten klauten wir uns Himbeeren. Da mußte man auf Maden achten.
Uwe gefiel es auf dem Mallendarer Berg besser als auf der Horchheimer Höhe, auch wenn sich da vom Hochhaus neulich einer runtergestürzt hatte. Das Hochhaus sei ganz rot gewesen von dem Blut von dem Selbstmörder, sagte Uwe. Alles mit Blut besudelt, von oben bis unten.
Auf dem Bürgersteig gegenüber lagen Backsteine, aus denen wir Türme bauten, bis der Eismann an der Ecke hielt und bimmelte. Ich suchte nach meinem restlichen Zeugnisgeld, das aber nicht reichte. Mama gab mir was dazu.
Im Wambachtal wollte ich Uwe die Quelle zeigen, aber dann stach mich eine dicke Bremse in den Arm und saugte noch weiter Blut, als ich sie schon halb totgeschlagen hatte. Eine andere stach Uwe ins Bein, und wir rannten schreiend weg, den ganzen Weg bis Vallendar, um die Bremsen abzuhängen.
Beim Saubermachen im Hobbyraum fand Mama mein Micky-Maus-Heft. Sie rief mich runter, legte mir die Hände auf die Schultern, sah mich ernst an und sagte: »Mir wäre es lieber, du würdest deine paar Kröten sparen, statt sie für solchen Schund auszugeben.«
Tarzan hatte als Dusche einen Wasserfall und konnte gut kraulschwimmen und mit bloßer Hand Fische fangen und Krokodile abstechen, aber am besten war eindeutig Dick und Doof. Das war das Lustigste, was es jemals im Fernsehen gegeben hatte. Wie sie zusammen in einer Hose über die Straße laufen, oder wie sie jemandem Farbe über den Kopf gießen. Da erstickte man fast vor Lachen. Für Dick und Doof kam selbst Papa aus der Garage hoch, was er normalerweise nur für die Tagesschau tat.
Als Gustav uns besuchte, wollte er wissen, wie wir das Vorschlußrundenspiel Deutschland gegen Italien gefunden hätten, aber davon hatten wir nichts mitgekriegt. Gustav zog eine Schnute und sagte, ihm sei durchaus bekannt, daß der Mallendarer Berg nicht der Nabel der Welt sei, aber daß wir hier derartig hinterm Mond lebten, das sei ihm neu. Dieser Umstand würde wohl auch ausgebildeten Geographen und Astronomen Rätsel aufgeben.
Als er sich die Zähne putzen gegangen war, bezeichnete Mama Gustav als Klugscheißer, und Papa sagte, das komme eben dabei raus, wenn ein Junge von seinen Großeltern erzogen werde. Da fehle der Wind von vorne.
Nach Jever wollte Volker dieses Jahr nicht mitkommen. Ihm sei es da nicht interessant genug. Ab und zu hatte Volker sonderbare Ansichten.
Renate und ich fuhren ohne ihn im Zug mit Gustav los.
Vorher noch die Flossen vorzeigen. Mama sagte, ich hätte Grabefäuste mit Trauerrändern. Die polkte sie mir mit der Nagelscherenspitze raus. »Weiter hierher, ins Licht! Und stillhalten!«
Wer schön sein will, muß leiden. Am bösesten war Renate dran mit ihren langen Haaren, die beim Kämmen so ziepten, daß sie fast heulen mußte.
»Und daß ihr euch ja manierlich benehmt in Jever!«
Ich lief jeden Tag in den Schloßgarten und suchte nach Pfauenfedern. In den Büschen am Hang hinter den Plumpsacksteinen fand ich eine und nahebei noch eine. Wenn ich ein ganzes Pfauenrad zusammenkriegte, könnte ich Karneval als Pfau gehen.
Oma weckte Pflaumen ein und hängte im Keller Bänder mit Gemüse auf. »Updrögt Bohnen«, sagte sie dazu, und Opa eierte auf seinem Rad zum Schloß, um Besuchergruppen die holzgetäfelte Decke im Audienzsaal vorzuführen. Opa war im Heimatverein.
Opa zeigte mir auch das Schlosser-Denkmal am Schlosser-Platz. Das stand da für den in Jever geborenen Schlosser aus Renates Volksbrockhaus. Wenn ich mich anstrengte, sagte Opa, würden die Leute ja vielleicht auch mal für mich ein Schlosser-Denkmal in Jever errichten.
Am besten im Schloßgarten.
Herr Kaufhold lehnte schon ganz lange am Gartentor und schüttelte den Kopf, das konnte man vom Balkon aus sehen. Gustav und ich gingen hin.
Auf der anderen Straßenseite standen zwei Langhaarige, die den Daumen raushielten und von einem Auto mitgenommen werden wollten. »Gammler«, sagte Herr Kaufhold und schüttelte wieder den Kopf. »Im schönen Jever!«
»Aus dem schönen Jever wollen die ja gerade w-w-weg«, sagte Gustav.
Zum Geburtstag kriegte Renate eine Mundharmonika, einen Helancapullover, einen Tischpapierkorb und süße Brezeln, die Jeversche Leidenschaften hießen.
Beim Fernsehkucken strickte sie sich eine Mantilla mit Fransen. Der Löwe ist los hatten wir sehen dürfen, aber Bugs Bunny fand Oma zu vulgär.
Stattdessen spielten wir Halma. Da mußte man versuchen, mit den Figuren durch Überhüpfen von einem Dreieck in das gegenüberliegende zu kommen. Gustav stellte seine Männchen immer so hin, daß sie Omas und meine Hüpfstraßen blockierten, und wenn Oma beim Hüpfen andere Männchen umschmiß, rief er: »Du hast Gichtfinger!«
Außer beim Reinblasen tönte die Mundharmonika auch, wenn man durch die Schlitze Luft holte.
Zusammen mit Tante Dagmar, die mit dem Zug gekommen war, fuhren wir nach Heidmühle ins Freibad. Tante Dagmar hatte mir eine Bermudabadehose mitgebracht, aber ich wollte lieber auf dem Handtuch sitzen, Eis essen und Drückeberger sein als Schwimmen lernen.
Im Flur war ein Holzschapp mit perforierten Lederhandschuhen drin und einer Hutnadel oder sowas Ähnlichem.
Während Kim, Pips, die Ziege und die Katze in der Augsburger Puppenkiste auf der Suche nach dem Kakadu Ka mitten auf dem Ozean dem ausgebrochenen Löwen begegneten, leitete Opa eine Busreise ins holländische Küstengebiet, mit 76 Teilnehmern, alles Rentner. Außer im Heimatverein war Opa auch in der LAB, der Lebensabendbewegung. Da war Opa ein hohes Tier.
Als wir abreisen mußten, brachte Tante Grete Renate und mich bis Sande. Von da aus fuhr ein Zug bis Koblenz durch.
Renate kannte zwei Eisenbahnwitze. Ein Mann findet im Gepäckfach einen Hut, in dem der Name des Besitzers steht: Willibald Reinsch. Mit dem Hut in der Hand geht der Mann dann durch den Zug und fragt überall: »Ist hier jemand, der Reinsch heißt?«
Der zweite Witz ging so, daß ein Schaffner einen stummen Passagier nach seinem Reiseziel fragt, und der Passagier zeigt sich auf den Mund, auf den Bauch und auf den Allerwertesten. Der Schaffner versteht das nicht, bis sich ein anderer Passagier einmischt: »Ist doch klar, der Mann will von Dortmund über Darmstadt nach Pforzheim.«
Auf der anderen Seite vom Mittelgang saß eine nasebohrende Frau. »Die soll uns mal ’ne Karte schreiben, wenn sie oben angekommen ist«, sagte Renate.
Am nächsten Bahnhof stieg die Frau aus. Als der Zug wieder abfuhr, sahen wir, daß sie ihre Handtasche vergessen hatte.
Renate ging rüber, machte die Handtasche auf, holte ein Portemonnaie raus und kam damit zurück.
Wir achteten darauf, daß uns niemand zusah von den anderen Leuten. Um das Geld in Ruhe zählen zu können, ging Renate mit dem Portemonnaie aufs Klo.
Ich hatte Bammel, daß einer die Handtasche sieht und die Notbremse zieht.
Nach einer halben Ewigkeit kam Renate wieder. Sie hatte das Geld in dem Münzenfach zuerst doppelt gezählt und gedacht, es seien acht Mark zwanzig in dem Portemonnaie, aber es waren nur vier Mark zehn drin und Scheine überhaupt keine. Das lohne sich nicht, sagte Renate, und dann setzte sie sich nochmal rüber und steckte das Portemonnaie zurück in die Handtasche.
Das war knapp, weil der Zug schon wieder anhielt und am Bahnhof ein Beamter einstieg, der genau nach dieser Handtasche suchte. »Na bitte«, sagte er, nahm sie mit und stieg wieder aus.
Volker hatte ein Mikroskop gekriegt, als Trostpflaster, weil er nachher doch lieber mit uns in Jever gewesen wäre. Mit dem Mikroskop untersuchte er Blut, Haare, Wassertropfen, Pflanzenläuse, Fliegenflügel, Ameisenfühler und Scheuerpulver. Zum Mikroskop gehörten auch Glasscheibchen mit Insektenbeinen.
»Du Schlappschwanz«, sagte Volker, als er erfuhr, daß ich in Heidmühle wieder nicht ins Wasser gegangen war.
Wäwäwä. Der Kakadu Ka aus der Augsburger Puppenkiste konnte nicht fliegen und war trotzdem gut.
Tante Doro hatte Papa für den Garten Erdbeerpflanzen und Blumenstauden geschickt: Glockenblumen, Veilchen, Sonnenhut, Margeriten, Tulpen und Narzissen.
Weil ich traurig war, daß die Ferien zuendegingen, holte ich mir aus dem Bücherregal im Wohnzimmer Willy Millowitschs Witzebuch, das Papa mal von einem Kollegen geschenkt gekriegt hatte. Da bleibt kein Auge trocken!
Jägerwitze, Anglerwitze, Medizinerwitze, Irrenwitze und Ehewitze.
Was ist der Unterschied zwischen einer Ehefrau und einem Feuerzeug? Keiner. Beide gingen!
Hä?
Ich mußte jetzt zur Karl-d’Ester-Schule in Vallendar und hatte schon wieder eine neue Lehrerin, Frau Katzer, die eine Nase hatte wie ein Adlerschnabel.
Wir sollten sagen, was unsere Eltern für Berufe hätten. Mama war Hausfrau und Papa Ingenieur beim Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung, kurz BWB. Nach mir war ein verbiestert kuckendes Mädchen dran, das keine Antwort gab und nur mit den Schultern zuckte, wofür es von Frau Katzer eine runtergehauen kriegte.
Morgens hatten wir Kopfrechnen. Alle mußten aufstehen, und wer was wußte, durfte sich setzen. Das kleine und das große Einmaleins. Ich war immer einer von den letzten, weil ich im Kopf nicht so schnell rechnen konnte wie die anderen. Neben mir saß Melanie Pape. Die sagte mir manchmal vor.
Noch langsamer als ich waren nur Benno Anderbrügge und Angela Timpe, das Mädchen, dem Frau Katzer gleich am ersten Schultag eine gekleistert hatte. Benno Anderbrügge und Angela Timpe konnte keiner leiden, ich auch nicht, aber ich war froh, daß die in der Klasse waren, weil sonst immer ich oder der Raufbold Klaus Koch in Kopfrechnen der letzte gewesen wäre. Klaus Koch hatte Hasenzähne, die oben vorstanden, und war in allen Fächern schlecht.
In Turnen, Heimatkunde, Musik und Deutsch war ich gut. Die Wortfamilie Brot: Kruste, Aufstrich, Krümel, Butter, Scheibe, Teig. Tuwörter und Sachwörter. Wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich.
Trenne nie s-t, denn das tut ihm weh.
Michael Gerlach, Andreas König und ich waren die einzigen, die mit Geha schrieben. Alle anderen hatten Pelikanfüller.
Michael Gerlach, der hinter mir saß, hatte Naturkrause und war Brillenträger und so dünn und so leicht, daß ihn Stefanie Deus, die kräftiger war als alle Jungen in der Klasse, einmal in der Pause hochhob und mit dem Kopf nach unten drehte.
Klaus Koch und andere Rabauken liefen eingehakt zu fünft oder zu sechst über den Schulhof und brüllten: »Bumm, bumm, bumm, wir rennen alles um!« Denen war nicht zu helfen.
Mit Vorliebe machten sie Jagd auf den dicken Ulrich Gierge, der immer Kniebundlederhosen trug. Einmal, als ich pinkeln gehen wollte, stand er heulend im Jungsklo in der Ecke. Ich sagte, daß ich früher auch in Kniebundlederhosen zur Schule gemußt hatte, und wir wurden Freunde, aber nicht für lange, weil Ulrich Gierge in Turnen eine Flasche war. Der konnte nicht mal Purzelbaum.
Turnen hatten wir bei Herrn Jungfleisch, der dauernd laut in seine Trillerpfeife blies. Die Jungen, die sich freiwillig dazu meldeten, den Mattenwagen durch die Halle zu ziehen, die Matten zu verteilen und am Schluß der Stunde wieder einzusammeln, waren meistens die, die in Turnen mangelhaft waren, vor allem Ulrich Gierge und Torsten Hommrich mit seinen zwei linken Füßen.
Am allerschlechtesten war Benno Anderbrügge, aber der meldete sich nie. Der hatte es wohl aufgegeben, irgendwo noch jemals ’ne gute Note zu kriegen.
Auf den Matten sollten wir Rad schlagen und Handstand machen. Bis man drankam, mußte man lange rumstehen.
In der Umkleide zog sich Andreas König aus bis auf die Haut. Das störte den gar nicht, vor allen anderen splitterfasernackt dazustehen, so daß man Sack und Piepmatz baumeln sah.
Die Mädchen hatten solange Handarbeitsunterricht.
Von den Jungen konnte ich am wenigsten Oliver Wolter leiden. Das war ein feiner Pinkel, der beim Aufzeigen immer mit den Fingern schnippte. Befreundet war er mit Norbert Ripp, der ein Daktariquartett besaß. Da hätte ich gerne mal mitgespielt, aber nicht mit Oliver Wolter.
Vier von den Mädchen hießen Gabriele, und die wetteiferten alle darum, Fleißkärtchen einzuheimsen. Einmal machte Frau Katzer Ranzenkontrolle, und da kam raus, daß Heike Zöhler und die vier Gabis die am sorgfältigsten aufgeräumten Ranzen hatten.
Aus meinem holte Frau Katzer mit spitzen Fingern ein Taschentuch raus, das braune Flecken hatte, weil ich im Schulbus mit dem Kopf an den Sitz vor mir geknallt war und Nasenbluten gehabt hatte. Das zeigte Frau Katzer der ganzen gackernden Klasse vor.
An der Wand hing eine Schautafel. Singvögel unserer Heimat: Gimpel, Stieglitz, Wiesenschmätzer, Teichrohrsänger, Rotkehlchen und Kirschkernbeißer.
Heike Zöhler wischte Radiergummibrösel vom Tisch.
Ich ließ mein Lineal über eine Straße fahren, die ich aus Buntstiften, Mäppchen, Heft und Spitzer gebaut hatte. Das Lineal war der Schulbus, und es durfte nirgendwo anecken, was schwierig war, wenn man es nur von hinten anschob.
»Und wenn der Martin ma uffhört, Audu ze spille, könne ma auch weidermache«, sagte Frau Katzer, und ich wurde rot.
Packen durfte man den Ranzen erst beim Klingeln. Wer schon eher damit anfing, wurde von Frau Katzer an den Haaren hochgerissen und mußte alles, was im Ranzen war, auf den Fußboden kippen.
Volker trug eine Woche lang seinen schwarzen Pullover, weil Jochen Rindt beim Trainingsrennen ins Schleudern gekommen und mit seinem Rennauto an der Leitplanke zerschellt war. Auf einem Foto in der Zeitung sah man die Beine von der Leiche vorne aus dem Wagen hängen.
»Wer bei sowas sein Leben aufs Spiel setzt, der hat’s auch nicht besser verdient«, sagte Mama.
In Deutsch las uns Frau Katzer die Sage von den beiden Rittern vor, die zusammen zur Jagd wollten. Der Ritter, der als erster wach war, sollte dem anderen einen Pfeil durchs Turmfenster schießen, und weil die Ritter zur gleichen Zeit wachgeworden waren, schossen sie sich gegenseitig tot. Als Hausaufgabe sollten wir die Sage schriftlich nacherzählen.
Obwohl sich andere meldeten, nahm Frau Katzer Benno Anderbrügge dran. Er sollte an die Tafel kommen und seine Nacherzählung vorlesen. Daß der noch nie seine Hausaufgaben gemacht hatte, wußten alle, auch Frau Katzer.
Benno Anderbrügge trottete nach vorne, stellte sich vor die Klasse, klappte sein Heft auf, schaute rein und seufzte.
»Wird’s bald!« rief Frau Katzer.
»Also, do wore mo, do wore mo zwei Ridder«, stammelte Benno Anderbrügge, aber da war Frau Katzer schon bei ihm, riß ihm das Heft weg und klatschte es ihm um die Ohren. »Papperlapapp!«
Er kriegte eine Sechs und konnte sich wieder setzen. Wir schlugen das Lesebuch auf. In dieser Minute, von Gina Ruck-Paquét. In der Minute, die jetzt ist und die du gleich nachher vergißt, geht ein Kamel auf allen vieren im gelben Wüstensand spazieren.
Und in der großen Mongolei schleckt eine Katze Hirsebrei.
Volker sammelte Shellmünzen. »Uwe Seeler! Ich bin selig!« rief er, als Papa ihm vom Tanken eine neue mitgebracht hatte. »Die werde ich hüten wie meinen Augapfel!«
Papas Beförderung zum Regierungsbaudirektor war unter Dach und Fach. Die Urkunde, in der das stand, lag auf dem Wohnzimmertisch, und Mama paßte auf, daß der Wisch keine Fettflecken kriegte.
Die Beförderung sei nur ein schwacher Trost, sagte Papa. Er werde sich auch fürderhin mit den alteingesessenen Rindviechern und Korinthenkackern in dem Saftladen rumschlagen müssen.
Volker und ich führten jetzt Tagebuch. Da kam alles rein. Träume, Schulerlebnisse und die Sache mit der Katze, der wir im Wambachtal beim Erlegen einer Maus zugesehen hatten. Die Maus in den Tatzen der Katze hatte ganz kläglich gefiept.
Abends saßen Mama und Papa mit unseren Tagebüchern im Wohnzimmer und lachten sich schief. Um mein Tagebuch noch witziger zu machen, schrieb ich rein: »Als Big Valley vorbei war, biß sich mein Bruder vor Enttäuschung in den Hintern«, aber Volker änderte die Stelle mit Tintentod, so daß da nicht mehr stand »biß sich mein Bruder«, sondern »biß ich mir selbst«, und Volker kriegte einen Anpfiff, und ich auch, weil ich gepetzt hatte und weil es ungehörig war, Häßliches über die eigenen Geschwister aufzuschreiben.
Mein Tagebuch versteckte ich danach im Schrank hinter meinen alten Schulbüchern und brütete Taten aus, die ich aufschreiben konnte. Ich riß Wiebkes Puppe Dagmar den Kopf ab, fesselte den Rumpf mit dem Kabel an den Staubsaugerstiel und trug das ins Tagebuch ein.
Als Wiebke die Bescherung entdeckte und zu plärren anfing, stritt ich alles ab, aber dann fand Mama mein Tagebuch, und ich kriegte Fernsehverbot.
Kommt ein Löwe geflogen. Leider ohne mich. Ich sei ein Rohling, sagte Mama.
In den Folgen, die ich wieder kucken durfte, wollte das Krokodil, dem Mister Knister immer in den Bauch trat, in den Zoo, weil es da ein Krokodilfräulein gab, und Mister Knister wurde festgenommen.
Sonntags deckte ich den Frühstückstisch jetzt auch mal selbst. Volker zeigte mir, wie man Filtertüten umknickt und wann man den Topf mit der Milch für den Kaba vom Herd nimmt.
Den Honig gab es seit allerneuestem aus einem gelben Napf, der wie ein Bienenkorb aussah, mit modellierten Bienen außen dran und mit Löffel, weil sonst immer was von der Margarine im Honig blieb, wenn man den da mit dem beschmierten Messer rausholte.
Am heikelsten war das Eierkochen. Damit sie nicht sprangen, mußten die Eier oben und unten eingepiekst werden, und dann sprangen sie doch. Eieruhr stellen. Abschrecken nicht vergessen. Als Eierwärmer hatten wir immer noch die blaugelben Stoffhühnchen, die Renate mal genäht hatte.
Nun sollten aber auch die anderen aufstehen, damit man denen sagen konnte, daß die Heinzelmännchen den Tisch gedeckt hätten. Marmelade von Schwartau.
Mit dem Messer schnell noch das Schwarze vom angebrannten Toast raspeln, während Papa sich auf dem Klo die Seele aus dem Leib hustete.
»Du hast das Hemd schief zugeknöpft!«
An Werktagen gab es keine Eier und statt Toast nur Graubrot. Die dritte Tasse Kaffee stürzte Papa im Stehen runter, und Mama kriegte einen Rappel, weil ich schon wieder vergessen hatte, mir die Haare am Hinterkopf zu kämmen. »Wiedersehen macht Freude«, sagte sie, wenn ich mein Radiergummi nicht finden konnte und eins von ihr nehmen mußte. »Jetzt aber ab die Post!«
Lauterberg, der Schulbusfahrer, war zottelig und dick und immer wütend, ohne daß man wußte warum. In den Kurven mußte man sich gut festhalten, um nicht vom Sitz zu fliegen, und wenn welche von uns zu laut waren oder Heidschi bumbeidschi sangen, rief er: »Schnüss dahinne!« Oder er hielt an und schmiß die Schreihälse raus, aber achtkantig.
Michael Gerlach sagte, der Lauterberg sei ein Urururenkel von Rübezahl, dem Riesen, von dem uns Frau Katzer was vorgelesen hatte. Der Riese Rübezahl konnte sein eigenes Bein als Axt nehmen und damit Holz hacken.
Als ich in der kleinen Pause vom Klo kam, hielten mich zwei Jungen fest, die bestimmt schon in die fünfte oder sechste Klasse gingen. Der eine war Qualle und der andere ein Rothaariger, den ich nicht kannte. »Was hasten da gemacht?« fragte der Rothaarige und verpaßte mir eine Ohrfeige. »Was hasten da gemacht aum Klo?«
Obwohl ich heulen mußte, sah ich, daß Frau Katzer, die die Pausenaufsicht hatte, auf uns zukam und daß das auch Qualle aufgefallen war.
Der Rothaarige drehte mir die Nase rum und wollte immer noch wissen, was ich auf dem Klo gemacht hatte.
»Wat soller schon gedonn han«, sagte Qualle. »Gepißt und geschisse!« Dann ging er weg.
Als Frau Katzer da war, zog sie den Rothaarigen am Ohr zu sich rum und schrie ihn an, wenn er hier noch einmal irgendwem ein Härchen krümme, sei er fällig, dann fliege er von der Schule.
Ich war gerettet, aber jetzt hatte ich einen Todfeind.
Die Schulbushaltestelle in Vallendar war vor einem Haus, wo wir uns nicht an die Wand lehnen durften. Wenn es doch einer tat, riß eine alte Giftnudel, die da wohnte, das Fenster auf und schrie runter, daß sie die Polizei rufen werde.
Im Bus hatte ich Pech, denn da stieg auch der Rothaarige ein. Als er mich hinten sitzen sah, drängelte er sich bis zu mir durch und haute mir eine rein.
»Seh ich recht? Heb mal den linken Arm hoch«, sagte Mama, und dann sollte ich erklären, woher das Riesenloch unterm Ärmel stammte, aber das war mir selbst ganz neu.
Es gab Linseneintopf mit Bauchspeck, wonach ich mir nicht gerade die Finger leckte. »Bist du im Zirkus großgeworden? Mach die Tür zu!«
Nur für mich, ohne das jemandem zu sagen, gab ich dem Essen Noten: Hähnchen 1, Fischstäbchen, Spaghetti mit Spiegelei und Milchreis mit Zimt und Zucker 2 plus, Kotelett 2, Kartoffelbrei mit Spinat 2 minus, Königsberger Klopse 3, Bohnen, Wurzeln und Erbsen 3 minus, Porree 4 plus, Eintopf und Blumenkohl 4, Wirsing, Rosenkohl und Graupensuppe 4 minus, Kohlrabi 5 und Rotkohl 6. Rotkohl war das reinste Brechmittel.
Renate ekelte sich dafür vor Leber, und sie wollte nichts aus dem Kochtopf essen, in dem Papa einmal alte Seifenstücke eingeschmolzen hatte, aber Papa sagte, im nächsten Krieg würden wir noch Baumrinde nagen. Das werde uns dann wie ein Leckerbissen vorkommen.
Papa selbst fand meistens das Gulasch zu zadderig und meine Haare zu unordentlich: »Du siehst mal wieder aus wie ’n explodierter Bußkohl!«
Sich fläzen und die Arme aufstützen durfte man nicht.
Vom Spiegelei sparte ich mir das Dotter immer bis zuletzt auf.
»Man spricht nicht mit vollem Mund!«
Meine Nachtischnoten waren: Quarkspeise und Götterspeise 1, Vanillepudding 2 (mit Blasen 2 minus), Ananas 3, Mirabellen 4 und Dosenpfirsiche 5 minus.
Tisch abräumen. »Düt düt düt!« In der Tür zur Küche.
Volker durfte den Kaffee holen. »Aber bitte ohne Fußbad!«
Meine Aufgabe war, die Servietten ins Regal zurückzulegen. An den Farben der bastbeflochtenen Serviettenringe konnte man sehen, wem welche Serviette gehörte. Mama lila, Renate gelb, Volker grün, ich blau. Papas Serviettenring war aus Metall und golden. Wiebke hatte noch ihr Lätzchen.
Wenn die Spülmaschine lief, setzte Mama sich ins Wohnzimmersofa und blätterte im Stern, bevor die Hausarbeit wieder losging. Fenster putzen, Wäsche sprengen oder den Stopfpilz rauskriegen und Socken stopfen.
Wiebke malte was mit schwarzem Filzer. Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht.
Mit zweien aus meiner Klasse, Manfred Cordes und Stephan Mittendorf, hatte ich mich zum Mensch-ärgere-dich-nicht verabredet.
Mittendorfs hatten alles. Gegensprechanlage, Spinnrad im Flur, Farbfernseher, Wohnzimmerkamin, Swimmingpool, Sauna, einen Klavierlehrer, der ins Haus kam, einen eigenen Gärtner und ein Auto mit Chauffeur. Stephan Mittendorf hatte auch alle Heintjeplatten und ein Fahrrad mit Tacho, Kilometerzähler und Fünfgangschaltung. Wie bei Onassis. Stephans Vater hatte die Angewohnheit, morgens fünfhundert Meter zu Fuß zu gehen, um nicht zu verfetten. Der Chauffeur mußte dann im Schrittempo hinter Stephans Vater herfahren.
Beim Mensch ärgere Dich nicht wollte auch Stephans Bruder Markus mitspielen, aber der schummelte. Wenn man was Gutes gewürfelt hatte und der Würfel mit der Kante zu dicht am Spielfeldrand lag, rief Markus »Kipper!« oder »Brand!«, und dann galt das Gewürfelte nicht.
»Einmal und nie wieder«, sagte Manfred Cordes.
Als ich Mama aufzählte, was Mittendorfs alles hatten, sagte sie: »Das kratzt mich nicht im geringsten.«
Abends kriegten wir jetzt immer Kernige. Papa saß in seinem Sessel, kuckte Nachrichten und verzimmerte Schnitten. Edamer, Salami, Tilsiter und Stinkerkäse und dazu Rollmöpse, Gurken und Bier.
»Nimm die Flunken runter, ich seh nichts!«
König Feisal, Präsident Nasser und Präsident Nixon.
Im Bad machte ich nur Katzenwäsche. Warmes Wasser einlaufen lassen, Unterarme eintunken und abwarten. Vor dem Stöpselziehen noch planschen, damit es nach Waschen klang.
Volker zeigte mir, wie man mit Zahnputzwasser gurgelt.
Und dann ins Bett. »Aber dalli!«
Als das Licht aus war, fragte Volker mich, ob ich wisse, wie Babys entstehen. Die entstünden, wenn der Mann seinen steifen Pimmel bei der Frau in die Scheide stecke. Dann würde aus dem Pimmel der Samen in die Frau fließen, und aus einem davon würde im Bauch von der Frau ein Baby.
Einmal redete Volker nachts auch davon, daß er bald sterben werde, aus Verzweiflung über die Scheißschule, aber davon wollte ich nichts hören. Ich hätte sogar fast Mama und Papa geweckt, aber Volker hielt mich zurück. So schlimm sei’s nun auch wieder nicht!
Nach der Turnstunde wollte Frau Katzer, daß wir einen Klassensprecher wählen. Weil ich es in Turnen gerade als einziger geschafft hatte, am Seil bis ganz nach oben zu klettern, und weil das in der großen Pause auch welche von den Mädchen gehört hatten, kriegte ich die meisten Stimmen.
Die zweitmeisten hatte Melanie Pape gekriegt. Die war jetzt meine Stellvertreterin.
Ich war platt. Morgens war ich noch ganz normal zur Schule gegangen, und seit der dritten Stunde war ich Klassensprecher und der wichtigste Junge von allen in der 3b. Heike Zöhler bot mir was von ihrer Schokolade an, Norbert Ripp wollte mit mir Quartett spielen, und Melanie Pape sagte, wir müßten uns bei ihr treffen, so um drei. Wir hätten allerlei zu besprechen.
»Und was mußt du da so machen als Klassensprecher?« fragte Renate mich beim Mittagessen, und weil mir auf die schnelle keine Antwort einfiel, sagte Papa: »Vornehm aus der Wäsche kucken.«
Melanie wohnte auch in der Theodor-Heuss-Straße, aber weiter vorne und auf der anderen Seite, wo es runterging.
Im Wohnzimmer standen zehn Millionen Topfpflanzen auf Schemeln und dazwischen ein echt wirkender Schäferhund aus Porzellan, in Lebensgröße, mit raushängender Zunge. Melanies Eltern waren weg.
Wir gingen auf die Terrasse und setzten uns an den Tisch, der aus dem gleichen knorrigen Holz war wie die Bank. Aus der Küche hatte Melanie eine Flasche Fanta geholt, und dann versuchte sie, mich auf den Mund zu küssen. Igitte!
Als ich aufsprang, fiel die Flasche um und rollte schäumend über den Tisch, weil der Deckel nicht festgeschraubt war.
Bevor Melanie mich gehenließ, mußte ich ihr versprechen, zu ihrer Geburtstagsfeier zu kommen.
Strahlerküsse schmecken besser.
Bei uns bauten Handwerker Holzgerüste auf, weil das Haus seinen Außenputz bekommen sollte. Volker und mir hatte Mama streng untersagt, auf den Gerüsten rumzuturnen.
Wir durften aber in den großen Lichtschacht vorm Hobbyraum springen, wenn wir wollten, und im Kies wühlen. Vielleicht entdeckte man da ja mal was. Ein Rattengerippe. Oder ein Messer, das als wichtiges Indiz zur Ergreifung eines Schwerverbrechers führte, und wir würden die Belohnung kassieren.
Im Wambachtal kamen wir an eine Stelle, wo Volker nicht rübergehen wollte, weil der Sand, der da lag, Treibsand sein konnte. Aus Treibsand kam man lebend nicht wieder raus, wenn man da blindlings reingelatscht war.
Es gab auch eine Schlucht mit einer Höhle, die weit reinging, mindestens fünf Meter, aber als wir die Höhle näher untersuchten wollten, machte sich oben am Abhang Qualle breit. Er spuckte auf uns runter, und wir nahmen die Beine unter die Arme.
Ich dachte, wenn Qualle im Wambachtal ist, kann ich auf den Spielplatz vorm Hochhaus gehen, wo Qualle sonst immer sein Unwesen trieb.
Es war ein kleines Karussell da mit vier Sitzen und einem runden Tisch in der Mitte, an dem man sich in die Runde ziehen konnte. Das Karussell war frei.
Daß ich beim Fahren einen Drehwurm gekriegt hatte, merkte ich erst, als ich anhielt. Ich konnte nicht mehr geradeaus gehen, und mir war kotzübel.
Zukünftig wollte ich einen großen Bogen um den Spielplatz machen und Karussells wie das da meiden wie die Pest.
Zu ihrem Geburtstag hatte Melanie Pape außer mir nur Mädchen eingeladen, und ich schämte mich in Grund und Boden.
Es gab Brombeerkuchen, Kakao und Glibberpudding, aber Melanie sagte, das sei Wackelpeter.
Das erste Spiel, das Melanies Mutter sich für die Feier ausgedacht hatte, ging so, daß wir seitwärts den Rasen runterrollen sollten. Als ich unten angekommen war, hatte ich schon wieder einen Drehwurm, und Melanies Vater brachte mich mit dem Auto nachhause.
Einmal fuhr Papa am Samstag nach dem Frühstück weg, um einen neuen Gebrauchtwagen zu kaufen, weil der Käfer so viele Macken hatte. Mama war in den Garten gegangen, Unkraut zupfen, und ich machte auf dem Klo mit Volker Kreuzpissen.
»Stripp, strapp, strull«, rief Volker, »ist der Eimer noch nicht vull?«
Da kam Mama rein und fing an zu motzen, daß wir solche liederlichen Ferkeleien zu unterlassen hätten.
»Gnatter, gnatter«, sagte Volker, als wir wieder alleine waren. Ich suchte ein altes Schulheft raus, schlug eine leere Seite auf und trug für Mama eine Fünf ein. Ab jetzt wollte ich allen Familienmitgliedern Noten geben.
Im Hobbyraum kickten wir dann mit dem gelben Ball von Wiebke rum, wobei eine von den Neonröhren einen Volltreffer abkriegte.
Mama, die in der Waschküche Sachen am Aufhängen war, kam gleich angelaufen. »Was seid ihr nur für Flegel!« rief sie. »Wenn Papa kommt, könnt ihr euch auf was gefaßt machen!« Der werde uns die Hammelbeine langziehen.
Wir beschlossen, von zuhause abzuhauen, per Fahrrad. Für immer. Irgendwohin, wo man nicht angebölkt, schikaniert und windelweich geprügelt wurde.
Wir wollten zur Horchheimer Höhe, da im Wäldchen übernachten und dann weiterfahren.
Um dahinzukommen, mußten wir nach Vallendar runter, am Rhein lang bis Ehrenbreitstein, an der Brücke nach Koblenz vorbei und dann irgendwo hinterm Autoreifen vom lieben Gott links hoch.
Für Radfahrer war auf der Straße am Rhein nicht viel Platz. Wir wurden von hinten angehupt und mußten höllisch aufpassen, daß wir nicht übergemangelt wurden.
In Ehrenbreitstein hielt Volker an. Er hatte es sich anders überlegt, wünschte mir viel Glück und kratzte die Kurve, der Feigling.
Bis zur Horchheimer Höhe war es von Ehrenbreitstein aus weiter, als ich gedacht hatte, und das letzte steile Stück mußte ich schieben.
Ich hätte Uwe oder Kalli besuchen können, aber dann hätten deren Eltern vielleicht bei uns angerufen.
Im Wäldchen suchte ich nach einer Kuhle zum Schlafen. Es war noch hell, und das wollte ich ausnutzen, um Blätter und Äste zu sammeln, mit denen ich mich zudecken konnte.
Es war schade, daß Volker zu feige gewesen war, bis hierhin mitzukommen. Zwei Jungen auf Pilgerfahrt, ohne Dach überm Kopf, von der eigenen Mutter vergrault, so wie Tom Sawyer, der auch mal von zuhause ausgerückt war und erst als gefürchteter Piratenkapitän wiederkommen wollte.
In die Schule würde ich nie wieder gehen. »Auf den Martin braucht ihr nicht zu warten«, würde Frau Katzer den anderen sagen. »Der hat seine Siebensachen gepackt und ist stiftengegangen, weil seine Mutter zu gemein zu ihm gewesen ist.«
Nie mehr wiedersehen würde ich auch Oma und Opa Jever und Tante Dagmar. Oder erst als Erwachsener. Dann würde ich sagen: »Ich wäre schon eher wiedergekommen, aber es war mir zu doof, mich nur wegen einmal Kreuzpissen und der Neonröhre verwämsen zu lassen.«
Vom Wäldchen aus konnte ich die Kinder sehen, die in dem Garten spielten, der früher mal uns gehört hatte.
Ich suchte nochmal nach Blättern. Ohne Bett war man aufgeschmissen. Langsam hatte ich auch keine große Lust mehr, Ausreißer zu sein, und ich fuhr zurück.
Auf dem Mallendarer Berg kam mir Papa im VW entgegen, sah mich durch die Windschutzscheibe an und drehte hinter mir um.
Ich kriegte Senge, zwanzig Schläge mit der Handkante auf den Rücken, und außerdem Zimmerarrest bis Sonntagabend, genau wie Volker.
Beim Klassenausflug auf die Insel Niederwerth lieferten sich Klaus Koch und Stephan Mittendorf ein Kämpfchen, wobei die Apfelsaftflasche in Stephan Mittendorfs Rucksack zerbrach, doch durch den Gummiboden floß nichts raus. Der ganze Apfelsaft schwappte zwischen den Scherben im Rucksack rum.
Auf Niederwerth gab es nur Äcker. Frau Katzer sagte, daß die Insel für ihren Spargelanbau berühmt sei. Bei mir hatte Spargel die Note 5.
Oliver Wolter kannte den Unterschied zwischen Bremse und Schnake nicht. Der war felsenfest der Überzeugung, das seien nur verschiedene Bezeichnungen für das gleiche Insekt, und davon war er auch nicht abzubringen, der Blödian.
Mit Papas Hilfe hatte Volker das Loch in meinem alten Fußball geflickt, und wir fuhren zum Fußballplatz. Die Räder ließen wir draußen am Zaun stehen.
Ein Tor war frei. Ich stellte mich als Torwart rein, und Volker schoß Elfmeter. Weil das Tor kein Netz hatte, mußte ich nach fast jedem Schuß weit laufen, um den Ball zurückzuholen.
Daß einer von den Jungen am anderen Tor der Rothaarige war, fiel mir erst auf, als er wegging.
Nach dem Kicken waren unsere Räder platt, alle beide, vorne und hinten. »Da hat einer die Ventile gemopst«, sagte Volker, und ich war sicher, daß der Rothaarige der Ventilmops war.
Papa hatte einen grünen Peugeot 404 gekauft, mit Schiebedach und vier Türen und viel mehr Platz auf der Hinterbank als im Käfer. Mama hatte ein großes Freßpaket gepackt, und wir wollten einen Ausflug machen, aber dann drehten wir doch nur eine Runde über den Mallendarer Berg, weil Papa die Auspuffgeräusche nicht gefielen.
Bevor Oma und Opa zu Besuch kamen, mußten Volker und ich nach Vallendar zum Friseur. »Ihr seht verboten aus«, hatte Mama gesagt und Volker das Geld für zweimal Fassonschnitt in die Hand gezählt.
Er freue sich schon auf den Anblick all der Kackschachteln mit ihren Sturzhelmfrisuren, sagte Volker.
Im Friseursalon war es gerammelt voll. Ein armer Knilch fegte die Haarbüschel zusammen, und der Gestank aus der Damenabteilung wehte auch zu den Herren rüber.
Als wir dachten, jetzt ist einer von uns dran, ließ der Friseur noch einen Opa vor, der erst lange nach uns gekommen war.
Papierkragen um, Tuch über und hochgepumpt werden. Der Friseur schubste meinen Kopf rum und stach mir mit der Scherenspitze ins Ohr. Wenn ich zuckte, wurde ich angeranzt: »Sitz still, Junge!«
Neben dem Spiegel hingen schnörkelig beschriftete Urkunden und Schwarzweißfotos von frisierten Schönlingen.
Um nicht so auszusehen, als kämen wir vom Friseur, verstrubbelten Volker und ich uns die Haare mit den Händen und gingen dann den Wilgeshohl hoch, was kräftezehrend war.
Wilgeshohl, da hörte sich schon der Name an wie der von miesem Gemüse. Ich drehte mich um und ging rückwärts hoch, aber das war auch nicht leichter, das kam einem nur kurz so vor.
Als wir oben auf der Kaiser-Friedrich-Höhe eine Verschnaufpause einlegten, sahen wir den Ventilmops. Uns schien er nicht bemerkt zu haben. Wenn der hier irgendwo wohnte, wollte ich nie wieder zur Kaiser-Friedrich-Höhe.
In letzter Minute nähte Mama noch die orangen Vorhänge für Renates Zimmer, weil Oma und Opa da schlafen sollten. Renate fand die Vorhänge widerwärtig, aber gegen Mama konnte sie sich nicht durchsetzen.
Oma und Opa wunderten sich darüber, daß man bei uns durch die Garage ins Haus gehen mußte, weil es noch keine Treppe gab, die zur Haustür führte.
In Volkers Zimmer sollten die Decke und die Dachschräge mit Brettern verschalt werden, aber die meisten Arbeiten im Haus blieben liegen, weil Papa schon genug damit zu tun hatte, die Autos zu reparieren. Erst den Peugeot, dann den Käfer und dann wieder den Peugeot.
Am ersten Herbstferientag wollten Volker und ich eine Radtour nach Simmern machen, obwohl Mama uns verboten hatte, so weit zu fahren.
Wir wühlten die Kindertonne nach Handschuhen und Mützen durch. »Gesetzt den Fall, der Winter weiß nicht, daß er erst in zwei Monaten auf dem Kalender steht«, sagte Volker.
Unten in der Tonne lagen alte, hartgewordene Tempotaschentücher.
Bis Simmern ging es immer nur bergauf, zwischen Feldern, und in Simmern dann erst recht. Als wir endlich ganz oben waren, fuhren wir auf der Straße von Simmern nach Neuhäusel weiter, bis zu einem Parkplatz, auf dem ein Schild stand: Kraftfahrer, steige aus und wandere!
Bei der Fahrt zurück raste man auch ohne Treten wie eine gesengte Sau die Straße runter.
An der Stelle, wo man rechts zum Mallendarer Berg abbiegen mußte, hielten wir an. »Ich will ja nicht übertreiben«, sagte Volker, »aber ich glaube, wir haben die Schallmauer durchbrochen!«
Bei Rückenwind könnten wir hier auch mit Mach 2 runterflitzen. Das wären rund 2400 Stundenkilometer.
Ich malte ein Bild von einem Mann, der auf einem Parkplatz Vögel füttert, und dazu das Schild: Kraftfahrer, steige aus und wandere!
Mama fragte mich, woher ich das Schild kannte, und da mußte ich zugeben, daß ich mit Volker bis hinter Simmern gefahren war, wo Mama das Schild selbst mal gesehen hatte. Sie sagte, ich sei ein Schlitzohr, aber für sie nicht gewieft genug. Sie kenne ihre Pappenheimer.
An Sankt Martin ging ich bei einem Umzug mit, weil ich dachte, daß die Leute alle dahinwollten, wo es Teilchen umsonst gab, wie auf der Horchheimer Höhe, aber auch nach zwei oder drei Kilometern kam kein Teilchentisch in Sicht. Stattdessen gingen die Leute im Gänsemarsch in eine Kirche, wo ein katholischer Gottesdienst anfing und ich womöglich noch beichten und Halleluja mitsingen mußte.
Es war pickefinster, als ich alleine zurück nachhause lief.
Ich war froh, daß ich kein Katholik war. Noch froher war ich, kein Negerjunge in der Serengeti zu sein und Rinderblut saufen zu müssen, wie in dem einen Fernsehfilm, in dem auch Gnus, Hyänen, Antilopen, Warzenschweine und Schakale vorkamen und Wilddiebe, die ausgehöhlte Elefantenfüße als Papierkörbe verkauften.
Nachdem er den schrecklichen Drachen Murrumesch besiegt hatte, mußte der Kleine König Kalle Wirsch in der Augsburger Puppenkiste noch seinen Herausforderer Zoppo Trump besiegen und einen Rubin in der Hand zum Wachsen bringen, aber man konnte sehen, daß der Rubin nur zusammengeknülltes Plastik war.
Das hatten auch Manfred Cordes und Michael Gerlach schlecht gefunden.
Von einem Geschäft in Koblenz, das Beamteneinkauf hieß, kriegten Mama und Papa einen Brief. Auf Grund der Ihnen sicherlich bekannten Angelegenheit vom 28. 10. 1970, bei der wir Ihrem Sohn Volker gegenüber ein Hausverbot ausgesprochen haben, bitten wir Sie, daß diesem Hausverbot unbedingt Folge geleistet wird.
Über Volker brach ein Riesendonnerwetter rein. Er heulte, trommelte mit den Fäusten an die Wand und brüllte, daß er nie in seinem Leben im Beamteneinkauf gewesen sei, aber Mama und Papa nahmen Volker das nicht ab.
Sie fuhren mit ihm zum Beamteneinkauf, wo er was geklaut haben sollte. Für die Verkäuferin, die den Dieb erwischt hatte, war Volker ein Fremder. Aber der Dieb hatte angegeben, daß er Volker Schlosser heiße, wohnhaft in 5414 Vallendar, Theodor-Heuss-Straße 26.
Mama und Papa erzählten das Volkers Klassenlehrer, und dann erschien die Verkäuferin in Volkers Klasse und zeigte auf Volkers Banknachbarn. Dieser Schlawiner hatte seinen Diebstahl einfach Volker in die Schuhe geschoben.
Da war Volker rehabilitiert, ein Wort, das Mama mir übersetzen mußte.
Im Haus rannte ich jedesmal mit Höchstgeschwindigkeit die Kellertreppe hoch und versuchte, oben anzukommen, ehe unten die schwere Feuerschutztür zwischen Garage und Waschküche ins Schloß fiel. Einmal hatte ich es bis zur vorletzten Stufe geschafft.
»Machst du das auch immer?« fragte Renate, die oben mit Mütze, Schal und Mantel ausgehfertig vorm Garderobenspiegel stand. Den Wettlauf mit der Kellertür hatte Renate angeblich schon dreimal gewonnen, aber Renate hatte auch längere Beine.
Am schnellsten konnte ich abends rennen. Dann saß mir die Angst vor Kellergespenstern im Nacken, die mich mit Spinnenfingern packen wollten.
Vor Gespenstern brauchte ich mich nicht zu fürchten, sagte Volker. Er habe auch oft Angst im Keller, aber nicht vor Gespenstern, weil es die im richtigen Leben ebensowenig gebe wie Lolek und Bolek oder Pan Tau mit der Zaubermelone. Fürchten würde er sich nur vor Mördern aus Fleisch und Blut, die bei uns eingebrochen wären und einen abmurksen wollten. Er könne sich das gut vorstellen, wie er nachts im Keller ein Messer bis zum Schaft ins Kreuz gerammt kriegt und gottserbärmlich verrecken muß, wobei er noch um Hilfe rufen will, aber keinen Ton mehr rausbekommt, so wie im Traum, wenn man weglaufen will und nicht kann, weil die Beine zu schwer sind.
Es war Schnee gefallen, und man konnte den eigenen Atem sehen. Der Schulbus hatte Verspätung. »Oho, ohoho, wann kommst du?« grölten welche.
Manche Schüler hatten Ranzen mit Schnallen auf, die rot oder orange leuchteten. Meinen trug ich in der Hand, und auf dem Weg von der Bushaltestelle zur Schule trat ihn mir der Ventilmops von hinten runter. Ranzenruntertreten, das war eine von dessen Spezialitäten.
Volker kriegte Nachhilfe in Englisch, für elf Mark die Stunde. Da sollte er auf Trab gebracht werden.
Im Hobbyraum stellte er Laubsägearbeiten her und schraubte Haken für Topflappen in einen Holzlöffel, den er als Geschenk für Onkel Walter in der Mache hatte.
Der Tannenbaum war so lang, daß er nur mit umgeknautschter Spitze ins Wohnzimmer paßte.
Am Nachmittag vor der Bescherung kam im Ersten Lassie. In dem Film mußten die Eltern von dem Jungen, dem Lassie gehörte, Lassie weggeben, weil sie zu arm waren, um einen Hund zu halten, aber Lassie riß aus und lief zurück.
Es war das alte Lied: Einen Hund hätten wir haben müssen. Ich wäre schon mit einem Dackel mehr als zufrieden gewesen.
Der Peugeot sprang nicht an, der Käfer auch nicht, und wir gingen zu Fuß nach Vallendar runter zum Weihnachtsgottesdienst.
In der evangelischen Kirche war kaum noch Platz für uns. Wir mußten stehen, und ich sah nur die Pöter von fremden Leuten vor mir.
Nun kommt der Heiden Heiland.
Hinter uns ging andauernd die Tür auf, weil immer noch neue Leute reinwollten, und dann kam jedesmal ein eisiger Luftzug rein.
Ich fragte Mama, was Kyrie eleison bedeute, und sie sagte, ich soll den Schnabel halten.
»Alles Geschaffene redet den Frieden Gottes in Christo Jesu«, sagte Pfarrer Liebisch.
Dann gingen wir die Sprungschanze hoch, wo ich ausglitschte und mir das rechte Handgelenk aufschlug.
Für das Bescherungsfoto zog Mama sich ihre schwarze, von Renate gehäkelte Stola mit Muschelmuster an.
Das größte Geschenk war vorne an den Kurbeltisch gelehnt, eine Carrerabahn für Volker und mich, mit Autos und Kurven und allem Pipapo.
Wie ein rohes Ei sollten wir die Carrerabahn behandeln, sagte Mama, als wir uns darauf stürzten.
Ich hatte auch Mokassins gekriegt, die Single Song of Joy, das Buch Die Insel der blauen Kapuzen von Wolfgang Ecke, ein Zauberlehrling-Spiel und aus Jever einen Tuschkasten.
Volker hatte die Single Treue Bergvagabunden gekriegt und die Bücher Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Doktor Dolittle, Du und die Eisenbahn und Die Flußpiraten des Mississippi, auf englisch buchstabiert Em ei jesses ei jesses ei pipi ei.
Wiebke beglückte reihum alle mit selbstgemachten Stickbildern: Katze vorm Kamin und Haus mit Baum daneben. Von Tante Therese hatte sie ein Kleid erhalten und vom Weihnachtsmann Rollschuhe und ein Bilderbuch: Der Fäustling.
Renate hatte eine Armbanduhr, einen Mantel und schwarze Winterstiefel gekriegt und war überglücklich mit dem Zeug.
Für Mama und Papa hatte ich mit Füller ein Weihnachtslied abgeschrieben. Es ist ein Ros’ entsprungen, aus einer Wurzel hart!
Zart müsse das heißen, nicht hart, sagte Mama, und als Papa einen neuen Knirps auspackte und aufspannte, sagte Mama: »Ach du lieber Gott von Bentheim!«
Der geschenkte Gaul von Hildegard Knef.
Auf den bunten Tellern lagen dieses Jahr auch Pfeffernüsse und Blutorangen.
Weil Papa Volker und mir dabei half, die Carrerabahn aufzubauen, fing Mama an zu weinen. »Ich hab geglaubt, wenigstens an Heiligabend wär mal Sense mit der verdammten Scheißbastelei!« rief sie und lief raus und schloß sich im Elternschlafzimmer ein.
Da ging auch Papa raus und verschwand im Keller.
Wiebke heulte, und Renate nahm sie auf den Schoß.
Am ersten Weihnachtsfeiertag schlich ich mich frühmorgens ins Wohnzimmer, knackte Haselnüsse, klaute Schokoladenkugeln von den bunten Tellern meiner Geschwister und zog Wiebkes funkelnde Rollschuhe an, die mir aber ein paar Nummern zu klein waren.
Mit dem Zauberlehrlingskasten verzog ich mich in den Hobbyraum. Zahlenstreifen, Würfel, Papphülsen, ein schwarzer Zauberstab und ein Heft mit Rechenkunststücken. Angenommenes Alter 22 Jahre, Geburtsmonat April: 4 × 2 = 8 + 5 = 13 × 50 = 650 + 22 (Alter) = 672 – 365 = 307 + 115 = 422. Das interessierte mich nicht die Bohne.
Die Würfel sollte man anlecken, dann würden sie zur allgemeinen Verblüffung aneinander klebenbleiben.
Besser war der Zaubertrick, bei dem jemand aus dem Publikum ein Geldstück unter ein Tuch legen sollte und alle nachfühlen durften, ob das Geldstück unterm Taschentuch liegt. Ein Gehilfe würde beim Nachfühlen das Geldstück klammheimlich wegnehmen und einstecken. Ich als Zauberer müßte dann bloß noch Hokuspokus Fidibus und Simsalabim sagen, das Tuch wegziehen und die Münze mit großem Trara aus der Hosentasche meines Gehilfen hervorzaubern.
Beim ersten Mal war Volker mein Gehilfe, aber als er unterm Taschentuch das von Renate gespendete Markstück begrabbelt hatte und die Hand wieder wegzog, rief Renate: »Du hast das Markstück weggenommen!«
Sollten die sich doch selbst was vorzaubern, wenn sie alles besser wußten.
Die Carrerabahn bauten Volker und ich im Hobbyraum auf, was ein Riesengefriemel war mit allen Seitenklammern und Leitplanken und Steilkurvenständern.
Volkers Rennauto war grün, meins gelb. Wenn man die Fahrer rausnahm, sah man, daß sie keine Beine hatten.
Einmal um die ganze Welt, und die Taschen voller Geld!
In der Garage schweißte Papa neue Teile an die Karosserie vom Peugeot, riß sich zwei Finger auf und mußte von Herrn Rautenberg zum Nähen ins Krankenhaus transportiert werden.
Frischlackierte Teile vom Peugeot hingen in der Waschküche an der Leine, zum Trocknen.
Als nächstes riß und schraubte Papa auch den VW auseinander, weil der zum TÜV mußte.
Im Ersten kam ein Abenteuerfilm mit einem indischen Maharadscha, aber das war ein eingebildeter Fatzke, und der ganze Film war stinklangweilig, außer als ein kinderfressender Tiger frei rumlief und als die Leprakranken aus dem Kerker ausbrechen wollten.
Lästig an Weihnachten war, daß wir Bedankemichs schreiben mußten. »Geschenke kassieren und nicht mal danke sagen, das könnte euch so passen!«
Die Briefe durften nicht auf die lange Bank geschoben werden, und man mußte auch einen Dreh finden, damit sie nicht zu kurz ausfielen.
Liebe Oma! Auch ich möchte mich herzlich für alles bedanken. Den Tuschkasten kann ich gut brauchen. Die Farben heißen: Gelb, Orange, Zinnoberrot, Karminrot, Indischrot, Indischgelb, Ockergelb, Gebr. Sina, Gelbgrün, Blaugrün, Preußischblau, Ultramarinblau, Umbra, Schwarz.
Viele Grüße von Deinem Martin!
Das sei man ziemlich Nullachtfuffzehn, sagte Mama.
Weil wir keinen fahrbaren Untersatz mehr hatten, mußte Mama zum Einkaufen zu Fuß durch den Schnee nach Vallendar und dann mit den vollen Taschen und zwei Milchkannen den Berg wieder raufpetten.
Ohne Auto stehe man doch ziemlich auf dem Schlauch, sagte Mama am Telefon zu Oma Jever, und es sei allerhöchste Eisenbahn, daß auf dem Mallendarer Berg ein Kaufladen aufmache.
Einen Kaufladen gab es sogar auf Lummerland, wo nur vier Leute wohnten: Lukas der Lokomotivführer, König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, Frau Waas und Herr Ärmel. Bei denen wußte man nicht, von wem sie abstammten. In Entenhausen gab’s immerhin Onkel und Tanten und Oma Duck.
Am gemütlichsten war’s, beim Lesen auf dem Rücken zu liegen und die Füße nur mit Strümpfen an zwischen die Heizungsrippen zu stecken.
Falsch fand ich, daß Jim Knopf sich mit Prinzessin Li Si verlobte, die er aus der Drachenstadt befreit hatte. Li Si sammelte Muscheln und sang kreuzbescheuerte Lieder: Ich bin die Prinzessin Li Si, weil ich nicht will, mich finden nie sie! Hum didel dum, Schrum! Mit so einer hätte ich mich nicht abgegeben, wenn ich als Freunde schon Lukas den Lokomotivführer, den Halbdrachen Nepomuk und den Scheinriesen Herrn Tur Tur gehabt hätte.
Lukas konnte einen Looping spucken. Ich versuchte das auch, im Garten, bis Mama die Terrassentür aufriß und rief: »Willst du wohl aufhören mit der Schweinerei!«
Kalli kam zu Besuch und brachte einen großen Flitzebogen mit, den er zu Weihnachten gekriegt hatte. Als wir unter uns waren, zeigte er uns eine bis obenhin mit Knallkörpern gefüllte Zigarrenkiste: »Damit zeigen wir’s den Japsen!«
Die Kiste und den Flitzebogen nahm Kalli mit, als wir ins Wambachtal gingen. Bis auf drei Ladykracher hoben wir die Knaller bis zur Höhle auf. Die zum Einsturz zu bringen, das wär’s gewesen!
Kalli opferte drei Chinaböller. Lunten anzünden, rausrennen, Deckung suchen und sich die Ohren zuhalten.
Der Rabatz und der Gestank waren nicht von schlechten Eltern, doch die Höhle überstand die Explosion.
Von den Bäumen im Wambachtal konnte Kalli ausnahmslos sagen, was das für welche waren. Eichen, Erlen, Ulmen, Buchen und Weiden, bei denen in der Krone Misteln wuchsen.
Mit dem Flitzebogen machte er Zielschießen, auch auf uns, und einmal traf er Volker mit dem Pfeil ins Ohr. Die Wunde blutete, und beim Nachhausegehen mußten wir Volker unterhaken. Kalli sagte, das sei nur eine Gehirnerschütterung, die lege sich von selbst.
Wenn bei der Carrerabahn die Leitplanke lose war, mußte man aufpassen, daß einem die Karre auf der Außenspur in der Steilkurve nicht in hohem Bogen rausflog. In der Innenspur schlug das Auto nur kurz aus. Wenn beim Ausschlagen zufällig das andere Auto obendrüber in der Außenspur fuhr, wurde es aus der Bahn torpediert, und wir versuchten immer, das hinzukriegen.
Überholmanöver und Karambolagen.
Mama pinnte den neuen Jahreskalender an die Küchenwand und trug alle Geburtstage ein, auch von Freundinnen und Verwandten, von denen kein Mensch wußte, wer die waren.
An Silvester gab es mittags Schnitzel. Volker und ich mußten uns eins teilen, und Papa säbelte es in zwei Teile. Wir wollten beide die größere Hälfte haben.
»Es gibt keine größere Hälfte«, sagte Mama. Das sei ein Ding der Unmöglichkeit.
Nach dem Essen rauchte Papa beim Kaffee im Wohnzimmer immer eine Zigarette. Diesmal lag am Aschenbecherrand schon eine bereit, in die Volker ein Knallplättchen aus Kallis Kiste hineinbugsiert hatte. Mama und ich waren eingeweiht.
Wir warteten und warfen uns verschwörerische Blicke zu, aber Papa las immer nur Zeitung und trank Kaffee und beachtete die Zigarette überhaupt nicht.
Volker schob den Aschenbecher dicht neben Papas Kaffeetasse.
Immer noch Fehlanzeige.
»Richard, deine Söhne wünschen sich nichts sehnlicher, als daß du diese Zigarette rauchst«, sagte Mama.
»So? Und warum?«
»Das wirst du dann schon sehen.«
Papa runzelte die Stirn. »Ist da irgendwelcher Mist drin?«
»Kann sein, kann aber auch nicht sein«, sagte Volker.
Jetzt hatte Papa den Braten natürlich gerochen, tat uns aber trotzdem den Gefallen, die Zigarette anzuzünden, die er dann weit von sich weghielt.
Nach einer Minute machte es leise poff. Vorne war die Zigarette auseinandergebröselt. Papa drückte sie im Aschenbecher aus und sagte, daß wir Kindsköpfe seien, Mama inbegriffen.
Weisnahmsnase durften Volker und ich bis zum Feuerwerk aufbleiben und um Mitternacht im Garten Schlangenhütchen anzünden.
Der Schnee lag jetzt fast einen halben Meter hoch, und alle gingen rodeln. Hinten im Wambachtal gab es einen Abhang, der so steil war, daß er die Todesbahn hieß. Wenn man Pech hatte, raste man beim Rodeln unten in einen Stacheldrahtzaun.
Nur die Mutigsten fuhren die Todesbahn auf dem Bauch liegend runter, mit dem Kopf voran, was ich auch mal versuchte, aber noch bevor ich in Schwung kam, verließ mich die Traute.
Absolute Scheiße war das Neujahrs-Skispringen im Fernsehen.
Nachmittags kam schon wieder ein Film mit Lassie. Da gehörte er einem Tierarzt und war wasserscheu, aber als der Tierarzt im Schnee in Ohnmacht fiel, schwamm Lassie durch einen frostigen Fluß, um Hilfe zu holen.
Flipper gehörte immer denselben Leuten, aber Lassie gehörte mal dem und mal dem. »Der muß ja ganz konfus werden«, sagte Renate.
Im Garten bauten wir eine Schneeburg, in der Mama uns fotografierte, bevor sie Volker auf die Horchheimer Höhe brachte. Der durfte am nächsten Morgen bei einer Treibjagd mitmachen. Auf den Spuren seltener Tiere.
Wenn ich alle Tiersprachen verstanden hätte, so wie Doktor Dolittle, hätte ich auch alleine auf Treibjagd gehen und ein Stoßmich-Ziehdich einfangen können, mit einem Kopf vorne und einem hinten.
Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär.
In Wiebkes neuem Bilderbuch quetschten sich nacheinander eine frierende Maus, ein Frosch, eine Eule, ein Kaninchen, ein Fuchs, ein Wolf, ein Wildschwein und ein Bär in einen Fausthandschuh, den ein Junge im Wald verloren hatte. Als dann noch eine kleine Grille hineintapste, platzte der Handschuh mit Donnergetöse auseinander.
Renate las das Buch von Hildegard Knef. Wie die Leute im Krieg von Panzern zu Matsch gefahren worden waren.
Von der Treibjagd brachte Volker in einer Plastiktüte einen Hasen mit.
Totenstarre und Leichengift.
Papa band den Hasen in der Waschküche an den Hinterläufen an die Leine, wetzte auf der Werkbank in der Garage das große Küchenmesser am nassen Schleifstein und schnitt dem Hasen die Gurgel auf. Das Blut kleckerte in die weiße Emailleschüssel, in die sonst der Küchenabfall reinkam.
Der Hase hatte dicke, dunkle Augen. Als Papa ihm mit dem Messer das Fell abzog, kamen Muskeln und Sehnen zum Vorschein, weiß und rot.
Mama heizte den Backofen vor und fettete das Blech ein.
Auf dem Hasenfleisch durfte man nur behutsam kauen, weil da noch Schrotkugeln drinsteckten. Außer den abgelutschten Kugeln wollte Volker auch den Schädel von dem Hasen aufheben.
Bei Invasion von der Wega nähte Renate einen Kunstpelzbesatz an den Wintermantel, den sie von Tante Dagmar geerbt und schon auf Midi-Länge gekürzt hatte, weil das jetzt Mode war, und Papa sagte, wenn es Mode wäre, sich die Daumen blau zu kloppen, würde Renate das auch noch mitmachen.
Am letzten Weihnachtsferientag fuhr Mama mit Volker und mir nach Koblenz zu Salamander, neue Schuhe kaufen.
Oben auf der Rutsche saß ein störrischer Dreikäsehoch, an dem man nicht vorbeikam, aber zu den Schuhen gab es Bilderhefte mit Lurchi, Unkerich und Mäusepiep. Und im Chor schallt’s lange noch: Salamander lebe hoch!
Über Nacht hatte es geschneit. Der Schulbus konnte nur ganz langsam fahren, und die Heizung ging nicht. Der Lauterberg hatte Handschuhe an, Mütze auf und Schal um und nieste das Armaturenbrett an.
Ich steckte neue Tintenpatronen in meinen Füller. Die leeren Patronen gab ich Andreas König, weil der die Kügelchen sammelte, die da drinwaren.
In der großen Pause zerrten mich Qualle und der Ventilmops hinter die Schule, rieben mir das Gesicht mit Schnee ein und stopften mir auch welchen in den Pulloverkragen.
Frau Katzer merkte, daß ich geheult hatte, aber ich wollte nichts sagen. Ich wollte in Frieden gelassen werden.
In der ersten Folge vom Kommissar, die ich bis zum Ende kucken durfte, wurde eine tote Frau im Moor gefunden, und als Renate von der Tanzstunde zurückkam, ging der Moormörder selbst gerade blubbernd im Moor unter.
Im Fernsehen waren die Toten aber nicht wirklich tot, die hielten nur die Luft an.
Ohne Karosserie, bloß noch mit Motor, Lenkrad, Fahrgestell und Sitzbänken, sah der VW-Käfer wie ein Mondfahrzeug aus. Wir durften uns reinsetzen, als Papa damit ums Haus fuhr, durch die Schneelandschaft, und Mama knipste uns.
Im Stern war ein Foto von einem toten Jungen. Der war von Verbrechern entführt, bis auf die Unterhose ausgezogen und mit Draht an einen Baum gefesselt worden, hatte sich befreit, war zur Straße gehumpelt und bei minus 15 Grad im Schnee erfroren, obwohl da jede Menge Autofahrer vorbeigekommen waren. Der Junge, dem niemand half.
Als ich bei Manfred Cordes Disco ’71 gekuckt hatte und rausging, waren bei meinem Fahrrad wieder die Reifen platt und die Ventile weg, und ich wußte genau, daß der Ventilmops dahintersteckte.
Um ihm die Tour zu vermasseln, wollte ich mein Fahrrad bei uns in die Garageneinfahrt stellen und drinnen hinter der Gardine warten, bis er angerückt kam und die Ventile rausdrehte. Dann wollte ich mit Volkers Fotoapparat den Ventilmops durchs Fenster knipsen. Auf frischer Tat ertappt!
Das wäre gut gewesen, aber Volkers Fotoapparat war kaputt, Renates auch, und nach Papas brauchte ich gar nicht erst zu fragen.
Für mein Halbjahreszeugnis erhielt ich fünf Mark fünfzig, weil ich in Betragen, Rechtschreiben und Lesen Einsen und dann noch fünf Zweien hatte.
»Eigenlob stinkt«, sagte Renate.
Miracoli mit Tomatensoße.
Mit dem Geld ging ich nach Vallendar, um mir was zu kaufen. »Tu, was du nicht lassen kannst«, hatte Mama gesagt. »Aber laß dir nicht wieder den letzten Strund andrehen!«
Ich entschied mich für ein Plastikschwert mit Plastikscheide. Die Rittermaske, die dazugehörte, mit Visier, war zu teuer.
»Mein lieber Schwan!« sagte Mama. »Was hast du dir denn dafür abknöpfen lassen?«
»Drei Mark achtzig.«
»Und der Rest? Hast du den auch verplempert?«
»Nein.«
»Fünf fünfzig minus drei achtzig macht nach Adam Riese eins siebzig. Zeig doch mal, wo du die hast!«
Die hatte ich in Zuckerspeck und Bluna angelegt.
Adam Riese konnte mir gestohlen bleiben. So ’n alter Opa, der in seiner mittelalterlichen Bude Meerschaumpfeife geraucht und einen Scheißdreck nach dem andern ausgerechnet hatte.
Frau Katzer las eine Geschichte aus dem Lesebuch vor, über ein Puppenhaus, in dem die Familie Klinzig wohnte.
Auch Jungen würden mit Puppen spielen, da sei gar nichts dabei, sagte Frau Katzer, und sie wollte wissen, welche Jungen in der Klasse mit Puppen spielten.
Ulrich Gierge zeigte auf. Das war typisch für den. Ich hatte auch schon mit Puppen gespielt, aber vor der ganzen Klasse zugeben konnte sowas nur ein Supertöffel wie Ulrich Gierge.
Bevor der Schulrat kam, impfte Frau Katzer uns ein, was wir auf ihre Fragen antworten sollten, bis ins kleinste. Daß wir die Stunde mit ihr schon geübt hätten, müsse aber unser kleines Geheimnis bleiben. Sonst kämen wir alle in Teufels Küche.
Man merkte, daß Frau Katzer vor dem Schulrat Angst hatte, doch dann stellte sich raus, daß das ein gutgelaunter Dickmops war, vor dem man weniger Angst haben mußte als vor Frau Katzer. Solange der Schulrat da war, kriegte keiner eine geknallt, nicht mal Benno Anderbrügge, als er lange vor dem Klingeln anfing, seine Sachen einzupacken. Das holte Frau Katzer dann am nächsten Schultag nach.
Jetzt wäre die Eingangstreppe fällig gewesen, aber es goß wie aus Eimern. Im Vorgarten lagen Bretter, und alles war mit Kieshaufen und Erdhaufen und Sandhaufen voll.
Muhammad Ali sei ein Großmaul, sagte Mama. Immer rumzuposaunen, daß er der Größte sei! Bei ihr könne der damit keinen Eindruck schinden. Der heiße eigentlich auch gar nicht Muhammad Ali, sondern Cassius Clay.
Bei seinem Boxkampf gegen Joe Frazier drückte ich trotzdem Muhammad Ali die Daumen, weil Joe Frazier aussah wie ein Schuftikus erster Güte.
Volker und ich zogen Turnhosen an und trugen im Hobbyraum einen eigenen Boxkampf aus, der über fünfzehn Runden gehen sollte. Als Boxhandschuhe benutzten wir Waschlappen und als Mundschutz Apfelstücke. Seine Zahnspange hatte Volker rausgenommen.
Auf in den Kampf, die Schwiegermutter naht! Siegesgewiß klappert ihr Gebiß.
Volker mußte schätzen, wann drei Minuten um waren, und »Gong!« rufen. Dann gingen wir in unsere Ecken und rubbelten uns mit Handtüchern ab.
Schläge unter die Gürtellinie waren verboten. In der dritten Runde landete ich einen Treffer an Volkers Stirn, aber er berappelte sich wieder und landete einen auf meinem linken Auge. Nach dem Gong lief ich hoch in die Küche, um mir ein Steak auf das Auge zu legen. Weil kein Steak da war, nahm ich eine Scheibe Cervelatwurst und tastete mich wieder zurück, Arme ausgestreckt, Kopf im Nacken und halbblind, mit der Wurst im Gesicht.
»Voller Wanst gewinnt nicht gern«, sagte Volker, als ich die Wurst aufgefuttert hatte. »Gong zur vierten Runde!«
Ich hatte vorgehabt, den Kampf zu gewinnen, aber dann boxte Volker mir mit voller Wucht in den Bauch, und ich ging zu Boden.
Volker zählte mich aus. Dann reckte er die Arme nach oben, tanzte um mich rum, beugte sich über mich und sagte: »Na, wie fühlt man sich so als Verlierer?«
Ich nahm Rache, indem ich Volker unters Kinn trat. Er fiel auf den Rücken, faßte sich an die Gurgel und krächzte, daß er keine Luft mehr kriege.
Da rannte ich die Treppe hoch und ins Wohnzimmer: »Volker liegt im Hobbyraum und kriegt keine Luft mehr!«
Mama und Papa sprangen auf und liefen nach unten.
Ich blieb oben und versuchte, an was anderes zu denken, an was Schönes, an meinen Geburtstag oder an Weihnachten, aber das ging nicht.
Im Fernsehen lief die Tagesschau. Der Suezkanal und die EWG.
Wenn Volker jetzt hopsging, und ich war schuld? Wie sollte ich das je wieder gutmachen? Ich würde ins Gefängnis kommen, lebenslänglich, oder zur Adoption freigegeben werden.
Es war aber falscher Alarm. Volker hatte mich nur verkackeiern wollen. Das war gemein von ihm, aber mir fiel ein Stein vom Herzen.
»Ihr könnt einen vielleicht ins Bockshorn jagen«, sagte Mama und besah sich mein linkes Auge. Da war ein saftiges Veilchen am Erblühen.
Am Erblühen, sowas durfte man bei Frau Katzer nicht sagen, sonst kriegte man zu hören: »Ich bin die Kuh am Stall am Schwanz am raus am Ziehen.«
Mit dem blauen Auge war ich in der Schule der Held, nur nicht bei Melanie Pape, aber die konnte mich mal.
Stephan Mittendorf lud mich ein, in Mittendorfs Swimmingpool zu baden, und ich ging hin, auch ohne Freischwimmer.
Es war mir zu peinlich, den Schwimmreifen mit dem Schwanenkopf zu nehmen, aber ohne jede Schwimmhilfe wollte ich dann doch nicht ins Becken, und auf einmal stieß Stephans Bruder Markus mich rein.
Bis ich wieder am Beckenrand war, hatte ich einen Haufen Wasser geschluckt und in die Nase gekriegt.
Markus wurde von Frau Mittendorf auf sein Zimmer geschickt und zog laut maulend ab.
Ich nahm den Schwanenreifen, und damit ging’s, aber Stephan machte spitze Bemerkungen über mich und meine Schwimmkünste, und ich wußte genau, das ist das erste und das letzte Mal, daß ich das über mich ergehen lasse.
Mama hatte Sternchennudelsuppe gekocht, aber ich war nicht dafür zu haben, obwohl ich Sternchennudelsuppe sonst immer die Note 2 gab. Ich hatte Kopfweh und Halsweh.
Doktor Kretzschmar kam und stellte fest, daß meine Mandeln rausmußten oder meine Bronchien und Polypen. »Nach der Operation wirst du leichte Schluckbeschwerden haben«, sagte Doktor Kretzschmar, »aber dafür darfst du pfundweise Schokoladeneis mampfen!«
In dem Krankenhauszimmer, in das ich kam, lagen noch fünf andere Jungen. Einer hatte was an der Stirnhöhle und kriegte jeden Abend eine superlange Spritze in die Nase. Das hätte ich nicht ausgehalten. Mir taten schon immer die Spritzen in den Po so weh, daß ich schreien mußte. Einmal stach mir eine Schwester die Spritze so tief rein, daß die Spritzenspitze auf dem Knochen im Arsch kratzte.
Ein anderer Junge brachte mir den Trick bei, beim Spritzenkriegen ins Kopfkissen zu beißen. Das half.
Bis zur Operation war ich noch froh, weil ich im Bett liegen konnte, während die anderen Kopfrechnen hatten. Schadenfreude ist die reinste Freude.
Damit war es nach der Operation vorbei. Vor Halsschmerzen konnte ich überhaupt nicht mehr schlucken. Ich sabberte in eine Schale und mochte nicht mal das Eis, das mir Mama mitgebracht hatte.
Sie kam jeden Tag, aber einmal sagte sie: »Morgen geht’s nicht, da mußt du tapfer sein, kannst du mir das versprechen?«
Ich versprach ihr das, aber als mir in der Besuchszeit am anderen Tag klar wurde, daß ich der einzige Junge im Zimmer war, der in die Röhre kucken mußte, tat ich mir so leid, daß ich so leise, wie es ging, in mein Kissen flennte.
Und dann kam Mama doch noch, und sie hatte einen großen Umschlag mit Briefen für mich dabei, von allen meinen Mitschülern. In der Schule war das Thema Post durchgenommen worden, und da hatten alle als Hausaufgabe gekriegt, mir einen Brief zu schreiben.
Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehn!
Mehr oder weniger hatten mir alle das gleiche geschrieben. Daß sie die Post durchnehmen, mit der ganzen Klasse im Zoo gewesen sind und mir alles Gute wünschen. Am kürzesten war das Schmierakel von Benno Anderbrügge: Liber Martin! Im Zoo Sind mit drer (gnazen) ganzen Klase (gewe) gwesn und da War Die löwn pfütter wor dei Benno!
Drei von den vier Gabrieles hatten auf ihre Briefe Abziehbilder von Blumen und von Kätzchen gepappt, und Melanie Pape hatte lilanes Briefpapier mit aufgedruckten Igeln ausgewählt.
Die kleinste Schrift von allen hatte Michael Gerlach, wie Fliegenschiß, aber sein Brief gefiel mir am allerbesten: Lieber Martin, sei bloß froh, daß Du Dich im Krankenhaus ’rumtreiben kannst. Das bißchen Mandeloperation kann nicht so wehtun wie der Anblick der Irren, die sich gestern bei unserm Zoobesuch vorm Löwenkäfig tummelten, um zuzuschauen, wie die Raubtiere ihre Zähne in ein Menschenbaby schlugen. Ich glaube jedenfalls, daß es ein Menschenbaby war. Sehr viel sehen konnte ich nicht, weil ich hinten stand und die Omme von Torsten Hommrich vor mir hatte. Einstweilen gute Besserung!
Angela Timpe war die einzige, die mir keinen Brief geschrieben hatte. Dafür kriegte sie, als ich wieder in der Klasse war, noch einen Anranzer von Frau Katzer. Wenn Angela mal krank sei, werde sie von keinem einzigen aus der Klasse was kriegen, nicht einmal ein Fitzelchen von einem Kärtchen mit Genesungswünschen.
Dann fingen die Osterferien an.
In Volkers und meinem Zimmer war Oma Schlossers alter Kleiderschrank aufgestellt worden. Der eine Knauf war lose, aber man konnte allen überschüssigen Krimskrams oben auf den Schrank ballern, und innendrin war Platz genug für Volkers und meine Wäsche.
Renate zeigte mir die Fotos, die Papa von ihr im Wohnzimmer geschossen hatte. Da trug sie ein knöchellanges, mit Mamas Hilfe genähtes Kleid mit Blumenmuster, Puffärmeln und viereckigem Ausschnitt, eine von Mamas Broschen am Kragen und ein Samtband um den Hals, damit man den Leberfleck nicht so sah.
Wenn Papa samstags aus der Wanne kam, schmierte er sich die Haare mit Fit von Schwarzkopf ein und kämmte sie straff nach hinten. Im Badezimmer konnte man danach kaum atmen vor Wasserdampf und Zigarettenqualm.
Neu war, daß sich jeder von uns eigenes Wasser in die Wanne laufen lassen durfte. Ich wußte nicht genau, was ich lieber wollte, im eigenen Wasser baden oder im Wohnzimmer weiter beim Grand Prix d’Eurovision zukucken. Für Deutschland war Katja Ebstein im Rennen, aber die hatte schon gesungen, und Renate sagte, bis zur Entscheidung werde es noch Ewigkeiten dauern.
Ich legte mich in die Badewanne und ließ mir gelegentlich von Wiebke oder Renate Bericht erstatten. Aus Papas Schreibtisch hatte ich Streichhölzer gemopst. Mit denen zündete ich meine Furzblasen an und alarmierte dann mit der Brause als Telefonhörer die Feuerwehr.
Katja Ebstein schnitt gut ab, aber ihr Abstand zu den Spitzenreitern war zu groß, und sie kam nur auf Platz drei.
Im Wambachtal hangelten Volker und ich uns an abgebrochenen Ästen lang, die wir über den Wambach gelegt hatten. Als einer von den Ästen durchbrach, fiel ich in voller Montur ins Wasser und mußte quaddernaß nachhause laufen. Volker lachte sich scheckig. Ich im Wambach, das sei ein Bild für die Götter gewesen.
Weil ich die Röteln hatte, mußte ich über Ostern wieder im Bett bleiben. Ich baute mein Wildwestfort auf, mit allen Cowboys und Indianern, und am Ostersonntag zog ich überm Frotteeschlafanzug mein altes Prinzenkostüm an.
Aus Langeweile spielte ich Mensch ärgere Dich nicht mit mir selbst, auf der Rückseite vom Brett, wo die Bahn länger war, mit acht Parteien. Hellblau, Dunkelblau, Hellgrün, Dunkelgrün, Gelb, Rot, Schwarz und Lila. Die Spielfelder und die zweiunddreißig Figuren hatte ich mit dem Kuli numeriert, damit ich die Züge aufschreiben und später alles nochmal nachspielen konnte. Rot würfelt 5, zieht Nr. 3 von Feld 36 auf Feld 41 und schlägt Grün Nr. 2. Oder abgekürzt: R5 3 36 41 x G2.
Weil ich für alle immer den besten Zug aussuchte, selbst für die lilanen Figuren, die wie aus Rotkohl aussahen, zog das Spiel sich in die Länge. Da kam nie einer ans Ziel, und als ich acht Seiten vollgeschrieben hatte, gab ich’s auf.
Aus der Stadt brachte Mama mir zum Trost ein Buch und einen Hüpfball mit, knallig orange, mit blauem Griff. Damit durfte ich einmal kurz durchs Zimmer hüpfen, das mußte genügen, weil Doktor Kretzschmar mir Bettruhe verordnet hatte.
Wenn so ein Hüpfball mal geplatzt wäre, wie das wohl geknallt hätte.
Das Buch war über einen Försterjungen. Wie er mit seinem Vater Heiligabend in den Wald geht und in eine Wildschweinsuhle Eicheln und Kastanien schüttet, als Bescherung für die Wutzen, oder wie er und seine Freunde einen Wilderer hopsnehmen oder wie sie mit Zündpulver ein Silo zur Explosion bringen und noch tagelang bestialisch nach Gülle stinken.
Dann kreuzte Melanie Pape auf. Ich zog mir die Decke über den Kopf und weigerte mich, auch nur Guten Tag zu sagen. Ein Mädchen, das einen Jungen besucht, der im Schlafanzug im Bett liegt, das durfte ja wohl nicht wahr sein.
Unter der geknüllten Decke liegen und durch ein winziges Kuckloch lugen: So mußte man sich fühlen, wenn man in einer Höhle verschüttet war.
Melanie stand im Zimmer rum, aber ich blieb stur, was Mama als Anstellerei bezeichnete.
»Wer nicht will, der hat schon«, sagte Melanie und ging weg.
Uff.
Nach einer Woche war ich wieder auf den Beinen und fuhr mit Volker zum Fußballplatz, bolzen. Die Räder nahmen wir mit rein und ließen sie auf dem lehmigen Rasenhang vor der Aschenbahn liegen.
Dann sahen wir, daß Qualle sich an Volkers Rad zu schaffen machte. »Laß mein Rad in Ruhe!« rief Volker, aber Qualle sagte, das sei seins. Das erkenne er unter Tausenden, und zwar an dem Stück Lehm hinten am Rückspiegel. In Wahrheit klebte das da erst, seit Volker das Rad auf den Rasen gelegt hatte.
Qualle machte Anstalten, mit dem Rad wegzufahren, aber Volker hielt es am Gepäckträger fest. Ich schnappte mir mein eigenes Rad.
Dann sagte Qualle, das Rad sei ein Geschenk von Volker, was eine faustdicke Lüge war. Erst nach langem Gezeter wälzte er seinen Hintern vom Sattel, trat gegen den Vorderreifen, spuckte aufs Schutzblech und sagte: »Geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen!« Mit uns werde er noch abrechnen, wir sollten bloß aufpassen.
Was für ein dummes Arschloch.
Als Kalli zu Besuch kam, brachte er sein Tonband mit und Unmengen von Süßigkeiten, weil seine Mutter jetzt bei Haribo arbeiten ging.
Bei Lakritzschnecken wußte ich nie, was besser war, quer auffressen oder abrollen? Oder die Stränge trennen und beide einzeln zerkauen, damit man noch länger was davon hatte?
Im Hobbyraum spielten Kalli, Volker und ich Wildwest bei Musik vom Tonband. Hit the road, Jack, and don’t you come back no more, no more, no more, no more!
Kalli war unschlagbar. Der würfelte immer genau, was er brauchte, das war wie verhext. Zwischen Volker und mir wogte das Kampfglück hin und her, aber gegen Kalli kam man nicht an. Mir waren die blauen Indianer immer am besten vorgekommen, aber Kalli gewann mit den roten ein Spiel nach dem anderen, und sie stiegen in meiner Achtung, was ich von Volkers grünen Cowboys nicht behaupten konnte. Bei denen war kein einziges Lasso mehr heile.
Im Wambachtal brachen wir wieder beim Fischzüchter ein, mit Kalli als Anführer. In den Becken konnte man die Forellen zucken sehen. Oder waren das Goldfische? Oder waren Goldfische und Forellen dasselbe?
Als wir nach dem Sprudel im Schuppen kucken wollten, kam ein Mann auf einem Moped angeknattert. Der Fischzüchter höchstpersönlich.
»Ab durch die Mitte«, sagte Kalli, und er war schon halb auf den hinteren Zaun geklettert, als der Züchter schrie, wir sollten uns nicht rühren: »Da sind Marderfallen!« Da kam auch Kalli wieder runter.
Ich war der erste, den der Züchter beim Wickel hatte, und ich war sofort geständig. Wie ich hieß und wo ich wohnte und welche Telefonnummer wir hatten. Mit einem großen roten Bleistift schrieb der Züchter das in einen Notizblock, den er aus der Potasche gezogen hatte.
Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.
Kalli log eiskalt. Er würde Jürgen Krause heißen und in Neuwied wohnen, Bergstraße 11, dritter Stock.
»Telefonnummer!« brüllte der Züchter.
An Kallis Stelle hätte ich jetzt aufgegeben, aber er schwindelte weiter: »Telefon ist noch nicht angemeldet. Wir sind letzte Woche umgezogen, mit unserer Mutter, mein Bruder Günter hier und ich.« Er zeigte auf Volker. »Unser Vater ist tot.«
Den Notizblock steckte der Züchter wieder weg, aber er war noch nicht fertig mit uns. Ob wir ihm auch die Rolle Draht geklaut hätten, wollte er wissen.
»Draht? Welcher Draht?«
Das wüßten wir genau. Die Rolle Draht sei zweitausend Mark wert gewesen!
Dann hatte der Züchter genug von uns. »Laßt euch nie wieder hier blicken!«
»Die Gardinenpredigt hätte sich der Tattergreis auch schenken können«, sagte Kalli, als wir im Wambach nach der Drahtrolle suchten. Wenn die tatsächlich so viel wert war, wollte Kalli die verscheuern. Zweitausend Mark, da hätte eine alte Frau lange für stricken müssen, aber leider fanden wir die Rolle nicht mehr wieder.
Abends hatte der Züchter noch nicht bei uns angerufen.
Am ersten Schultag nach den Osterferien hatte ich mein Lesebuch nicht dabei. »Du wirst noch mal deinen Hintern vergessen«, sagte Frau Katzer. Das sagte sie immer, wenn jemand was vergessen hatte.
Sie las uns die Geschichte von der Stadtmaus und der Landmaus vor, und dann sollten wir die beiden Mäuse malen. Die reiche Stadtmaus superfett, mit Orden am Hosenlatz und Goldringen an allen Fingern, und die arme Landmaus klapperdürr, in kurzen Hosen.
In meinem Tuschkasten waren manche Farben schon fast alle. Bei anderen waren nur noch Brocken vorhanden, die man lange bepinseln mußte, um sie weichzukriegen.
Der verklebte Deckel von der Deckweißtube ging überhaupt nicht mehr auf.
Ulrich Gierge schüttete sein Pinselwasser Torsten Hommrich auf die Füße und kriegte von Frau Katzer dermaßen Keile, daß er um Gnade bettelte.
Die Bilder hängte Frau Katzer im Klassenzimmer an der Wand auf. Meins hing in der oberen Reihe, das dritte von rechts. Da mußte ich immer hinkucken.
Wenn wir wollten, könnten wir eine tolle Schülerzeitschrift abonnieren, sagte Frau Katzer. Die Mücke, sechsmal im Jahr. Lieder und Spiele stünden da drin und manches mehr.
Ich meldete mich auch, obwohl die Mücke fünfzig Pfennig pro Ausgabe kosten sollte und ich kein Geld hatte, aber ich wollte nicht zu den Doofmännern gehören, die zu geizig waren, die Mücke zu abonnieren.
Das Geld für die ersten sechs Hefte wollte Frau Katzer schon am nächsten Tag einsammeln. Wer A sagt, muß auch B sagen!
Ich suchte die Spielzeugkiste durch und nahm Figuren mit, die ich auf dem Schulhof verhökern wollte, um das Geld für die Mücke zusammenzukriegen, aber Benno Anderbrügge, dem ich in der großen Pause einen Schlumpf anbot, sagte nur: »Wat sollischen dodemit?«
Von den Abonnenten war ich der einzige, der Frau Katzer kein Geld für die Mücke geben konnte. Ich mußte einen Rückzieher machen, und das als Klassensprecher. Schimpf und Schande.
Stephan Mittendorf wurde gerüffelt, weil er die Mädchen als Weiber bezeichnet hatte. Das gehöre sich nicht, sagte Frau Katzer. Das erinnere an das Wort Waschweiber. »Ihr Jungs wollt ja auch nicht Kerle genannt werden!«
Kerle? Da war doch nichts gegen zu sagen.
Ein Laster brachte Füllboden für uns. Bei der zweiten Fuhre durfte Volker mitfahren und dann beim Abladen den Hebel bedienen, der dafür da war, daß die Kippe hinten hochging und die Erde runterrutschte. Bei der dritten Fuhre durfte ich das dann selbst machen.
Hinterher wollte Volker LKW-Fahrer werden. Entweder LKW-Fahrer oder Kamikazeflieger.
Das Wirtshaus im Spessart gefiel mir nicht, obwohl Mama mir geraten hatte, das zu kucken. Räuber, die an altertümlichen Pfeifen nuckelten und zu doof waren, um zu merken, daß sich bei ihnen eine Frau in Männersachen eingeschlichen hatte, besten Dank.
Zum Geburtstag kriegte ich einen Looping für die Carrerabahn, eine Single, Süßigkeiten, Strümpfe, zehn Mark und von Tante Dagmar ein Oberhemd mit tausend Stecknadeln drin.
Und Bücher: Jim Knopf und die Wilde 13 von Michael Ende, Robinson Crusoe, Fredy und die Taubenpost, Fliegender Stern und Agarob der Buschmann.
Mittags gab es Brathähnchen, mein Leibgericht. Renate wollte die Haut nicht essen, die kriegte ich noch dazu. Bei Hähnchen suchten wir immer alle nach dem Wünschelknochen. Wenn man den zu zweit zerbrach und dann das längere Stück in der Hand hatte, ging einem ein Wunsch in Erfüllung.
Eingeladen hatte ich Manfred Cordes, Stephan Mittendorf, Michael Gerlach, Andreas König und Melanie Pape. Die sollte mal spüren, wie es war, das einzige Mädchen zu sein.
Stephan Mittendorf brachte mir Bocciakugeln mit, in denen Wasser war, das man gluckern hören konnte.
Mama schlug Sahne, und ich durfte die Quirle ablecken.
Bei der Reise nach Jerusalem schied ich aus, hatte Wut im Bauch und haute mit der Faust auf den Eßtisch. »Produzier dich nicht so«, sagte Mama, und ich sollte auf den Flur gehen, bis ich mich wieder eingekriegt hatte.
Volker und ich wollten den Looping in die Carrerabahn einbauen, aber das war knifflig. Die Scheißklammern wollten nie passen.
Renate war nicht da, und ich konnte endlich meine Single hören. Mohikana Shalali. Auf der Hülle von Volkers Single sah Heino noch normal aus, aber auf meiner konnte man durch die Sonnenbrillengläser sehen, was der inzwischen für Glubschaugen hatte.
Schwer mit den Schätzen des Orients beladen.
Agarob der Buschmann war Kacke. Da wurde in der Kalahari Jagd auf Tiere gemacht, die Elande hießen. Wenn eins erlegt war, rupften die Buschmänner dem die Augen raus und schluckten sie unzerkaut runter. Und Agarob rief immer: »Sa! Sa! Sa!« Oder: »Tji! Tji!« Zehnmal auf jeder Seite.
Robinson Crusoe war schon was anderes. Oder Fliegender Stern. Das war ein Indianerjunge. Fliegender Stern saß vor dem Zelt seines Vaters und dachte: Es ist schlimm, wenn man noch ein kleiner Junge ist. Warum dauert es nur so lange, bis man groß wird?
Nach dem Baden mußten Fliegender Stern und sein bester Freund sich mit abgerissenen Zweigen hauen, um trocken zu werden. Hatten die Indianer denn keine Handtücher?
»Es ist vollbracht«, sagte Volker. Der Looping stand, und wir fuhren Wettrennen, bis Mama runterkam und uns Beine machte. »Ab ins Bett! Aber im Schweinsgalopp, wenn ich bitten darf!«
Ich verstand gar nicht mehr, was an der Carrerabahn ohne Looping gut gewesen sein sollte.
Bei Spiel ohne Grenzen mußten die Mannschaften in einem Schwimmbad große Bälle über Stege rollen, und die Leute platschten reihenweise ins Wasser.
»Das ist nicht Spiel ohne Grenzen, das ist bloß grenzenlos stupide«, sagte Renate.
Papa schickte mich mit abgezähltem Geld zur Kneipe auf der Kaiser-Friedrich-Höhe, drei Flaschen Bier kaufen. Ich fuhr mit dem Rad hin, machte aber einen Umweg, weil ich nicht an dem Haus vorbeiwollte, in dem der Ventilmops wohnte.
Der Dobermann drehte fast durch vor Wut in seinem Zwinger, die angezwitscherten Männer in der Kneipe machten sich über mich lustig, und auf der Rückfahrt rissen die Henkel von der Plastiktüte, die ich an den Lenker gehängt hatte.
Eine von den Flaschen war zerbrochen. In der Tüte war alles klatschnaß und voller Scherben, und es stank nach Bier.
Ich dachte mir eine Lüge aus: »Der Ventilmops hat mich überfallen. Der hat mich angehalten und mir eine von den Flaschen weggenommen.« Der hinterhältige Hund.
Das sei Straßenraub, sagte Papa, und er wollte zur Polizei gehen und Anzeige gegen den Ventilmops erstatten. Solchem Gesocks müsse man das Handwerk legen!
Ich zischte ab und schloß mich im Gerätekeller hinterm Hobbyraum ein.
»Was hat der Ventilmops denn angehabt?« fragte Volker mich durch die Tür und rüttelte an der Klinke.
»Weiß ich nicht, lauter Scheiße halt!«
Weil ich nicht zur Polizei mitkommen wollte, mußte ich schließlich zugeben, daß ich gelogen hatte, und Papa gab mir zwei Ohrfeigen, die mehr wehtaten als die von Mama.
In meinem Zeugnisheft für die Familie notierte ich für Papa eine Sechs. Ich hatte noch nie was anderes als Fünfen oder Sechsen vergeben, aber immer eine Begründung hinzugefügt: Petze, Drecksau, Geizkragen, Arsch. Erst kurz vor dem Muttertag riß ich die Seiten raus und schmiß sie zerknüllt in die Mülltonne.
In der Schule mußten wir zum Muttertag leere Graniniflaschen mit Knete bekleben und dann anmalen, was eine Mordsschweinerei war.
Ich schrieb für Mama ein Gedicht ab. Und ob der Maien stürmen will mit Regenguß und Hagelschlag wie ein verspäteter April: Er hat doch einen schönen Tag. Hat einen Tag, der schlimme Mai, viel lieber als das ganze Jahr, und wo es schien mir einerlei, ob trüb der Himmel oder klar. Und ist er trübe auch, ich fand mein Sträußlein doch in Wald und Ried und kann doch geben dir die Hand und singen dir ein schlichtes Lied.
Alles in Schönschrift, mit Buntstiftgirlande. Aber was war Ried?
Das Gedicht, das Volker abgeschrieben hatte, war noch eine Idee schleimiger: Ich hab Dich gern, will Dich nie kränken und will mein ganzes Herz Dir schenken. Heute sollst Du immer ruh’n, ich will Deine Arbeit tun. Ich mahle den Kaffee und decke den Tisch, dann bleibst Du munter wie ein Fisch. Ich gieße die Blumen und pflanze sie ein, dann hast Du ein schönes Gärtelein. Ist zu End das nächste Jahr, sollst Du sagen, daß immer Muttertag war.
Bloß gut, daß der Fischzüchter noch nicht bei uns angerufen hatte.
Mama ging mit Wiebke nach Vallendar zu Frau Doktor Golz, einer Augenärztin, vor der Wiebke große Angst hatte, und ich mußte mit, weil ich Mama hinterher Milch schleppen helfen sollte.
Ein großes E. Das seien zwei Garagen, sagte Frau Doktor Golz, und Wiebke sollte ihr verraten, in welche Garage das Auto fahre, in die obere oder in die untere, aber Wiebke sagte immer nichts, nur Mama ins Ohr, und Mama mußte es dann laut wiederholen.
Frau Katzer warnte uns vor Tieren mit Tollwut. Sie brachte uns bei, daß Hyazinthen unter Naturschutz stünden, und zeichnete mit bunter Kreide Blumen an die Tafel. Rotklee, Hahnenfuß und Glockenblume, Frauenschuh und Türkenbund.
Als Wiebke im Krankenhaus in Gießen war, fuhr ich mit Mama dahin mit, Wiebke besuchen.
Sie lag in einem Bett im Flur. Abgemacht war, daß erst nur das eine Auge operiert werden sollte, aber die Ärzte hatten beide Augen operiert und dann verbunden.
»Mama, ich will dich sehen!« jammerte Wiebke.
Das Bilderbuch, das Mama ihr schenken wollte, durfte ich mit in den Garten nehmen, den das Krankenhaus hatte.
Der Friederich, der Friederich, das war ein arger Wüterich! Er peitschte seine Gretchen gar, aber die war viel größer als der bitterböse Friederich, da hätte sie ihm doch eine verplätten können?
Und Minz und Maunz, die Katzen, erheben ihre Tatzen.
Der Niklas, der die drei Jungen ins Tintenfaß taucht, und die Geschichte vom Daumenlutscher: Weh! jetzt geht es klipp und klapp, mit der Scher die Daumen ab.
Komisch, daß die Eltern vom Suppenkaspar dem noch eine Schüssel Suppe aufs Grab stellten.
Der Zappelphilipp. Und Hans Guck-in-die-Luft, den die Fische auslachen, als ihm die Schulmappe wegschwimmt. Und der fliegende Robert mit seinem Schirm: Wo der Wind sie hingetragen, ja, das weiß kein Mensch zu sagen.
Wir hatten eine neue Schülerin in der Klasse, und weil Melanie Pape krank war, kriegte die Neue den freien Platz neben mir. Sie hieß Roswitha Schrimpf und hatte braune Zöpfe und dunkelbraune Augen. Mit ihren Eltern war sie von Stuttgart nach Vallendar gezogen, in die Gartenstadt. Alles an Roswitha Schrimpf war fein und schmal, und an ihrer Schläfe konnte man blaugrüne Äderchen sehen.
Zuhause holte ich mir ein blütenweißes Blatt Papier aus Papas Schreibtisch.
Liebe Roswitha! Ich liebe Dich über alles und möchte Dein Freund werden. Dein Martin.
In Sonntagsschrift. Ich kriegte Herzklopfen, wenn ich das las. Das Blatt versteckte ich im Schiebeschrank zwischen alten Schulheften. Melanie Pape spielte jetzt für mich nur noch die zweite Geige. Auf die Dauer, lieber Schatz, ist mein Herz kein Ankerplatz.
»Setz dich mal richtig hin«, sagte Roswitha Schrimpf, als ich einmal mit einem Fuß unterm Hintern auf meinem Stuhl saß, und als Melanie Pape wiederkam, setzte Frau Katzer Roswitha Schrimpf neben Heike Zöhler. Die beiden wurden Busenfreundinnen, und ich hatte keine Chance mehr.
Jetzt kapierte ich erst, was Liebeskummer war und weshalb Charlie Brown immer so unglücklich war wegen dem kleinen rothaarigen Mädchen.
Frau Katzer wollte ein Theaterstück über die Schildbürger mit uns aufführen. Wer Lust hatte, mitzumachen, sollte sich melden. Roswitha zeigte auf. Ich auch.
Schicksalsmelodie.
Für das Treffen am Nachmittag in der Klasse sollten wir uns neue Schildbürgerstreiche ausdenken. Ich überlegte mir, daß einer von den Schildbürgern in das Rathaus, das sie aus Versehen ohne Fenster gebaut hatten, eine Katze mitbringen will. Katzenaugen leuchten in der Dunkelheit, und dann ist es hell im Rathaus, sagt der Schildbürger, aber die anderen sagen, wenn es hell ist, leuchten die Katzenaugen nicht mehr, und es ist wieder dunkel, deshalb holen sie dann doch keine Katze ins Rathaus.
Von Frau Katzer kriegte ich ein Lob für diesen Einfall, aber Roswitha Schrimpf war nicht gekommen, und da ging ich auch nicht mehr hin.
Als Stephan Mittendorf Geburtstag hatte, gab Mama mir einen Strauß Dahlien aus dem Garten mit. »Und benimm dich!«
Wir spielten Stadt-Land-Fluß, wobei Oliver Wolter immer gewann, weil der das irgendwann für jeden Buchstaben auswendig gelernt hatte, sogar für Ypsilon. Stadt: Yokohama, Land: Yemen, Fluß: Yellowstone River, Pflanze: Yamswurzel, Tier: Yak, Name: Yvonne, Beruf: Yuccapalmenzüchter.
Ich hatte was ins Auge gekriegt. »Immer zur Nase hin reiben«, sagte Frau Mittendorf. Das merkte ich mir.
Dann wurde Taler, Taler, du mußt wandern gespielt, was zum Einschlafen war. Schön in der Patsche saß Oliver Wolter beim Teekesselraten. Er kam nicht drauf, daß mein Teekessel das Garagentor war und Stephans Teekessel der Tor als anderes Wort für Narr, und Oliver Wolter sagte, das sei kein echter Teekessel. Der Tor, das spreche man anders aus als das Tor, nämlich mit kurzem o, also nicht Tor, sondern Torr.
Oliver Wolter, der alte Spielverderber. Der war so doof, das ging auf keine Kuhhaut.
Beim Versteckspielen fand mich keiner, weil ich in den Wohnzimmerkamin gekrochen war, aber das hätte ich besser gelassen, weil ich danach die Sesselpolster mit Ruß vollsaute. Alles war schwarz beschmiert, und ich versprach Frau Mittendorf, ihr mein ganzes Geld zu geben, aber sie sagte, die Reinigungskosten seien viel zu hoch. »Das kannst du gar nicht bezahlen!«
Mama mußte die Sache dann wieder einrenken.
Sie sei mit mir nun bald am Ende ihrer Weisheit, sagte Mama.
Wir kriegten unsere eigenen Beete, jedes einen Quadratmeter groß, wo wir säen und pflanzen durften, was wir wollten: Renate Rosen, Volker Ziermais und Wiebke Vergißmeinnicht. Ich selbst wollte eine Höhle bauen. Im Beet eine Grube ausheben, Bretter drüber, Erde drauf, eine Einstiegsluke freilassen und dann unten in der Höhle sitzen, aber damit kam ich nicht durch. Mama sagte, ich sei nicht ganz gar gebacken. Zwiebeln pflanzen sollte ich in meinem Beet. »Da bricht dir schon kein Zacken aus der Krone.«
Zum Geburtstag kriegte Wiebke eine Handtasche, einen Pullover, einen roten Hosenanzug und einen Pinguin mit Ringen zum Drüberwerfen.
Ich riet Wiebke, sich zum Mittagessen einen Guglhupf zu wünschen, wie den, den Frau Waas im ersten Kapitel von Jim Knopf und die Wilde 13 serviert hatte, weil ich dachte, das sei ein Geflügelbraten, aber Mama klärte mich darüber auf, daß das ein Kuchen sei, und ich war völlig von den Socken.
Was Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer in China essen sollten, waren Ameisenklößchen auf Schneckenschleim, gesottene Wespennester mit Schlangenhaut in Essig und Öl, Seidenraupen mit weichgekochten Igelstacheln oder zarter Salat aus Eichhörnchenohren.
Dann lieber dicke Bohnen.
Wir waren noch beim Essen, als Stephan Mittendorf klingelte. Er wartete dann in meinem Zimmer, bis wir den Nachtisch aufhatten.
Als ich reinkam, las mir Stephan Mittendorf vor, was ich Roswitha Schrimpf geschrieben hatte. Liebe Roswitha! Ich liebe Dich über alles und möchte Dein Freund werden. Dein Martin.
Das Blatt hatte er im Schiebeschrank ausgegraben, und jetzt mußte ich mir blitzartig was ausdenken.
Das sei mein Bruder gewesen, rief ich. Volker, der Arsch! Fälscht einen Liebesbrief und legt ihn zwischen meine Sachen. »Das zahl ich dem noch heim!«
Stephan Mittendorf griente. Er glaubte mir kein Wort, und ich konnte nur hoffen, daß er die Sache nicht an die große Glocke hängte.
Um jeden Verdacht zu zerstreuen, mußte ich mich in der Schule möglichst weit fernhalten von Roswitha.
Wir nahmen die Blüte durch. Wie sie bestäubt wird. Fruchtknoten, Stempel und Samenfäden.
Geschützte Pflanzen: Lilie, Küchenschelle, Königsfarn, Seidelbast und Aurikel. Die Familie der Doldengewächse. Tonboden, Lehmboden, Sandboden, Löß.
Fink und Meise, die sich im Sommer mausern. Wie eine Schleuse funktioniert. Der Satz als Sinnschritt.
Koblenz ist ein Verkehrsknotenpunkt.
In Musik mußten wir singen. Grün, grün, grün sind alle meine Kleider, weil mein Schatz ein Jägermeister ist! Michael Gerlach machte nur den Mund auf und zu, weil er den Schwachsinn nicht singen wollte.
Total beknackt fand Renate Tyrannosaurus Rex. Die würden nur Krach machen.
Bei den Les Humphries Singers fragte ich mich, ob die alle zusammenwohnten.
Während einer Klassenarbeit in Rechnen mußte ich dringend pinkeln, aber das Klo war weit weg und die Stunde schon halb um, und ich hatte erst zwei von sieben Aufgaben gelöst, da durfte ich keine Zeit verlieren. Ich wippte mit den Beinen. Rechnen konnte ich so aber auch nicht mehr. Mit kurzer Hose wäre das nicht gegangen, aber ich hatte meine lange schwarze an, und da ließ ich es laufen.
Die Pisse floß mir warm am linken Bein runter, innen am Oberschenkel und am Knie vorbei. Ich hatte Angst, daß die Pisse aus dem Hosenbein auf den Boden tropft und die ganze Klasse die Bescherung mitkriegt, schon wegen dem Gestank. Dann wäre ich unten durch gewesen, bei allen, für immer und ewig.
Doch die Hose saugte alles auf. Man sah auch kaum, daß sie an manchen Stellen dunkler geworden war.
Melanie Pape neben mir rechnete seelenruhig weiter. Die hatte nichts gemerkt.
Zwei Aufgaben kriegte ich noch raus, bevor es schellte und wir abgeben mußten.
Beim Fangenspielen in der Pause war ich so schnell wie nie zuvor. Die Hose klebte mir kalt am Bein, und ich wollte nicht, daß mir irgendeiner zu nahe kam.
»Der rennt wie der Teufel!« rief Manfred Cordes. Wenn der gewußt hätte.
Groß in Mode waren jetzt aus Plastik, Schnürsenkeln und Cowboyfiguren gebastelte Fallschirmspringer. Die gondelten in jeder Pause überm Schulhof rum, bis das vom Direktor unterbunden wurde.
Volker hatte mal versucht, aus Nähgarn, einer Plastiktüte und einem Teelicht einen Heißluftballon zu basteln. Das brennende Teelicht sollte in der Tüte obendrüber die Luft erwärmen, damit sie stieg, aber das Teelicht ging immer aus.
Mittags war im Schulbus eine Bullenhitze. Den linken Arm ließ der Lauterberg beim Fahren aus dem Fenster hängen. Einmal hatte er einen Lachsack vorne liegen, eine orange Stofftasche, aus der ansteckendes Gelächter kam, und wir lachten uns kringelig, aber das Dachfenster durften wir trotzdem nicht aufmachen.
Im Freibad Oberwerth hatte Volker die Freischwimmerprüfung bestanden. Mama nähte ihm das runde Abzeichen mit der einen Welle auf die blaue Badehose.
Dafür war Volker vom Gymnasium geflogen und mußte nach den Ferien in Vallendar auf die Hauptschule gehen. Ich konnte immer noch nicht schwimmen, aber die Versetzung hatte ich geschafft. Drei Einsen, sieben Zweien, drei Dreien und eine Vier, in Rechnen.
Dr. Oetker Eis-Vergnügen.
Am ersten Sommerferientag kochte Mama Rhabarber ein. Ich übte Weitsprung von der Schaukel aus, mit Schwung. Immer dichter an den vorderen Komposthaufen ran. Wenn ich einen neuen Rekord aufgestellt hatte, holte ich mir hinten aus dem Garten zur Belohnung Sonnenblumenkerne und Zuckererbsen.
Papa machte die Terrasse. Er hatte Gummistiefel an und kippte Sand aus der Schubkarre, den er mit einem Brett glättete. Als ich die Wasserwaage aus der Garage holen sollte, kam ich mit was Falschem wieder hoch, und Papa faßte sich an den Kopf. »Wasserwaage hab ich gesagt, du Rhinozeros!«
Da, wo der Rasen hinkommen sollte, zog Papa eine schwere Walze hinter sich her. Das dauerte drei Tage. Dann warf er den Rasensamen auf die brettebene Fläche.
Im Märzen der Bauer.
Ich pinkelte zwischen die beiden Komposthaufen. Da erschien in der Himbeerhecke das Gesicht von Ute Rautenberg. »Wir sagen dazu Glied«, teilte sie mir mit, und ich verduftete.
In der Pfanne schwitzte Mama Zwiebelwürfel an.
Von meinem Zimmer aus konnte ich das halbe Wambachtal überblicken. Im Kloster Schönstatt, auf der Anhöhe gegenüber, würden jetzt vielleicht Mönche im Büßerhemd durch die Sakristei schreiten, und olle Nonnen würden Choräle singen. Ein Segen, daß ich evangelisch war und nicht wie die Katholen Rosenkränze beten und einen Obermotz in Walle-walle-Gewändern verehren mußte.
Unten im Schiebeschrank lag ein Fünfpfennigstück. Bank deutscher Länder. Draufbeißen, ob es kein Falschgeld ist. Jetzt waren ja überall Blüten im Umlauf.
Einen Falschgeldmünzer dingfest machen, und dann klopft einem der Kriminalkommissar auf die Schulter: »Junger Mann, wir sind Ihnen zu Dank verpflichtet!« Und ich zu den Pressefritzen: »Angefangen hat alles mit einem Fünfpfennigstück …«
Aber wenn da Hunde draufgepinkelt oder Füchse draufgeschissen hatten, machten sich’s jetzt Wurmeier in mir gemütlich, und mir mußte ein vier Meter langer Bandwurm aus dem Po gezogen werden. Das hatte Papa als Kind mal erlebt.
Ich ging ins Bad und spülte mir den Mund aus.
Dann zählte ich meine Piepen nach. Der Pfennigturm war am höchsten, aber am wenigsten wert.
Wer den Pfennig nicht ehrt. Einer, Zweier, Fünfer, Zehner. Alles auf die hohe Kante legen. Kleinvieh macht auch Mist. Eigenartig, daß die Zweier größer waren als die Fünfer.
Ich schlich mich ins Elternschlafzimmer. Papa war im Keller, und Mama hängte im Garten Laken an der Wäschespinne auf.
Unten in Papas Nachtschränkchen lagen Schuhspanner aus Holz und oben in der Schublade zusammengerollte Socken und Papas Portjuchheirassa.
Fünf Zwanzigmarkscheine waren drin. Einen nahm ich raus und klemmte ihn mir zusammengerollt vorne unterm T-Shirt in den Turnhosenbund. Ich dachte, es fällt schon nicht auf, ob da vier oder fünf Zwanzigmarkscheine im Portemonnaie stecken.
In der Küche kriegten Volker und ich von Mama jeder zwei Mark, die wir bei der Kirmes in Vallendar auf den Kopp hauen durften. Neue Münzen, mit Adenauer auf der Rückseite statt Max Planck. Damit wären wir nicht weit gekommen, aber ich hatte ja vorgesorgt.
In Vallendar sollten wir Leergut abgeben, vier Flaschen. »Wie siehst du bloß wieder aus!« rief Mama und wollte mir das Hemd in die Hose stopfen. Vor Schreck ließ ich die Tüte mit den Flaschen fallen. Eine zerbrach, und Mama sagte, ich sei ein nervöses Handtuch.
»Da können wir ja in Saus und Braus leben«, sagte Volker, als ich ihm die Moneten gezeigt hatte. Wir brauchten wahrlich nicht zu knapsen. In Vallendar kaufte ich uns jedem ein Mars und auf der Kirmes Zuckerwatte. Ich hatte die Spendierhosen an.
Das viele Wechselgeld hielt ich in der Hand fest, aber als ich beim Auto-Scooter-Fahren mit Volkers Wagen zusammenknallte, fiel alles auf die Piste, und nach der Fahrt fand ich nur fünfzig Pfennig wieder.
Abends hörte ich Mama und Papa streiten. Es ging um die zwanzig Mark. Papa hatte Volker und mich im Verdacht, aber Mama sagte, das würde sie uns nicht zutrauen. Den eigenen Vater zu bestehlen!
Lügen haben kurze Beine. Ich lief in mein Zimmer und versteckte mich unterm Doppelstockbett.
Mama zog mich am Fuß raus.
Die Strafen waren hart. Prügeltracht, kein Dick und Doof, kein Mannix, und ich durfte erstmal nicht mit nach Jever. »Da brauchst du gar nicht so zu kucken wie Naphthalin!«
Keine Ahnung, wer Naphthalin war.
Stephan Mittendorf hatte seine Eltern angeblich noch nie im Leben angelogen. Ich dagegen hätte überhaupt nicht mehr zählen können, wie oft ich meine Eltern schon angelogen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, aber das hätte ich ihm nicht verraten sollen. Als ich das nächste Mal bei ihm zuhause war, nahm seine Mutter mich in den Arm und sagte: »Martin, das darfst du nie wieder tun, deine Eltern anlügen!«
Mama und Papa brachten Volker und Wiebke nach Jever. Zwei Tage ohne Eltern. Renate erntete Himbeeren für Rautenbergs, die in den Schwarzwald gefahren waren. Ich bereitete mir geschlagenes Ei mit Zucker zu und kuckte Fernsehen. Damit Sie auch morgen noch kraftvoll zubeißen können. Dash, Fewamat und Creme 21. Ihr Mund wird kußfrisch wie noch nie!
Dann kam Renate mit blutendem Fuß ins Wohnzimmer gehumpelt. Sie war in Rautenbergs Garten auf einen rostigen Zinken getreten. Die Spitze hatte sich durch die Strandlatschensohle gebohrt und dann tief in den Fuß.
Ich lief zu Mittendorfs, Hilfe holen, und Stephans Mutter fuhr uns nach Vallendar ins Krankenhaus, wo Renate eine Tetanusspritze gegen Blutvergiftung kriegte. Erst der Zinken, dann die Spritze, das war nicht Renates Glückstag.
Als ich schon im Bett lag, kam Renate rein und erzählte mir was von einem Liebespaar, das sich umarmt und küßt. Zwischendurch kuckte sie nach, ob ich von der Geschichte einen steifen Pimmel gekriegt hatte.
»Aber behalt das für dich«, sagte Renate.
Im Wambachtal spielten Michael Gerlach und ich, daß wir Kettensträflinge wären, auf der Flucht vor der Polente und deren Bluthunden, wie in dem Film, in dem die entflohenen Sträflinge vor Hunger einen Frosch gebraten und gefressen hatten, aber das mit dem Frosch ließen wir weg.
Im Zweiten kam ganz spät eine schweinische Sendung, die Renate kucken wollte. Das sexte Programm. Ich war hundemüde und bei dem Film davor schon dreimal eingeschlafen, aber bis zum sexten Programm wollte ich aufbleiben. Und dann schlief ich doch wieder ein. Alles, woran ich mich morgens noch erinnern konnte, waren zwei dicke Frauenbrüste, die in Zeitlupe bei Glockengeläut zusammengeprallt waren. Daß wir das gekuckt hatten, mußte ich vor Mama und Papa geheimhalten, genauso wie das mit der Gutenachtgeschichte.
Herr Winter spülte sein Auto in der Einfahrt mit dem Schlauch ab, und ich sah zu, wie das Wasser durch den Rinnstein vor unserem Haus zum Gully floß.
Renate war jetzt mit der Brillenschlange Rüdiger liiert, fuhr aber ohne ihn mit Tante Dagmar, Tante Grete und Gustav für drei Wochen nach Castelldefels in Spanien.
In der Tagesschau konnte man den Bankräuber Rammelmayr tot auf der Straße liegen sehen, von Polizeischarfschützen erschossen.
In Bruchköbel war eine neue Kusine zur Welt gekommen, meine elfte. Vettern hatte ich erst sieben. Drei Onkel und sechs Tanten, einen Bruder und zwei Schwestern. Ein jüngerer Bruder wäre auch nicht schlecht gewesen. Zur Not auch noch eine zweite Schwester, so wie im Fernsehen: Drei Mädchen und drei Jungen. Plus Haushälterin und Hund.
»Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen«, sagte Mama.
Damit wir von der Terrasse zur Schaukel konnten, hatte Papa Steinplatten in den Rasen eingepaßt, von dem noch nicht viel zu sehen war. Ich übersprang immer gleich zwei, und einmal landete ich mit der Hacke im Rasen, in letzter Sekunde vor der Abfahrt nach Jever. Mit dem Hintern umschmeißen, was andere mit den Händen aufgebaut hätten, das sei mein Spezialgebiet, sagte Papa. »Kannst du nicht besser aufpassen auf deine Kackstelzen?«
In der Mühlenstraße 47 hing ein Schild an der Haustürklinke: Wir sind im Garten! Das machte Mama wütend. »Wie kann man nur! Da weiß doch jeder Einbrecher, daß er freien Eintritt hat!«
Als erstes raufte ich mich mit Volker, wobei keiner von uns gewann. Beim Händewaschen vorm Abendbrot sagte er, unser Kämpfchen sei ihm ein Hochgenuß gewesen.
Oma und Opa waren ein Stockwerk tiefer gezogen, in die Wohnung von Frau Apken, die in ein Heim gekommen war. Geistig umnachtet und bloß noch ein Klappergestell. »Sitzt da, muß mit dem Löffel gefüttert werden und erkennt keinen mehr, nicht mal mich«, sagte Oma. »Streicht sich hundertmal in der Minute den Rock glatt und sagt: Guten Tag, guten Tag, auch wenn sie ganz alleine ist. Die arme Frau!«
Oben wohnte jetzt eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Tjark und Gesche. Die waren mehr Wiebkes Kaliber.
Weil im Fernsehen nur Schrott kam, wurden alte Alben bekuckt. Mama erklärte, wer wer war. Opa als Soldat und unser zwei Meter langer Urgroßopa, der sich mit dem Arm an die Regenrinne lehnen konnte. Wenn die Kinder Zwieback gekriegt hatten, sei er nach draußen gerannt: »Lot mi rut, Tweeback-Knacken geiht los!«
In Moorwarfen hatte Mama einen Mitschüler gehabt, der für zwanzig Pfennig Fröschen den Kopf abgebissen hatte.
Und Frau Siebels mit ihren acht Kindern, die sie abends vom Küchenfenster aus zusammenrufen mußte: »Tille, Heino, Käti, Werner, Siegfried, Anton, Otto, Aaaaadolf!«
Im Krieg dann jede dritte Nacht der Tommy. Ausgebombte Nachbarn und im Winter der kegelförmige, hartgefrorene Kackhaufen im Plumpsklo, das sei nicht mehr feierlich gewesen. Oder die Inflation, als ein Brot eine Million Mark gekostet hatte und ein paar Tage später schon eine Milliarde.
In Jever durfte man die Badewanne nur so weit einlaufen lassen, daß man in einer Pfütze Wasser saß. Der Schwamm hing an einem Faden mit roter Holzkugel dran. Auf dem Wannenboden klebte eine Gummimatte mit Saugnäpfen, und nach zehn Minuten scheuchte Oma einen wieder raus aus der Wanne.
Das Gästeschlafzimmer war im Keller. Das Fenster hatte eine Milchglasscheibe, gegen die nachts im Wind die Zweige von den Rosensträuchern im Vorgarten tickten.
Im Schrank lagen Gustavs Schlittschuhe und alte Bücher. Reader’s Digest, Deutschstunde und Ansichten eines Clowns.
Wenn man mußte, mußte man durch den Keller am knackenden Heizkessel vorbei den Flur lang um zwei Ecken rum zur Holztreppe, die nur am oberen Ende einen Lichtschalter hatte, und dann noch die dunkle Treppe hoch in die Wohnung und zum Klo.
Und wieder runter, was genauso unheimlich war. Oma wollte nicht, daß das Licht die ganze Nacht brannte, und die Lichtschalter im Keller waren so gescheit verteilt, daß man nicht nur vorm Anmachen, sondern auch nach dem Ausmachen immer dunkle Strecken vor sich hatte.
Selbst Volker, der schon zwölf war, gruselte sich im Keller.
Einmal dachte ich, hinter der Ecke steht einer, aber es war nur der knackende Heizkessel.
Dann stellte Oma einen Blecheimer zum Reinpullern nach unten. Den Eimer nannte sie Tante Meier. Wenn wir da hinmußten, sollten wir danach eine alte Zeitung drauflegen.
Vor dem Frühstück mußten wir Tante Meier oben im Klo auskippen.
Anstelle von SB gab es in Jever Rama. Morgenfrisch und urgesund.
Im Garten spielten wir Krocket. Da mußte man mit Stöcken Holzbälle durch Tore aus gelbem Draht kicken.
Oma bereitete Rotbarschfilets zu. Säubern, säuern, salzen.
Nach dem Essen setzte Mama sich in die Veranda und las in der neuen Hörzu. Fragen Sie Frau Irene.
Das Verandaregal hatte einen Vorhang. Meyers Klassiker-Ausgaben: Goethe, Grillparzer, Körner, Lessing, Reuter, Scheffel und Schiller. Tausend Jahre Jever. Soll und Haben von Gustav Freytag.
In der Zigarrenkiste auf Opas Schreibtisch lagen neben den Zigarren Büroklammern, gelbe Mundstücke und abgestreifte Bauchbinden. Handelsgold.
Die Tüte Salzstangen, die ich im Wohnzimmerbüfett zwischen Vasen und Tortenplatten aufstöberte, war noch zu, aber vom angebrochenen Käsegebäck konnte ich gefahrlos was wegnehmen.
Ergiebig waren auch die Packungen mit Schokostreuseln und süßen Mandeln. In der Kandisdose lag obenauf ein Zettel: Finger weg, du Naschkatze!
Der Eßtisch hatte eine Schublade, in der Oma Einmachgummis, Rabattmarken und Korken hortete. Unterm Banksitz, den man hochklappen konnte, lagen Spiele. Denkfix, Malefiz und Halma.
Im Keller war Gustavs Bravosammlung. Wer den Bravo-Otto bekommen hatte. Briefe von Mädchen, die mit gleichaltrigen Jungen in den Federkrieg eintreten wollten, und Schicksalsbriefe an Dr. Vollmer. Ein Junge, der beim Raufen einen Steifen gekriegt hatte, wollte wissen, ob er homosexuell sei.
Im Briefschlitz steckte das Jeversche Wochenblatt, und auf dem Fußabstreifer lag die Bildzeitung, die sich Oma und Opa mit Kaufholds teilten.
In einem Spielzeugladen klaute ich Indianer. Erst einen, dann zwei und dann vier auf einmal. Ich wartete schon immer vor dem Laden auf das Ende der Mittagspause.
Mein Trick war, daß ich einen Indianer kaufte und die anderen in der Jacke versteckt nach draußen schmuggelte. Dreimal hatte das geklappt, aber beim vierten Mal fragte mich die Frau an der Kasse: »Ist das alles?« Und gleich nochmal: »Ist das wirklich alles?«
Ich dachte, die spinnt oder ist schwer von Kapee, aber dann kam eine andere Frau von hinten an und rupfte die Indianer aus meinen Jackentaschen.
»Und jetzt mach die Biege, Freundchen«, sagte sie, »sonst rufen wir die Polizei!«
Zum Tee hatte Oma in der Veranda Schalen mit Butterkeksen und Zitronenröllchen angerichtet. Ich griff zu, bis Mama mir einen Klaps auf die Hand gab. »Andere Leute wollen auch noch was!« Ich sei wohl vom Stamme Nimm.
Einmal nahm Opa Volker und mich in den Schloßturm mit, bis unter die Uhr, wo die Holztreppen schon halb verwittert waren und kein Geländer mehr hatten. Als Heimatvereinsmeier hatte Opa da freien Zutritt.
Die Stufen waren dick bedeckt mit toten Fliegen, und an den Wänden hatten sich Leute aus früheren Jahrhunderten verewigt.
Eigentlich komisch, daß man sich nicht erinnern konnte, wo man vor seiner Geburt gewesen war.
Auf dem Schützenfest durften wir mit der wubbeligen Cortinabahn fahren und im Riesenrad und im Auto-Scooter. Volker und ich versuchten, zu zweit fahrende Mädchen in die Bredullje zu bringen.
Schön ist es, auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein!
Als ich auf einem Pony reiten wollte, sagte Mama, das könne ich auch morgen noch tun. Aber am nächsten Tag waren die Ponys weg. Da lag bloß noch Sägemehl in der Manege.
Im Zoo von Logabirum, wo wir auf der Rückreise Halt machten, gab es Wildschweine und Zebras, aber auch wieder keine Ponys, auf denen man reiten konnte.
Wir fuhren über Hannover, um bei Tante Dagmar Renate einzusammeln, die aus Castelldefels dunkelbraungebrannt zurückgekommen war, fast schon verkohlt.
Dann kriegten wir noch Kaffee und Käsekuchen bei Onkel Rudolf und Tante Hilde, die in einem Reihenhaus mit vier Etagen wohnten und drei Töchter hatten: Franziska, Alexandra und Kirstin. Ganz oben, in Franziskas Zimmer, durfte ich mir die Single Anuschka von Udo Jürgens anhören. Ich machte das Fenster auf, damit meine Kusine unten im Garten mitbekam, daß ich das Lied immer wieder abdudelte. Auf dem Dorf beim Tanze sah ich sie und sank fast in die Knie, sie war so schön wie Milch und Blut …
Mein Wunsch, Franziska die Single abzuluchsen, ging in Erfüllung: »Wenn die dir so gut gefällt, dann nimmse mit!« Leider hing mir Anuschka jetzt zum Hals raus.
Meine Zwiebeln waren gut gediehen. Volker zählte die Körner, die sein Ziermais hatte.
Der Rasen durfte noch nicht betreten werden.
In Vallendar fanden Volker und ich in einem Mauerloch eine halbvolle Schachtel Ernte 23. Als wir in Papas Schreibtisch auch noch Streichhölzer ausfindig gemacht hatten, gingen wir zum Paffen weg.
Von den Zigaretten kriegte man einen rauhen Hals, aber weil wir irgendwie auf den Geschmack gekommen waren, kratzten wir, als die Schachtel leer war, unseren Zaster zusammen und radelten zum Automaten in der Schubertstraße. Milde Sorte, Reval, Astor, Atika, Lord Extra, Overstolz, HB, Pall Mall und Peter Stuyvesant.
Volker zog Reval. Das waren Zigaretten ohne Filter. Schon nach dem ersten Zug hatte ich innen hinter den Lippen alles mit Tabakkrümeln voll und hätte fast gekotzt.
Zuhause trank ich erstmal Wasser aus dem Waschküchenhahn.
Als nächstes zog Volker eine Schachtel Milde Sorte. Er lud mich zum Paffen ins Wambachtal ein, aber vorher futterten wir noch jeder drei Stücke von der Walnußtorte, die Mama zur Feier des Tages eingekauft hatte, obwohl es gar nichts zu feiern gab.
Mit den Gedanken war ich schon im Wambachtal. Walnußtorte fressen und anschließend Sargnägel quarzen, ob man dafür in die Hölle kommen konnte?
Bei einer Radtour nach Simmern klauten wir uns Maiskolben vom Feld. Erst vorne den Fusselzopf abreißen, dann die Blätter abpellen. Der Mais war noch nicht reif, und wir schmissen die Kolben weg, um uns keinen flotten Heinrich einzufangen.
Wenn man mal rückwärts rollte mit dem Rad, durfte man die Handbremse nicht anziehen, sonst rutschte die Bremsbacke raus.
Hinter Simmern ging Richtung Vallendar steil durch den Wald eine Straße runter, wo man ein Höllentempo kriegte und scharf aufpassen mußte, besonders in den Haarnadelkurven. Volker kachelte vorneweg, mit dem Kinn in Lenkerhöhe, wie üblich, um den Luftwiderstand zu verringern.
In Vallendar wollten wir Kaugummis ziehen, aber um den Automaten flogen Wespen rum. Es waren auch welche innendrin, eingekeilt zwischen den Kaugummis, die in der prallen Sonne schon halb geschmolzen waren. Tierquälerei sei das, sagte Volker.
Wir schoben die Räder auf Umwegen durch die Gartenstadt hoch, und ich hielt Ausschau nach Roswitha Schrimpf, aber ohne Erfolg.
Am Straßenrand saß ein kleiner Hund, der sich streicheln ließ. Dann lief er uns nach, die ganze Strecke bis zur Kaiser-Friedrich-Höhe. »Ich wette, der ist herrenlos«, sagte Volker, aber dann kam ein Opa auf einem Moped die Sprungschanze hoch, pfiff den Hund zu sich hin und spuckte Gift und Galle: »Saupänns seid ihr!«
Als ob wir den Hund entführt hätten und der uns nicht von sich aus nachgelaufen wäre. Sollte der Idiot seinen Wauwau doch anleinen.
In der Gutenbergstraße fuhr ich mit Volldampf über die Bürgersteigkante. Es gab einen Knall, und der Vorderreifen war platt. »Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt«, sagte Volker.
Es gab nicht viel, wobei man belemmerter aussah, als wenn man ein Rad mit Plattfuß zu schieben hatte.
Den geplatzten Schlauch mußte ich unter Papas Aufsicht flicken. Rad auf den Kopf stellen, Wasserschüssel füllen, Flickzeug suchen, Vorderrad ausbauen, Mantel von der Felge würgen, Schlauch aufpumpen, ins Wasser halten und auf Bläschen achten, Loch finden, Schlauch abtrocknen, Flickstelle mit Stinkezeug einschmieren, Flickengummi abziehen, aufsetzen und andrücken, abwarten und den Schlauch wieder aufpumpen. Wenn unter dem Flicken Luft rauspfiff, konnte man alles wieder abreißen und von vorne anfangen.
Papa warf mir Schimpfwörter an den Kopf: Trampeltier, Nashorn, Tränentier, Trantüte, Weihnachtsmann, Pfeife, Kamel.
Als auch beim zweiten Mal noch Luft aus der Flickstelle kam, riß Papa mir den Schlauch aus der Hand. Ich sei ein Armleuchter.
Die Steilkurven in der Carrerabahn bewältigte Volkers lahmes Auto nur noch hängend. Es kam nicht mehr auf Touren. Den Looping sauste es halb hoch und fiel dann runter. Klack! Das war im Eimer.
Mein eigenes fuhr noch wie geschmiert, aber ohne guten Gegner machte das Gewinnen keinen Spaß, und wir bauten die Carrerabahn wieder ab.
In der Schule wollte ich jetzt ganz vorne sitzen. Den Platz, den man das ganze Jahr lang hatte, mußte man sich gleich in der ersten Stunde sichern, und ich kriegte es hin, mich auf einen Stuhl unmittelbar vorm Pult zu schwingen, bevor mich jemand überholen konnte.
Benno Anderbrügge und Angela Timpe waren klebengeblieben.
Neue Hefte mit makellosen Löschblättern. Mein Vorsatz war, das vierte Schuljahr ohne Tintenflecken auf den Löschblättern zu überstehen.
Neben mir saß Manfred Cordes. Melanie Pape kam zu spät und mußte ganz hinten sitzen. Roswitha Schrimpf teilte sich am Fenster einen Tisch mit Heike Zöhler.
Frau Katzer machte den Vorschlag, die Tische mal ganz anders aufzustellen, in Hufeisenform, aber da waren alle gegen. Das wäre ja wohl auch das Letzte gewesen, erst einen Platz vorm Pult ergattern und den dann wieder aufgeben müssen.
Zum Religionsunterricht müßten die Evangelen mittwochs nach der dritten Stunde zur Kirche im Weitersburger Weg laufen, sagte Frau Katzer, und danach, das sei der Witz des Jahrhunderts, wieder raufkommen, weil in der fünften alle zusammen Zeichnen hätten.
Als abgestimmt wurde, ob ein neuer Klassensprecher gewählt werden soll, war die Mehrheit dafür, daß ich das bleibe. Ich war gebauchpinselt, aber dann ärgerte ich mich schwarz, weil ich Esel nicht gekuckt hatte, ob Roswitha Schrimpf für mich oder gegen mich gewesen war. Das konnte ich auch keinen fragen.
Als Klassensprecher hatte man allerhand um die Hacken.
Im neuen Lesebuch stand was über die Ewigkeit. Alle hundert Jahre wetzt ein Vogel seinen Schnabel an einem Berg, und wenn die Vögel den ganzen Berg weggewetzt haben, ist die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei.
Und die Geschichte von einem Jungen, der so dick war, daß alle ihn Kloß nannten, und dann wurde er auch noch verhaftet, weil er Spielzeugautos gestohlen hatte. Ein Polizist ging mit dem Kloß nach Hause und erzählte alles seiner Mutter …
In dessen Haut hätte ich nicht stecken wollen.
Die Stundenpläne befestigte Mama neben dem Kühlschrank mit Stecknadeln an der Küchenwand.
Neu war, daß wir Sexualkunde hatten. Frau Katzer hängte eine Zeichnung von zwei nackten Kindern auf. Was haben Peter und Evi gemeinsam? Stirn, Augen, Nase, Mund, Schultern, Arme, Bauchnabel, Beine, Füße. Was hat Peter, was Evi nicht hat? Das Glied. Was hat Evi, was Peter nicht hat? Die Scheide.
Auf einem Bild war zu sehen, wie sich der Samenfaden ins Ei bohrt. Gut merken sollten wir uns, daß eine Schwangere nicht für zwei zu essen brauche.
Die Pubertät, der Eisprung und die Gebärmutter. Klaus Koch kippelte mit dem Stuhl und kriegte einen Eintrag ins Klassenbuch.
Die Kartoffel. Die Kartoffel ist eine Staudenpflanze mit rauhhaarigen Fliederblättern, weißen oder bunten Blüten, giftigen Beerenfrüchten und blattlosen Erdtrieben, die stärkereiche Knollen bilden. Frau Katzer schälte eine Kartoffel und sagte, daß die Kartoffeln aus Amerika nach Europa gekommen und in Deutschland erst vor zweihundert Jahren heimisch geworden seien. Manfred Cordes und ich fraßen die Schalen vom Pult weg.
Wir hatten jeder eine Kartoffel in die Schule mitbringen sollen. Welche Form hatten die Kartoffeln? Rund, lang, dick, dünn. »Meine Kartoffel ist oval«, sagte Oliver Wolter hochtrabend und wurde dafür von Frau Katzer über den grünen Klee gelobt, die alte Arschgeige.
In Zeichnen waren Bilder in Kartoffeldruck dran. Da mußte man keine Pinsel ausspülen, aber das Gedrängel am Waschbecken dauerte noch länger als sonst, weil sich alle Jungs mit Farbe eingesaut hatten, außer Oliver Wolter natürlich.
Nach der Kartoffel nahmen wir die Schnecke durch. Frau Katzer hatte einen Glaskasten mit Erde aufgebaut und zwei Schnecken reingesetzt.
Die Schnecke ist ein Zwitter, schrieb Frau Katzer an die Tafel und legte ein Kopfsalatblatt in den Glaskasten, als Futter für die Schnecken, die mit der Unterseite aneinander hochgeglitscht waren, um sich zu begatten. Das sollten wir abzeichnen.
In der Pause sagte Michael Gerlach, daß er sich frage, ob wir bald auch Bilder in Schneckendruck machen müßten. Durchgeschnippelte Schnecken in die Farbe tunken und das Blatt damit vollstempeln.
Hinter den Fichten am Schulhofrand kriegte ein I-Dötz den Arm auf den Rücken gedreht, von Qualle und dem Ventilmops. Die konnten es nicht lassen, ihr Mütchen an Schwächeren zu kühlen.
Religion hatten wir bei Frau Frischke. Absalom, der beim Reiten mit dem Haar an Eichenzweigen hängengeblieben war, und König Salomo, der ein Kind in zwei Hälften hacken lassen wollte.
Frau Frischke zwinkerte immer, weil sie ein Gerstenkorn im Auge hatte, und nach ein paar Tagen fing Oliver Wolter auch so an zu zwinkern, aber nur in Reli.
Einmal mußte Frau Frischke Bußgeld zahlen, weil sie in Vallendar falschrum durch eine Einbahnstraße gefahren war. Das erzählte mir Michael Gerlach. Frau am Steuer!
Sonntags garten Rindsrouladen im Dampfkochtopf, und Mama striepelte im Wohnzimmer beim Internationalen Frühschoppen Bohnen ab. Das einzige, was da passierte, war, daß von Zeit zu Zeit eine Frau reinkam und den sechs Journalisten aus fünf Ländern Wein einschenkte. »Wenn ich das jemals freiwillig kucken sollte, könnt ihr mich aufhängen«, sagte Volker.
Die Leute von der Shiloh Ranch waren das Beste am Sonntag. Trampas, mit Schweißrand am Cowboyhut, und Virginian in seiner schwarzen Weste. Die mußten mit durchgehenden Rinderherden und allen möglichen Halunken fertigwerden: »Ihren Revolvergürtel weg, Mister! Schön langsam!«
Als Badewanne hatten sie ein Holzfaß, und im Saloon von Madison Bow, Wyoming, ließ der Wirt die Biergläser mit Schwung über den Tresen schliddern.
Bei einem Klassenausflug nach Maria Laach mußten wir ein katholisches Kloster besichtigen und mucksmäuschenstill sein. Nonnen torften da rum, in pechkohlrabenschwarzen Klamotten.
Maare. Maare sind kraterförmige, durch Gasexplosionen entstandene und mit Seen oder Sümpfen erfüllte Vertiefungen in der Erdoberfläche. Der Laacher See, 275 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, mißt 3,3 Quadratkilometer und ist 53 Meter tief. Am Ufer liegt das Kloster Maria Laach mit dreischiffiger und sechstürmiger Basilika.
Roswitha Schrimpf stand ganz alleine da, und ich schlenderte zu ihr hin, aber dann sah ich aus dem Augenwinkel das dumme Grinsen von Stephan Mittendorf, bog wieder ab und gesellte mich zu Melanie Pape, die mir ein Rolo anbot.
Vorm Einschlafen stellte ich mir vor, daß ich zufällig die Sprungschanze runterkomme, wenn Roswitha da mit ihren Eltern spazierengeht und der Ventilmops Roswithas Mutter die Handtasche stiehlt. Ich würde hinterherhechten, dem Ventilmops die Handtasche entwinden und sie dann mit einem Diener Roswithas Mutter darreichen. Auf alle Fälle würde mich Roswitha mit ganz anderen Augen ansehen, und Roswithas Eltern würden mich in ihr Haus einladen, zu Tee und Kuchen. Dann würden die Eltern Roswitha und mich alleine lassen, und Roswitha würde mir um den Hals fallen oder so, das würde sich dann schon ergeben.
Volker und ich waren wieder auf die Horchheimer Höhe eingeladen worden, Volker von Kasimirs und ich von Stracks.
Im Fernsehen kam Zorro, der Mann mit den zwei Gesichtern. Der mußte ja wohl auch zwei Köpfe haben, dachte ich, aber in dem Film kam kein Mann mit zwei Köpfen vor, und Uwe und ich waren stinksauer.
Volker und Kalli hatten im ganzen Revier die Suhlen für die Sauen mit Äpfeln und Mais gefüllt und versucht, sich das Essen im Wald mit Kallis Kleinkalibergewehr vom Himmel zu schießen.
Im Hobbyraum hingen noch bunte Papierschlangen, Luftballons und Bravoposter von Renates nachgeholter Geburtstagsfeier. John Wayne, den Revolverlauf über der Schulter, und Hoss Cartwright, an ein Kutschenrad gelehnt. Zehn Gäste hatte Renate gehabt. Der wichtigste war Renates Tanzstundenfreund Rüdiger gewesen, ein langes Elend mit Schinn auf den Schultern, Schuhgröße 47 und Kassengestell. Wo die Liebe hinfällt.
Wenn es regnete, lief aus dem Vorgarten Lehm auf die Straße. »Die reinste Schweinerei«, sagte Mama.
Volker und ich schmierten uns Marmeladenbrote, legten uns auf den Teppich und lasen um die Wette, Volker Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und ich Jim Knopf und die Wilde 13. Wer zuerst durch war. Kopf auf die Hand gestützt, bis einem der Arm einschlief.
Die Lokomotive Emma flog als Perpetuum mobile hinter den Magneten her, die Lukas ihr vorne drangehängt hatte. Von uns war Papa der einzige aus der Familie, der schon mal geflogen war.
Den Garten bepflanzten Mama und Papa mit Feuerdorn, Weigelien, Flieder, Forsythien, Sanddorn und Zierjohannisbeeren. Mama zeigte uns, was davon was war. Blutpflaumen, Mandelgehölze und jugoslawische Fichten. An die Terrassenseite kamen Kletterrosen hin und neben die Garageneinfahrt zwei Birken, die ich von meinem Zimmer aus sehen konnte.
Papa fluchte über das Scheißding von mechanischem Rasenmäher, weil bei dem in einem fort die Walze klemmte.
Beim Erntedankgottesdienst, der Pflicht war, stand eine Schale mit Obst und Gemüse auf dem Altar. »Das ist nur der Rest, den Schweinebraten hat der Liebisch aufgefressen«, sagte Michael Gerlach, und ich mußte mir die Nase zuhalten, um das Lachen zu unterdrücken. Der Liebisch war so dick, daß man bei der Predigt dachte, gleich bricht die Kanzel ab.
Wichtig war auch, nur mit Hand vorm Mund zu gähnen, sonst gab es Saures.
Die Predigt dauerte lange. Mit welchem Rechte feiern wir das Erntedankfest? Doch wohl mit dem Rechte, das uns aus dem ersten Buch Mose im achten Kapitel entgegenscheint, wo der treue Gott verspricht, daß erst mit dem Untergang der Erde auch Säen und Ernten aufhören sollen. Wie aber sollen wir nun das Erntefest feiern? Ich nehme die Antwort aus der vierten Bitte des heiligen Vaterunsers. Erstens mit Danken, zweitens mit Beten, drittens mit geweihter Mitarbeit im Reiche Gottes.
Rhabarber, rhabarber. Auf die Häupter seiner undankbaren Kinder werde Gott glühende Kohlen häufen. Wenn wir aber recht danken, dann gewinnen wir auch den Mut zu beten …
Aua, sagt der Bauer, die Äpfel sind zu sauer.
Volker war zu Ohren gekommen, daß man beim Forstamt Geld für Kastanien kriege. Mama sagte, wenn wir nicht mindestens 25 Pfund sammelten, könnten wir gleich zuhausebleiben.
Im Weitersburger Weg in Vallendar standen Kastanienbäume. Wir asteten von da vier große Einkaufstüten den Berg hoch. Bei einer rissen oben auf der Sprungschanze die Henkel ab, und die ganzen Kastanien kugelten und sprangen die Straße runter. »Bloß weg hier«, sagte Volker. »Wenn da einer drauf ausrutscht und sich die Gräten bricht, sind wir dran!«
Die übrigen Tüten verstauten wir im Kleiderschrank, und da blieben sie liegen, weil wir nicht wußten, wo das Forstamt war.
Hausaufgaben. Kaffee ist ein Getränk für die ältere Generation, schrieb ich, und Mama wollte wissen, woher ich diesen Ausdruck hätte. Den hatte ich aus dem Fernsehen, von Mosaik, dem Magazin für die ältere Generation.
Volker hatte sich mit dem strohblonden Hansjoachim angefreundet, der schräg gegenüber wohnte, einen Schäferhund sein eigen nannte und Mitglied im Tennisverein war. Vom Nacken bis zum Hinterkopf war Hansjoachim kahlrasiert, weshalb er bei Papa nur »der kurzgeschorene Hundeführer« hieß.
Vor Mama machte Hansjoachim immer einen Diener bis zum Fußboden, aber den Schäferhund wollte sie nicht ins Haus lassen. Ganz geheuer war mir der auch nicht.
Ich steckte jetzt öfter mit Michael Gerlach zusammen, der sich im Wambachtal gut auskannte und eine Fratze schneiden konnte wie Doof von Dick und Doof.
Er zeigte mir eine Stelle, wo Lianen hingen, an denen man schwingen konnte wie Tarzan. Nicht von einer zur anderen, nur hin und her, aber das war schon was.
Im Wambach veranstalteten wir ein Blätterwettrennen und bauten einen Staudamm aus Steinen und Stöcken. Es klappert die Mühle am rauschenden Bach, klipp klapp! In der Erde stießen wir auf appe Tassenhenkel, Klokachelsplitter und Scherben von Suppentellern.
Bei der Jagd auf Komantschen entdeckten wir eine Schabracke mit einer Tür, die schief in den Angeln hing. Zwei schmutzige Matratzen, vergilbte Illustrierte, kodderige Decken, Kerzenstümpfe und ausgesüffelte Bierflaschen. In der Ecke lag eine Büchse mit Seifenpaste: Grüne Tante. Damit wuschen wir uns im Wambach die Hände.
Mama erwischte mich, als ich mir vorne auf der Treppe im Sitzen die Schuhe runtertrat, ohne die Schnürsenkel aufgemacht zu haben. »Wirst du wohl! Die guten Schuhe!«
Als das Telefon klingelte und ein Mensch vom BWB Papa sprechen wollte, kam er im Panzeranzug aus der Garage rauf, mit ölig-schwarz verschmierten Händen.
Um Wiebke mal was vorspielen zu können, suchte ich mir in der Schulbücherei ein Buch mit Kaspertheaterstücken aus, aber die waren unter aller Kanone. Da traf Kasperle in Afrika den Negerkönig Quitzlampapo, hahaha, und der brüllte: »Blaßgesicht wird stäärrbeen! Kro-Kro wird es fressen mit seinem großen Maule!« Und Kasperle rief zurück: »Daß du dich nicht täuschst, du Putzwollenkopf!«
Mama meldete mich im Turnverein an. Ich sollte überschüssige Energie loswerden.
Die Turnhalle war an der Jahnstraße. Von den Jungen kannte ich keinen einzigen. Kerze, Brücke, Liegestütze, Rolle vorwärts, Rolle rückwärts, Rolle seitwärts und Geboller mit Medizinbällen.
Am dööfsten war Völkerball. Da kriegte man den Ball voll in den Bauch geschmettert oder mitten ins Gesicht.
In der Umkleidekabine, die nach Fußschweiß stank, brüllten alle im Chor: »Hautse, hautse, immer auf die Schnauze!« Oder: »Zickezacke, zickezacke, heu, heu, heu!«
Und dann zu Fuß den Berg rauf.
Ein Junge, der Wilfried hieß, konnte Judo, Karate, Handstand mit Überschlag, Flickflack und auf den Händen vorwärts laufen.
»Das gibt’s doch gar nicht«, sagte Mama. »Das wäre ja olympiareif.«
Dickere Muskeln hatte ich noch nicht, aber überall blaue Flecken. Mit Einmachgummis die Oberarme abklemmen, damit das Blut sich staut und die Adern auf dem Handrücken anschwellen.
Als ich Wilfried von meiner Heino-Single erzählte, wollte er die ausborgen, und ich brachte sie ihm mit, aber bis ich sie wiederhatte, mußte ich ihn dreimal dran erinnern, und wir wurden keine Freunde.
In den Herbstferien wollte Volker die Carrerabahn wieder aufbauen, aber Papa mußte noch Volkers Auto reparieren, und da kam es nicht zu. Papa schenkte Volker stattdessen ein Autoquartett. PS und Hubraum. Silver Arrow war die zweitbeste und Golden Arrow die beste Karte. Es gab auch welche mit superlahmen Benzindroschken aus der Steinzeit.
Von den anderen Spielen fand ich Mühle am miesesten. Da gewann ich nie, höchstens mal gegen Wiebke. Von Volker wurde ich immer in die Zwickmühle gebracht und konnte ziehen, wie ich wollte, ich war jedesmal der Gelackmeierte.
Im Vorspann von High Chaparral konnte man einen Dünnen neben einem Dickwanst an der Schlucht stehen sehen.
»Wenn ein Mann Ärger hat, dann muß er das schon selbst in Ordnung bringen«, sagte Big John Cannon, der Vater, ein Rinderbaron mit weißen Koteletten. Sein mexikanischer Schwager Manolito rief unentwegt Sachen wie »Amigo!« und »Arriba!« und »He, warte auf mich, Hombre!« Der mit den Federn am schwarzen Hut war Johns Bruder Buck.
Die Cowboys mußten Pferde in die Koppel treiben und mit Hufeisen beschlagen oder beim Viehtreck Rinder wieder einfangen, aber im übrigen konnten sie eine ruhige Kugel schieben. Auf dem Zaun sitzen, um Streichhölzer pokern, mit dem Schießeisen Konservenbüchsen tanzen lassen und auf der Gitarre klimpern. Ins Bett gingen alle unausgezogen, und aus Schabernack packten sie sich gegenseitig Schlangen unter die Decke. Bei Vollmond heulten draußen die Wölfe.
Nach einem Skorpionbiß mußte jemand das Gift aus der Wunde saugen und ausspucken. In acht zu nehmen hatten sich die Cowboys auch vor den Apatschen, für die es ein Klacks war, Leuten die Nase abzuschneiden, und vor Pferdedieben und Gesetzlosen, die nicht lange fackelten, wenn es darum ging, jemanden umzupusten. Wenn die Männer ausritten, um den Kampf aufzunehmen, blieb Big Johns Frau nichts anderes übrig, als sich sorgenvoll an den Verandapfosten zu lehnen.
Winnetou war der Beste von meinen Indianern. Den ließ ich Mutproben bestehen. Fünf Minuten im heißen Backofen, eine Stunde im Gefrierfach und eine Nacht im Garten. Für die härteste Mutprobe von allen knotete ich Winnetou an einer Paketschnur fest und spülte ihn das Klo runter. Als ich die Schnur wieder hochzog, war Winnetou weg.
Ich sah mir lange die leere Schnur an. So mußte es sein, wenn man unter Schock stand.
Nicht einmal eine Squaw hatte Winnetou gehabt vor seinem Tod im Klo.
Aus einem anderen Stück Schnur und zwei Schuhcremedosen hatte Volker ein Telefon gebastelt. Damit unterhielten wir uns im Garten. Die Schnur mußte straff sein.
»Wie geht es dir, Compadre?«
»Danke, ich kann nicht besser klagen!«
In die Schule brachte Manfred Cordes Honigmuscheln mit, die man in der hohlen Hand halten und ausschlecken konnte, ohne daß Frau Katzer Lunte roch.
Michael Gerlach hatte ein Gedicht verfaßt: Ich habe eine Hose, die hat Löcher große, doch eine Hose ist sie keine, denn sie hat nur noch ihre Beine. Ich schrieb auch eins: Wenn ich einmal reich wär und ein fetter Scheich wär, führte ich ein heiteres Leben ohne weiteres.
Wir schrieben noch mehr von der Sorte, und ich fragte Frau Katzer, ob wir unsere Gedichte mal in der Klasse vortragen dürften. Durften wir, und am Ende klatschten alle, auch Roswitha Schrimpf, und ich setzte mich mit knallrotem Kopf wieder hin.
Rechts von der Sebastian-Kneipp-Straße wurde ein Freibad gebaut, und links davon war ein großer Schrottplatz, wo Volker und ich Massen von Sachen fanden, die man noch gebrauchen konnte. Puppen, bei denen der eine oder andere Arm fehlte, breite Batterien von Daimon und gnubbelige Glasschälchen. »In sowas kriegt man nur Salat, der nicht schmeckt«, sagte Volker. »Wachsbohnen und Rote Bete und so ’n Zeug.«
Wir nahmen die Schälchen dann aber doch mit, als Weihnachtsgeschenk für Mama. Für Wiebke war ein kleiner Stoffseehund mit Knopfaugen und für Renate eine Schmuckschatulle.
Sicherungen, ausgemusterte Radios, Autoreifen und ein verrostetes Stück Metall, das auch eine Granate sein konnte, ein Blindgänger aus dem Krieg.
»Schuhe abtreten!« rief Mama und hielt sich die Nase zu. »Pfui Deibel nee!« Stinktiere wie wir müßten sofort in die Wanne gesteckt werden. »Euch kann man nicht mal mehr mit der Kneifzange anfassen.«
Nase, Hand, Gesicht und Ohren sind so schwarz als wie die Mohren.
Frau Katzer fragte uns, ob wir schon von dem großen Unglück gehört hätten. Die neue Rheinbrücke sei eingestürzt. Erst halb fertig und dann vorne abgeknickt. Dreißig Menschen seien mit in die Tiefe gerissen worden, Arbeiter und Ingenieure, und dreizehn davon ertrunken. Taucher hätten die Leichen wegen der starken Strömung an den Brückenpfeilern festgebunden.
Eine furchtbare Geschichte. Und wir sollten auch mal an die armen Angehörigen denken. Die könnten ja nie wieder ihres Lebens froh werden.
Oliver Wolter zeigte auf und brüstete sich damit, daß ein Onkel von ihm Rettungsschwimmer sei, bei der DLRG. Warum konnte der Ventilmops nicht zur Abwechslung mal Oliver Wolter das Maul stopfen?
Zum 44. Geburtstag malte ich für Papa ein Bild von Frau Malzahn mit einem Schild in den Klauen: Herzliche Drachenspucke zum Geburtstag!
Auf dem Gabentisch lagen fast nur Socken und Taschentücher. Und ein blauer Schlips mit roten Querstreifen, den Papa nicht leiden mochte. »Soll ich vielleicht wie so ’n Papagei ins Büro gehen?«
Im Stern war ein Fortsetzungsroman über einen Jungen abgedruckt, der eine tote Frau in der Tiefkühltruhe versteckt hatte. Nachts fürchtete sich der Junge dann vor der spukenden Toten. Philly Spitalnik, sechzehn Jahre alt. Beim Lesen kriegte ich ein schlechtes Gewissen, als ob ich mit dem Mörder unter einer Decke gesteckt hätte, und ich brachte es nicht mehr über mich, abends Brot aus der Kühltruhe hochzuholen, schon gar nicht mitten in dem Krimi von Durbridge, als da eine Leiche vorgekommen war mit Messer im Rücken. Sollte Volker doch runterlatschen, wenn der so abgebrüht war, wie er tat, oder Wiebke.
Renate hatte die fixe Idee, ein Jahr lang in Amerika zur Schule zu gehen. Den Horizont erweitern, Augen und Ohren aufsperren und irgendwann fließend Englisch können. »Die Amis sprechen alle so, als ob sie ’ne heiße Kartoffel im Mund hätten«, sagte Papa.
Bei einem Schüleraustauschdienst war Renate in die engere Wahl gekommen und fuhr mit Mama zur Vorstellung nach Frankfurt.
Cowboys und Indianer, Jeeps und G.I.-Joes. Renate würde sich da bestimmt zur halben Amerikanerin entwickeln. Dafür hätte Volker solange in ihr Zimmer ziehen können.
Volker setzte mir haarklein auseinander, wieso wir uns zu Weihnachten zusammen eine Dampfmaschine wünschen sollten. Der eigentliche Grund war aber, daß die Dampfmaschine für Volker alleine zu teuer war.
Ich wälzte den Quellekatalog im Wohnzimmer und tat so, als ob ich nach Weihnachtsgeschenken für meinen eigenen Wunschzettel suchte. Ritterburgen, Roboter, ferngesteuerte Spielzeugautos und das schöne Mädchen von Seite eins. Dabei wollte ich nur wissen, was die elektrischen Rasenmäher kosteten, weil ich die Absicht hatte, Mama und Papa einen zu schenken.
Automatischer Drehzahlregler, Stahlgehäuse mit Einbrennlackierung, mehrseitig verwendbare Messerklingen, Schnitthöhe vierfach verstellbar. Leidergottes waren die Rasenmäher alle ausgesprochen kostspielig. Für den billigsten waren zweiundsiebzig Mark zu berappen. Eine Stange Geld. Bei neunzig Pfennig Taschengeld in der Woche, einem Groschen für jedes Lebensjahr, hätte ich soundso lange jeden Pfennig zurücklegen und kürzertreten müssen. Achtzig Wochen oder umgerechnet mehr als anderthalb Jahre lang eisern sparen. Das ging über meine Kräfte.
Mit Frau Katzers Segen verkündeten Michael Gerlach und ich im Deutschunterricht, daß wir bei mir im Hobbyraum eine Dichterlesung veranstalten wollten, für drei Mark Eintritt. Wer kommen wollte, sollte sich melden.
Das taten fast alle, auch Roswitha Schrimpf. Dreißig mal drei macht neunzig, geteilt durch zwei fünfundvierzig. Damit hätte ich meine Kasse gewaltig aufbessern können. Fünfundvierzig Mark!
Oder noch mehr. Ich wollte bei der Dichterlesung Fanta verkaufen, eine Mark das Glas. Aber nach Melanie Pape, Manfred Cordes, Stephan Mittendorf, Norbert Ripp und Oliver Wolter kam kein Aas mehr, und als Mama Wind davon kriegte, daß wir Eintrittsgeld genommen hatten, mußten wir alles wieder hergeben.
Bittesehr. Aber dann konnten sich Mama und Papa auch den elektrischen Rasenmäher abschminken. Aus der Traum!
Wenn wenigstens Roswitha Schrimpf gekommen wäre. Bei der hatte ich wohl doch keinen Stein im Brett.
Aus Frankfurt war ein Brief gekommen: Mit Renates Amerikajahr war es Essig. »Außer Spesen nichts gewesen«, sagte Mama.
Für Oma und Opa Jever schrieb ich Witze aus dem Buch von Willy Millowitsch ab. Im Wartezimmer beklagt sich eine Frau: »Ekelhaft, ich kann gar nicht aufstehen! Mein Fuß ist eingeschlafen!« – »Was heißt eingeschlafen«, sagt die Nachbarin mit bösem Blick. »Nach dem Geruch zu urteilen, muß er schon lange tot sein.«
Die Stadt Hannover suchte einen Slogan, für den es Geld geben sollte, und Mama dachte sich einen aus: Hannover hat die Welt zu Gast.
Einmal so einen Spruch aus dem Boden stampfen und dann für immer in dulci jubilo davon leben können.
Als es Fischstäbchen mit Pellkartoffeln gab, löcherte ich Mama, bis sie mir erlaubte, eine von den Kartoffeln vor dem Pellen zu zerquetschen, über meinem Teller, mit bloßer Hand, wie der Seewolf, aber innen war die Kartoffel noch kochend heiß, und ich ließ sie fallen.
In der Küche hielt ich die Hand unter fließend kaltes Wasser und kriegte trotzdem eine Brandblase.
Am vierten Advent wurde dem schmierigen Schiffskoch im Seewolf von einem Hai der Fuß abgebissen. Köchlein robbte übers Deck, und man sah den blutigen Stumpf zucken.
Papa las uns die Weihnachtsgeschichte vor. Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzet würde und so weiter, das zog sich ziemlich hin.
Bei der Bescherung stellte Papa den Kassettenrekorder auf Aufnahme.
»Paßt mal auf«, sagte Mama. »Ihr habt alle neue Teller in euern Farben!«
Volker und ich hatten Melodicas gekriegt und spielten drauflos. Süßer die Glocken nie klingen, Wir lagen vor Madagaskar und Zeig mir den Platz an der Sonne, wo alle Menschen sich verstehn. Wiebke, die eine rote Kindermelodica bekommen hatte, quäkte dazwischen und wurde von Mama gebeten, die Tröte nicht so weit in den Mund zu stecken.
»Das kann ja kein Schwein aushalten«, sagte Papa und ging aufs Klo.
Unten an der Melodica war eine Lasche. Wenn man die öffnete und oben reinblies, lief da die angesammelte Spucke raus.
Nicht vergessen sollten wir, wer uns was geschenkt hatte. Von Tante Dagmar waren zwei Taschenbücher für mich, eins mit Rätselspäßen und eins mit Zungenbrechern und Scherzgedichten. Wenn die Möpse Schnäpse trinken und an Stangen Schlangen hangen.
Das Dominospiel war von Oma Schlosser für alle.
Am ersten Feiertag hörten wir uns die Kassette von der Bescherung an.
»Jetzt legt mal ’n Augenblick die Dinger weg, damit wir uns hier verständigen können. Die eingewickelten Sachen, wo kein Name draufsteht, sind von Tante Dagmar.« Mama.
»Mama, kuck mal, was ich Schönes gekriegt hab, von Tante Grete so ’ne tolle Tasche und noch zwanzig Mark!« Renate.
»Richard, komm mal her und setz dich hier auch mal rüber, hier ist auch was für dich. Wir machen nachher noch ’n paar Aufnahmen. Komm.« Mama.
»Stickbilder!« Wiebke.
»Siehst du mal, und das Garn ist auch gleich dabei!« Mama.
»Und noch ’ne Giraffe! Und ’ne Kirche! Zum Sticken!« Wiebke.
»Fliegende Tiere, Stürme, Reptilien, Weltraum, jabba dabba du!« Volker.
»Und hier sind nochmal fünfzehn Mark, Mama!« Renate.
»Mama, was ist denn da noch alles für mich?« Wiebke.
»Hier, der ganze Haufen! Märchenfiguren für dein Zimmer! Toll, was?« Mama.
»Jaa!« Wiebke.
»Sag mal: Dankeschön, Volker!« Mama.
»Dankeschön, Volker!« Wiebke.
»Da nicht für!« Volker.
»Kuck mal, Papa, was das hier für ’n tolles Ding ist von Tante Grete, echtes Leder! Und zwanzig Mark dabei. Und ’n Scheck hab ich von Tante Dorothea. Fümmensechzig Mark hab ich zusammen von allen.« Renate.
»Noch mehr Märchenfiguren! Mit Flügeln! Mama, kuck mal! Mama, kuck doch mal!« Wiebke.
»Noch mehr Märchenfiguren? Ach du lieber Himmel! Alle von Martin?« Mama.
»Ist das auch vom Schrottplatz?« Papa.
»Mama, was ist mein Teller?« Wiebke.
»Das ist nicht alles vom Schrottplatz!« Ich.
»Wiebke, hör mal hier den Brief von Oma Schlosser. Liebe Wiebke! Diesen Pullover hat deine Oma aus Hilden für dich angefertigt! Ich habe viele liebe Gedanken mit hineingestrickt.« Mama.
»Kuck mal, was Tante Dagmar mir alles geschenkt hat, hier so ’n Spray und hier dies schöne Handtuch und Bonbons.« Renate.
»Volker, kuck mal, hmm namm namm namm!« Wiebke.
»Papa, kuck mal, eine Tasche für Kleingeld, dann ist hier so ’ne extra Stecktasche und eins, zwei, drei, vier, fünf Taschen für Geldscheine. Da passen auch Führerschein und Ausweise rein.« Renate.
»Jetzt habt ihr immer noch nicht alles ausgepackt. Das große Paket von Tante Hilde liegt da vorne.« Mama.
»Ich bin mit Lesestoff für die nächsten zwanzig Jahre versorgt!« Volker.
»Wiebke, das hier ist vom Weihnachtsmann.« Mama.
»Martin, laß mal bei deiner Melodica gleich das schwarze Mundstück drauf, damit ihr die nicht verwechselt.« Papa.
»Wenn du das schwarze benutzt und Volker das weiße, dann weißt du immer, welche deine ist.« Mama.
»Aye, aye, Sir!« Ich. Auf der Kassette klang meine Stimme anders als sonst.
Die Kuh, die saß im Schwalbennest mit sieben jungen Ziegen, die feierten ihr Jubelfest und fingen an zu fliegen, stand in meinem einen neuen Taschenbuch. Lebe glücklich, lebe froh, wie der König Salomo, der auf seinem Throne saß und verfaulte Äpfel fraß. Das grenzte ja an Gotteslästerung.
Wenn der Storch mit dem Mops übern Stuhl wegspringt und die Wurst in der Luft den Frosch verschlingt.
Von den Zungenbrechern waren manche babyleicht. Hinter Hansens Hühnerhaus hängen hundert Hemden raus. Oder: Wir Wiener Waschweiber würden weiße Wäsche waschen, wenn wir wüßten, wo warmes Wasser wäre. Schwierig war außer Fischers Fritze nur der letzte: Zwischen zwei Zwetschgenzweigen zwitschern zwei Schwalben.
Ein Gedicht verstand ich nicht: Zwei Knaben machten einen Bummel und fanden ein Zigarrenstummel. Sie rauchten beide gravitätisch, das weitere ist unästhetisch.
Beim Mittagessen fiel mir das wieder ein.
»Papa, was ist unästhetisch?«
»Du.«
Unästhetisch, wo ich dieses Wort herhätte, fragte Mama, und ich gab ihr das Buch. Sie blätterte darin rum und las das Gedicht von der Oma, die im Hühnerstall Motorrad fährt, Klosettpapier mit Blümchen hat, einen Nachttopf mit Beleuchtung und einen Bandwurm, der Pfötchen gibt. Das sei ja reichlich ordinär, sagte Mama, da müsse sie mal ein paar Takte mit Dagmar reden.
Domino war doof. Ich wollte lieber Wildwest spielen, aber Volker sagte, ihm stehe Wildwest bis hier.
An Silvester hatte Papa einen Schwips. Mama schoß ein Foto von Volker und mir, als wir im Wohnzimmer zur Musik aus dem Fernsehen Beat tanzten.
Roberto Blanco, Adamo und Dunja Rajter. »Die singen sich aber auch einen Schafsscheiß zusammen«, sagte Papa und gähnte so laut und so lange, daß Mama schon dachte, er würde Maulsperre kriegen. Mama hatte das mal gehabt, als Kind. Den Mund nicht wieder zugekriegt und zum Arzt gemußt, der ihr den Unterkiefer mit einem brutalen Griff wieder eingerenkt hatte.
Um Mitternacht durften wir mit brennenden Wunderkerzen durch den Garten rennen und das Schaltjahr begrüßen.
Hansjoachim hatte in der Silvesternacht von seinem Zimmer aus mit einem Kerzenstumpf nach einer jaulenden Katze geworfen. Sowas hätten Volker oder ich mal versuchen sollen. Den Hosenboden strammgezogen hätten wir gekriegt.
In der Klasse hatten wir nach den Ferien eine Neue, die Piroschka hieß.
»Und wie weiter?« fragte Frau Katzer.
»Szentmiklossy.«
»O Gott, das mußt du mir buchstabieren!«
Piroschka stammte aus Ungarn und konnte Ungarisch, aber auch Deutsch. Sie war noch viel schöner als Roswitha Schrimpf. Blitzblaue Augen, Bubikopf statt Zöpfe und ungarisch.
Zur Schule war Piroschka von ihrem Vater gebracht worden. Sie wohnte in der Rudolf-Harbig-Straße hinterm Fußballplatz und kannte sich noch nicht aus. »Wer begleitet Piroschka heute nachhause?« fragte Frau Katzer. Fünf Mädchen meldeten sich, und Frau Katzer suchte Heike Zöhler und Gabi Schleip aus.
Ich hätte mich auch gerne gemeldet, aber genausogut hätte ich mich begraben lassen können: Hier liegt in ewiger Ruhe der Schwachkopf, der als einziger Junge aufgezeigt hatte, als es darum ging, wer die Neue nachhause begleitet.
Die anderen Jungs hätten sich gekugelt vor Lachen, auch die Mädchen, und ich wäre blamiert gewesen bis auf die Knochen.
Vorm Einschlafen dachte ich jetzt nicht mehr an Roswitha, sondern an Piroschka, wie ich sie vor Qualle und dem Ventilmops beschütze, und ich drehte mich immer auf die linke Seite, mit dem Gesicht zur Rudolf-Harbig-Straße.
Willst du mit mir gehn, Licht und Schatten verstehn, dich mit Windrosen drehn? So war das also, wenn man bis über beide Ohren verliebt war.
Nach Angelika Quasdorf und Melanie Pape konnte Piroschka meine dritte Freundin werden. Oder meine sechste, wenn man Andrea und Daniela von der Horchheimer Höhe mitzählte und vom Mallendarer Berg noch Roswitha Schrimpf, auch wenn die das nicht wußte.
Michael Gerlach wohnte in der Sebastian-Kneipp-Straße, wo das Schwimmbad gebaut wurde und der beste Weg ins Wambachtal runterging. Da latschten wir dann abends auch wieder rauf, und ich nahm jedesmal noch den Umweg über die Rudolf-Harbig-Straße in Kauf, in der Hoffnung, Piroschka in die Arme zu laufen, aber von der war nie eine Spur zu sehen.
Rumba, Cha-Cha-Cha und die Linksdrehung beim Walzer lernte Renate jetzt in der Tanzstunde und machte uns das im Wohnzimmer vor, inklusive Tango und Foxtrott, bis Papa aus dem Keller hochbrüllte: »Könnt ihr mal aufhören mit dem Zinnober da oben?«
Als Renate zum Zahnarzt mußte, sollten Volker und ich auch mit hin, alle in einem Aufwasch. »Ich mach mein Testament«, sagte Volker, und das machte ich auch.
Ich, Martin Schlosser, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, vererbe für den Fall meines Ablebens auf dem Zahnarztstuhl meiner Schwester Renate alle meine Bücher, meinem Bruder Volker meine Heinoplatte und meinen Anteil an der Carrerabahn, meiner Schwester Wiebke meinen G.I.-Joe und meinen Eltern den Rest meiner irdischen Besitztümer. Meine sterblichen Überreste sollen im Wald auf der Horchheimer Höhe zur letzten Ruhe gebettet werden. Martin Schlosser, Vallendar bei Koblenz, 13. Januar 1972.
Durch die Wartezimmerwand konnte man die Kinder schreien hören, bei denen gebohrt werden mußte.
Ich holte mir ein Buch. Karius und Baktus. Die hatten sich bei einem Jungen in dessen Gebiß wohnlich eingerichtet und benagten die Zahnhälse.
Zum Zahnklempner müssen war schlimmer als zum Glatzenschneider müssen, weil man nie wußte, was auf einen zukam. Man konnte kilometerlange Betäubungsspritzen kriegen, wenn man Pech hatte.
Bei mir war alles in Ordnung, aber bei Renate, die zwei neue Plomben bekommen hatte, war von den Spritzen die halbe Nase taub.
Volker jubilierte, weil er die Zahnspange nicht mehr tragen mußte. Das sei sein schönstes Geburtstagsgeschenk.
Das zweitschönste war ein neues Auto für die Carrerabahn, ein rotes. Das grüne hatte ausgedient. Volkers neue Karre war erheblich fixer als meine. Ohne zwei Sekunden Vorsprung hatte ich mit meiner alten Mühle keine Chance.
Von den dreißig Mark, die er von Onkel Walter gekriegt hatte, kaufte Volker sich Platten. The Well-Tempered Synthesizer und eine von Ekseption.
Morgens war Stromausfall, und wir saßen im Dunkeln.
»Häch?«
Mama kramte im Küchenschrank nach Streichhölzern und Kerzen. Mit einer von den Funzeln tappte Papa zum Sicherungskasten, aber dann ging das Licht ganz von alleine wieder an. »Da soll sich einer auskennen«, sagte Mama.
Bei den anderen war auch überall Stromausfall gewesen, und wir sollten einen Aufsatz darüber schreiben. Wir waren gerade aufgestanden, als das Licht ausging, schrieb ich. Mein Bruder stürzte beim Zähneputzen in die Badewanne und kugelte sich den Arm aus. Von oben fiel mein Vater mit ohrenbetäubendem Lärm die Treppe runter und überschlug sich, bis er unten mich und meine Schwestern umstieß. Wir lagen in einem einzigen Knäuel auf dem Fußboden im Flur und fluchten alle so laut, daß die Wände wackelten, und dann stolperte noch meine Mutter über uns drüber.
Wegen dem Aufsatz hatte Mama eine Stinkwut auf mich. Was ich mir dabei gedacht hätte, solchen hirnverbrannten Quatsch zu verzapfen. Es sei höchste Zeit, meiner blühenden Phantasie mal die Zügel anzulegen. »Was soll denn deine Lehrerin denken über unsere Familienverhältnisse hier? Die geht noch hin und hetzt uns das Jugendamt auf den Hals!«