Читать книгу Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band - Gerhard Henschel - Страница 11

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Auf dem Konfirmationsfoto war ich der einzige Junge mit Schlips. Alle anderen hatten ’ne Fliege um.

Ich brachte meinen ersten Film zum Entwickeln, und es lief mir heiß und kalt über den Rücken, als ich bei Ceka erfuhr, was der kosten sollte: sieben Mark! Ein so teures Hobby konnte ich mir auch als konfirmierter Großkapitalist nicht leisten. Allenfalls die Zeitschrift Sport Niedersachsen. Die wollte ich mir jetzt jede Woche kaufen, um mich nicht allein vom Kicker beeinflussen zu lassen bei meiner Meinungsbildung.

Außer Bierbuden und Kinderkarussells hatte das Schützenfest in Meppen nicht viel zu bieten. Ein einziges Mal ging ich da hin und dann nie wieder.

In Franz wurde der Holzmüller als Fälscher enttarnt: Der hatte ganze Passagen aus Aufsätzen seines älteren Bruders Wort für Wort von Spickzetteln in eine Klassenarbeit übertragen. Als entlarvter Missetäter führte der Holzmüller auf dem Pausenhof das große Wort, wobei er sich von der halben Klasse umringen ließ.

»Den schmeißen sie von der Schule«, sagte der Bohnekamp, aber irgendwie kriegte der Holzmüller trotzdem noch die Kurve.

Dann ging es in einer Physikarbeit um die Wurst.

Welche Kraft entwickelt ein Auto, das bei Vollgas eine Leistung von 35 PS hat, wenn es im ersten Gang mit 5 m/s fährt? Wie groß ist die Kraft im vierten Gang bei gleicher Drehzahl und Leistung des Motors, wenn das Auto die Geschwindigkeit 108 km/h hat? Rechne 35 PS in kW um!

Das gelang mir nicht. Weg damit. Nächste Aufgabe:

Mit welcher Geschwindigkeit kann ein 20 kW-Motor ein Werkstück von 0,5 t Masse hochziehen?

Ein Werkstück? Was sollte das sein? Ein anderes Wort für Dingsbums? Die nächste Aufgabe war auch nicht leichter:

Welche Leistung liefert eine Freistrahlturbine, die bei einem Gefälle von 195 m in 1 s von 9,4 m3 Wasser durchlaufen wird, wenn man von Verlusten absieht?

Da hätten sie einen anderen fragen müssen als mich.

In Mathe wurden elektronische Taschenrechner ausgegeben. Wenn man die Zahl 7353 eintippte und den Taschenrechner umdrehte, dann stand da: ESEL.

Hermann hatte inzwischen den »Arthur Gordon Pym« gelesen und war hin und weg, besonders von der Menschenfresserei auf dem Floß. Wenn ich ihm noch mehr Romane dieser Güteklasse empfehlen könne, sagte er, wäre er mir dankbar.

Im Flur führte Mama ein längeres Telefongespräch mit Renate. Wir hatten ja vor, in den Pfingstferien nach Vallendar zu fahren, und Renate wollte dann bei Olafs Eltern in der Schubertstraße pennen. Mama sagte, das gehe nicht an. Sie habe da zwar keinerlei moralische Bedenken, aber Renate sei ja immer noch ein Mitglied der Familie Schlosser und nicht der Familie Blum. »Für dich und deinen Olaf ist das viel zu selbstverständlich, daß du immer bei dessen Eltern übernachtest!« Darüber werde sie sich auch mit Olafs Mutter noch unterhalten. »Du benimmst dich, als ob du da schon zur Familie gehörst, und das geht nun mal nicht! Und außerdem ist Pfingsten, und da kannst ja wohl mal zuhause sein! Deinen Olaf hast du noch lange genug! Wir existieren schließlich auch noch! Du mußt doch auch mal an uns denken und nicht bloß immer und immer an deinen Olaf!« Abendliche Besuche würden vollkommen ausreichen. »Und dann wirst du von der Gartenarbeit ohnehin so kaputt sein, daß du kaum irgendwelche Lust hast, dich da riesig zu amüsieren. Dann solltest du lieber früh zu Bett gehen … nein … nein … also wirklich, du bist nur auf dein Vergnügen aus! Du kannst nicht einfach entscheiden, was gemacht wird, und alle anderen werden gar nicht gefragt! Olafs Eltern ist das sicher auch schon längst nicht mehr recht, was sich da bei euch eingebürgert hat!«

So ging es hin und her. Als ich mich daran sattgehört hatte, ging ich ins Wohnzimmer, um mir den Vampirfilm anzusehen, der um viertel nach neun im ZDF anfing: »Blut für Dracula«, wieder mit Christopher Lee.

Am ersten Pfingstferientag sollte gleich nach dem Mittagessen gestartet werden, aber Papa würgte viel länger als geplant an den Dachgepäckträgerschrauben herum, obwohl das alles eigentlich nicht so schwierig sein konnte wie das Kopplungsmanöver von Apollo und Sojus.

Weil Renate nicht mitfuhr, stand diesmal auch mir als Drittältestem ein Fensterplatz zu, und Wiebke mußte in der Mitte sitzen. Als sie ihren ersten Furz in den Peugeot entließ, fühlte ich mich sofort zurückversetzt in die Tage der Spanienreise.

Fünf Stunden Fahrt.

Unterwegs tankten wir bei Deutschlands Autopartner Nr. 1, Aral.

Auf dem Mallendarer Berg inspizierte Papa unser Haus vom Keller bis zum Dach. In der Waschküche war ein Gullirost zerbrochen, und das Ausgußbecken war aus der Verankerung gerissen. Das wurde nur noch durch das Abflußrohr in seiner Lage gehalten. Papa stieß Flüche aus, und Mama rief: »Nicht doch vor den Kindern, Richard!«

Aus dem Radio war zu erfahren, daß Offenbach noch in der 81. Minute mit 1:0 in Führung gelegen hatte, aber dann war Allan Simonsen nach vorn geprescht, zum Ausgleich, und als der Schiri Ohmsen aus Hamburg abgepfiffen hatte, war Borussia Mönchengladbach zum vierten Mal Deutscher Meister.

»Nun reg dich mal wieder ab«, sagte Mama, als ich freudig erregt die Treppe hinunterhüpfte. »Sieh dich mal lieber nach Wiebkes Zahnbürste um!«

Die war irgendwo verschüttgegangen.

Ratzen mußten wir auf wabbeligen Luftmatratzen, und am Morgen gab’s nur Schwarzbrot mit SB-Magarine als Grundlage für die Erdbeermarmelade. Aus dem Marmeladenglas hatte Mama vorher mit dem Messer ein Fitzelchen Schimmel entfernt, und nach dem Frühstück durfte ich Michael Gerlach besuchen gehen.

Finanziell sei die Konfirmation unergiebig gewesen, sagte Michael. Auch für seinen Bruder Holger sei nicht viel herausgesprungen. Ins Wambachtal wollten sie alle beide nicht gehen. Das hätten sie satt.

In der Küche spielten wir eine Stunde lang zu dritt Mensch-ärgere-Dich-nicht, bis Frau Gerlach den Tisch brauchte, zum Abstellen von Töpfen und Schüsseln beim Essenkochen. Der Versuch, das Spielbrett mit allen Figuren ins Wohnzimmer zu tragen, scheiterte kläglich: Beim Transport fielen sie allesamt runter, und Michael sagte, ihm sei die Lust an diesem Spiel sowieso schon vergangen.

Olaf holte Renate vom Busbahnhof ab und brachte auch zwei Gartenliegen mit, von seinen Eltern, als Leihgabe für uns, und dann wurden auf der Terrasse Zukunftspläne durchgesprochen, bei Kaffee und Butterkuchen. Ein Studium in Bielefeld wäre nicht nach seinem Gusto, sagte Olaf. Er wollte lieber in Bonn studieren, Politologie und Jura, und Renate hatte sich deshalb auch mit dem Gedanken angefreundet, in Bonn zu studieren.

Nächtigen durfte sie dann ausnahmsweise doch in der Schubertstraße.

Papa saß noch lange biertrinkend und rauchend auf der Terrasse und zog über Olaf vom Leder. Politologie! Das sei keine ernstzunehmende Wissenschaft. »Da wird nichts als leeres Stroh gedroschen! Und was will Renates Waldschrat später mal anfangen mit seinem Diplom? Etwa ’ne Familie ernähren?« Heutigentags würden die Familienväter ja nicht mehr um ihre Einwilligung gebeten, wenn die Kinder sich verheiraten wollten. »Aber Renates Eheschließung mit diesem rauschebärtigen Politologen kann ich nun mal nichts abgewinnen!«

Das sei doch noch längst keine beschlossene Sache, sagte Mama und wedelte mit der Hand Papas Zigarettenqualm weg. »Dieses Verhältnis wird sich noch gewaltig abkühlen, und dann werden wir ja sehen …«

Nebenbei hatte Mama eine Mängelliste erstellt: Beide Balkontüren klemmten, das Fenster im oberen Bad beschlug von innen, der Vorkeller roch muffig, die Küchenschublade ging nicht ordentlich zu, der Kühlschrank vereiste zu schnell, und die Schrankwand hatte Macken.

Bloß nie ein Haus bauen oder kaufen, das würde einem nur Ärger bescheren.

Am Pfingstsonntag erschien Renate zwar morgens zum Unkrautjäten, aber um vier Uhr nachmittags holte Olaf das edle Freifräulein wieder ab, und wir anderen wurden noch bis zum Einbruch der Dunkelheit im Garten herumgescheucht.

Bis zum Sommer, sagte Papa, müßten die Garage und die Waschküche verputzt werden. Großer Gott. Wenn man ein Häuschen im Grünen besaß, war man rund um die Uhr zum Malochen verurteilt.

Auch am Pfingstmontag war’s noch affenartig heiß, und ich lernte am eigenen Leib das Phänomen der Unterarmnässe kennen.

Tri-Top bringt den Riesenspaß – erfrischend fruchtig Glas für Glas!

In der Küche machte Mama Gurkensalat fertig und zuckerte den Rhabarberpudding, obwohl ihr klar war, daß der niemandem schmeckte.

Renate ließ sich erst lange nach dem Essen wieder blicken, als auf der Terrasse Kaffee getrunken wurde.

In aller Herrgottsfrühe düngte Papa den Rasen, und Michael versprach mir, ganz bald wieder einen Brief zu schreiben.

Renate rubbelte in der Küche mit einem benzingetränkten Schwamm die Scheißprilblumen von den Kacheln ab, während Papa draußen wieder mit dem Dachgepäckträger kämpfte. Die kannte ich schon aus Spanien, die Brüllerei. Und die Hitze war so viehisch, daß einem die Zunge raushing.

Im Peugeot zurück nach Meppen. Ich saß hinten, und Renate sagte, daß Olaf heute ins Manöver ziehen müsse, nach Grafenwöhr.

Auf einem Rastplatz vor dem Leverkusener Autobahndreieck kriegten wir hartgekochte Eier und belegte Brote zu essen.

Kurz vor Rheine machten wir noch einmal Rast, und ich mußte eine ganze Weile ins Grüne wandern, um an einen Strauch ohne Klopapier und sonstigen Müll drumherum pissen zu können.

Zuhause machte Mama den Fernseher an: Der dicke polnische Parteichef Edward Gierek weilte zu Besuch in Bonn. Papa schleppte seine Utensilien von der Einfahrt in den Keller. Dann wurde im Wohnzimmer Bier gesoffen, und nur ich kriegte nichts ab.

In Erdkunde kamen die Rassenkonflikte in den USA dran und die Reservate für die von den Amis dezimierten Indianerstämme. Von den Indiandern würden viele heute bloß noch saufen.

Nach Schulschluß suchte ich mir in der Stadtbücherei was Neues zu lesen aus: »Lausbubengeschichten« von Ludwig Thoma, über einen bayrischen Jungen mit schlechten Schulnoten und hundsgemeinen Lehrern. Einmal, als er gerade aufgerufen wurde, fiel ihm ein geheimer, parfümierter Liebesbrief runter, und den angelte sich der Lateinprofessor:

Zuerst sah er mich an und ließ seine Augen so weit heraushängen, daß man sie mit einer Schere hätte abschneiden können. Dann sah er den Brief an und roch daran, und dann nahm er ihn langsam heraus. Dabei schaute er mich immer durchbohrender an und man merkte, wie es ihn freute, daß er etwas erwischt hatte.

Und dann las der Lehrer den Brief der ganzen Klasse vor. Laut.

»Innig geliebtes Fräulein! Schon oft wollte ich mich Ihnen nahen, aber ich traute mich nicht, weil ich dachte, es könnte Sie beleidigen.«

Ich wäre eingegangen wie ’ne Primel, auf der Stelle, aber dieser Junge ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Der schmiß den Leuten, die ihn ärgerten, einfach das Fenster ein. Grausame Rache nehmen wollte er auch an der zickigen Nachbarin, einer Frau Geheimrat, und deren geliebter Angorakatze den Schwanz abschneiden.

Wenn sie dann ruft: »Wo ist denn nur unser Miezchen?« schmeiße ich den Schweif über den Zaun hinüber. Aber ich muß mich noch besinnen, wie ich es mache, daß es niemand merkt. Da bin ich wieder lustig geworden, weil ich gedacht habe, was sie für ein Gesicht machen wird, wenn sie bloß mehr den Schweif sieht.

Beim Spielen mit einem vornehmen preußischen Knäblein sprengte er dessen Spielzeugdampfschiff in die Luft, und bei einer Eisenbahnfahrt blies er den empörten Erwachsenen Zigarrenqualm ins Gesicht und soff Bier und warf das Glas zum Fenster hinaus, um einen Bahnwärter zu treffen. Aber dann kam das böse Ende:

Ich dachte, wieviel schöner möchte es sein, wenn es mir jetzt nicht schlecht wäre, und ich hätte ein gutes Zeugnis in der Tasche, als daß ich jetzt den Hut in der Hand habe, wo ich mich hineingebrochen habe.

Davon mußte ich Hermann erzählen.

Manchmal fuhr Papa noch nach Einbruch der Dunkelheit zur E-Stelle, zum sogenannten Nachtschießen, das die Militaristen dort mit Donnergetöse zu praktizieren pflegten. Dann hallten Böllerschüsse durch die Nacht.

Für mich kam endlich wieder Post von Michael.

Huhuhu …

Morgen Schule, und gleich Bundesjugendspiele! Das gibt wieder was. Ich hab ja noch nicht mal ’ne Turnhose! Noch in diesem Brief werde ich Dir Bericht erstatten, wie alles gelaufen ist.

Mann, bin ich schlapp. Ich hocke hier um neun Uhr abends in meinem Zimmer und bin müde. Fernsehen darf ich nicht, und schlafen kann ich nicht, ist noch viel zu hell. Und in dieser ausgezeichneten Verfassung soll ich zu den Bundesjugendspielen? Das ist doch Irrsinn. Vielleicht gehe ich auch gar nicht hin. Wozu gibt’s diesen Mist überhaupt? Ich bin seit einem Jahr keine 100 m mehr gerannt, und weitgesprungen bin ich erst recht nicht. Da steht mir ’ne schöne Blamage bevor.

So, jetzt geh ich pennen.

Habe ausgepennt. Die Bundesjugendspiele sind vorbei. Wir sind dauernd bloß rumgelatscht, und als wir endlich angefangen haben, ist es selbst im Schatten heißer gewesen als in der Sahara. Ächz! Das Fußballspiel Schüler gegen Lehrer hab ich mir noch angesehen. Die Lehrer haben 5:0 gewonnen! So ein Mist. Und danach war der Bus vielleicht voll! Da wollten Tausende ins Schwimmbad. Ich darf wohl behaupten, daß die Drängeleien im Bus zermürbender waren als die ganzen blöden Bundesjugendspiele.

Heute ist einer von den Schaltern an unserem Kassettenrekorder kaputtgegangen. Macht ja nichts, haben wir uns gesagt, wir haben ja ’ne Garantie. Von wegen! Da steht, daß die nur gilt, wenn die Garantiekarte ordnungsgemäß ausgestellt worden ist, mit Datum und mit Unterschrift des Verkäufers. Aber der Arsch von Verkäufer hat nicht unterschrieben! Schweinerei!

Heute nacht hab ich kaum geschlafen, es war so’n dolles Gewitter. Mann, so einen Donner haste noch nicht gehört! Und erst die Blitze! Na, ich hab mir einfach die Ohren zugehalten. Aber dann hat es wieder ganz abscheulich gekracht. Und als es da blitzt und tost und wütet und donnert, da sehe ich an meinem Fenster ’nen Mann! In fahles Licht getaucht, ganz violett, mit dem Rücken zu mir. Ich dachte ja erst an ’nen Albtraum, aber dafür sah alles zu echt aus. Da bekam ich einen sagenhaften Schrecken, weil der Mann sich umdrehte. Er ging an mir vorbei und aus der Tür …

Nun könnte ich ja schreiben, es war ein Einbrecher oder Dracula oder so, aber ich will ehrlich sein: Es war bloß mein Vater, der das Fenster zugemacht hatte, wegen dem Regen. Aber den Schrecken kann ich jetzt noch spüren.

Weißt Du schon genau, wann Du kommst?

Bis dann, der große Michael!

An den Rand hatte er eine Zeitung gezeichnet, mit der Schlagzeile: »Kind beging Selbstmord – aus Langeweile!« Und darunter: »Scheel im Klo ersoffen«. Und daneben: »Bundesjugendspiele in Koblenz – 11 Tote!«

Von mir kriegte Wiebke zum zehnten Geburtstag einen feuchten Händedruck. Immerhin hatte ich ihr mal ein Eis ausgegeben.

»Ja«, sagte sie, »letzten Sommer!«

Ihre Geburtstagsgäste fielen mir zwar auf die Nerven, aber von der Erbeertorte Marke Renate wollte ich auch was abhaben. Renate, die Küchenfee: Wiebke zu Ehren hatte sie außerdem noch einen dicken Pott Bananenquark und einen glibberigen Götterspeisefisch mit Kirschen und heißer Vanillesoße fabriziert.

»Und wer soll das alles fressen?« Das war Papas Kommentar.

Der bei Kamps bestellte Polo ließ auf sich warten. Mama war schon mehrfach vorstellig geworden, um den Schlafmützen da Feuer unterm Arsch zu machen. Auf die Bude rücken müsse man den Kerlen, sonst rührten die sich nicht. Ein guter Grund mehr, sich kein Auto zu kaufen: Dann brauchte man niemandem einzuheizen und konnte selbst ’ne ruhige Kugel schieben.

»Der Doofkopp hat die halbe Zunge mitbetäubt«, sagte Renate, als sie ihren nächsten Zahnarzttermin überstanden hatte, aber das enträtselten wir erst nach der zweiten Wiederholung. Sogar den sprechenden Hund von Loriot hatte man besser verstehen können.

»Du hörst dich an wie ’n Chinese«, sagte Papa.

Mama hatte sich beim Treppewischen einen Hexenschuß zugelegt und verhielt sich dementsprechend gereizt, wenn man ihr abends in die Entscheidung über das beste Fernsehprogramm reinzureden versuchte.

Dann fuhr Papa Renate zum Krankenhaus, weil sie an mysteriösen Unterleibsschmerzen litt. Ob das der Blinddarm war? Oder ob sie was Falsches gegessen hatte? Aber dann wären wir ja wohl auch nicht verschont geblieben.

Sie hatte eine »Eileiterentzündung« und mußte im Ludmillenstift bleiben. Liegend, und zwar stramm! Zehn Tage Minimum. Voraussichtlich. Eisern liegen und den Bauch mit Eisbeuteln kühlen. Der geringste Leichtsinn in dieser Beziehung könne zur Folge haben, daß Renate eine »Verklebung« behalte und steril werde.

Was die Frauen untenrum so alles für Geschichten haben konnten, darum waren sie nicht zu beneiden. Das gleiche komplizierte Elend wie bei Autos: »Eileiter«, das klang auch nicht viel verlockender als »Zündverteiler«.

Der letzte Spieltag war eine reine Formsache, jedenfalls für die Gladbacher, die ihre Gäste vom 1. FC Köln mit 2:1 wieder nachhause schickten.

Im Spiel gegen Hertha BSC legte Gerd Müller mehr als einen Hattrick hin: Nach einer guten halben Stunde hatte er vier Tore geschossen. Am dramatischsten verlief diese Begegnung in den letzten acht Minuten – 6:2 Detlef Szymanek (82.), 7:2 Gerd Müller (84.), 7:3 Detlef Szymanek (87.), 7:4 Detlef Szymanek (89.). Phantastisch! Sowas wollte man doch sehen, auch wenn einem die Torhüter leidtun konnten, so wie Bernd Franke von Eintracht Braunschweig, der das runde Leder nicht weniger als sechsmal aus dem Netz holen mußte. Einmal hatte Bernd Hölzenbein getroffen, zweimal Bernd Nickel und dreimal Jürgen Grabowski.

Die rote Laterne teilten sich am Tabellenende Hannover 96, Kickers Offenbach und Bayer Uerdingen. Diese bedauernswerte Werksmannschaft hatte sich aus der Bundesliga mit einer 2:0-Niederlage in Duisburg verabschiedet und die Saison mit 28:69 Toren beendet. Es war mir schleierhaft, wie die Fans dieser Mannschaft das aushielten. Als Gladbachfan hatte man bessere Karten.

In einem Film abends im Ersten spielte Rod Steiger einen griesgrämigen jüdischen Pfandleiher, der in einem Slum in New York sein Dasein fristete und nur noch ans Geld dachte, seit die Nazis seine Frau und seine Kinder umgebracht hatten. In einer Rückblende war zu sehen, wie er in einem überfüllten Viehwaggon auf dem Weg ins KZ seinen Sohn auf den Schultern zu tragen versuchte und dafür irgendwann nicht mehr genug Kraft hatte. Lauter solche grausigen Szenen.

»Das kann man ja verstehen, wenn einem Menschen da die Gefühle absterben«, sagte Mama.

Aber dann wurde ihm bei einem Überfall von jemandem das Leben gerettet, der dabei starb, und in der Erschütterung darüber quetschte der Pfandleiher eine seiner Hände auf den Quittungshalterspieß.

Am Ende schleppte sich der Pfandleiher nach draußen, und man sah ihn irgendwo zwischen den Leuten auf der Straße davonirren.

Als ich Renate im Ludmillenstift besuchte, verriet sie mir im Flüsterton, daß die eine von beiden Frauen neben ihr im Zimmer eine Abtreibung hinter sich habe und die andere eine »Ausschabung«. (Mit einem Spachtel im Uterus? Das wollte ich lieber nicht so genau wissen.)

Von den Ärzten hatte Renate keine hohe Meinung: »Alles widerliche alte Säcke, die an einem rumgrapschen und -tatschen.« Eine Penicillinspritze hätten sie ihr verpaßt, gleich bei der Einlieferung, ohne nach allergischen Reaktionen zu fragen, und jetzt saßen Renate die Arme voller Quaddeln, die schauderbar juckten, und sie bekam Tabletten gegen den Juckreiz verabreicht. »Sowas Blödes! Und von ’ner anderen Spritze hab ich nur ’n schleimigen Mund gekriegt und sonst nichts, und den kodderigen Geschmack muß ich mit Pfefferminzdrops weglutschen!«

Das Semester könne sie abbrechen und die Fahrschule desgleichen. Zehn Fahrstunden hatte sie schon hinter sich.

Wenn das Eis in dem Beutel auf Renates Bauch geschmolzen war, mußte sie klingeln und neues bestellen.

Wir hatten ein Heimspiel, und der Rechtsaußen, den ich zu bewachen hatte, lief in brenzligen Momenten oft zurück bis zum eigenen Strafraum. Ich natürlich hinterher! Die Mittellinie überquerte ich als Manndecker sonst nur zum Abspielen, und bis zum gegnerischen Strafraum kam ich so gut wie nie. Vielleicht rollte mir da ja irgendwie der Ball mal so glücklich vor die Füße, daß ich bloß noch draufzuhalten brauchte, dachte ich. Für das erste Tor in meiner Laufbahn wurd’s ja auch allmählich Zeit.

Und tatsächlich – einen hoch hereingegebenen Eckball faustete der Torhüter genau in meine Richtung! Jetzt das Leder locker und elastisch von der Brust abtropfen lassen und als Dropkick mit Karacho unter die Latte jagen: Das wäre die richtige Reaktion gewesen. Tausendmal trainiert. Allerdings ohne Lampenfieber und rempelnde Gegenspieler, und auch nicht in einem Stadion, das urplötzlich einem Hexenkessel glich.

Von der Seite hörte ich Uli Möller brüllen: »Mach ihn rein!«

Bei der Brustannahme berührte der Ball meine Schulter, und der Schiedsrichter pfiff ab: Handspiel.

Und zurück, marsch-marsch.

Für den Rest der ersten Halbzeit lief ich wie umnebelt übers Feld.

»Den hättest du reinmachen müssen, Martin«, sagte Uli Möller in der Pause.

Unter einer Eileiterentzündung konnte sich auch Hermann nichts Konkretes vorstellen, aber etwas Fieses sei das ganz bestimmt. Eine Erbkrankheit vielleicht. »Wer weiß, was ihr für räudige Vorfahren habt!« In seiner Familie sei noch nie einer krank gewesen. Sein Vater habe in seiner gesamten beruflichen Laufbahn noch keinen einzigen Tag auf der Arbeit gefehlt. »Für uns ist das Krankfeiern unter unserer Würde!«

Nur einmal, aber davon wisse er nur aus Erzählungen, habe sein großer Bruder an einer schweren Krankheit gelitten, mit lebensgefährlichen Fieberschüben, und die Ärzte hätten ihn aufgegeben. »Und dann haben meine Eltern jemanden zu Hilfe geholt, von dem sie gehört hatten, daß er auch in anderen hoffnungslosen Fällen die letzte Rettung gewesen war. Und zwar einen Gesundbeter! Und der kam dann an und hat meinem Bruder irgendwie die Hand aufgelegt und die passenden Gebete gesprochen …«

»Also ein Wunderheiler.«

»Nenn ihn, wie du willst! Der hat seinen Dienst getan, und simsalabim, zwei Tage später war mein Bruder wieder munter und gesund. Obwohl die Ärzte ihn schon abgeschrieben hatten.«

»Und das soll ich dir glauben?«

»Das brauchst du mir nicht zu glauben. Ich geb nur wieder, was meine Eltern erzählt haben. Und die tischen mir gewöhnlich keine Lügenmärchen auf.«

Als Hermanns Mutter zwei Jahre nach ihrer Hochzeit noch immer kein Kind unterm Herzen getragen hatte, sei der Pfarrer angestrunzt gekommen und habe gefragt, was da los sei.

Am meisten zu schaffen machten mir, neben der Schule, die Klavierstunden und der nichtendenwollende Frondienst im Kampf gegen die Unkrautplage.

»Meinst du etwa, uns anderen würde das Vergnügen machen?« fragte Mama. »Das war auch nicht das Ziel meiner Träume, zwei große Gärten am Hals zu haben!«

In der Küche füllte sie eine Thermoskanne mit Kaffee ab, für Renate, die im Ludmillenstift nur Muckefuck bekam.

Für Geschichte brauchte Volker alles mögliche über die USA, und er graste fluchend das ganze Haus nach dem Stern-Sonderheft ab. Überall wühlte er rum, auch in meinen Schränken, wie ’ne Wildsau, und wir hätten uns fast gekloppt.

Und wo lag’s, das blöde Heft? Bei Volker auf der Fensterbank.

Ich selbst war in Geschichte erst beim Dreißigjährigen Krieg, der ausgebrochen war, als böhmische Adlige drei vornehme Leute durch ein Schloßfenster auf einen Misthaufen geschmissen hatten. Der Prager Fenstersturz.

Um der Klasse einen Eindruck davon zu vermitteln, wie es zugegangen war, wenn den umherziehenden Soldaten der Sinn nach Plünderung, Brandstiftung, Vergewaltigung und Folterung gestanden hatte, las der Wolfert ein paar Seiten aus Grimmelshausens »Simplizissimus« vor.

Den Knecht legten sie gebunden auf die Erd, steckten ihm ein Sperrholz ins Maul und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstig Mistlachenwasser in Leib: das sie ein schwedischen Trunk nenneten …

Dem gefesselten Bauern hatten sie nasses Salz an die Fußsohlen geschmiert und es von einer Ziege ablecken lassen, so daß er vor Lachen starb.

In der Pause fragte mich Hermann, was ich denn bevorzugt hätte, die Ziegenzunge oder den Schwedentrunk? Und ob ich eigentlich was für Tanja Gralfs übrig hätte? Ich würde so oft in deren Richtung kucken.

Das gewöhnte ich mir ab.

Für Renate waren gleich zwei dicke Briefe von Olaf angekommen und dazu noch eine Karte und eine amtliche Mitteilung, aus der hervorging, daß Renate in Bonn weiterstudieren dürfe.

Ein geschäftliches Schreiben hatte auch ich erhalten, von dem Berufsfortbildungsfritzen mal wieder. Anstelle einer höflichen Anrede fing der Brief mit den Worten an:

ICH FORDERE SIE HERAUS!

Auf den Fotos in den früheren Briefen hatte einem dieser Mensch noch freundlich zugezwinkert, aber davon war er mittlerweile abgekommen. Für die aktuelle Lieferung seiner Korrespondenz hatte er ein Foto ausgewählt, auf dem er mich grimmig anstarrte. Keine Spur mehr von einem Lächeln. Verkniffener Mund, gerunzelte Stirn, zusammengezogene Augenbrauen und darunter ein kalter, stechender Blick. Klarer Fall: Ich hatte diesen Mann enttäuscht. Zutiefst.

Und das nahm er mir persönlich übel. Wenn ich so weitermachte, schrieb er mir, sinngemäß, dann wäre der Ofen bald aus. Dann könnte ich die Flinte auch gleich ins Korn werfen. Er habe mehr von mir erwartet! Ob ich denn wirklich die Hände in den Schoß legen und von einer entscheidenden Verbesserung meiner beruflichen und damit auch privaten Situation nur phantasieren wolle? Während andere das große Geld machten und der Verwirklichung ihrer kühnsten Träume durch harte Arbeit täglich ein Stück näherkämen?

Der Typ versuchte es mit allen Mitteln, und ich fragte mich, ob der mir irgendwie am Zeug flicken konnte, weil ich ihn reingelegt hatte? Der ahnte ja nicht, daß ich noch die Mittelstufe besuchte.

Ich ließ es darauf ankommen und steckte auch diesen Brief in die Mülltonne. Wer die Hände in den Schoß legte, der brauchte ja, wie man von Otto Waalkes wußte, noch lange nicht untätig zu sein.

Renate durfte wieder aufstehen, ging aber noch ziemlich eierig nach ihren fast einhundert Liegestunden.

Die ausgeschabte Frau im Nachbarbett hatte Besuch von ihrem Mann, aber sie stierte stumm zur Zimmerdecke, und der Mann saß da und blätterte in einer Illustrierten. Frau mit Herz.

Renate nörgelte über ihre Plimpersuppe und das eklige Aroma von Äthanol und Sagrotan und das ewige Kirchenglockengeläute. Ihre Ohren seien schon fast taub davon.

Aus der Stadtbücherei besorgte ich mir den »Simplizissimus«. 766 Seiten hatte die Schwarte, in der ich als erstes nach der Stelle mit dem Furz beim Servieren suchte. Die war im Buch sogar noch komischer als im Fernsehen:

Je greulicher der Unterwind knallete, je grausamer das »Je pète« oben herausfuhr, gleichsam als ob meines Magens Ein- und Ausgang einen Wettstreit miteinander gehalten hätten, welcher unter ihnen beiden die schröcklichste Stimm von sich zu donnern vermöchte.

Zur Strafe wurde Simplex »zerkarbeitscht«, was den Tischgästen nicht viel nutzte:

Da brachte man Rauchtäfelein und Kerzen, und die Gäst suchten ihre Bisemknöpf und Balsambüchslein, auch sogar ihren Schnupftobak hervor, aber die beste Aromata wollten schier nichts erklecken. Also hatte ich von diesem Actu, den ich besser als der beste Komödiant in der Welt spielte, Friede in meinem Bauch, hingegen Schläg auf den Buckel, die Gäst aber ihre Nasen voll Gestank und die Aufwarter ihre Mühe, wieder einen guten Geruch ins Zimmer zu machen.

Solche Unterwinde waren mir wohlbekannt. »Die leisen sind die schlimmsten«, sagte man im allgemeinen, aber das stimmte nicht.

Im Dritten lief ein angsteinflößender Spielfilm über ein autoritäres Regime, in dem gedungene Mörder, korrupte Staatsanwälte und ein Oberfinsterling von Polizeipräsident die meiste Zeit über am längeren Hebel saßen als ihre Gegner, und als man aufatmen wollte, weil es endlich andersrum zu kommen schien, putschte sich das Militär an die Macht. Und das ging noch brutaler zur Sache.

Als normaler Mensch hätte man da in den Untergrund gehen müssen. Oder abhauen, wenn man nicht gefaßt und beim Verhör aus dem siebenten Stock des Polizeipräsidiums geworfen werden wollte.

Constantin Costa-Gavras hieß der Regisseur.

Gegen die Jugos taten wir uns schwer im Halbfinale der EM in Belgrad. Die gingen früh in Führung und erhöhten dann auf 2:0, und nach dem Seitenwechsel sah’s anfangs kaum rosiger aus. Gerd Müller fehlte eben an allen Ecken und Enden! Erst in der 65. Minute bescherte uns der eingewechselte Kölner Heinz Flohe wenigstens den Anschlußtreffer, aber das genügte noch nicht. Ein glückliches Händchen hatte Helmut Schön dann allerdings auch bei der Einwechslung von Dieter Müller, der in der 79. Minute für Herbert Wimmer auflief und sofort den Ausgleichstreffer schoß, gleich bei der ersten Ballberührung in seinem allerersten Länderspiel!

In der Verlängerung ging den Brüdern vom Balkan die Puste aus, und Dieter Müller krönte seinen Einstand mit zwei weiteren Toren.

O happy day!

Renate machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter: Nach der Entlassung hatte sie zu ihrem Oläfchen abdampfen wollen, aber dann gab’s neue Malessen mit ihrem Eileiter, und sie mußte noch am selben Tag zurück zur stationären Behandlung.

Im Fernsehen wurde die Hochzeit von Sylvia Sommerlath und dem schwedischen König Karl Gustav übertragen. Die kannten sich von den Olympischen Spielen in München, wo Sylvia Sommerlath als Hosteß gearbeitet hatte, genau wie Tante Dagmar. Ewig schade, daß es damals nicht zwischen Karl Gustav und Tante Dagmar gefunkt hatte. Oma Jever wäre im Dreieck gesprungen! Und ich hätte jetzt die Königin von Schweden als Patentante gehabt.

Im »Simplizissimus« war ich steckengeblieben. Ich wollte was Spannenderes lesen und suchte mir im Wohnzimmer vor dem Zubettgehen einen von Mamas Krimis aus, »Der Pate« von Mario Puzo, und da gingen mir die Augen über. Im ersten Kapitel verkloppte ein besoffener Mann seine untreue Frau, aber die ließ ihn kalt auflaufen:

Mit gespreizten Beinen daliegend, das lange Brokatkleid weit über die Schenkel hinaufgerutscht, höhnte sie lachend: »Los, Johnny, steck ihn doch rein! Steck ihn rein, Johnny, das willst du doch nur.«

Ein paar Seiten weiter trieb es ein anderer Gangster im Stehen mit seiner Braut:

Ihre Hand schloß sich um eine ungeheure, blutgeschwollene Muskelmasse, die in ihren Fingern pulste wie ein Tier. Fast weinend vor dankbarer Ekstase lenkte sie ihn in ihr feuchtes, geschwollenes Fleisch. Der Schock des Eindringens, das unglaubliche Lustgefühl ließ sie keuchen, ließ sie die Beine fast bis hinauf an seinen Hals schieben, und dann empfing ihr Körper wie ein Köcher die wilden Pfeile seiner blitzschnellen Stöße; zahllos, quälend. Höher und höher bog sie ihr Becken, bis sie zum erstenmal in ihrem Leben eine erschütternde Klimax erreichte, bis sie spürte, wie seine Härte zerbrach, und dann die langsame Flut seines Spermas sich auf ihre Schenkel ergoß …

Und sowas stand bei uns im Bücherschrank!

Auf den Fotos, die ich von ihm kannte, sah der südafrikanische Präsident Johannes Vorster wie ein Schwein aus. Dieser Übelmann stattete der Bundesrepublik jetzt eine inoffizielle Visite ab. Was er hier wollte, wußte außer seinen engsten Kontaktleuten niemand so genau. Wickelte der hier heimlich irgendwelche Waffengeschäfte ab?

Aus der Meppener Tagespost erfuhr man darüber nichts.

Abends meldete sich Oma Jever: Sie mache sich Sorgen um Kim, die in London arbeiten wolle, ohne eine Ahnung, worauf sie sich da einlasse.

»Bei meinem ersten Trip nach London bin ich ja selbst kaum flügge gewesen«, sagte Mama. »Man muß die Youngster auch mal ihre eigenen Erfahrungen machen lassen …« Oma sei da manchmal etwas überängstlich.

Ach nee. Und Mama selbst? Die ging ja schon an die Decke, wenn man als Youngster mit dem Rad nach Jever fahren wollte!

Auch im EM-Finale gegen die Tschechoslowakei mußten wir ein 0:2 aufholen, aber darin war die deutsche Elf geübt, da war mir nicht bange. Was sollte schiefgehen in Franz Beckenbauers einhundertstem Länderspiel? Und peng – in der 28. Minute verkürzte Dieter Müller auf 1:2. Noch keine siebzig Minuten hatte dieser Joker für Deutschland gespielt und bereits vier Tore geschossen!

Wie sinnig, daß er auch noch Müller hieß.

Dann kam leider lange nichts mehr, und je länger nichts mehr kam, desto schlechter wurden unsere Chancen. Bei Einwürfen ließen die deutschen Spieler sich viel zu viel Zeit, da hätten sie hinrennen sollen zum Ball und nicht schlurfen und sich’s dann auch nicht noch dreimal anders überlegen, wem sie den Ball zuwerfen! Und bis die mal einen Angriff aufgebaut hatten, einen vernünftigen, das dauerte Jahre.

»Gib doch endlich ab, du Kackarsch!« Das entfuhr mir so, und Mama sagte, wenn ich mich zu so etwas noch einmal unterstünde, wäre Feierabend.

Die Tschechen mauerten natürlich, um ihren Vorsprung über die Runden zu retten. Ein schönes Spiel sah anders aus, aber die wollten ja auch keinen Schönheitspreis gewinnen. Mit ihrer Defensivtaktik konnten sie sich allerdings keine neuen Torchancen erspielen, und das mußte sich irgendwann rächen, wenn der Fußballgott nicht schlief.

»Ich weiß wirklich nicht, wozu diese Torhüter den Ball immer so weit nach vorne dreschen«, sagte Mama. »Der landet doch jedesmal beim Gegner!«

Und da waren’s bloß noch drei Minuten.

Papa kam rein, mit dem üblichen Stullengebirge auf dem Teller und dazu noch Radieschenvierteln und Gewürzgurken, die beim Zerkauen krachten wie ’ne Mischmaschine.

Mein Rad hatte ich wohlweislich schon am frühen Abend nach unten gebracht.

»Welche Uhus spielen denn da?« fragte Papa mit vollem Mund.

Und da geschah das Wunder, kurz vor Ablauf der regulären Spielzeit – 2:2 durch Hölzenbein! Yappadappadu! In der allerletzten Minute! So wie damals Karlheinz Schnellinger im Jahrhundertspiel gegen Italien oder anno ’66 Wolfgang Weber im Wembleystadion! Und das auch noch mit dem Hinterkopf, so wie einst Uwe Seeler im Viertelfinale gegen England in Mexiko!

Beim 2:2 blieb’s auch nach zweimal fünfzehn Minuten Verlängerung, und dann ging das Elfmeterschießen los. Fünf Schuß für jede Mannschaft, immer abwechselnd. Da hätten wir Breitner gebraucht! Das dachte in dem Augenblick bestimmt auch Helmut Schön.

Die Tschechen fingen an. 1:0. Na und?

Kein Problem für Rainer Bonhof: 1:1.

Dann wieder die Tschechen: 2:1.

Flohe war der Nächste … 2:2!

Und wieder ein Tscheche … 3:2. Verflucht!

Für uns lief Hannes Bongartz an und verwandelte den Schuß. 3:3. Uff uff!

Sepp Maier hätte ruhig mal einen Elfer halten können, aber auch gegen das 4:3 war er machtlos, und nun durfte uns kein Fehler mehr unterlaufen.

Als Schütze Nummer vier legte sich Uli Hoeneß den Ball zurecht. Wieso nicht Dieter Müller? Oder Dietz? Oder Hölzenbein? Uli Hoeneß hatte doch schon 1974 versagt, in der Frankfurter Wasserschlacht. Da war er an Polens Elfmetertöter Tomaszewski gescheitert.

Und was machte Hoeneß diesesmal, die alte Pflaume? In die Wolken schoß er! Meilenweit über das Tor!

Jetzt ging’s um alles oder nichts. Noch ein Treffer, und die Tschechen wären Sieger. Konnten die nicht auch mal danebenhauen? Oder den Ball verstolpern? Oder ihn Sepp Maier in die Arme schießen?

Leere Hoffnungen! Die Tschechen gewannen das Elferschießen mit 4:3, und das war’s. Gute Nacht, good evening, bon soir.

Was ich noch zu sagen hätte,

dauert eine Zigarette …

Dieter Müller war überhaupt nicht mehr zum Zug gekommen.

Ich lag noch lange wach, aus Ärger über Helmut Schöns kapitale Fehler bei der Mannschaftsaufstellung, und als ich endlich eingeduselt war, polterte Mama ins Zimmer: »Was denkst du dir eigentlich? Hier nachts um halb zwei noch das Licht brennen zu lassen?«

Bevor ich begriff, was überhaupt los war, haute Mama wütend auf den Ausknopf meiner Leselampe, stürmte wieder raus und zog die Tür hinter sich zu, und ich saß im Dunkeln, mit Herzklopfen, hellwach.

Hatte ich nicht eben noch davon geträumt, daß mir ein Mädchen aus der Parallelklasse bei uns im Kellerabgang einen Kuß geben wollte? Irgendwas Anrüchiges hatte sich da angebahnt, aber die Erinnerung an den Fehlschuß von Uli Hoeneß machte alles zunichte.

Hätte Mama mich nicht weiterschlafen lassen können? Was kostete denn so ’ne 45-Watt-Birne an Strom, wenn man die brennen ließ? Und war die Ersparnis eine schlaflose Nacht wert?

Ich knipste die Lampe wieder an und überlegte, womit ich mich müde lesen könnte. Edgar Allan Poe?

Elend ist mannigfach. Die irdische Erbärmlichkeit vielgestaltig. Dem Regenbogen gleich überspannt sie den weiten Horizont …

Das war nicht ganz das richtige zum Einpennen, wenn man von etwas Schönerem zu träumen hoffte als von Nachtgespenstern. Also Buch zu und Licht wieder aus. Das Gehirn konnte man leider nicht so leicht ausknipsen.

Licht aus, Licht aus,

Vater holt den Dicken raus,

einmal rein, einmal raus,

fertig ist der kleine Klaus.

Woher kannte ich diesen Spruch überhaupt? Aus der Straßburger Straße?

Der neue Mieter unseres Hauses auf dem Mallendarer Berg war Jurist, und den wollte Papa vor der Vertragsunterzeichnung persönlich kennenlernen, weil er mit Vertretern dieses unseriösen Berufsstandes schon zu viele schlechte Erfahrungen gesammelt hatte. Nach Papas Meinung waren die Juristen Halunken, alle miteinander. Wenn’s Spitz auf Knopf stehe, vor Gericht, dann würden sie zusammenhalten, auch entgegen den Interessen ihrer Mandanten. Eine Krähe hacke der anderen kein Auge aus.

Mittags half ich beim Kartoffelschälen, wovon ich als Linkshänder am linken Zeigefinger eine wunde Stelle kriegte, wegen der ständigen Reibung an der einen Krümmung des für Rechtshänder hergestellten Kartoffelschälmessers.

»Freedom ’s just another word for nothin’ left to lose«, schrie eine Rocksängerin aus dem Küchenradio, und Mama sagte, die habe gar nicht mal so unrecht.

Verarzten mußte ich mich alleine, mit Pflaster und Nagelschere, und nach dem Essen sollte ich den Komposteimer ausleeren gehen. Über der stinkenden Kompostmatsche surrten draußen Insekten aller Waffengattungen herum.

Die Hitze war schon nicht mehr feierlich. Am besten streckte man irgendwo im Schatten die Glieder aus und rührte sich nicht mehr. Aus Mamas Bücherschrank hatte ich mir zur Siesta die Autobiographie des Schauspielers Anthony Quinn mitgenommen. Darin berichtete der ganz offen, daß er als Achtjähriger ein paar älteren Jungs zugekuckt habe, die in einem Keller um die Wette onaniert hätten. Der Größte habe sich ein Ding aus der Hose geholt, »das wie ein Stück Gartenschlauch aussah«.

Plötzlich lachte der Große wir irr. Ich bekam es mächtig mit der Angst zu tun. Und dann sah ich, wie etwas aus seinem Pimmel spritzte wie das Gift aus einer Kobra …

In dem Buch gab es noch mehr solche Stellen. Zum Beispiel die, wo Anthony Quinn sich als Vierzehnjähriger beim Wellenreiten an ein älteres Mädchen drängt und unauffällig deren Brüste und Schenkel berührt und sich dann mit Bier einen andudelt und am Sandstrand einschläft:

Als ich aufwachte, spürte ich etwas höchst Seltsames. Ich hatte das Gefühl, daß jemand an meinem Penis lutschte. Es war das Mädchen. Sie nahm ihn sehr behutsam in ihren warmen Mund. Ich wagte nicht, mich zu rühren, aus Furcht, den Bann zu brechen und sie in Verlegenheit zu bringen. Ich täuschte tiefen Schlaf vor. Bald war mein Penis steif, und sie schien mit noch größerer Begeisterung dabeizusein. Ich explodierte in ihrem Mund und versuchte, es so ruhig und unauffällig wie möglich zu tun, damit sie immer noch glauben mußte, ich schlafe.

Danach ging’s wieder normaler weiter. Ob Mama das wohl auch alles gelesen hatte? Oder Papa?

Ich blätterte noch ein paar andere Bücher durch – »Dshamilija«, »Der wachsame Träumer«, »Der Geist der Mirabelle«, »Asche und Diamant«, »Wenn das Auto Schnupfen hat« –, aber an die Memoiren von Anthony Quinn oder an den »Paten« reichte keins von denen im entferntesten heran.

Und dann hieß es endlich: Sommerferien! Das hieß allerdings auch: Zeugnisse!

Meins hätte schlechter ausfallen können. Drei Dreien hatte ich und fünf Zweien, selbst in Erde und Physik, und der einzige Makel, die Vier in Mathe, würde Mama mehr kratzen als mich.

»Wiedersehen tun wir uns dann in der neunten Klasse«, sagte der Schlüter. »In alter Frische!«

Schulfrei bis zum 5. August, und dabei war’s noch nicht mal Juli. Und ich war nicht sitzengeblieben. Nie wieder achtes Schuljahr!

All’s well that ends well.

Mama fand auch Volkers Zeugnis nur mittelprächtig. Volker graute es dagegen vor Latein, das er nach den Ferien auf dem Maristengymnasium als zweite Fremdsprache wählen mußte, weil sich für den geplanten Französischkurs nicht genügend Schüler angemeldet hatten.

»Da kommt ja noch was auf uns zu«, sagte Papa. In Jever hätten ihn die Pauker bis zum Gehtnichtmehr mit Latein getriezt. Mamas Einwand, daß Latein das logische Denken schule, verfing bei Papa nicht: »Das logische Denken wird auch durch Mathematik geschult, und damit kann man mehr anfangen als mit ’ner toten Sprache, für die sich bloß noch Bücherwürmer interessieren!«

Es sei denn, Volker wollte Theologie studieren, aber so sah er nicht aus. Sein Lateinbuch hatte er schon. Was da so drinstehe, verheiße nichts Gutes, sagte er mit düsterer Miene.

Wiebke hatte nur Zweien und Dreien, außer in Kunsterziehung. Da war sie auf ’ne Vier abgerutscht.

Vor der Abreise nach Vallendar wollte Wiebke ihren Hamster bei Carola Kowalski in Pflege geben, die selbst alle möglichen Viecher besaß. Volker bettelte darum, die Strecke mit dem Moped fahren zu dürfen, aber das erlaubte Papa nicht. Viel zu gefährlich! »Wenn du soviel Wert auf das Ding legst, mußt du’s eben im Zug mitnehmen und beim Umsteigen von einem Güterwaggon in den anderen verfrachten.« Das sei billiger, als das Moped mit der Bahn per Expreß aufzugeben.

Damit sich in den kommenden Wochen kein Spaziergänger durch den Anblick von Grashälmchen oder Disteln auf dem Unkrautstreifen vor unserer Hecke beleidigt fühlen konnte, wurden wir alle wieder zum Jäten eingeteilt, bis auf die rekonvaleszente Renate natürlich. Die durfte nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus mit einem von Papas Arbeitskollegen, der da jedes Wochenende runterbretterte, nach Vallendar vorfahren und sich bei Olafs Eltern auf die faule Haut legen, zur Erholung vom Kräfteverschleiß beim Däumchendrehen im Ludmillenstift.

Das DFB-Pokal-Endspiel schenkte ich mir. HSV gegen Kaiserslautern, besten Dank. Als Unkrautvertilger im Dauereinsatz hätte ich sowieso nur Bruchstücke von der Begegnung sehen können.

Gerettet wurde der Tag erst durch einen Spielfilm im Spätprogramm, mit Jack Lemmon und Tony Curtis als zwei Musiküssen, die sich in der Unterwelt als unfreiwillige Augenzeugen eines Massakers unbeliebt gemacht hatten und dann in Frauenklamotten Zuflucht in einer weiblichen Big Band suchten. Da lachte sich selbst Papa schief.

Als ich aufs Klo mußte, rief Volker mir hinterher: »Kannst du mal für mich mitgehen?«

Hahaha.

Die Fliegenplage war noch ekelhafter als im Jahr davor. Wenn die Biester wenigstens so schlau gewesen wären, durch die Ritzen wieder zu verschwinden, durch die sie reingekommen waren! Wegen der Gluthitze konnte man nicht alle Fenster Tag und Nacht verrammelt halten, und durch jedes offene Schlupfloch zwängten sich die scheißdämlichen Fliegen ins Haus. Und wenn sie erst einmal drin waren, wollten sie nicht wieder raus, auch wenn man sämtliche Fenster weit aufriß und das Geschmeiß auf die offenstehenden Notausgänge zuzutreiben versuchte. Die emsländischen Fliegen versteckten sich lieber in den Gardinenfalten, und am frühen Morgen tanzten sie einem dann auf der Nase herum, so wie die Maikäfer im Bett von Onkel Fritz.

In meinem Zimmer hatte ich das Rollo dreiviertel runter, aber trotzdem kam ich mir wie in einer Sauna mit Schwitzpackung vor. Als ich einmal was vom Speicherboden holen wollte, wäre ich fast erstickt, und ich troff vor Schweiß, obwohl ich nur eine Minute da oben verbracht hatte.

Schwitz, ächz, stöhn, keuch, schnoif.

Gesucht hatte ich ein altes Kinderbuch, und ich war auch fündig geworden. »Schweinchen-Schlachten, Würstchen-Machen, Quiek-Quiek-Quiek« hieß dieses Elaborat. Ich wollte wissen, ob das wirklich so bestialisch war, wie ich’s in Erinnerung hatte, aber es war sogar noch bestialischer, mit Zeichnungen von heulenden Säuglingen und Lämmchen und einem mit den Haaren an einem Ast hängengebliebenen Mädchen:

Dort hängt das Kindchen und zappelt noch!

Ist denn das Kindchen gestorben?

Nein! Es zappelt ja noch!

Und dann das Bild von den gierigen alten Weibern, die sich ihre Klöße schmecken lassen, und ein hungriges Kleinkind darf zukucken.

Palästinensische Terroristen hatten einen französischen Airbus mit mehr als 250 Passagieren nach Uganda entführt. Dem Klang des Namens nach war das ein Land von Kannibalen, irgendwo in dem Urwald, wo Donald Duck und Onkel Dagobert nach den grünen Steinen der Gapas-Gapas gesucht hatten.

Mama kochte Bohnen ein und schimpfte über die Stoffel von Ceka, die zum zweitenmal hintereinander die verkehrten Fotos von dem Konfirmationsfilm abgezogen hatten. Dafür mußte sie jetzt nicht mehr lange auf den Polo warten. Nur noch zwei Tage, nach Auskunft von Kamps.

Papa pflanzte Grünkohl. Irgendwann wollte er sich eine Pumpe zulegen und einen Brunnen bohren lassen. Dann müßten wir nicht mehr so viel Geld für die Bewässerung des Gartens ausgeben.

Mein eigenes Geld hatte mit Müh und Not für den Spiegel und den Kicker gereicht und für die neueste Ausgabe von Sport Niedersachsen sowie für die nächsten vier davon. Die hatte ich bei Meyer im voraus bezahlt, damit sie für mich zurückgelegt wurden. In Koblenz, das ahnte ich, würde ich mir vergeblich die Hacken danach wundrennen, und in meiner Sammlung sollte keine Lücke klaffen.

In der Spiegel-Titelgeschichte ging es um den Aufstand der Schwarzen in Südafrika. Die vier Millionen weißen Südafrikaner würden durchschnittlich achtzehnmal soviel wie die 21 Millionen Farbigen verdienen und drei Viertel des Volkseinkommens unter sich aufteilen, und bei den Protestdemonstrationen in Soweto hätten Polizisten einfach in die Menge geschossen, auch auf Kinder. Ein Blutbad, abgesegnet von Präsident Vorster.

Ich war am Packen. Fußballschuhe, Fußball, Fußballuftpumpe, Bücher, Schreibmaschine, Strümpfe, Hemden, Unterbuxen und zwei Jeans, zum Wechseln. Und was sonst noch?

Feuer, Pfeife, Stanwell.

»Grundgütiger!« rief Mama. »Du willst doch wohl nicht diesen Trumm von Schreibmaschine mitnehmen? Wenn du in Vallendar was zu tippen hast, dann kannst du mich auch höflich darum bitten, ob du meine haben darfst, vorausgesetzt, du haust die nicht in Dutt. Und vergiß deine Zahnbürste nicht!«

Bessere Laune kriegte Mama erst abends bei einem Film, in dem eine scheinbar harmlose Rentnerin auf raffinierte Weise eine Bank aufs Kreuz legte. Da rieb Mama sich die Hände und schenkte sich und Papa noch einen Sherry ein.

Abfahren mußten wir schon morgens um sechs. Papa hatte sich für elf Uhr mit unserem neuen Mieter in Vallendar verabredet, aber wir kamen erst um kurz vor halb sieben los, weil der Peugeot nicht anspringen wollte, und dann hätten wir noch fast Papas Koffer in der Einfahrt stehengelassen. Wir waren schon in der Kurve zur Umgehungsstraße, als ich im Rückspiegel Mama angerannt kommen und gestikulieren sah.

Das fing ja prima an.

Mama wollte mit Wiebke im Polo nachkommen und unser Bruchpilot Volker per Bahn und Moped.

Bis Münster ging’s noch mit der Temperatur, aber dann wurde man im Auto fast malle vor Hitze, und erst recht im Stau auf der Autobahn.

Wenn das so weitergehe, kriege er bald ’n Dahlschlag, sagte Papa.

Ich blätterte im »Shell-Atlas«. Das Pannenhilfe-ABC. Schlüssel abgebrochen?

Laubsägeblatt mit der Zähnung einführen und gegen die Zähnung herausziehen, evtl. mit Graphit, Öl oder Magnet unterstützen.

Den Autofahrer hätte ich sehen wollen, dem dieser Tip irgendwas genützt hätte. Wer fuhr denn mit Laubsägeblättern im Handschuhfach los? Beim Abschleppen sollten Strumpfhosen von Nutzen sein:

Wußten Sie, daß ein Nylonstrumpf gut und gerne ein Abschleppseil ersetzt?

Nein, das hatte ich nicht gewußt. Und was war mit langen Männerunterhosen? Ob man auch damit Autos abschleppen konnte?

Vor uns kroch ein Renault mit dem Stadtkennzeichen UFF herum, und Papa wollte wissen, wofür das stand. Laut »Shell-Atlas« stammte der Wagen aus 8704 Uffenheim.

Ich lauerte auf andere auffällige Autokennzeichen, aber es kamen keine mehr, weder S-EX noch KO-TZ noch KA-CK. Das Lustige an den Kennzeichen mußte man sich selbst ausdenken, wenn man die Bedeutung nicht schon kannte. BA (Bamberg): Blutiger Anfänger. BB (Böblingen): Blinder Bauer. BS (Braunschweig): Besengte Sau. KG (Bad Kissingen): Kein Gehirn.

Am witzigsten waren die mir bekannten Auflösungen der dreibuchstabigen Stadtkennzeichen. FFB (Fürstenfeldbruck): Fahrer fährt besoffen. SHA (Schwäbisch Hall): So hasten Arschlöcher. VIE (Viersen): Vollidiot im Einsatz. WUN (Wunsiedel): Wildsau unter Naturschutz.

Und wir selber? MEP: Muß eilig Pipi. Oder: Möchte Europa plattwalzen.

Ein Mercedes aus Jever überholte uns. JEV: Jeder ein Verrückter.

Es war schön, auch mal vorne sitzen zu dürfen, mit freiem Blick auf Täler und Höhen oder im nächsten Stau auf die Kinder, die sich in dem Wagen vor uns zu viert oder zu fünft auf der Rückbank zusammenquetschten und stritten.

Einmal mußte Papa bei 137 km/h einen Schlenker über die Standspur machen, um den sterblichen Überresten eines Igels auszuweichen.

Ich nahm mir die neuen Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma vor. Da ging’s zuerst dem Vogel der widerwärtigen Tante Frieda an den Kragen, mit Zündpulver, und dann kam eine schöne indische Kusine zu Besuch, die Cora hieß. Der starke und zugleich schüchterne Bierbrauer Franz verliebte sich in Cora, ohne bei ihr landen zu können, weil er eben nur ein Bierbrauer war, aber vor ihrer Abreise lief sie ihm auf dem Bahnsteig entgegen, um einen Strauß Blumen in Empfang zu nehmen.

Sie hat die Blumen genommen, und sie hat gesagt, es freut sie, und sie hat ihm die Hand fest geschüttelt und hat gesagt, leben Sie wohl und behalten Sie mich in einem guten Andenken. Dann ist sie weg, und der Franz hat nichts sagen gekonnt und hat sich geschwind umgedreht, daß man nicht sieht, daß er weint.

Und die schöne Cora fuhr zurück nach Indien. An ihrer Stelle hätte ich den Bierbrauer erhört und wäre dageblieben.

Irgendwo hinter Remscheid war Papa falsch abgebogen und wollte zurück, aber zwischen unserer Fahrspur und der Gegenfahrspur verlief eine niedrige Mauer, die überhaupt nicht mehr aufhörte, kilometerlang. Man dachte immer, nach der nächsten Kurve wäre Schluß damit, aber die Mauer wollte einfach kein Ende nehmen, und rechts abbiegen und wenden konnte man auch nicht.

»Was ist denn das für ’ne bekloppte Scheiße«, sagte Papa, und ich kriegte einen Lachkrampf, von dem sich auch Papa anstecken ließ, umso doller, je länger wir in die falsche Richtung fahren mußten.

Gut, daß Mama nicht dabei war. Von Papas Zigaretten fielen haufenweise Krümel auf den Boden, und der Aschenbecher quoll über.

Auf dem Mallendarer Berg lief ich zu Gerlachs, aber die waren gerade am Essen, und am Nachmittag hatte Michael keine Zeit, weil er so viele Hausaufgaben aufhatte. »Kennste ja, die alte Leier«, sagte er, und Holger zeigte mir durchs Küchenfenster einen Vogel.

In unserem alten Haus wohnten wir nur provisorisch. Tische, Stühle und Matratzen: alles Leihgaben von Rautenbergs, unseren ehemaligen Nachbarn, die wir dann auch noch peu à peu um Filtertüten, Tesafilm, Baldrian, Pflaster, Klopapier und eine Nagelschere und ein Teesieb anzubetteln hatten.

Renate war nach Bonn entschwunden, um da irgendwas Dringendes zu erledigen. Immer auf der Flucht vor der Gartenarbeit: So hätte ich’s auch gemacht, wenn ich gekonnt hätte.

Auf dem Fußballplatz fand ich keinen einzigen meiner alten Vereinskameraden wieder. Da rannten irgendwelche alten Herren um die Wette, mit schwappendem Bierbauch, und ein mir persönlich unbekannter Platzwart wies mich darauf hin, daß die Bolzerei von dreizehn Uhr bis fünfzehn Uhr dreißig zu unterbleiben habe, wegen der Mittagsruhe.

Dreckig und verschwitzt kam Volker abends an und moserte über die Victoria und deren Dreitaktgemisch. Die pesere wie sonstwas. Mit einer einzigen Pferdestärke den Wilgeshohl hoch, bei 24 % Gefälle, das habe die alte Kanne fast umgebracht, sagte Volker auf dem Weg in die obere Badewanne, die er aus Gewohnheit benutzte, obwohl die untere im Erdgeschoß länger war und Volkers Extremitäten mehr Raum zur Entfaltung geboten hätte.

Der Polo, in dem Mama vorfuhr, hatte das Kennzeichen MEP-IS 77. IS wie Ingeborg Schlosser. Das hatte Mama der Zulassungsstelle abgetrotzt.

Ewig und drei Tage lang hätten sie und Wiebke da noch warten müssen, sagte Mama. Mitgebracht hatte Mama die neue Zeit, und in der stand mein Beitrag drin! Stark gekürzt, und einen Satz hatte ich irgendwie anders formuliert, aber was soll’s? »Martin Schlosser, 14 Jahre«, stand untendrunter.

Jetzt war ich also ein freier Mitarbeiter der Zeit. Sieh mal kucke.

Als nächstes sollte man in der Rubrik die Frage beantworten, ob Zensuren im Sportunterricht heute noch sinnvoll seien. Ich pflanzte mich vor Mamas Schreibmaschine. Schüler mit guten Sportnoten, schrieb ich, würden diese Frage sicherlich bejahen, während Schüler mit schlechten Sportnoten wahrscheinlich anderer Meinung wären. Zweckmäßig wäre ein Kompromiß: Sport sollte Wahlfach werden. Den Uninteressierten könne man ja ein Ersatzfach anbieten.

Und ab dafür. Briefmarke druff und hinein in den Briefkasten. Die sollten mich noch kennenlernen. Das war erst der Anfang!

In der Zeit wurde Helmut Kohl mit den Worten zitiert: »Wir wollen den Sozialismus bekämpfen, zu Lande, zu Wasser und in der Luft!« Das erinnerte mich irgendwie an Tschitti-tschitti-bäng-bäng, das fliegende Wunderauto von Karaktakus Pott, und auch an Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt. Und an Goofy als Supergoof. Komische Vorstellung, wie der dicke Helmut Kohl den Sozialismus in der Luft bekämpfte, mit wehender Pelerine …

»Große Klappe, nix dahinter«, sagte Mama, die von Helmut Kohl nichts hielt, und dann wechselte sie das Thema: Wenn die Sonne weiter so knalle wie jetzt, dann dürften unsere Kohlpflänzchen und Tomaten und Erbsen in Meppen am Ende der Sommerferien wohl verdorrt sein.

Volker demonstrierte mir mal wieder, wie man Filtertüten kniffen und sie vor dem Einfüllen des Kaffeepulvers in der Halterung der Kaffeemaschine glattstreichen müsse, aber das fand ich albern. Man hätte Volker mal zwei Kaffeetassen vorsetzen und ihn dann raten lassen sollen, welcher Kaffee aus ’ner geknifften Filtertüte gerieselt war und welcher aus ’ner ungeknifften. Um das herauszuschmecken, hätte Volker Geschmacksknospen im Matterhornformat besitzen müssen, und davon konnte ja wohl kaum die Rede sein nach siebzehn Jahren der Beköstigung mit Mahlzeiten auf der Grundlage von Rezepten aus Mamas speckigem Doktor-Oetker-Kochbuch.

Im Garten spielte Wiebke Federball mit Ute Rautenberg. Falls man dieses traurige Gestümper überhaupt als »Spielen« bezeichnen konnte. Wiebke haute sogar beim Aufschlag oft daneben. »Manno!« rief sie dann jedesmal und kicherte dümmlich, und auch Ute Rautenberg gickste und gackste sich was zusammen. Weiber!

Für eine Radtour mit Michael und Holger Gerlach lieh mir Olaf sein altes Fahrrad aus. Das hatte zwar nur 26er-Reifen, aber eine Dreigangschaltung, und ich freute mich schon auf die abschüssige Piste hinter Simmern. Um uns in den Haarnadelkurven nicht gegenseitig zu behindern, starteten wir von oben mit einem zeitlichen Abstand von jeweils zwanzig Sekunden. Erst Holger, dann Michael und dann ich. Wer wohl als erster im Talkessel ankommen würde?

Obwohl ich als Letzter losfuhr, hatte ich gute Chancen, das Rennen zu gewinnen, wegen der Dreigangschaltung, dachte ich, aber als ich im dritten Gang auf Touren gekommen war, driftete das Rad nach rechts, auf den Straßengraben zu, von ganz alleine, und mit einemmal rasselte ich rein und schlug hart auf und ging über den Lenker koppheister. Pardauz!

Die fette Laubschicht hatte meinen Sturz abgefedert. Arme, Beine, Kopf: Es war noch alles dran. Nur der Rücken tat mir weh.

»Lebst du noch?« hörte ich von ferne Michael rufen.

Als ich aufstand, sah ich die Bescherung: Der Vorderreifen war im Arsch. Total verbeult. Und das bei einem geliehenen Rad! Da würde Papa sich mal wieder schön das Maul zerreißen.

Michael, der mein Mißgeschick mitgekriegt hatte, schob sein eigenes Rad die Straße wieder hoch und gratulierte mir zu meinem Wahnsinnsglück. »Stell dir mal vor, deine Wirbelsäule würde jetzt so aussehen wie diese Radfelge!«

Am Unfallort blieben wir sitzen, um auf Holger zu warten. Der mußte ja eines Tages begreifen, daß irgendwas faul war, wenn er da unten im Tal vergeblich auf uns wartete. Michael hätte runterfahren und Holger alles erzählen können, aber dann hätten sie ja beide ihre Räder wieder nach oben schieben gemußt.

Es dauerte fast eine Stunde, bis die Waldesstille von dem Schnaufen unterbrochen wurde, das Holger beim Radhochschieben ausstieß, und dann sahen wir ihn auch. Mit seiner leuchtend orangen Trainingsjacke hob er sich vom Blättergün farblich gut ab.

»Wetten, daß der sauer ist?« sagte Michael.

Sauer war gar kein Ausdruck. Wie ein Idiot habe er sich da unten die Beine in den Bauch gestanden, schimpfte Holger, und bei der Rekonstruktion des Unfallhergangs ließ er den Faktor der Altersschwäche des Fahrrads nicht gelten. »Wie kann man nur so blöd sein, sich dermaßen auf die Fresse zu legen!«

Auf dem Nachhauseweg schulterten Michael und ich das Fahrradwrack, und Holger schob die beiden heilen Räder. Eins links, eins rechts.

»Dir sollte man wirklich verbieten, überhaupt noch am Straßenverkehr teilzunehmen«, sagte Papa, und Mama redete mir wegen Olafs Eltern ins Gewissen: »Wie stehen wir denn nun da? Wir borgen uns ein Rad von denen aus und geben’s ihnen nach Benutzung dann als Schrotthaufen zurück, mit schönen Grüßen von Familie Schlosser?«

Ich konnt’s ja nun auch nicht ändern. Mama und Papa hätten mal lieber froh sein sollen, daß ich mir bei meiner Rolle vorwärts nicht das Genick gebrochen hatte, fand ich, aber Mama sabbelte nur davon, daß mir die Reparaturkosten vom Taschengeld abgezogen werden müßten und daß ein Wort der Entschuldigung angebracht sei. Gekämmt und mit gewaschenen Pfoten wurde ich in die Schubertstraße geschickt, wo ich Olafs telefonisch vorgewarnte Eltern für das Malheur persönlich um Verzeihung bitten und ihnen einen Tulpenstrunz aus unserem Garten überreichen sollte.

Um die Ecke von der Schubertstraße wohnte der Ventilmops, der mir früher immer die Fahrradventile rausgedreht und mich auf dem Pausenhof oder im Schulbus verwämst hatte. Es war nicht mein Herzenswunsch, mit Blumen in der Hand das Ventilmopsrevier zu durchqueren, aber mir blieb keine Wahl.

Die Türglocke bei Blums machte nicht »Klingeling« wie unsere Klingel in Meppen oder »Ding-dong« wie die in der Theodor-Heuss-Straße, sondern »Bing-bong-bung-böng«, so wie die Glocke von Big Ben.

Olafs Vater, der mir öffnete, hatte kurze Hosen an und Badeschlappen. »Et hett noch immer jootjejange«, sagte er und überreichte mir im Tausch für den Blumenstrauß eine Tafel Milka-Schokolade, womit die Sache aus der Sicht von Olafs Vater offensichtlich erledigt war, denn er winkte mir nur kurz zum Abschied und machte die Tür wieder zu.

Donnerlüttchen. Bei einem so gleichmütigen und spendablen Vater aufzuwachsen, und das noch als Einzelkind, so wie Olaf, das hätte mir zugesagt.

Beim Nachhausegehen ließ ich mir Zeit, damit Wiebke nicht neidisch auf die Reste meiner Schokoladentafel werden konnte.

Aus dem Heizungskessel hatte Papa anderthalb Eimer Ruß und Asche zu Tage gefördert. Auch der Heizölfilter, sagte Papa, sei total verdreckt, obwohl die Firma Gerstacker vertragsgemäß dazu verpflichtet gewesen wäre, die Anlage zweimal jährlich zu warten. Und der eine Heizkörper im Wohnzimmer sei immer noch undicht, ein geschlagenes Jahr nach der Beanstandung des Schadens. »Da fehlt nicht mehr viel, und das rostet durch.« Aber statt sich hier nützlich zu machen, hätten die Stiesel sich im Vertragszeitraum nur ein einziges Mal blicken lassen und dabei eine Badewannenkachel zerdroschen.

Noch schlechter als auf alle Handwerker war Papa auf die Amerikaner zu sprechen, die er bei seinen Dienstreisen kennengelernt hatte. In den USA würden nur Großschnauzen nach oben kommen, und am Feierabend söffen sie gemeinsam Cocktails und versicherten sich gegenseitig ihrer Unentbehrlichkeit. »Happy Hour« heiße das bei denen.

Ein komisches Völkchen, die Amis. Um sich zum zweihundertsten Geburtstag ihrer Nation was zu gönnen, hatten sie die Todesstrafe wieder eingeführt. Mama sagte, daß es keinem Menschen zustehe, darüber zu entscheiden, ob ein anderer Mensch weiterleben dürfe oder nicht. »Einfach zu sagen, der muß jetzt sterben, und dann wird er einen Kopf kürzer gemacht, das ist doch barbarisch!« Ganz egal, was der verbrochen haben möge. »Davon, daß ein Mörder hingerichtet wird, steht niemand von den Toten wieder auf!« Das sollten sich die Amerikaner mal hinter die Ohren schreiben.

Stars and Stripes. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Amerika, sagte Volker, sei das Land der begrenzten Unmöglichkeiten, aber den Witz hatte ich schon gekannt.

Amis raus aus USA – Winnetou ist wieder da.

Volker fraß abends Schnitten mit Butter und Salz. Von alleine wäre ich nie darauf gekommen, gesalzene Butterbrote zu essen, aber die schmeckten gar nicht so schlecht. Mama war damit einverstanden, daß wir uns jeder sein eigenes Abendbrot schmierten, und ich experimentierte ein Weile rum. Geschlagenes Ei mit Zucker, gepfefferte Radieschen und danach drei Scheiben Honigbrot und ein halber Liter Kaba, das war die bekömmlichste Mischung. Wenn ich mich ranhielt, brauchte ich für die Zubereitung dieses Drei-Gänge-Menüs nur elf Minuten und fürs Aufessen nur fünf bis sechs.

Spätestens um zwanzig Uhr lag ich dann vollgefressen oben in Renates altem Zimmer und hörte mir die Nachrichten an.

In Entebbe hatten israelische Geheimdienstleute den entführten Airbus gekapert und die Geiseln befreit, bis auf den letzten Mann, und aus einem Berliner Gefängnis waren vier Terroristinnen ausgebrochen. An zusammengeknoteten Bettlaken hatten die sich abgeseilt, wie in einem Krimi. Inge Viett, Monika Berberich, Juliane Plambeck und Gabriele Rollnick. Wo die sich jetzt wohl versteckt hielten mit ihren Gangsternamen im Personalausweis? Die hörten sich schon so verdächtig an: Rollnick, Plambeck, Berberich, Viett. Nicht ganz so schlimm wie Baader und Meinhof, aber doch übler als Kater Karlo.

Zu Höherem berufen war man, wenn man so hieß wie der amtierende französische Staatspräsident: Valéry Giscard d’Estaing. Der weilte gerade zu »Konsultationen« in Hamburg.

Renate mußte in Bielefeld Klausuren nachholen und in Meppen Fahrstunden. Als Olaf bei uns ankam, um noch welche von Renates Sachen einzusammeln, wollte Mama von ihm wissen, wie er sich das denke mit dem Studium und der ganzen Wohnerei in Bonn in wilder Ehe mit Renate und so weiter und was seine eigenen Eltern eigentlich dazu sagen würden.

»Das hab ich mich auch schon oft gefragt«, sagte Olaf, und er machte schnell wieder die Biege.

Auf Geheiß von Michaels Bruder Harald setzten er und seine Freundin Martina sowie Volker, Michael, Holger und ich uns abends in der Gutenbergstraße in einer Kneipe namens Bürgerstube zusammen. Michael und ich bestellten uns jeder eine Cola, und die anderen soffen Bier.

Außer ein paar Zauseln an der Theke waren wir die einzigen Gäste. Über unseren Getränkeverbrauch führte der dicke Wirt eine Strichliste. In einer Saufkneipe hatte ich vorher noch nie gesessen und mich bewirten lassen. Für eine zweite Cola hätte mein restliches Geld noch gelangt.

Aus der Musikbox meldete sich dieser Schönling aus Prag, wie hieß er noch? Der mit diesem unverschämten Namen? Karel Gott.

Herz, Schmerz

und dies und das,

ach, das ist uralt …

Haralds Freundin war schon fast 19, hatte lange blonde Haare und stammte aus Arzheim. Geredet wurde hauptsächlich über Lehrer vom Max-von-Laue-Gymnasium, die ich nicht kannte, aber einmal auch kurz über eklige alte Kindersprüche. Den ekligsten von allen steuerte Michael bei: »Ätschibätschi, Zuckerlätschi!« Das hätten er und seine Freunde im ersten Schuljahr ausgerufen.

Dann debattierten die anderen wieder übers Max von Laue, und ich hatte allmählich genug von der Bürgerstube.

Ein Heizungsmensch, den Papa von einer anderen Firma hatte kommen lassen, fand heraus, daß die Umwälzpumpe auch bei abgestellter Heizungsanlage im Sommerbetrieb unnötigerweise mitlief. Dieser Fehler bestand schon seit der Installation der Anlage durch die Firma Gerstacker. Den Wartungsvertrag wollte Papa kündigen.

Immer, wenn mein Typ im Garten nicht gefragt war, lag ich in Renates altem Zimmer auf der Matratze und hörte Radio.

So hop on, the world is swinging,

Don’t sit and twiddle your thumbs,

Get up and meet those pretty girls, girls, girls …

Schmissig war das, aber ich konnte trotzdem ganz beruhigt liegenbleiben. Auf dem Mallendarer Berg trieben sich solche Girls nicht herum. Und wenn sie’s doch getan hätten, dann wäre ich bei ihnen abgeblitzt. Ich hatte es ja nicht einmal geschafft, als Grundschüler beim Klassenausflug Roswitha Schricker anzusprechen oder später in der Badeanstalt meine Jugendliebe Piroschka, obwohl die mir goldene Brücken gebaut hatte. Für einen Versager wie mich war es das Klügste, keinen Fuß mehr vor die Tür zu setzen, sondern zuhausezubleiben und Radio zu hören.

Il avait un joli nom, mon guide,

Nathalie …

Gilbert Bécaud. Der hörte sich entschieden besser an als Peter Alexander mit seinem Gesäusel von der kleinen Kneipe, wo das Leben noch lebenswert sei.

Papa reparierte die Spülmaschine. Wenn die wieder lief, sollte die Tapete in meinem alten Kinderzimmer einen neuen Anstrich verpaßt kriegen, und danach war die Garage an der Reihe.

Von den Kohlrabistiften spuckte Papa mittags fast die Hälfte wieder aus. Für Volker, Wiebke und mich brachte das den Vorteil mit sich, daß auch wir das Zeug nicht alles aufzuessen brauchten. Mir war schon vom Geruch der Appetit vergangen. Klopse und Kartoffeln, okay, aber Kohlrabi? Und dann noch so holziger?

Gerlachs hatten Bohneneintopf gegessen. Danach müffelte es bei denen im ganzen Haus. Michael und ich gingen in den Keller runter, Tischtennis spielen, wobei wir uns blaue Flecken holten, weil die Tischtennisplatte fast so groß war wie die Grundfläche des Kellerzimmers, in dem außerdem noch allerhand Gerümpel rumstand.

Wenn man die Netzkante getroffen hatte, so daß der Ball davon auf die gegnerische Hälfte abtropfte, mußte man »Sorry« sagen.

Von den fünf Tischtennisbällen war nach einer Stunde bloß noch einer heile, und der verkeilte sich nach einem Zickzacksprung von der Platte über die Zimmerdecke hinter einer alten Waschmaschine, die wir auch mit vereinten Kräften keinen Millimeter von der Stelle bewegen konnten.

Michael mußte dann sowieso noch seine Hausaufgaben machen. Mathe, Bio, Englisch und Physik.

Zuhause schmierte ich mir Brote und hörte Nachrichten. In Italien war eine Chemiefabrik explodiert und in Berlin der Justizsenator zurückgetreten. Hermann Oxfort. Gustav würde sich an dessen Namen und an das Datum des Rücktritts bestimmt noch in fünfzig Jahren erinnern. Ich wollte mir jetzt auch möglichst viele Namen merken, für immer, aber leichter als bei den Namen von Politikern aus dem zweiten oder dritten Glied fiel mir das bei den Namen von Markenartikeln wie Sexanorma, Sanursex, Repursan, Duscholux oder Libido-6. Die prägten sich mir von ganz alleine ein, ob ich das wollte oder nicht.

Mein Typ werde verlangt, rief Volker hoch, als es geklingelt hatte, und dann zählte mir der Postbote vor der Haustür 25 Mark in die Hand. Ich staunte das Bargeld an. Ein grüner Lappen und ein Heiermann! Womit hatte ich das verdient?

Das sei das Honorar für den Quatsch, den ich in der Zeitung abgesondert hätte, sagte Volker, und da begriff ich erst, was los war: Ich hatte mir diese 25 Mark mit meinem Beitrag für die »Zeit-Lupe« erwirtschaftet! Daß es auch noch Geld gab für die Glücklichen, die ihren Sermon in der Zeit in Druckerschwärze wiederfanden, hatte ich nicht gewußt. Und nun war ich auf einmal der stolze Besitzer von 25 selbstverdienten Eiern.

»Wenn du vernünftig bist«, sagte Papa, »dann legst du dir ein Sparbuch an und zahlst dein Kapital als Grundstock ein, statt alles gleich wieder zu verjuxen.«

Genau das wollte ich aber. Nach dem Mittagessen fuhr ich mit dem Bus nach Koblenz, um alles auf den Kopp zu hauen, aber das war leichter gesagt als getan, denn wohin mit dem Schotter? Ich kaufte mir ein Eis und latschte die Löhrstraße lang. Da redeten die Kowwelenzer, wie ihnen der Schnabel gewachsen war.

»Willst dau hej anwaggse?«

»Mir donn die Fööß wieh …«

»Ma haddet nit leischt, awwer leischt haddet eine.«

»Isch hannen Stein im Schoh.«

»Ett gitt Leut!«

»Isch kann nimmie. Hull dau doch emo dä Kinnerware!«

»Dat könnte dir so passe.«

»Asu demm is mit dä geseschnede Kärz nit ze helwe …«

Von einem Grabbeltisch im Kaufhof fischte ich mir ein preislich stark herabgesetztes Buch über Adolf Eichmann, und dann fuhr ich zurück.

Adolf Eichmann hatte im Dritten Reich die Deportation der Juden in die Vernichtungslager organisiert und war 1960 in Argentinien von den Israelis entführt, in Jerusalem vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Vorne in dem Buch war ein Foto von Eichmann zu sehen, einmal im Original und zweimal senkrecht halbiert und gespiegelt. Mit der verdoppelten linken Gesichtshälfte sah Eichmann aus wie ein gramzerfressener Uropa und mit der verdoppelten rechten wie ein kerngesunder Olympionike. Mit diesen kraß verschiedenen Ausdrücken in einem und demselben Gesicht war Eichmann herumgelaufen, bis ihn die Israelis geschnappt hatten.

Im Badezimmerspiegel sah ich mir mein eigenes Gesicht an und hielt die Hand mal vor die linke und mal vor die rechte Hälfte, aber große Unterschiede konnte ich dabei nicht feststellen. Links ’n Milchbubi, rechts ’n Milchbubi. Und von Bartwuchs keine Spur. Beim Albers und beim Bohnekamp sproß immerhin schon dürrer Oberlippenflaum, und Volker, der mir ja auch nur knapp drei Jahre voraus war, hatte sein Radiergummibärtchen bereits als Konfirmand gepflegt.

Die neueste Frage in der Rubrik »Zeit-Lupe« lautete: »Ist die Universität zu wenig praxisorientiert?« Ich hätte gern darauf geantwortet, um mir weitere 25 Mark zu verdienen, aber leider war die Frage dafür zu wenig an meiner persönlichen Praxis als Schüler orientiert.

Papa pflasterte den Gartenweg rechts vom Haus mit Steinplatten. Das hätte eigentlich ein Handwerker machen sollen, der jedoch nicht erschienen war.

Den Abendbrotstisch deckte Mama draußen auf der Terrasse. Wiebke biß aus Neugier von einer Schnitte mit Zungenwurst ab und rannte dann mit vor den Mund gehaltener Hand zum Klo, eben noch rechtzeitig, bevor Papa sich auf seinem Chefstuhl niederließ.

Das wäre noch die Frage, sagte Papa, ob wir’s jemals wieder irgendwo so schön hätten wie hier. »Verglichen mit diesem Garten ist der in Meppen ein einziges Tohuwabohu.«

Von mir aus hätten wir ja gern sofort wieder nach Vallendar zurückziehen können, aber Mama brachte das Gespräch auf die Finanzen, und dann drehte es sich bald um Oma Schlosser und das Problem ihrer künftigen Unterbringung. Ganz allein würde sich Oma Schlosser nicht mehr lange behelfen können. Welche Herbergseltern da in Frage kämen: Rudi und Hilde? Ausgeschlossen. Gertrud und Edgar? Die hätten genug mit ihrer Baustelle in Sennestadt zu tun. Tante Doro könne man das auch nicht zumuten, Onkel Walter wohne selber nur zur Miete, und mit Onkel Dietrichs Ehegespons stehe Oma Schlosser auf Kriegsfuß.

»Am besten wär’s, meine Mutter würde sich ’ne kleine Wohnung in Meppen nehmen, in Fußweite von uns«, sagte Papa, und nur wenig später ging schon wieder alles um das liebe Geld.

»Tante Hanna schulden wir ja auch noch so einiges«, sagte Mama, und da fuhr ihr Papa über den Mund: Solche Themen müßten ja nun nicht in Gegenwart der Kinder aufs Tapet gebracht werden.

»Ihr habt’s gehört«, rief Mama. »Händewaschen, Zähneputzen! Aber wie der Blitz!«

Wenn man dann nicht gleich parierte, kriegte man Saures. »Wird’s bald, Freundchen?«

Die Information, daß zwei Handwerker die Garage verputzen sollten, verstand Wiebke so, daß die die Garage aufessen müßten. Weiß der Henker, was da los war in Wiebkes unterentwickeltem Kleinmädchengehirn.

Beim Mittagessen hatten wir am nächsten Tag Herrn Lohmann zu Gast, der mit Kennermiene die Beete musterte und dann von Mama mit dem Polo nach Koblenz zum Bahnhof gefahren wurde, und da krachte ihr beim Einparken ein Mercedes rein.

Eine ältere und ziemlich zitterige Frau habe in dem Mercedes am Steuer gesessen, sagte Mama. Die habe ihren Wagen zurückgesetzt, ohne nach hinten zu kucken, und der Lohmann sei der sofort aufs Dach gestiegen: »Halten Sie den Mund, Sie freche Gans! Die Dame hier ist im Recht!«

Der Polo hatte an der Motorhaube eine Delle, und der Lohmann hatte die Mercedesfahrerin an Ort und Stelle dazu herbeigekriegt, einen Wisch zu unterschreiben, in dem sie sich zur Bezahlung sämtlicher Werkstattkosten verpflichtete.

Olaf bot mir für zehn Mark eine LP von Insterburg & Co. an, »Musikalisches Gerümpel«, und die kaufte ich ihm ab. Mit Michael und Holger unterhielt ich mich über die Gefahren, die einem blühen könnten, wenn man sich beim Arzt irgendwann mal ganz nackt ausziehen müsse. Wenn man dann zufällig ’ne Latte hätte, und es käme eine Sprechstundenhilfe rein. Da würde man doch bestimmt sterben vor Scham. Todesursache: Gehirnschlag. Oder Herzinfarkt.

Gerlachs planten, in den Sommerferien nach Österreich zu fahren. Deren Ferien hatten noch gar nicht angefangen, während meine sich schon wieder ihrem Ende zuneigten, und womit sollte ich mir bis dahin die Zeit vertreiben?

Mein erster und einziger Versuch, den Olympischen Spielen am Radio irgendwas abzugewinnen, schlug fehl. Das Eintausend-Meter-Zeitfahren der Radsportler dauerte nur gut eine Minute, und dann gab es Gold für Dänemark, Silber für Australien und Bronze für die DDR. Als Viertplazierte hatten wir das Nachsehen.

Die Nachricht, daß eine Weltraumsonde der Amis auf dem Mars gelandet sei, ging mir erst recht am Arsch vorbei.

Gut war bloß, daß die Polizei die ausgebrochene Terroristin Monika Berberich wieder einkassiert hatte.

Dem Menschen, der unser Haus käuflich erwerben wollte, zeigte Papa alle Räume, vom Keller bis zum Dachgeschoß. Vorher hatte Mama mich oben von der Matratze gescheucht und mit spitzen Fingern eine schwarze Bananenschale unter der Heizung hervorgezogen und zum Kompost getragen.

Abends kam Renate wieder. Am Vormittag hatte sie noch ’ne Klausur geschrieben und in der Zwischenzeit auch die theoretische Führerscheinprüfung bestanden. Die praktische war wegen einer Erkrankung des Prüfers abgesagt worden.

Bei Gerlachs im Wohnzimmer kuckten Michael und ich uns im Fernsehen welche von den Kunststücken der rumänischen Turnerin Nadia Comaneci an. Drei Goldmedaillen hatte die schon abgestaubt und war gerade mal so alt wie wir, und jetzt machte sie Flickflack, halbnackt, auf dem Schwebebalken. Ganz, ganz früher hatte ich ja mal Anita attraktiv gefunden, die zusammen mit Roy Black im Fernsehen aufgetreten war, aber im Vergleich mit Nadia Comaneci schnitt Anita nicht gut ab.

Michael band ich es nicht auf die Nase, daß ich Nadia Comaneci gern mal im Mondschein begegnet wäre. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen: Nadia Schlosser, geborene Comaneci. Und die Verwandten dann alle total aus dem Häuschen: »Was ist los? Martin heiratet diese rumänische Olympiasiegerin? Das ist ja ’n Ding!«

Mit der hätte ich mich gut verstanden, aber wie zum Teufel hätte ich an die rankommen sollen?

Mama machte Fotos von Renate, die im Hobbykellerfensterschacht am Pinseln war, mit Kopftuch auf, und auf der Terrasse setzte Olaf einen Grill in Gang. Zur Feier von Olafs und Renates Abreise nach Frankreich sollten Steaks gefressen werden. Olaf und Renate hatten vor, zur französischen Atlantikküste zu fahren, mit Olafs neuem VW-Bus. Aber was hieß neu? Auch der neue war gebraucht. Baujahr 1966.

Von dieser Exkursion riet Papa Olaf und Renate ab, und als Olaf gegangen war, machte auch Mama ihre Bedenken dagegen geltend: Von dem gemeinsamen Urlaub solle Renate sich mal lieber keine zu romantischen Vorstellungen machen. Wenn man so lange aufeinanderhocke, zerstreite man sich irgendwann automatisch.

»Mit Olaf hab ich mich noch nie gestritten«, sagte Renate.

»Na, dann wart’s mal ab.«

Das seien ihm die Richtigen, sagte Papa: Politologie studieren und in den Semesterferien ohne einen selbstverdienten Pfennig in der Gegend herumzigeunern. Auf Renates Einwand, daß Olaf sich das Geld für den Urlaub als Zeitsoldat bei der Bundeswehr verdient habe, erwiderte Papa, daß vernünftige Menschen ihre Spargroschen eisern beisammenhielten, statt sie auf irgendwelchen Lustreisen durchzubringen. »Und dein komischer Olaf ist noch nicht mal immatrikuliert und hält sich schon für urlaubsreif!«

Die Wandverkleidung in der Küche wollte Papa komplett erneuern lassen und die Kosten dem Käufer in Rechnung stellen.

Zurück fuhr Papa über Hilden, um Oma Schlosser zu besuchen, und ich fuhr in Mamas Polo mit. Ein Kollege von Papa hatte sich dazu erbarmt, das blöde Moped in einem Auto-Anhänger zurück nach Meppen zu transportieren, und nun saß Volker vorne auf dem Beifahrersitz, und ich saß hinten neben Wiebke. Die wußte überhaupt nicht, wie gut sie’s hatte. Von einem Fensterplatz im Auto hätte ich in Wiebkes Alter nicht mal zu träumen gewagt.

Wir waren schon sonstwo, als Mama einfiel, daß sie vergessen hatte, den Zählerstand von Strom und Wasser aufzuschreiben, und sie machte an der nächsten Ampel kehrt.

»Was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben«, sagte Wiebke, aber Volker sagte: »Nein, im Benzintank!«

Ich selbst hatte von der Autofahrerei bereits nach drei Kilometern genug gehabt. Nach der Entfernungstabelle im Shell-Atlas waren’s von Koblenz bis Münster 252 Kilometer und bis Emden 475. Irgendwo dazwischen mußte Meppen liegen.

Weiß der Schinder, wie ich diese Reise überstand.

Zuhause lief ich sofort in mein Zimmer, um die Platte von Insterburg & Co. aufzulegen. Am schönsten spielten wie gewohnt Karl Dall und Peter Ehlebracht auf:

Ich saß bei Fräulein Hildegard auf ihrem Kanapee.

Sie aß einen Negerkuß, und ich aß ein Baiser.

Ihr linkes kleines Händchen, das lag auf meinem Knie,

doch eine Sofafeder kniff mich, daß ich schrie:

O Hildegard,

dein Sofa ist so hart,

da wird aus Liebesfreud,

das reinste Lie-bes-la-heit …

Hinten auf der Plattenhülle waren die benutzten Instrumente abgebildet, eins uriger als das andere. Selbstgebastelte zum Teil.

Ich suche mir ein Mädchen, das mir die Schuhe putzt,

und das mich zärtlich bettet und auch zu anderm nutzt …

Um Sex ging’s in den meisten Liedern, aber es gab auch eins über die trostlose Jugendzeit von Dall und Ehlebracht:

Ich denk’ an meine Jugendzeit, sie liegt so weit zurück.

Wie war sie voller Harmonie und voll von stillem Glück!

Wie schön war jeder Donnerstag, wenn Vater sich betrank …

Dann saß ich still mit meinem Teddybärn in Mutters Wäscheschrank.

Da konnte man sich schon beim ersten Hören aufs Wiederhören freuen. Eine bessere Truppe als Insterburg & Co. war mir noch nicht über den Weg gelaufen. Absolute Oberklasse war auch Ingo Insterburgs Lied über die Kaulquappen, die nicht sogleich Füße haben und irgendwann ihre Kiemen abgeben müssen:

Und dann verlieren sie ihr Schwänzelein.

Ich möchte nie eine Kaulquappe sein …

Die B-Seite fing mit einem »Vier-Parteien-Lied« an, in dem die Insterburger ihre politischen Präferenzen durchblicken ließen:

Die SPD, juchhee, juchhee, juchhee!

Die CDU, huhu, huhu, huhu …

Zum Schluß nahm Karl Dall Hans Albers auf die Schippe, als schluchzender Seemann beim Abschiednehmen am Hafen. Zum Bepissen! Und ein Jammer, daß ich das Michael und Holger Gerlach nicht vorspielen konnte. Bei uns hatte außer mir ja leider niemand Sinn für diese Art Humor.

Das Unkraut hatte sich inzwischen natürlich wie wild vermehrt, und ich hätte wohl kotzen können, als ich da gezwungenermaßen mit dem Schövel zu Werke ging.

In der Buchhandlung Meyer wußte kein Mensch irgendwas über den Verbleib der im voraus bezahlten und für mich reservierten Ausgaben von Sport Niedersachsen. Hä? Zurückgelegt? Für Schlosser? Nein, da sei nichts zurückgelegt worden. Das müsse ein Irrtum sein.

Die blonde Schnepfe, die mir das sagte, war neu bei Meyer, und ich konnte ihr nichts beweisen, weil ich die Quittung verbaselt hatte.

Den Plan, eine vollständige Sammlung von Sport Niedersachsen zusammenzutragen, gab ich auf, und die bereits gekauften Exemplare schmiß ich weg. Die hätten mich sonst bis ans Lebensende an die Unvollständigkeit meiner Sammlung erinnert.

Der 29. Juli war in Rheinland-Pfalz der erste Sommerferientag. Die hatten dann noch frei bis zum 8. September, die Schweine, während ich meine letzten Ferientage mit ’ner Nasennebenhöhlenentzündung verbringen durfte. Der HNO-Spezialist, zu dem Mama mich geschickt hatte, verschrieb mir Nasentropfen und Tabletten, die laut Packungszettel den Bronchialschleim verflüssigten, die Auswurfmenge erhöhten und das Abhusten gestauter Sekrete erleichterten. Da wurd’s einem ja fast schon vom Lesen übel.

Trotz Schniefnase und leichtem Fieber durfte ich mir abends einen Spielfilm über zwei Glücksspieler ankucken, die sich beim Zocken die Nächte um die Ohren schlugen und sich mit Callgirls herumtrieben.

Papa war zum Glück schon eingeschlafen, als am Ende des Films eine Szene kam, in der der eine der beiden Hauptdarsteller, Elliott Gould, eine Flöte mit seinem Pimmel festhielt. Regie geführt hatte Robert Altman.

Am Pokertisch alles auf eine Karte zu setzen, das wäre auch nicht nach Papas Geschmack gewesen. Der Anblick einer nachlässig ausgekratzten Nachtischpuddingschüssel genügte schon, um Papa wütend zu machen.

Komischerweise gefiel ihm dann am Samstag aber Peter Ustinov als fetter Kaiser Nero, der die Stadt Rom in Brand stecken ließ, um sich an diesem Schauspiel zu weiden. Da gnickerte Papa die ganze Zeit vor sich hin.

Als man am Ende des Films den über Kopf gekreuzigten Petrus sah, sagte Mama, daß es nun aber auch bald mal genug sei.

Nach einer Kollision auf dem Nürburgring war Volkers Idol Niki Lauda halbtot aus seinem brennenden Ferrari gezogen worden.

»Formel Eins«, sagte Mama, »wenn ich das schon höre! Wer sich in so ’ne Höllenmaschine setzt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er irgendwann hopsgeht!« Autorennfahrer waren in Mamas Augen so ziemlich das Letzte. Darunter rangierten bloß noch Zuhälter, Mörder und andere Asoziale. »Und was hat dieser Idiot nun von seinem Geschwindigkeitsrausch? Könnt ihr mir das mal erklären?«

Auf der Fahrt von Vallendar nach Meppen hatte Mama aber selber öfter als nötig auf das Gaspedal gedrückt.

Erst jetzt kam so nach und nach raus, welche Folgen die Explosion einer Chemiefabrik in Seveso bei Mailand zeitigte. Die ganze Gegend verseucht, mit Dioxin, das giftiger als Zyankali war. Notgeschlachtete Tiere, Kinder mit verätzter Haut, und die Behörden hatten abzuwiegeln versucht, statt den Leuten zu helfen.

Aus Dänemark schrieb Onkel Dietrich mir auf einer Postkarte, daß er bei einer ihm von seiner Frau verordneten »Hauruck-Schlankheitskur« innerhalb von drei Wochen sieben Kilo abgenommen und dabei auch einige Nerven gelassen habe.

Am letzten Sommerferientag kurvte ich mit dem Rad durch den Waldverschnitt bei der E-Stelle, obwohl ich wußte, daß es da genauso unbelebt war wie zuhause, aber ich wollte noch einmal raus, bevor das ganze Elend von neuem anfing.

Wiebke würde auf die Kardinal-von-Galen-Schule kommen, in die Orientierungsstufe, Volker zu den Maristen und ich auf meiner Penne in die Neunte. Was einem da wohl in Physik, Chemie und Mathe alles drohte. Die Karnickel hatten’s gut: Die konnten sich bei dem geringsten Anzeichen einer Gefahr in ihren Bauten verkriechen. Oder die Vögel, die nicht säten und nicht ernteten, und der himmlische Vater ernährte sie doch.

Neuntes Schuljahr, das hieß, daß ich vor dem Aufbruch in die Freiheit noch fünf Jahre totzuschlagen hatte.

Südafrika wurde von neuen Rassenunruhen erschüttert, und der Fernsehabend endete damit, daß sich John Wayne und Lee Marvin auf einer Insel im Südpazifik gegenseitig die Fresse polierten.

Morgens hätte ich mir fast in die Hose gepißt, weil Wiebke so lange auf dem oberen Lokus hockte, und beim Frühstück kriegte ich Krach mit Mama wegen einer Haarsträhne an meinem Hinterkopf, die sich aber auch mit Gewalt nicht runterbürsten ließ.

Ins Klassenzimmer, das das alte war, kam ich zu spät, um mir einen Stuhl neben Hermann sichern zu können. Den einzigen noch freien Platz fand ich am oberen rechten Ende der in U-Form aufgestellten Tische vor, neben einem Sitzenbleiber aus Rühle, der Ralle hieß. Klassenlehrer war der Schlüter, nach wie vor, und der malte den Stundenplan an die Tafel. Montag: Sport, Sport, Franz, Deutsch, Englisch. Dienstag: Reli, Deutsch, Mathe, Geschi, Franz, Franz. Mittwoch: Chemie, Chemie, Mathe. Donnerstag: Deutsch, Geschi, Physik, Physik, Englisch, Reli. Freitag: erste frei und dann Mathe, Englisch, Franz und Deutsch. Und samstags zwei Stunden Kunst und noch eine in Franz.

»Und was ist mit Erdkunde?« fragte der Bohnekamp.

Erdkunde fiel aus.

Vorne in dem neuen Geschichtsbuch prangte ein Bild von Ludwig XIV. Das war ein Fettsack mit Perücke und hochhackigen Schnallenschuhen und ’nem Umhang, der wie zwei dicke Bettdecken aussah. Und Hosen hatte der Lackel an, wie ’ne Ballerina im neunten Monat. Der Sonnenkönig! Selten so gelacht. Als dessen Untertan hätte ich mich auf dem kürzesten Seeweg nach Lummerland ausgeschifft.

Im Englischbuch hatte ein Abschnitt die Überschrift »Stop to think«, was Hermann witzig fand, weil er dachte, das heiße »Hör auf zu denken«. Wir sollten aber alle mitdenken und auch den Zweck der Massenkommunikationsmittel hinterfragen.

TV, like radio and newspapers, is a means of informing and entertaining people. In fact, it is the greatest mass medium of communication ever invented …

Am gegenüberliegenden Ende der U-Form saß eine Schülerin, die so schön war, daß ich’s kaum aushielt. Michaela Vogt. Ich mußte mich zusammenreißen, um die nicht immer anzustarren, aber wohin hätte ich denn sonst kucken sollen, wenn die mir geradewegs gegenübersaß? Und wie sollte ich das ein Jahr lang ertragen, ohne überzuschnappen?

In der neuen Zeit stand mein Geschreibsel über die Fragwürdigkeit von Sportzensuren. Da konnte ich mich also wieder mal auf 25 Eier freuen. Leider fiel mir auch zu der neuesten Frage, was Ostdeutsche und Westdeutsche noch verbinde, nichts ein, weil ich keine Ostdeutschen kannte. Außer Papa.

Uff …

Mit diesem Grunzlaut fing Michael Gerlachs neuester Brief an. Dieser Sauhund befand sich ja jetzt im Urlaub in Österreich.

1. Tag: Nach elf Stunden Fahrt sind wir glücklich in Sölden angekommen. Das Nest liegt 1300 m hoch und ist zwischen kahlen Bergriesen eingeklemmt, die es abermals um 1000 m überragen (wenn nicht mehr). Da die Berge für uns dem Anschein nach unbesteigbar sind und sich diese Gebirgslandschaft etwa 20 bis 30 km nach allen Himmelsrichtungen hin ausdehnt, komme ich mir vor wie in einer Mausefalle. Nur mit dem Unterschied, daß die Maus durch baldigen Tod erlöst wird, während ich hier noch drei Wochen hocken muß.

Außerdem ist das Wetter saumiserabel: Die Berggipfel sind in Wolken gehüllt, es nieselt, und es weht ein eisiger Wind.

Wenigstens sind die Unterkünfte einigermaßen ungezieferfrei, und es läßt sich leben, wenn man darüber hinweghört, daß sämtliche Türen, Wasserhähne und Fenster nach einem Tropfen Öl schreien, und wenn man großzügig darüber hinwegsieht, daß sich die mittelalterlichen Zimmerdecken so cirka in Holgers Schulterhöhe befinden.

Dann wäre da noch das Problem mit den Schillingen. Die ewige Umrechnerei – mal 7? durch 14? durch 7? mal 14? – macht einen ganz konfus. Am Ende weiß man nie genau, wieviel man ausgegeben hat.

2. Tag: Die Sonne scheint! Welch eine Veränderung! Es ist zwar nicht sehr warm, aber schön hell. Gefrühstückt haben wir in der Pension, jeder zwei Brötchen, die sehr gut geschmeckt haben. Dann sind wir mit dem Auto losgefahren. Erstmal akklimatisieren. In »Hochgurgl« sind wir ausgestiegen, so in 2100 bis 2300 m Höhe. Tolle Luft. Die Kühe liefen frei rum und blockierten die Straße, zusammen mit hungrigen Pferden (eines hat nach meinem Vater getreten, weil es leer ausgegangen war). Auf der Alm rumzurennen hat auch nicht schlecht Spaß gemacht. Schön steil und alles voller Bäche. Kein einziger Baum, nur Krüppelkiefern. Beim Rumrennen selber war ich gar nicht müde, aber nachher im Auto bin ich fast eingepennt.

In der Pension erhielten wir die frohe Botschaft, daß wir in eine Ferienwohnung nebenan umziehen könnten. Ganz modern, nichts quietscht, und die Decken sind hoch genug. Wir haben gleich umgeräumt. Ist schon doll, daß wir nicht mehr in dem Quietsche-Verlies wohnen.

Tschüß, Dein bergwandernder Michael!

Wenn ich als dessen Zwillingsbruder geboren worden wäre, hätte ich da mitwandern können, statt im Emsland zu verrotten.

Volker schimpfte über die Belastungen in der reformierten Oberstufe: Die Lauferei von einem Kurs zum andern würde ihn völlig wuschig machen. Das Maristengymnasium sei das reinste Labyrinth.

Im DFB-Pokal spielte der SV Meppen gegen Rot-Weiß Essen und verlor 2:3 nach Verlängerung. Da fehlte eben noch einer wie ich, oder nicht? Mit dem SV Meppen durchmarschieren im DFB-Pokal, bis zum Sieg im Endspiel und dann in der nächsten Saison im Finale des Europapokals den FC Barcelona in die Knie zwingen oder Inter Mailand oder von mir aus auch Feyenoord Rotterdam oder Hajduk Split. Die denken dann erst wunder was, wie leicht sie’s hätten, weil sie zur Halbzeit schon mit 6:0 in Führung liegen, aber in den letzten zehn Spielminuten bäumt sich der Abwehrrecke Martin Schlosser auf und brilliert mit einem doppelten Hattrick und läuft nach einem Foul des gegnerischen Kapitäns auch mit Rippenfraktur und gebrochenem Nasenbein wieder auf, erzielt mit einem kolossalen Weitschuß aus dem eigenen Strafraum das allesentscheidende Tor und sichert sich damit einen Platz in der ewigen Ruhmeshalle des Rasensports. Günter Netzer in der Sportschau: »Heute haben wir den neuen Fußballgott gesehen.« Gerd Müller widerruft die Erklärung seines Rücktritts aus der Nationalmannschaft, um mit mir gemeinsam stürmen zu dürfen, und Pelé kommt eigens angereist, um mich bei der Siegesfeier in Meppen auf seinen Schultern durch die Innenstadt zu tragen …

Den Kunstunterricht erteilte ein bärtiger Lehrer namens Lorber in einem Neubautrakt mit riesigen Fenstern. Wenn ich mich nicht verhört hatte, standen einem da praktische Übungen mit dem Werkstoff Ton bevor, und nach der Pause ging’s im Gänsemarsch zum Sprachlabor, wo man sich Kopfhörer aufsetzen, Knöpfe drücken und verwickelte, auf französisch gestellte Fragen beantworten sollte. Das beste an der Stunde waren die vielen Unterbrechungen. Beim Albers wackelte der Stuhl, beim Dralle überlagerte ein Fiepton die Stimme aus dem Kopfhörer, und beim Holzmüller funktionierte überhaupt nichts.

Zu Oma Jevers 70. Geburtstag hatte Mama ein Gedicht geschrieben, das sie bei der Feier in Jever vortragen wollte.

Mutti siebzig, Vati achtzig –

Das ist mal ein Jubiläum!

Ist man da Chronist, man sagt sich:

Lüttjes’ Sippe, ja, die macht sich!

Und kein Hauch da von Museum.

Das war nur die erste von unglaublich vielen Strophen. Am Eßtisch tippte Mama ihr Gedicht ins reine, und bis sie damit fertig war, durfte man sich nicht viel lauter als ein Spinnenschatten durchs Haus bewegen: »Stör mich jetzt nicht!«

Was in Kriegs- und Nachkriegszeiten,

Mutti, Du bewältigt hast,

trotz der tausend Widrigkeiten

und der Not auf allen Seiten,

hat man später erst erfaßt …

Die fertigen Seiten klammerte Mama zusammen, und sie warnte mich davor, die mit Fettfingern anzufassen.

Als Geschenk für Oma Jever hatte sie eine Kaffeemaschine gekauft. Von der Feier kamen Mama und Papa am Sonntagabend aber ohne rauschende Festlaune zurück. Beim Essen im Haus der Getreuen, sagte Mama, hätten fremde Leute einen Tischplatz im Festsaal zu besetzen versucht, und die habe Papa mit seinem finsteren Blick in die Flucht geschlagen. (»Richard, kuck mal böse!«)

Das habe gewirkt.

Montagmorgens ließ der Weiler die ganze Klasse über unterschiedlich hohe Kästen hoppeln, und dann wurde wieder Basketball gespielt.

Mathe hatten wir jetzt in einem anderen Raum im ersten Stock. Da saßen der Maurer, der Bohnekamp, der Dralle, Ralle und ich an den vorderen Tischen. Worum es da ging, war für mich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Die Zahlfaktoren der Variablen als Koeffizienten der linearen Gleichung.

Oma Schlosser war für drei Wochen zur Kur nach Bad Boll gereist. Da hätte ich auch nicht tot überm Zaun hängen wollen. Bad Boll: Das hörte sich so an wie der Name von einem Kaff mit Gesundheitsbrunnen, Kieswegen, Sackbahnhof und grassierender Furzeritis.

Aus der Vereinskneipe im Hindenburgstadion ertönte ein Schlager, den man nur ein einziges Mal gehört haben mußte, um ihn satt zu haben, aber man bekam ihn immer und immer wieder zu hören, ob man wollte oder nicht.

Aber bitte mit Sahne!

Das war ein Hit, der aus allen Ritzen quoll, und ich hätte Udo Jürgens dafür gern das Maul gestopft. Der Schrott von Tony Marshall war ja schon schlimm genug. Das Schlimmere an dem von Udo Jürgens war die sozialkritische Botschaft.

»Merci, Chérie«, dafür hatte ich mich noch erwärmen können. Oder für »Anuschka« und für dieses eine Lied, in dem er eine Siebzehnjährige angehimmelt hatte.

Am Morgen ihres 48. Geburtstags redete Mama sich darüber in Rage, daß Wiebke, Volker und ich an diesem Tag zum Unterricht müßten. In ihrer gesamten Schulzeit sei das nicht vorgekommen, daß an ihrem Geburtstag Schule gewesen sei: »Heute ist doch wirklich alles verrückt.«

In Geschichte waren wir noch längst nicht bis zum Ersten Weltkrieg vorgedrungen, aber ich sah mir in dem Buch schon mal die Fotos von weiter hinten an.

Auf in den Kampf, mir juckt die Säbelspitze.

Das hatten deutsche Soldaten vor der Abreise an die Westfront mit Kreide außen an einen Waggon geschrieben.

In Chemie mußten wir beobachten, was geschah, als der tatterige Pauker ein Stück Eisenwolle mit dem Bunsenbrenner traktierte, und in der Pause verließen Ralle, der Dralle und ich das Schulgelände und gingen allemann zu Aldi, Maoam kaufen.

Also lautet ein Beschluß:

Daß der Mensch was lernen muß.

Im Aldi trafen wir den Miesowski, der sitzengeblieben war. Der hatte sich einen Träger mit Bierflaschen ausgesucht, um die irgendwo auszusaufen.

Renate schrieb auf einer Karte aus Paris, daß sie und Olaf mit der Metro zum Place Pigalle gefahren und dann bis zum Moulin Rouge gelaufen seien, an lauter Sex-Shops vorbei.

Pigalle, Pigalle,

das ist die große Mausefalle mitten in Paris …

An diesen Schlager konnte ich mich erinnern und auch daran, daß Mama den Refrain einmal mitgesungen hatte, vorm Fernseher im Wohnzimmer.

Für Renates Geburtstag hatte Mama bei Comet für zwanzig Mark ein Fondue gekauft.

Das Wort »Schnoif«, das ich mir ausgedacht hatte, inspirierte Hermann zu dem Vorschlag, in der großen Pause in die Zeitschriftenläden zu latschen und zu fragen, ob der neue Schnoif schon da sei.

Wir probierten es zuerst bei Ceka: »Haben Sie den neuen Schnoif

»Schnoif? Kenn’ ich nich’, sowas«, sagte die Verkäuferin, und wir liefen lachend zum Ausgang. Die dachte wohl, ihr Hamster bohnert.

Dann versuchten wir unser Glück in dem Zeitschriften- und Tabakladen in der Fußgängerzone. Hinterm Tresen stand ein junger Mann von Anfang zwanzig. »Schnoif? Hab ich noch nie gehört. Ist das ’ne Monatszeitschrift?«

»Ja.«

»Und wie soll die heißen?«

»Schnoif.«

»Schnoif … nee, tut mir leid, führen wir nicht«, sagte der Typ, und als wir wieder draußen waren, konnten wir durchs Schaufenster sehen, daß der sich selber kaputtlachte.

Das Schlimmste an jedem Donnerstag war die Doppelstunde Physik. Der Quotient aus der Gewichtskraft G und dem Volumen V hieß »Wichte«. Das hörte sich noch blöder an als »Samtgemeinde«, aber da saß man nun und rechnete die »Wichte« von Alkohol, Eisen und Quecksilber aus.

Der neue Relipauker war eine Speckwalze namens Wörlitzer. Der Kerl ging auf die Sechzig zu, hatte aber Jeans an, und wir sollten uns im Kreis hinsetzen, damit jeder jeden gut sehen konnte. Reiher.

Ich hockte neben dem Rüßkamp, und als ich dem einmal was zuflüsterte, rief der Wörlitzer: »Na, was hast du denn mit deinem Nachbarn zu bereden? Hmm? Na, sag schon! Isses was Wichtiges? Stell dich doch mal vor die ganze Klasse hin und mach den Mund auf!«

Vor die Füße hätte ich dem Wörlitzer kotzen können.

Beim ersten Training nach den Sommerferien schleifte Uli Möller uns im Dauerlauf durchs Waldgestrüpp, bis sogar Didi protestierte. Das sei nicht mehr normal!

Offenkundig fehlte selbst Didi der Ehrgeiz, der härter gesottene Spieler wie mich irgendwann zu den höchsten Gipfeln des Weltruhms führen mußte. Beim Trainingsspiel siegte meine Mannschaft 16:7, obwohl bei der anderen Uli Möller im Tor gestanden hatte.

In der Nationalelf versprach ich mir eine große Zukunft als offensiver Außenverteidiger, und ich wäre auch einverstanden gewesen, wenn Helmut Schön mich nach meinen ersten Torerfolgen als Linksaußen nominiert hätte. Oder später als Mittelstürmer. Da hätte ich mit größerer Bravour voranstürmen können als auf dem Posten des linken Verteidigers in der C-Jugend des SV Meppen.

Mit dem Polo holte Mama Oma Jever und Tante Therese nach Meppen, für einen Tag und eine Nacht. Beim Tee war zu erfahren, daß Kim von ihrem neuen Job als Tippse in London die Nase schon wieder gestrichen vollhabe und daß Norman jetzt in einer Fabrik in Basildon arbeite, dem Londoner Vorort, wo Onkel Bob und Tante Therese ihr Häuschen hatten.

Und was Norman vor ein paar Wochen widerfahren sei: Der habe ganz friedlich mit seinen Freunden im Pub gesessen, und dann hätten da plötzlich Betrunkene randaliert und nach irgendeinem anderen Kumpel von Norman gesucht, den sie umbringen wollten, wegen irgendwelcher Verfehlungen, und diese Leute hätten eine Massenschlägerei angezettelt, und die mehrfach vergeblich alarmierte Polizei sei erst nach weit über einer Stunde vor Ort erschienen. »Da waren die Radaubrüder natürlich schon längst alle ausgekniffen.« Und nun stünden zwei unschuldige Freunde aus Normans Clique unter Anklage und müßten womöglich jeder einhundert Pfund bezahlen, für den Sachschaden in der Kneipe.

»Vielleicht sollte Norman sich mal ’n paar anständigere Freunde suchen«, sagte Oma, aber statt das Thema weiter zu vertiefen, erzählte Therese von ihrem Urlaub mit Bob auf Korfu. Ein teurer Spaß sei das gewesen, weil das Pfund so schlecht dastehe.

Für die Rubrik »Zeit-Lupe« sollte man die Frage beantworten, ob unser Strafvollzug liberal sei. Tja. Da hätten sie wen anderes fragen müssen als mich.

In Kunst kriegte jeder eine Portion Knete zugeteilt, um daraus ein Relief zu gestalten, das einen Menschen bei der Arbeit zeigen sollte. Die Art der dargestellten Tätigkeit bleibe jedem selbst überlassen, sagte der Lorber, und ich knetete einen Hai bei der Menschenjagd: auf halber Höhe des Reliefs die sich kräuselnden Meereswellen, links darüber der Kopf und ein Arm eines kraulenden Schwimmers und rechts die Rückenflosse des angreifenden Haifischs. Daß der Schwimmer um sein Leben bangte, war an seinem Augenausdruck und an seiner Klappe zu erkennen, die er so weit aufgerissen hatte, daß ich mit dem Spachtel jeden Schneidezahn einzeln modellieren konnte.

»Damit wirst du keinen Blumentopf gewinnen«, sagte Hermann, der sich für das Modellieren eines hämmernden Schmieds entschieden hatte.

Aus Österreich schrieb Michael Gerlach mir, daß es da stinklangweilig sei, genau wie zuhause.

P.S.: Macht die Schule Spaß? Hahahohohihi!

Anstelle des verletzten Stammtorhüters Wolfgang Kleff stand bei Gladbach in der neuen Saison dessen Namensvetter Wolfgang Kneib zwischen den Pfosten. Auf dem Bökelberg trennten sich Gladbach und Duisburg mit 1:1. Den besten Start hatte Hertha BSC erwischt – drei Treffer gegen Karlsruhe, kein Gegentreffer, 2:0 Punkte und Platz 1. Aber nicht für lange! Darüber brauchten sich die Herthaner keinen Täuschungen hinzugeben.

Die Gedenksendungen zum 15. Jahrestag des Mauerbaus im Fernsehen konnte ich mir nicht ansehen, weil Mama und Papa abends Gäste empfingen, zwei ortsansässige Ehepaare, die fast eine halbe Stunde lang brabbelnd im Flur herumstanden, bevor sie sich von Mama ins Wohnzimmer lotsen ließen, zu den Sherry-, Bier- und Weinvorräten und den Häppchentellern.

Zum eigenen ersten Match nach der Sommerpause mußten wir in Schwefingen antreten. Ich heftete mich an die Fersen des Mittelstürmers, der aber von vorsichtigem gegenseitigem Abtasten noch nie etwas gehört zu haben schien. Der rannte blindlings auf einen zu und probierte es dann mit Absatzkicks und solchen Scherzen. Weil er damit bei mir nicht durchkam, stieß er mich, nachdem ich ihm den Ball abgeluchst hatte, von hinten um, und ich schrammte mir im Sturz das rechte Knie auf und verlor den Ball an einen anderen Schwefinger Stürmer, der die Chance nutzte und die Steilvorlage aus dem Stand zum Führungstor verwandelte.

Das vorausgegangene Foul an mir hatte der Schiedsrichter ignoriert.

Mit der Knieverletzung war ich nicht mehr ganz so wendig wie zuvor, aber sobald der Superarsch von Mittelstürmer auf mich zugerannt kam, mobilisierte ich meine Kraftreserven. Der sollte mich kennenlernen!

Freistoß.

Mauerbau.

Abgewehrt.

Und Gegenangriff. Alles nach vorne! Aufrücken, Kombinationsspiel – vorne halbrechts lief sich Didi frei!

»Hinten alles raus!« schrie Uli Möller.

Auf dem rechten Flügel setzte sich Didi durch, lief mit dem Fuß am Ball direkt aufs Tor zu, ließ einen weiteren Verteidiger aussteigen und wurde im Strafraum mit gestrecktem Bein gelegt.

Den Elfmeter schoß Didi selbst, aber an den Pfosten, und aus dem anschließenden Gerangel ging der Torwart als Sieger hervor, und beim Konter griff unser eigener zum zweitenmal daneben.

In der Pause schiß Uli Möller uns alle zusammen und lobte nur Didi in den höchsten Flötentönen.

Die zweite Halbzeit war Schwerstarbeit. Ich verlor mehrere Zweikämpfe und lief meiner Form von früher hinterher. Spürte ich da eine Verhärtung im rechten Oberschenkel?

Mit einem Volleyschuß traf Didi bloß die Latte.

Beim Abpfiff stand es 6:0 für Schwefingen, und wir schlichen in die Umkleidekabine wie begossene Pudel.

Auf der Rückseite einer Ansichtspostkarte aus dem Alpenhochland teilte Michael Gerlach mir seine neuesten Urlaubserlebnisse mit.

Jodltiroh!

Damit Du mal einen Eindruck davon bekommst, wie das hier so aussieht, schick ich Dir diese Karte. Nach Rofen – so heißt das Kaff – haben wir heute ’nen Ausflug gemacht. Das ist der höchstgelegene Ort in Österreich (2014 m). Na ja, Ort ist übertrieben … ’n paar olle Holzhütten stehn da rum, aber sie sind bewohnt. Dann gibt’s noch ’ne verschimmelte Kirche, und basta. Als wir da waren, hat’s geregnet. Sehr unangenehm. Über die Brücke sind Harald und ich trotzdem rübergegangen. Die war noch verschimmelter als die Kirche, und das will was heißen. Mittendrin war sie zweimal durchgebrochen. Da lagen dann einfach Bretter drüber. An ein paar Nägeln hing also unser Leben. Das Bild untertreibt noch. Es war viel fieser, schmaler und höher da oben.

Tschüß, der Platz ist alle.

Mit der gleichen Post war ein Kärtchen von Renate und Olaf aus Biarritz einegetroffen: Der Rotwein schmecke gut, obwohl er billig sei, und die Landschaft sei schöner als die am Rhein.

Vorne auf der Karte sah man aber ziemliche Betonklötze am Strand herumstehen.

Als ich einmal früher wach geworden war als alle anderen, lief mir auf der Terrasse ein rotbraunes Kätzchen zu. Ich servierte ihm Milch und Cervelatwurst und lockte es dann in mein Zimmer und sperrte es in meinem Schiebeschrank ein. Mama brauchte nichts davon zu wissen.

Von der Unfallversicherung der Tante, die ihr in Koblenz reingefahren war, verlangte Mama mehr als eintausend Mark, obwohl die Reparatur weniger als die Hälfte gekostet hatte. Den Rest forderte Mama für die »merkantile Wertminderung« und den »Nutzungsausfall«, und dann knallte sie noch eine »Unkostenpauschale« drauf und behauptete: »Durchschrift dieses Schreibens mit Ablichtung der Anlagen und des Vorgangsschreibens habe ich vorsorglich meinem Anwalt übergeben.« Was gelogen war, denn Mama hatte gar keinen Anwalt.

Versicherungen, sagte sie, müsse man rotzfrech gegenübertreten, sonst nähmen die einen nicht für voll.

Abends spielte ich mit dem Kätzchen herum, als es satt war vom Fressi-Fressi aus Aufschnitt und Milch. Nach lose baumelnden Wollknäuelfäden zu schnappen, die man ihm hinhielt, das gefiel dem Tierchen gut, und es schnurrte genüßlich, wenn man es auf den Schoß nahm und es im Nacken kraulte oder am Bauch.

Ein halbes Honigbrötchen überließ ich dem Kätzchen morgens und machte die Schiebeschranktür wieder zu.

Nach der Schule stellte Mama mich zur Rede: Wo dieses Katzenvieh herkomme, das ich in meinem Zimmer gefangenhielte. »Ich geh da nichtsahnend rein, um zu staubsaugen, und dann jault da diese Kreatur und kratzt von innen an der Schranktür!« Um die Katze wieder loszuwerden, gab Mama eine Anzeige auf:

Kleines Kätzchen (braun/weiß) zugelaufen. Georg-Wesener-Str. 47.

Die Katze durfte dann bis auf weiteres im Keller hausen und zwischen Papas Werkzeugen herumginstern.

In der »Zeit-Lupe« wurde danach gefragt, wie sich die Sexualkunde aus Schülersicht darstelle. Auch darüber wollte ich mich nicht öffentlich äußern, obwohl ich ziemlich scharf gewesen wäre auf die 25 Mark.

Für das Zeitmagazin hatte der Schriftsteller Walter Kempowski Helmut Kohl gefragt, was er so lese, und Kohl hatte gesagt: »Also, wenn Sie mich so fragen – ganz vornean, alles andere totschlagend, das war Hölderlin.«

Hölderlin als Totschläger?

»Der ist doch nicht ganz gar gebacken, dieser Kerl«, sagte Mama.

In dem Interview hatte Kohl auch noch anderen Stuß von sich gegeben: »Ich bin einer, der Politik sehr stark aus der Geschichte heraus begreift.« Ja, wie denn sonst?

Mit dem Begrifferätsel ganz hinten im Zeitmagazin, »Um die Ecke gedacht«, verbrachte Mama jedesmal Stunden, und wenn sie irgendwas nicht rauskriegte, rief sie Tante Dagmar oder Tante Luise an, die sich mit der Lösung desselben Rätsels abrackerten. »Hilf mir doch mal bei vierzehn waagerecht auf die Sprünge: ›Tanker können, wenn sie beim Auslaufen da rauslaufen, auslaufen.‹ Fünf Buchstaben, erster R.«

Woraus mochten denn wohl Tanker beim Auslaufen rauslaufen? Aus dem Hafen? Falsch. Mit R sollte das Wort anfangen und fünf Buchstaben haben.

Rickeracke, Hühnerkacke. Wie konnte man sich nur über solchen Mist den Kopf zerbrechen?

Um die richtige Lösung zu finden, mußte Mama erst noch einen Haufen anderer Begriffe erraten, und dann rief sie: »Ruder! Tanker können auslaufen, wenn sie beim Auslaufen aus dem Ruder laufen!«

Da wär ich in hundert Jahren nicht drauf gekommen.

Auf Renates Wunsch rief Mama jeden Tag bei den Menschen vom Arbeitsamt Bielefeld an, um sich nach einem Job für Renate zu erkundigen, aber die hatten nix.

Mein Relief mit dem Schwimmer und dem Hai gab mir der Lorber mit der Note Vier zurück. Ich hätte das »Thema verfehlt«.

Aha. Das Schwimmen auf der Flucht vor einem Hai stellte also keine Arbeit oder Tätigkeit dar. Im Pazifik, mit ’nem Haifisch hinter sich, da hätte ich den Lorber gern mal sehen wollen: Ob er dann wohl ohne echten Arbeitseifer ausgekommen wäre?

»Nimm dir ein Beispiel an mir«, sagte Hermann, der für sein klobiges Produkt, das eine Schmiedewerkstatt darstellen sollte, eine glatte Drei eingestrichen hatte. »Ich bin der neue Picasso!«

Um den Spitzenreiter Hertha BSC aus dem Sattel zu holen, genügte Gladbach in Berlin ein einziges Tor, und den Aufsteiger Tennis Borussia Berlin deklassierte Eintracht Frankfurt im Waldstadion mit 7:1. Drei Tore hatte allein Bernd Hölzenbein erzielt, davon allerdings eins per Foulelfmeter, aber auch das war ja eine Kunst.

In der DDR hatte sich ein Pfarrer mit Benzin übergossen und verbrannt, aus Protest gegen die drakonische Kirchenpolitik der SED. Oskar Brüsewitz.

Zum Gruseln. Ob das wirklich so schlimm war da drüben? Oder hatte der Mann einen Sparren lockergehabt?

Darüber könnten wir uns hier kein Urteil erlauben, sagte Mama.

In einem Interview mit dem Spiegel wurde Helmut Kohl hart herangenommen: »Sie insinuieren für unscharf denkende Wähler mit Ihrem Wahlslogan ›Freiheit oder/statt Sozialismus‹, der von der SPD vertretene Sozialismus ähnele dem DDR-Sozialismus.« Darauf Kohl: »Das ist eine Unterstellung, ich insinuiere dies nicht.« Insinuieren? Dieses Wort mußte ich in meinem Fremdwörterlexikon nachschlagen.

Insinuieren, jem. etw. auf feine Art, unmerkl. beibringen, zuflüstern; unterstellen.

Die Befürchtung, daß Helmut Schmidt die Bundesrepublik dem Ostblock ausliefern werde, teilte Mama nicht. »Mit den Jusos kannst du mich jagen«, hatte sie mir mal gesagt, »besonders mit dieser Wieczorek-Zeul«, aber die Ostpolitik der SPD habe doch zu guten Ergebnissen geführt, zur Erleichterung der Reisen zwischen Ost und West und zur Entschärfung der Weltkriegsgefahr. 1962, »wenn ich daran noch denke, wie da die Kriegsschiffe der Supermächte aufeinander zugerollt sind! Da dachte man ja schon, jetzt knallt’s!« Und da hätte ich als Säugling eben erst das Licht der Welt erblickt.

Zwei Omas klingelten bei uns und sagten, sie hätten eine Katze hüten sollen, und dann sei sie ihnen weggelaufen. Jetzt wollten sie wissen, ob unsere Katze diejenige welche sei.

War sie aber nicht.

Später kam noch eine andere Frau. Der ihr Kater war gestorben, und sie wollte einen Ersatz dafür haben, und dieser Frau gab Mama unser Kätzchen mit. Von Wiebkes Zimmer aus schoß ich mit meiner Kamera ein Foto von dieser Frau, wie sie mit der Katze auf dem Arm unser Grundstück verließ. Auf dem Foto war nachher von der Katze aber nicht mehr als der Schwanz zu sehen neben dem speckigen Oberarm der Abholerin.

Michael schrieb mir, daß mein Brief aus Meppen eine nette Abwechslung gewesen sei.

Wenn man sonst nur Groschenromane und Heimatgeschnulze über die Berge liest, ist einem ja selbst der größte geistige Dünnschiß willkommen.

Hoch in den Bergen habe es dann aber Ärger gegeben:

Nach 2 ½ Stunden kamen wir endlich oben an, und Mann, was haben wir uns auf ein deftiges Mittagessen gefreut. Tür auf, reingeschaut: Katastrophe! Alles besetzt! Bis auf den letzten Furziplatz!

Auf Michael Gerlach wartete eben überall das Pech, genauso wie auf mich.

Bei der Versandfirma Zweitausendeins bestellte ich mir eine LP von Cat Stevens. Bezahlung per Nachnahme: Das hieß, daß man das Geld für die Ware dem Postboten geben mußte, der sie einem brachte.

Hoffentlich taugte diese Platte was.

Mama rief Renate an: Im September könne sie hier bei Comet arbeiten. Da würden auch ungelernte Kräfte eingestellt.

In der »Zeit-Lupe« lautete die neue Frage, ob sich das Schriftdeutsch hemmend auf den Wortschatz der hochdeutschen Umgangssprache auswirke. Das war meine Chance. Ich schrieb, daß das Perfekt – »Ich habe gesagt« – in der Umgangssprache gängiger sei als das Präteritum – »ich sagte« –, und sonderte noch ein paar andere Klugscheißereien ab, die mir das nächste Honorar einbringen sollten. 25 Eier abzüglich 50 Pfennig Porto: kein schlechtes Geschäft, wenn’s denn klappte.

Ums Geld kämpften auch die Versicherungsheinis, die runde fünfhundert Mark weniger rausrücken wollten, als Mama gefordert hatte,

Minderwert bei der Bagatellhaftigkeit des Schadens unter Bezugnahme auf den 13. Verkehrsgerichtstag in Goslar nicht gegeben. Auf Grund der Neuwertigkeit des Wagens übernehmen wir Beipolierungskosten in Höhe von 75.– DM.

»Was geht denn mich der dreizehnte Verkehrsgerichtstag in Goslar an!« rief Mama. »Die sollen mir den Schaden bezahlen!«

Beipolierungskosten, das war auch so ein Wort aus der Erwachsenenwelt.

Abends fuhr Mama wieder zur Elternversammlung, und ich wollte mich im Wohnzimmer vor die Röhre setzen und mir unbehelligt den französischen Spielfilm »Die süße Haut« ankucken, aber Mama kam schon kurz vor neun Uhr wutentbrannt zurück. Gerade mal fünf jämmerliche Existenzen seien da erschienen, und das bei einer Klassenstärke von 32 Schülern! Die geplante Wahl der Klassenelternschaftsvertreter sei damit flachgefallen.

Den Film mußte ich mir dann mit Mama zusammen ankucken. Dem Titel zum Trotz kamen keine Nacktszenen darin vor. Das wäre wohl auch zuviel verlangt gewesen von einem 1963 gedrehten Schwarzweißfilm. Nach meinen Beobachtungen hatte sich die Frauenwelt erst seit ungefähr 1969 vor den Kameras obenherum zu entblättern begonnen.

Weil Wiebke in ihrer Schule an einer »Arbeitsgemeinschaft Mikroskopieren« teilehmen wollte, wurde Volkers altes Mikroskop vom Dachboden geholt und entstaubt, aber da stimmte mit der Linse irgendwas nicht mehr, und die meisten Plättchen mit Insektenbeinen oder Mikroben oder sonstwas waren hops oder zerbrochen.

Am dritten Spieltag schoß Jupp Heynckes drei Tore beim 4:1 gegen Bochum, und Gladbach hatte sich damit auf den dritten Platz emporgearbeitet, zäh und beharrlich. Deutsche Wertarbeit. Die sah nun einmal anders aus als das Banditentum von Frankie Sinatra und dessen Spießgesellen Dean Martin und Sammy Davis Jr., die die fünf größten Spielcasinos in Las Vegas ausraubten und dann die Einäscherung der in einem Sarg versteckten Beute in einem Krematorium erdulden mußten.

Renate, die im Urlaub rot statt braun geworden war, verdingte sich in Meppen für vier Mark fünfzig Stundenlohn bei Comet. Mama und Frau Lohmann nahmen an den Turnstunden eines Damengymnastikvereins teil, um da abzuspecken, und Papa schimpfte währenddessen über Renates und Olafs Verschwendungssucht.

Als Mama wiederkam, haute sie in dieselbe Kerbe: Die ganze Umzieherei nach Bonn sei doch nur rausgeworfenes Geld!

»Das Geheimnis der falschen Braut« hieß der Spielfilm, der das Gezeter dann für eine Weile unterbrach.

Im Westfalenstadion hatten Gladbachs Stürmer Ladehemmung, aber die Dortmunder ebenfalls. Wolfgang Kneib hielt seinen Kasten sauber. Gezaubert hatte aufs neue Eintracht Frankfurt, die launische Diva vom Main, und das nach einem deprimierenden Halbzeitstand von 0:2 gegen Schalke: Nach dem Ausgleich durch Kraus und Nickel erhöhten Grabowski und Hölzenbein eine Viertelstunde vor Schluß innerhalb kürzester Zeit auf 4:2, und auf den Anschlußtreffer der Knappen ließ das Frankfurter Sturmgespann in den letzten Spielminuten das 5:3 und das 6:3 folgen. Das waren vierzehn Tore in vier Spielen – drei mehr, als der Tabellenführer Köln bis dato verbuchen konnte, und trotzdem rangierte Frankfurt wegen der vielen Gegentore nur im oberen Mittelfeld. Selber schuld!

In ihren Wahlkampf-Fernseh-Spots führte die CDU die Sozialdemokratie als fünfte Kolonne des Kremls vor.

Der Weltkommunismus lächelt auf internationalem Parkett. Und die Bonner Linkskoalition lächelt mit …

Dabei sah man Brandt im selben Boot mit Breschnjew sitzen und Schmidt neben Kossygin, und sie machten alle fröhliche Gesichter.

»Also so ein Quatsch«, sagte Mama. »Sollen die vielleicht die Zähne fletschen? Oder den Russen die Zunge rausstrecken?«

Dann kam wieder mal ein Film mit Rod Steiger, diesmal in der Rolle eines rassistischen Polizeichefs, den es anfangs noch gewaltig wurmte, daß er bei der Aufklärung eines Mordfalls auf die Hilfe eines schwarzen Detectives angewiesen war, aber irgendwie rauften sich die beiden zusammen.

Renate häkelte dabei eine Stola für Tante Dagmar zuende.

Von allen Wochentageszeiten hatte Tom Sawyer den Montagmorgen am meisten gehaßt, wegen der dräuenden Schulscheiße, aber was war ein Montagmorgen in Toms Heimatstadt am Mississippi im Vergleich mit einem Sonntagnachmittag in Meppen an der Ems? Was sollte man tun, wenn man nicht einmal mehr den Quellekatalog aufblättern mochte? Damenunterwäsche, Bademoden, Duschkabinen, Sauna-Seiten, das alles hatte man ja nun schon oft genug gesehen.

Zum Kreisgymnasium hätte ich fahren können, denn da war Tag der offenen Tür. Mit tollen Freizeitangeboten. Klaro, super, eine klasse Idee, die Penne auch am Sonntag mal von innen zu bestaunen. Ob es wohl Schüler gab, die sich das antaten? Mit ihren Eltern womöglich?

Da blieb ich lieber in meinem Zimmer sitzen, auch wenn es darin nicht viel aufregender zuging als in der Zelle des Häftlings, den Reinhard Mey einmal besungen hatte.

Von Wand zu Wand sind es vier Schritte,

von Tür zu Fenster sechseinhalb …

In den Kurven meiner Fenstergardine suchte eine Stubenfliege nach einem Ausweg ins Freie, so ähnlich wie in dem Chanson.

Nun, mitgefangen, mitgehangen.

Im Kriegsjahr 1944 spielte ein im Ersten ausgestrahlter Film von François Truffaut über einen französischen Bauernjungen, der sich der Gestapo als Spitzel andient und sich dann in ein jüdisches Mädchen verliebt und im Gespräch mit einem Kollaborateur den Satz aufschnappt: »Manchmal sind jüdische Frauen so schön, daß die andern wie Kühe daneben wirken.«

Als diese Bemerkung fiel, war Mama gerade aufs Klo gegangen. Zum Glück! Noch peinlicher wär’s gewesen, wenn auch Papa dabeigesessen hätte, aber der werkelte, wie nicht zu überhören war, im Keller.

»Zieh mit, wähl Schmidt!« sagte Hermann, als wir uns am Montag auf dem Pausenhof über die Wahlwerbung unterhielten. Oberbeknackt war die von der CDU, mit einer Boxerin, die ein Gänseblümchen im Schnabel hatte, und dem Spruch: »Komm aus Deiner linken Ecke.« Einig waren wir uns auch, was die obskure Helga Zepp von der Europäischen Arbeiter-Partei betraf. Daß diese Frau ’ne Schacke hatte, merkte man, sobald sie das Maul aufmachte.

Die FDP warb mit dem Slogan »Leistungen wählen« und einem Foto von Hans-Dietrich Genscher beim Telefonieren in einer Art Kellerloch. Genscher, schrieb der Spiegel, wirke auf diesem Plakat verhängnisvollerweise wie der letzte Herstatt-Gläubiger, der seinen geplatzten Wechseln hinterhertelefoniere.

Gekauft hatte ich mir auch eine Ausgabe der neuen Zeitschrift Der III. Weltkrieg. Da ging’s um alle möglichen Kriege und Konflikte seit 1945, um die sowjetische Atomspionage, um den Bürgerkrieg in Griechenland und um den Sechstagekrieg von 1967, und dann mußte ich wie jeden Montag zur Klavierstunde, der verdammten.

In der neuen Otto-Show hielt Otto Waalkes einen Becher mit sprechendem Kaffee in der Hand, den er sich bei dem Versuch, ihn besser zu verstehen, übers Ohr goß.

Kennzeichnend für den Ostfriesen ist seine ganzjährige Brunftzeit …

Gut war Otto auch als Priester mit Doofi-Brille, der sich über den Schlager »Theo, wir fahr’n nach Lodz« ausließ. »Vier fahren. Da sind also vier Menschen unterwegs, und wer sind diese vier? Die vier Jahreszeiten? Die vier Musketiere? Oder sind es vier alle?«

Danach hieß es wieder monatelang Warten auf die nächste Show. Traurig, aber Warzenschwein.

Renate häkelte jetzt an einer Stola für Tante Grete, die versprochen hatte, dreißig Mark dafür lockerzumachen.

Im übrigen gibberte Renate nach Post von Olaf aus einem Kaff namens Waldliesborn, wo ihr Liebster seit allerneuestem stationiert war, aber der Briefträger brachte ihr nur eine Exmatrikulationsbescheinigung, eine Wahlbenachrichtigung und einen neuen Häkelauftrag von Tante Gisela. Das amtsärztliche Gesundheitszeugnis, das Renate benötigte, bekam sie erst nach dem dritten Anlauf im Behördendschungel in ihre Gewalt und meldete sich dann bei einer neuen Fahrschule an.

130 Mark hatte Renate bei Comet verdient, in einer Woche. In dem Laden, sagte sie, würde ein Detektiv herumsitzen, in einem Pappkarton mit Kucklöchern, oben in einem Regal, und diesen Typen würde sie nicht um seinen Job beneiden. Der werde da morgens hochgeorgelt, per Gabelstapler, und abends wieder runter. Das sei überhaupt so’n schnauzbärtiger Idi.

Zu ihrem Kummer hing Renate immer noch ihr Urlaubsspeck auf den Hüften. Diese Pfunde müßten runter.

Seine eigenen Gesetze hatte auch der DFB-Pokal: Gladbach verlor gegen Eintracht Braunschweig 0:2 und flog raus.

Als im Fernsehen die Nachricht kam, daß die ZVS 92000 Bewerber zum Wintersemester 1976/77 zugelassen und 79000 abgelehnt habe, wartete Renate nach wie vor auf Olafs Zulassungsbescheid für Bonn, und sie strickte an einem braunen Wollpullover.

Mama war alleine in die Stadt gefahren, um sich ein Theaterstück anzusehen: »Der Besuch der alten Dame«, mit Elisabeth Flickenschildt.

Im UEFA-Cup trennten sich FC Porto und Schalke 2:2.

Als Maos Thronfolger, sagte Hermann, würde er in seiner ersten Amtshandlung den Spucknapf abschaffen, der bei Staatsempfängen in Peking zwischen den Sesseln stehe, und er kritisierte meinen Ankauf eines rororo-aktuell-Taschenbuchs über die Nationale Volksarmee der DDR: »Willst du dich wirklich so stark spezialisieren?«

Von Michael traf eine Ansichtskarte ein, mit einer halbnackten Frau vornedrauf, der auf ’ner Alm eine Kuh den Rücken abschleckt.

Bin aus den Ferien zurück in Old Valla. Morgen geht’s von neuem los, und wenn Du das hier liest, bin ich wahrscheinlich schon wieder am Pauken.

Wehmütig grüßt der DMGS – Gütesiegel für Qualität!

Es war auch ein Brief für Renate gekommen, von Olaf, der ihr schrieb, daß er einen neuen Job als Metallarbeiter in einer Aluminiumfabrik in Kesselheim gefunden und im Wahlkampf alle Hände voll zu tun habe.

Das Taschenbuch über die NVA gefiel mir nicht, weil sich die Wehrerziehung in der DDR bei der näheren Untersuchung als unvorstellbar langweilig erwies. Da wurde man schon als Schüler zur Teilnahme an paramilitärischen Übungen verpflichtet, die der »frühzeitigen Herausbildung von sozialistischen Soldatenpersönlichkeiten« dienen sollten. Wehrdienstverweigerer mußten trotzdem exerzieren, als »Bausoldaten«, und wer da nicht mitmachen wollte, der wurde ins Loch gesteckt. Ein schöner Scheißstaat, diese DDR. Und wie peinlich für die Regierung, daß die westliche Landesgrenze von Soldaten bewacht werden mußte, damit keiner abhauen konnte aus dem Arbeiterparadies.

Renate schenkte Mama einen Grill, so einen runden schwarzen, mit drei Beinen und rotem Windschutzblech. Hatte nur neunfümmenneunzig gekostet, der Apparillo, aber in dem trüben Herbstwetter konnten wir nicht viel damit anfangen.

Und dann rief Olaf an: Seine Zulassung sei da, aber für Trier statt für Bonn! Renate brach in Tränen aus, und Mama schlug ihr vor, sich mit Olaf zu verloben oder ihn zu heiraten. Knall auf Fall. Dann könne Olaf dringende familiäre Gründe für seine Zulassung in Bonn geltend machen.

Das waren ja nun völlig neue Töne.

Werder Bremen hatte einen schweren Stand beim Rückspiel auf dem Bökelberg. Gladbach siegte 3:1 und befand sich danach auf dem zweiten Tabellenplatz, zwei Punkte hinter den Kölnern, die bis jetzt jedes Spiel gewonnen hatten. Den Vogel hatte aber diesmal Bayern München abgeschossen mit einem 9:0 gegen Tennis Borussia. Ein Tor von Jupp Kapellmann, drei von Karl-Heinz Rummenigge und Stücker fünfe allein von Gerd Müller! Wie mochte es danach wohl Hubert Birkenmeier zumute sein, dem Torwart von Tennis Borussia? Es war keine Schande, als letzter Mann von Gerd Müller ausgetrickst zu werden, denn das hatten auch Weltklassetorhüter wie Enrico Albertosi, Jan Tomaszewski und Gordon Banks schon erlebt, aber in einem Spiel durchschnittlich alle zehn Minuten ein Tor zu kassieren, das mußte einen fertigmachen. Und dazu kam ja noch die Gewißheit, daß hinterher Abermillionen Zuschauer der Sportschau und des Aktuellen Sport-Studios als Augenzeugen auf dem Sofa saßen.

Weil es nicht nach Regen aussah, wurde abends Fleisch gegrillt, auf der Terrasse, und da langte auch Renate kräftig zu. »Ab morgen eß ich dann wieder nur Quark«, sagte sie. Neun Pfund hatte sie angeblich schon abgenommen. Und am Montag wollte sie mal irgendwo in Bonn anrufen und höheren Orts ihre Lage schildern. Studienplätze könne man ja auch tauschen.

Wiebke aß nur eine Spatzenportion, und Mama verschränkte die Arme vorm Bauch, weil sie fror, und dann ging sie rein, um die Ziehung der Lottozahlen nicht zu verpassen. Papa, der an der Fleischfresserei keinen Gefallen fand, war aus dem Keller gar nicht erst nach oben gekommen.

»Ich schrei Kakao!« rief Mama im Wohnzimmer. »Schon drei Richtige! Und jetzt geht’s weiter! Kommt mal alle her!«

Auch drei Richtige bildeten noch keine Garantie für ein sorgenfreies Leben. Die 49, die 12 und die 9 waren aus der Lostrommel gezogen worden, und Mama hatte alle diese Zahlen auf einem Feld ihres Lottoscheins angekreuzt und außerdem noch die 7, die 20 und die 36.

Die Trommel drehte sich, und dann purzelte die nächste Zahlenkugel in den durchsichtigen Becher.

30! Oder 20? Oder 29? Nein, die 20 war’s, eindeutig, und nun trennten uns bloß noch zwei kleine Glückstreffer vom Durchbruch in die Welt der Millionäre. Vier Richtige hatten wir bereits beisammen, und nun kam auch Papa hoch, angelockt von unserem Freudengeschrei.

Wenn es klappte, würden Mama und Papa den Gewinn zwar irgendwie anlegen, so fest wie möglich, aber ein bißchen was würde auch für Renate, Volker, Wiebke und mich abfallen, da war ich mir sicher. Das mindeste wäre eine dicke Taschengelderhöhung.

In dem rotierenden Gerät hoppelten die Kugeln durcheinander, bis es stehenblieb. Dann bewegte es sich in die Gegenrichtung, und als eine von den Kugeln in die Röhre rollte, schrie Renate: »Die 36!«

Die gezogene Kugel kullerte so rasch durchs Röhrchen, daß man die Zahlenaufschrift nicht gleich erkennen konnte, und dann plumpste die Kugel in den Auffangbehälter.

37.

Scheiße! So verflucht knapp daneben! Als ob der liebe Gott das extra gemacht hätte, um uns an der Nase herumzuführen!

Als letztes kam dann noch die 11.

Zusatzzahl 2.

»Außer Spesen nix gewesen«, sagte Papa, obwohl Mama doch immerhin vier Richtige hatte, aber sie meinte, daß man sich da keinen falschen Hoffnungen hingeben dürfe. Nachher kriege man dafür vielleicht nur popelige zwanzig Mark.

Papa glaubte, daß es noch weniger wäre, wenn die Leute mehr von Statistik verstünden. Dann würden sich bei der nächsten Ziehung Null Komma Null Null D-Mark im Lostopf befinden. Die Wahrscheinlichkeit von sechs Richtigen im Lotto sei geringer als die, in der Wüste Gobi von einem zufällig herunterfallenden Ziegelstein erschlagen zu werden. Eins zu vierzehn Millionen.

Onkel Rudi hatte mal fünf Richtige gehabt, aber keinen roten Heller gewonnen, weil seine verträumte Zweitgeborene vergessen hatte, den Lottoschein abzugeben.

Was hätten Mama und Papa wohl mit einer Million Mark angestellt? Sie auf der Bank gelassen vermutlich und nur einen kleinen Teil der Zinsen abgehoben, um sich davon Preßlufthämmer und neue Gardinen zu kaufen. Auf ein größeres Haus, in dem sie noch mehr putzen müßte, hätte Mama genauso gepfiffen wie Papa auf Kreuzfahrten an Bord eines Vergnügungsdampfers.

Niki Lauda fuhr schon wieder Autorennen. Offensichtlich hatten sich die schweren Brandverletzungen an seiner Birne nicht intelligenzsteigernd auf seinen Grips ausgewirkt.

»Dieser Irre!« rief Mama. »Statt sich das ’ne Lehre sein zu lassen, daß er dem Tod eben noch von der Schippe gesprungen ist! Dem wein’ ich keine Träne nach, dem Kerl, wenn der nach seinem nächsten Unfall im Leichenschauhaus liegt!«

Wir hatten oft Streit, aber in diesem Punkt mußte ich Mama recht geben.

Die FDP, sagte der Wolfert in Deutsch, sei die einzige deutsche Partei, die Wert darauf lege, mit Pünktchen geschrieben zu werden, also »F.D.P.«, und sie werde deshalb von manchen Leuten als »Pünktchen-Partei« bezeichnet.

Der Wolfert wählte bestimmt CDU, obwohl er als Deutschlehrer allen Grund dazu gehabt hätte, sich vor Helmut Kohl zu grausen. Im neuen Spiegel standen Zitate von Kohl, die ihn nicht gerade als rhetorisch begnadete Geistesleuchte auswiesen.

Ich glaube, daß auf einem wichtigen Platz der Politik sitzend, Politik tragen heute in unserer jetzigen Gesellschaft mit ihren besonderen Verhältnissen eine der wenigen wirklichen Chancen beinhaltet, politische Gestaltung zu bewirken.

Und so ein Faselhans war Kanzlerkandidat! Da konnten einem die Unionsparteien ja fast leidtun, wenn sie keine besseren Leute in der Reserve hatten.

»Jetzt ist nicht die Stunde des Vernebelns und des Beschönigens, jetzt ist die Stunde der Wahrheit«, hatte Kohl im Bundestag gesagt. »Jetzt ist die Stunde des Mutes.« Und Herbert Wehner hatte dazwischengerufen: »Mittag ist jetzt!«

Am Obststand von Comet mußte Renate ständig alles aufräumen, fegen und wischen und nebenher immer noch freundlich grinsend die Kundschaft bedienen, die sich großenteils aus Vollgasidioten zusammensetzte.

Einmal gingen Renate und Mama abends in den Kinofilm »Nordsee ist Mordsee«, mit Musik von Udo Lindenberg.

»Und, wie war’s?«

»Nicht so besonders«, sagte Renate.

Wie mir schien, war das gesamte Erwachsenenleben nicht so besonders, wie man sich das als Kind ursprünglich mal vorgestellt hatte.

Verhaßt waren mir vor allem die Wetternachrichten morgens im Radio: »Nordwest sechs bis sieben, Böen acht.« Den Sprechern hätte ich am liebsten eins in die Fresse gehauen. Und dann Chemie: Was ging mich das Gesetz der ganzzahligen Volumenverhältnisse bei Gasreaktionen an?

Aus Hildesheim erreichte uns telefonisch die Nachricht, daß Tante Luises Töchterlein Hedda im Garten beim Klettern von einem Pflaumenbaum gefallen und mit einer schweren Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gefahren worden sei, wobei sie wirres Zeug geredet habe, immer dasselbe – daß sie leider keine richtigen Schuhe anhabe, sondern nur ihre Hausclogs, und da habe es Tante Luise mit der Angst zu tun gekriegt, aus Sorge um Heddas graue Zellen, aber jetzt sei alles wieder im Lot, auch wenn Hedda sich weder an den Sturz noch an die Fahrt ins Krankenhaus erinnern könne, und es gehe ihr schon besser.

Schnoif!

Die Sendungen, die man als politisch interessierter Mensch nicht verpassen durfte, hießen Monitor, Report, Panorama, Kennzeichen D, Pro und Contra, Impulse, Bilanz, Bericht aus Bonn und ZDF-Magazin, und es war ärgerlich, wenn sich welche davon mit Fußball-Live-Übertragungen überschnitten. Die Ergebnisse der Spiele zwischen Bayern München und Köge BK oder zwischen Gladbach und einem international total unbekannten Verein aus Wien mußte man sich dann später vorm Radio zusammenreimen oder auf den neuen Kicker warten.

Bei der nächsten Elternversammlung war Mama, wie sie stolz verkündete, als Funktionärin in die Elternvertretung gewählt worden, und jetzt durfte sie an Zeugnis- und Klassenkonferenzen teilnehmen. Auch das noch!

Nach dem Fernsehen als Massenkommunikationsmittel nahmen wir in Englisch die Kreuzzüge durch.

Um Mitternacht kam Papa plötzlich mit einem Strauß roter Rosen aus dem Keller hoch, mitten in einem Western, und gratulierte Mama zum 22. Hochzeitstag. Na sowas? Und auf einmal produzierten auch Renate und Volker ihre Geschenke – Renate eine Strickjacke und Volker zwei Flachmänner von Berentzen und Heydt. Nur mir hatte mal wieder keiner vorher was gesagt.

Von Renate erhielten Mama und Papa zusätzlich eine Faltkarte mit der Inschrift: »Herzlichen Glückwunsch zu Eurem 8037. Ehetag seit der kirchlichen Trauung!«

Dann wurde eine Sektpulle hervorgeholt und aufgewürgt, und Papa, der vor guter Laune fast überschäumte, erzählte eine Schote aus seinem Beamtendasein: Am Morgen habe er seine mit Pferdeschwanz und platt am Schädel anliegendem Haupthaar im Büro aufgekreuzte Sekretärin gefragt, ob sie in einen Windkanal geraten sei, und daraufhin habe diese Person im gesamten Referat herumtelefoniert und jedermann ins Ohr geblasen, daß Herr Schlosser sich heute zum ersten Mal seit Menschengedenken über ihre Haartracht geäußert habe. Am Nachmittag sei die Sekretärin dann wieder mit offenen Haaren erschienen. »Und da hab ich zu ihr gesagt: ›Na, Frau Borgfried, hat Ihnen Ihre Sturmfrisur nicht mehr gefallen?‹«

Manche Frauen, meinte Papa, dürften es durchaus als Kompliment auffassen, wenn man ihnen die Mitteilung mache: »Ihre Frisur ist ja heute nicht mehr ganz so scheußlich wie gestern …«

»Nu is’ aber auch gut«, sagte Mama, und dann kreiste das Gespräch um einen zweiwöchigen Lehrgang, den Papa ab dem kommenden Montag in Ottobrunn zu absolvieren hatte, irgendwo bei München. Mama wollte gerne mitfahren, und Renate sagte ihr, das könne sie ruhig tun, wir würden das hier schon irgendwie schaffen, aber Mama erwiderte, das sei ’ne Schnapsidee, schließlich müsse Renate ja arbeiten, und da sagte Papa, daß Renate ihren Job bei Comet ja auch aufgeben und hier solange die Führung übernehmen könne, zum gleichen Preis.

»Ich kann doch von euch nicht vier fünfzig die Stunde verlangen«, sagte Renate. »Da käm ich mir zu unverschämt vor.« Der IG-Metall-Chef Eugen Loderer hätte in einem Tarifstreit sicherlich anders argumentiert.

»Dann bleib eben vormittags bei Comet, und wir geben dir was dafür, wenn du hier nachmittags den Haushalt schmeißt«, sagte Papa, und die Sache war geritzt.

Das sei ja nun wirklich mal ’ne Neuigkeit, sagte Mama. »Eben habe ich hier noch gesessen und mich auf mein Dasein als Strohwitwe eingestimmt, und nun darf ich plötzlich die Weltstadt München sehen! Ich bin baß erstaunt!«

Am Samstag bescherten die angriffslustigen Gäste aus Gladbach Kaiserslautern eine knappe Heimniederlage, während Bochum eine 4:0-Führung gegen Bayern München verschenkte: In nur achtzehn Minuten hatten Schwarzenbeck, Rummenigge, Müller und Hoeneß daraus in der zweiten Halbzeit ein 4:5 gemacht, und am Ende stand es 5:6. Sagenhaft! Und wie die Bochumer sich jetzt wohl ärgerten über ihre Doofheit!

In der Tabelle hatte Gladbach punktgleich zu den Kölner Geißböcken aufgeschlossen, die zum erstenmal in dieser Saison geschlagen worden waren, und zwar ausgerechnet von Tennis Borussia Berlin, einem Verein, dessen Abwehr der reinste Hühnerhaufen war und den bisherigen Saisonrekord an Gegentoren hielt.

Talentspähern von Tennis Borussia hätte ich im Hindenburgstadion die kalte Schulter gezeigt.

Gegen die Äpfel und Birnen aus dem Garten konnte man nicht mehr anfressen.

Mama kochte welche ein, und ich borgte mir aus dem Wohnzimmer die Autobiographie des Schauspielers Curd Jürgens aus, die Mama sich gekauft hatte. Eine von dessen Geliebten war bei einem Verkehrsunfall gestorben, und an diese Tote richtete Curd Jürgens in seinem Buch die Worte:

Wenn jetzt ein Mädchen zu mir kommt und länger als ein Wochenende bleibt, muß sie ihren Schoß rasieren, so wie du es machtest, wie es bei euch Sitte ist. Und wenn ich dann ihre Schenkel auseinanderzerre und ihren Venushügel mit deinem vergleiche, der hoch und rund war wie deine Stirn, verspüre ich meist keine Lust mehr, ihren »zweiten Mund« zu küssen, der in die Tiefe des Bauches führt, dorthin, wo bei dir der jauchzende Teil deiner Seele verborgen war.

Na, bei dem schien’s ja hoch herzugehen. Schenkel auseinanderzerren und rasierte Venushügel vergleichen … und das plauderte er auch noch aus, genau wie alle Einzelheiten seiner ersten Erektion:

Eine halbe Stunde später liege ich in der Badewanne, und Tante Alice wäscht mich. Der Geruch der Kernseife, die sie in den großen Naturschwamm reibt, erinnert mich, wohlig erschöpft, an die Aufregung des Tages. Nach dem Einseifen massiert sie meine Füße, Beine, Schenkel. Schrubbt die Eier und den Schwanz. Etwas schneller, ungenauer als Zehen und Waden. »Encore«, rufe ich. Zu meiner ungeheuren Überraschung hebt sich der Schwanz in Richtung der Hände. Tante Alice nimmt wohlwollend-belustigt den großen Schwamm und fährt damit ein paarmal kräftig zwischen den Beinen hin und her. Es tut angenehm weh, so steif ist das kleine Ding, das mir vorkommt, als glotze es fröhlich aus der Badewanne in die Welt.

Und sowas stellte sich Mama ins Bücherregal! Die dachte wohl, bei uns würde sich niemand außer ihr für den normannischen Kleiderschrank interessieren.

Um halb sechs Uhr morgens hatten Mama und Papa am Montag starten wollen, aber als ich um halb sieben aufs Klo ging, waren sie immer noch da, und Papa suchte überall nach dem Autoschlüssel.

Weil wir in Sport fast nie was anderes als Basketball spielten, wagte ich mich mit der Frage hervor, ob wir nicht auch mal Fußball spielen könnten.

»Alles zu seiner Zeit«, sagte der Weiler, und dann pfiff er das nächste Scheißbasketballspiel an.

Dieser Arsch mit seiner Glatze und den schulterlangen Nackenhaaren. Keine Ahnung von Fußball, aber hier als Sportlehrer den dicken Max markieren.

Nach dem Klavierunterricht mußte ich Renate Einkäufe nachhauseschleppen helfen, einen Kochtopf, Gläser, Gummiringe und ’n Thermometer, und unterwegs zur Post, eine Nachnahmesendung abholen, und zum Schluß noch irgendwelche Backofenringe kaufen, alles im Dauerlauf, damit Renate nicht zu spät zu ihrer nächsten Fahrstunde kam.

Wetz, wetz, wetz! Wenn so das Leben der Hausfrauen aussah, wollte ich lieber Junggeselle bleiben. Und bloß nie eine Familie gründen! Als erwachsener Mann konnte man sich ja auch mit flüchtigen Liebschaften über Wasser halten. Sobald man die ersten Erfahrungen gesammelt hätte, würde keine Gespielin mehr merken, daß man als Jugendlicher mal das eigene Spiegelbild geküßt hatte, zur Übung.

Als Vorgeschmack auf einen echten Kuß trug einem leider auch das Küssen der eigenen Fingerglieder nicht viel mehr als die vage Hoffnung ein, daß sich Mädchenlippen weniger knochig anfühlten.

Abends kochte Renate fünf Gläser Obst ein und ging danach ins Wohnzimmer, um sich den Spielfilm »Szenen einer Ehe« anzukucken. Das war der ödeste Mist, den ich je gesehen hatte, aber Renate verbot mir das Umschalten: »Geh doch einfach raus, wenn dir das nicht gefällt!« Und dabei häkelte sie schon wieder an einer Stola, für Tante Dagmar diesmal. Sechzig Mark war der die Sache wert.

Während Mama und Papa im Freistaat Bayern weilten, machte Franz-Josef Strauß in der heißen Phase des Wahlkampfs Furore mit der Bemerkung, daß Willy Brandt ein »Kunststoff-Messias« sei und in seiner Zeit als Kanzler lediglich den Sockel für sein eigenes Denkmal errichtet habe.

Die merkwürdigsten Blüten trieb aber der amerikanische Präsidentschafts-Wahlkampf. Der Kandidat der Demokraten, Jimmy Carter, hatte in einem Interview mit dem Playboy erklärt, daß er in Gedanken viele Male Ehebruch begangen habe.

Was ging denn das die Wähler an?

Am Mittwoch hatte Wiebke als erstes Sport und wollte im Trainingsanzug losziehen, aber Renate erlaubte ihr bloß die Jacke, und da kriegte Wiebke einen Tobsuchtsanfall und brüllte: »Du doofe Kuh hast mir überhaupt nix zu sagen!«

Huiuiui. Und rumms, die Tür geknallt! Und mit Geheul die Treppe hoch, obwohl gar keine Zeit mehr übrig war fürs Bockigsein.

Das Familienministerium hätte mal ’n Dokumentarfilm drehen müssen bei uns, mit Wiebke in der Hauptrolle, und den im Fernsehen zeigen sollen, in sämtlichen UNO-Staaten: Dann wär’s mit der Bevölkerungsexplosion vorbei gewesen, von heute auf morgen, weil sich keine Frau mehr freiwillig in die Gefahr begeben hätte, Schreihälse wie Wiebke zu gebären.

Als die LP von Cat Stevens endlich angekommen war, forderte mir Renate das ausgelegte Geld dafür ab, bevor ich nach oben traben konnte, um meine Neuerwerbung auf den Plattenteller zu legen.

The first cut is the deepest, baby I know …

Der mittägliche Blumenkohlgestank quoll schon hoch, und wenn mir ein Song nicht gleich nach den ersten Takten gefiel, setzte ich den Tonarm eine Nummer weiter in die nächste breite Rille.

I know I think a lot

But somehow it just doesn’t help

It only makes it worse …

»Essen kommen!« brüllte Renate, aber aus dem Eßzimmer schickte sie mich dann gleich wieder zum Händewaschen raus. »Und du darfst dir ruhig auch mal die Fingernägel saubermachen, du Schwein!«

In voller Länge konnte ich mir den Song erst anhören, nachdem ich meinen Nachtischteller unter Renates strengem Blick bis aufs letzte Erdbeerjoghurtatom leergefressen hatte.

The more I think

The more I know

The more it hurts …

Frei Haus mitgeliefert worden war ein Merkheft, eingeleitet von einem Begrüßungsschreiben des Zweitausendeins-Chefs:

Guten Tag,

wenn man so alt ist wie wir, nämlich sieben (verflixt, so alt ist unser Unternehmen schon), dann trifft einen schon mal in einem lauen Moment die Identitätskrise und man fragt sich angestrengt, was man ist …

Außer einigen Nacktfotos enthielt das engbedruckte Heft Informationen über frisch ausgepackte Platten und billige Restposten, doch mein Etat gab leider auch für Sonderangebote nichts mehr her.

Aus einer Postbenachrichtigung ging hervor, daß Mama im Lotto 66,46 DM gewonnen habe, doch in der Annahmestelle biß Renate auf Granit. Das Geld müsse Mama persönlich abholen, hieß es da, und zwar binnen sieben Tagen, und Renate konnte nur mit gutem Zureden und der Leistung einer Unterschrift auf irgendwelchen Papieren eine Verlängerung der Frist bis zum vierten Oktober erwirken.

Auf NDR 3 dolmetschte Tante Dagmar abends Spanisch bei einer Diskussion über die Frankfurter Buchmesse. So eine prominente Tante hatte man, deren Stimme im Äther erklang, was einem aber auch nicht viel nützte, wenn man in Meppen gefangensaß und als Hausaufgabe Goethes »Götz von Berlichingen« lesen mußte.

In der alten Reclam-Ausgabe von Mama konnte ich die Stelle mit dem Arschlecken nicht finden. Die war wohl der Zensurschere zum Opfer gefallen.

Als es nachmittags wie immer regnete, ging ich im Wohnzimmer zum hundertsten Mal Mamas Bücher durch. Vielleicht hatte ich ja doch noch ein verwendbares übersehen?

»Eltern, Kind und Neurose« hieß ein Taschenbuch, in das ich einen kurzen Blick riskierte.

Diagnose: Enuresis und Enkopresis. Dissoziale Fehlhandlungen.

Ach du lieber Gott von Bentheim. Da kehrte ich doch lieber wieder heim zu Curd Jürgens und Anthony Quinn.

Gegen Rot-Weiß Essen glückte Gladbach ein Kantersieg – 6:0! Drei Tore hatte allein Jupp Heynckes geschossen. Wenn die Kölner die Tabellenführung behaupten wollten, genügte ihnen beim Samstagsspiel gegen Bayern rein rechnerisch ein Sieg mit zwei Toren Vorsprung, aber die Bayern waren nicht dafür bekannt, daß sie im eigenen Stadion ihre Siege verschenkten.

Einmal rief Mama abends an, um halb zehn: Sie amüsiere sich bestens, und sie nehme alles mit, was sie kriegen könne, Theater, Kino, Museen, und sie habe sich noch keine Minute gelangweilt, auch jetzt nicht auf der Wiesn beim Oktoberfest mit Blasmusi und Schunkeln überall. Da sei auch Papa von ihr hingeschleift worden, trotz seiner Gegenwehr, und er habe nur leider seinen Personalausweis in Meppen vergessen, so daß sie an diesem Wochenende nicht wie geplant nach Salzburg hätten fahren können …

Renate suchte mehr als eine Stunde lang nach Papas Ausweis und fand ihn dann in einem Aktentaschenschlitz. Gleich am nächsten Tag wollte sie das Ding per Einschreiben nach Ottobrunn spedieren.

Den 1. FC Köln vernaschte Bayern München mit 4:1, und Gladbach war neuer Tabellenführer. Sieben Spiele, fünf Siege, zwei Unentschieden, keine Niederlage, 17:5 Tore, 12:2 Punkte: Das war doch ein prächtiger Saisonstart.

Die Bayern hatten zwar schon 26 Tore geschossen, aber auch 15 Gegentore hinnehmen müssen.

Als wahres Torfestival hatte sich die Begegnung zwischen Schalke 04 und Tennis Borussia erwiesen. Der Endstand – 5:4 für Schalke – deutete nicht darauf hin, daß Bundestrainer Helmut Schön sich mit dem Gedanken tragen müßte, Tennis Borussias Torwart Hubert Birkenmeier in den engeren Kreis der Aspiranten auf die Nachfolge Sepp Maiers einzubeziehen.

Renate sagte ihren überflüssigen Pfunden abermals den Kampf an: Ab Montag wollte sie von ihrer Tausend-Kalorien-Diät auf Nulldiät umsteigen und bloß noch Kaffee, Tee und Wasser konsumieren, eine Vitamintablette täglich und dazu vielleicht noch eine Prise Süßstoff. Wenn schon, denn schon.

Zum Abnehmen hätte ich an Renates Stelle lieber Fußball gespielt. Obwohl: Damenfußball? Gab’s das überhaupt in Meppen?

Was für ein trauriges Los, einem Geschlecht anzugehören, dem als magerer Ersatz für den Vereinsfußball nur das Hungern übrigblieb.

Näher als bis Lingen war Helmut Kohl bei seiner Wahlkampftournee an Meppen nicht herangekommen, und ich hatte es mir ein paar Märker kosten lassen, am Stichtag mit dem Zug die zwanzig Kilometer nach Lingen zu fahren und mir dort im Geschiebe und Gedränge der Volksmassen ein Autogramm von Kohl zu besorgen, persönlich und aus erster Hand, als Bestandteil einer Sammlung, deren Umfang irgendwann selbst Gustav schier vor Neid erblassen lassen dürfte.

Der ranghöchste SPD-Politiker, den es im Wahlkampf nach Meppen verschlagen hatte, war der Arbeitsminister Walter Arendt, aber um den hatten sich keine Massen gedrängt, sondern nur ein Häuflein Parteifreunde, in einer verqualmten Kneipe statt unter freiem Himmel, und am Ende der Veranstaltung wären Walter Arendt und die neben ihm sitzenden Lokalmatadoren mit der Erfüllung meines Autogrammwunschs total überfordert gewesen, wenn sich nicht doch noch irgendwo ein Kugelschreiber und ein Papierfetzen angefunden hätten. Autogrammkarten? Fehlanzeige.

Und nun sollte auf dem Meppener Windthorstplatz bei einer Kundgebung der CDU der als Scharfmacher bekannte Spitzenpolitiker Alfred Dregger sprechen, allerdings schon mittags, so daß Hermann und ich die Mathestunde schwänzen mußten, um dieses politische Großereignis nicht zu verpassen, aber so furchtbar groß war’s dann auch wieder nicht, sondern ziemlich übersichtlich, und wir konnten uns ohne Schwierigkeiten weit nach vorne drängeln.

Nach dem Wahlsieg, tönte Dregger, werde »Kassensturz« gemacht in Bonn, auf Heller und Pfennig genau, und dann werde sich zeigen, was noch zu retten sei nach sieben Jahren sozialliberaler Mißwirtschaft und deren verheerenden Folgen: wachsende Arbeitslosigkeit, erhöhte Steuern, steigende Inflationsrate, zunehmende Gewaltkriminalität und außenpolitisch der Kotau vor Moskau und den sowjetischen Satellitenstaaten, Milliardengeschenke an die Marxisten der Dritten Welt, Korrosion des atlantischen Bündnisschilds und eine dramatische Gefährdung des Friedens und der internationalen Sicherheitslage …

»Panikmache«, sagte Hermann halblaut, und da drehte sich ein Mann zu uns um, dessen Gesichtszüge jedem Leser der Meppener Tagespost vertraut erscheinen mußten: CDU-MdB Burkhard Ritz – einer der edelsten Platzhirsche in der Hackordnung der emsländischen Christdemokratie und zudem der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag.

Burkhard Ritz bedachte uns beide mit eisigen Blicken und wandte sich dann wieder Dregger zu, der sich jetzt über das schwarz-rot-goldene Emblem der CDU vernehmen ließ. Das sehe nicht so halbherzig und flatterhaft aus wie das wellenförmige der SPD, denn bei der CDU gehe es steil nach oben: »Aus Liebe zu Deutschland!«

Ich applaudierte, und ich bat auch Hermann zu applaudieren, weil sich Burkhard Ritz schon wieder zu uns umdrehte und ich hier nicht als Querulant eingestuft werden wollte, denn ich hatte vor, mir auch von Dregger ein Autogramm zu beschaffen, und nachdem ich lange genug geklatscht hatte, ging ich nach vorn und holte mir eins ab.

Nach allem, was ich gelesen hatte, besaß Muhammad Alis neuer Herausforderer Ken Norton ein größeres Format als seine letzten drei Vorgänger, und ich stellte meinen Wecker auf drei Uhr zwanzig, ohne Renate vorher zu fragen, ob es ihr genehm wäre, wenn ich einen Teil meines Nachtschlafs opferte, um mir die Übertragung dieses Boxkampfs ankucken zu können. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, dachte ich mir, und wenn alles glattlief, würde Renate von meinem nächtlichen Ausflug zum Fernseher gar nichts mitkriegen, aber als der Wecker dann klingelte, war mir der gesamte Boxsport auf einmal so egal, wie’s nur ging. Ich stellte das Klingeln ab und ratzte weiter und erfuhr erst morgens aus dem Radio, daß Ali den Ring als Punktsieger verlassen hatte, nach fünfzehn Runden.

Im Badezimmer stritten sich Volker und Wiebke mit viel Geschrei über die beste Methode des Ausquetschens einer weitgehend ausgemolkenen Zahnpastatube, und von unten keifte Renate herauf: »Kommt ihr jetzt mal bald zum Frühstück runter, ihr lahmen Säcke?«

Ein Segen, dachte ich, daß ich mich nicht als übermüdeter Zuschauer der fünfzehn Runden in den Kampf ums Dasein stürzen mußte, sondern halbwegs ausgeschlafen war, und ich stellte mich auf einen normalen Scheißschultag ein, bis Renate beim Frühstück die Meppener Tagespost aufschlug und kreischte: »Ich lach mich tot! Das bist ja du!«

Verarschen kann ich mich alleine, dachte ich, aber Renate hatte recht. Im Lokalteil prangte ein gestochen scharfes Foto von Alfred Dregger und mir, und untendrunter stand:

Nach der Kundgebung kamen die Autogrammjäger zu ihrem Recht.

Oh no! Das war ja der Beweis dafür, daß ich Mathe geschwänzt hatte, und der lag nun sämtlichen Abonnenten der Meppener Tagespost vor, schwarz auf weiß!

Und es hätte noch viel schlimmer kommen können, denn irgendein Idiot hatte das Foto ausgeschnitten und ins Klassenbuch gelegt, aber der Schlüter schenkte dem Fundstück zum Glück keine große Beachtung, sondern drohte mir nur scherzhaft mit dem Zeigefinger, und dem Mathelehrer war es gar nicht aufgefallen, daß Hermann und ich gefehlt hatten.

Nach einem 3:0-Sieg über eine österreichische Außenseitermannschaft hatte Gladbach im Europapokal die nächste Runde erreicht. In jüngeren Jahren hätte ich sämtliche Ergebnisse des Wettkampfs um die großen europäischen Trophäen sowie die Torfolgen mitsamt den Namen aller Schützen säuberlichst in einer Kladde vermerkt, aber das konnte man ja auch alles im nächsten Kicker nachlesen, also was soll’s?

Gegen den FC Porto hatte Schalke in den letzten vier Minuten aus einem 1:2 ein 3:2 gemacht, und auch Abramczik hatte ein Tor geschossen.

In Deutsch schob Hermann mir sein Reclamheft rüber und tippte auf einen mit Bleistift unterstrichenen Satz, den Goethe einem schißhasigen, vor Götz von Berlichingen und dessen Leuten fliehenden Knecht in den Mund gelegt hatte: »Ich steck mich ins Rohr.«

Da waren wohl Schilfrohre gemeint.

Viel blöder fand ich das krampfhafte Eindeutschen englischer Königsnamen. Da wurden Henry, Charles und James in Heinrich, Karl und Jakob umgetauft, aber wenn denen einer auf der Straße »Hallo, Heinrich!«, »Hey, Karl!« oder »Tagchen, Jakob!« zugerufen hätte, wären die doch nicht mal stehengeblieben, sondern weitergelatscht, tief versunken in Gedanken an die Habeascorpusakte.

Eine ganz andere Frage warf der Physikpauker Pöttering auf, »aber die kann uns ja vielleicht der junge Herr Schlosser beantworten, wenn er die Güte besitzt, sich aus seinen Tagträumen loszureißen. Also?«

Also was? Der Arschkeks wußte doch genau, daß ich nicht aufgepaßt hatte. Ich merkte, daß ich rot wurde, und als sich welche nach mir umdrehten, noch röter.

»Wir haben uns gerade gefragt«, sagte der Pöttering, »ob sich der Auftrieb eines waagerecht in Wasser getauchten Brettes ändert, wenn man es vertikal stellt.«

Aha. Vertikal, das hieß – was hieß das noch? Senkrecht? Ein senkrecht gestelltes Brett und dessen Auftrieb in einem Wasserbad. Auftrieb, das war der Dings, der scheinbare Gewichtsverlust in Wasser, wie mir wieder einfiel, und nun mußte ich mit einer Antwort rüberkommen, denn inzwischen hatte sich die halbe Klasse zu mir umgedreht, um das Schauspiel meiner Folterung zu genießen. Änderte sich der Auftrieb? Ja oder nein? Die Chancen standen fifty-fifty.

»Nein«, sagte ich.

Der Pöttering, von dessen Feindseligkeit ich bis zu dieser Stunde noch gar nichts geahnt hatte, wanderte vor der Tafel umher, die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt, und sah dabei zur Decke hoch. »Und was veranlaßt dich zu dieser Vermutung?«

Irgendwas mußte ich sagen. Irgendwas anderes als die Wahrheit, daß ich nur geraten hatte. »Weil Bretter im Wasser nicht senkrecht stehenbleiben«, sagte ich. »Die kippen um.«

Der Pöttering hielt inne und schnitt ein Gesicht, als ob er ’ne Zitrone gefressen hätte.

»Wegen dem Auftrieb eben«, schob ich nach, zur Erklärung, und wenn ich sonst noch was zu sagen gehabt hätte, wäre es im Gelächter der Klasse untergegangen. Und dann im erlösenden Pausenklingeln.

Ihr Hühnerficker, ihr bekotzten!

Warum konnte nicht jeder Schüler eine Einzelkabine haben, mit freier Sicht aufs Lehrerpult, aber ohne Blickkontakt zu den Mitschülern? Das wäre mir lieber gewesen als alle Klassenzimmer, in denen man herumsaß wie auf dem Präsentierteller.

Nach der Tagesschau trafen die Spitzenvertreter aller vier Parteien aufeinander, Schmidt und Genscher, Kohl und Strauß, zum letzten direkten Schlagabtausch vor der Wahl. Das war die sogenannte Elefantenrunde, und die sahen sich auch Renate und Volker an, nur Wiebke nicht, weil die sich mehr fürs Nasebohren interessierte als für Politik.

Es ging auch gleich gut los. Helmut Schmidt zitierte jemanden, der geschrieben hatte, daß die Deutschen dem Ziel einer gerechten und humanen Ordnung noch nie so nahegekommen seien wie in der Bundesrepublik, die einen hervorragenden Platz in der Staatenwelt einnehme, und Franz-Josef Strauß brauste auf: »Ja, die Darstellung, die Herr Schmidt von der wirklichen Lage der Bundesrepublik auf den eben angeschnittenen Gebieten gibt, ist mehr ein Poesiealbum als eine die Wirklichkeit treffende Darstellung unserer Probleme!« Und dann meckerte er über die Wirtschaftskrise, die Fehler in der Steuerpolitik und die Zahl der Arbeitslosen, die zehn Milliarden Mark Unterstützung kosteten. Und Schmidt konterte damit, daß das Zitat, das er vorgelesen hatte, aus einem Aufsatz von Helmut Kohl stammte. Gut gegeben!

Kohl kam ziemlich ins Schwitzen bei seiner Erwiderung, und er suchte dann sein Heil in der Kritik an der sozialistischen Indoktrination in deutschen Schulen, aber davon hatte ich am Kreisgymnasium noch nichts gemerkt.

»Für ’ne Führungsposition ist der zu schwach«, sagte Renate, häkelnderweise. »Der windet sich doch wie ’n Aal, wenn er was gefragt wird. Armes Deutschland!«

Die meisten von Hans-Dietrich Genschers Gesprächsbeiträgen fingen mit den Worten an: »Darf ich zunächst noch mal feststellen, daß …« Und dann kam irgendwas wahnsinnig Langweiliges, das im Zigaretten- und Pfeifenqualm unterging.

Um Viertel nach zehn hatte die Debatte zuende sein sollen, aber sie dauerte bis Mitternacht, und da versuchten Kohl und Strauß noch schnell, der Bundesregierung die Verantwortung für den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze in die Schuhe zu schieben, und danach lief Einsatz in Manhattan, für Leute, die an diesem Tag noch immer nicht genug gesehen und gehört und gehäkelt hatten.

In Mathe kam das d’Hondtsche Wahlsystem aufs Tapet, ein kompliziertes Verfahren der Sitzverteilung, das der Rechtswissenschaftler Victor d’Hondt ausgebrütet hatte. Dabei spielten auch das Kumulieren und Panaschieren von Erst- und Zweitstimme eine Rolle. Ich strengte mich an, um das zu durchschauen, und einmal war ich auch kurz davor, aber dann klappte es irgendwie doch nicht.

Leichter zu begreifen war der parlamentarische »Hammelsprung«. Da mußten alle Abgeordneten den Plenarsaal verlassen, und je nachdem, durch welche Tür die Mehrheit wieder hereinspazierte, fiel das Ergebnis der Abstimmung aus.

Hinter den Kulissen des Bundestags ging’s wahrscheinlich mit Hauen und Stechen zu. Na ja, immer noch besser als die lachhafte Brüderlichkeit in der Volkskammer der DDR, wo immer alle ein und dieselbe Meinung haben mußten.

In England gab es Oberhaus und Unterhaus, in den USA Kongreß und Senat, in der UdSSR den Obersten Sowjet und in China den Nationalen Volkskongreß. Wie sollte man sich das alles merken?

Knesset, Folketing und Sejm.

Der letzte Schultag vor den Herbstferien war auch Renates letzter Arbeitstag bei Comet, aber da konnte sie nicht hintänzeln wie eine Dancing Queen, denn sie hatte sich über Nacht eine fette Erkältung eingefangen, mit allen Schikanen, einschließlich Heiserkeit, Matschbirne und Gleichgewichtsstörungen.

Im Wahlkampf hatten die Regierungs- und die Oppositionparteien einander nichts geschenkt. Freiheit oder Sozialismus? Den Wankelmut von Franz-Josef Strauß in der Frage der innerbetrieblichen Mitbestimmung hatte Helmut Schmidt auf die Formel gebracht: »Wie der Bulle pißt, eben mal so und mal so.«

Hermann mißtraute den Beteuerungen der Union, den Frieden in Europa aufrechterhalten zu wollen: »Dem Kohl, dem nehm ich das vielleicht noch ab, daß er in Bonn nur gemütlich regieren will, aber dem Strauß? Dem brennen doch sofort die Sicherungen durch, wenn der Russe mit dem Säbel rasselt …« Das hätten inzwischen hoffentlich auch die Wähler kapiert.

»Und was machst du, wenn die Union trotzdem ans Ruder kommt?«

»Dann steck ich mich ins Rohr.«

Die frühe 1:0-Führung der Eintracht bog Gladbach im Frankfurter Waldstadion durch Tore von Simonsen und Wittkamp in ein 1:3 um und blieb damit auch am achten Spieltag Nummer eins. Wohlan.

Um fünf Uhr, gerade rechtzeitig zum Tee, den ich selbst gekocht hatte, weil Renate dafür zu k.o. war, kamen Mama und Papa zurück.

Unterwegs, erzählte Mama, sei der Peugeot kaputtgegangen, und deswegen hätten sie am letzten Sonntag die Wahlkampfrede von Strauß auf dem Marienplatz in München versäumt, »aber das kann ich verschmerzen!« Ihr, also Mama, sei die penetrante CSU-Reklame in ganz Bayern sowieso schon auf den Wecker gegangen. »Ist ja ganz nett, da mal reinzuschnuppern, aber ewig wollt’ ich da nicht leben.« In Bad Tölz habe irgendein Bauer seine Kuhherde über die Straße getrieben, mitten in der Stadt, wie im Mittelalter. »Geschadet hat’s nix, nur gestunken.«

Ohne Kinder zu verreisen, das sei eigentlich der ganze Witz. »In Salzburg haben wir das Mozarthaus besichtigt, in der Getreidegasse, und zwar in ruhigerer Gangart als vor elf Jahren.« Was allein ich da 1965 für ein Theater gemacht hätte! »Und denkt mal an – im Hof vom Deutschen Museum in München hat ’n Starfighter aus Upjever gestanden, von der Luftwaffenschule. Da hat Papa natürlich sofort seinen Kopp in den Auspuff gesteckt.«

Wiebke erhielt ein Halstuch, Renate ein mit rosa Steinchen besetztes Armband, Volker ein Buch über Militärflugzeuge und ich einen Bayern-München-Wimpel.

Das Armband würde gut zu ihrem einen Ring von Olaf passen, sagte Renate, aber mein Wimpel paßte absolut nirgendwohin.

Am Sonntagvormittag zogen Mama und Papa sich fein an, bevor sie zum Wahllokal gingen, und anschließend gab’s Gulasch mit Kartoffeln und Wirsing und dann fast auch noch Streit, weil Wiebke ein zerkautes Stück Fleisch auf ihren Teller gehustet hatte.

»Was ist denn das für ein Benimm?«

Volker hatte keinen Bock, aber Renate, Wiebke und ich fuhren freiwillig mit, als Mama Oma und Opa Jever nach dem Essen einen Besuch abstatten wollte.

Auf der Hinfahrt bat ich alle darum, mir sofort Bescheid zu sagen, wenn ein Briefkasten in Sichtweite komme. Ich hatte Michael Gerlach einen fünfzehn Seiten langen Brief geschrieben, den längsten meines Lebens, und den wollte ich loswerden.

In Jever fragte Oma uns beim Tee, ob auch wir im Fernsehen verfolgt hätten, wie in Damaskus drei Verbrecher öffentlich gehenkt worden seien, und da mischte sich Gustav ein: »Aus deiner Annahme, liebes Großmütterchen, daß es sich bei den Delinquenten um Verbrecher gehandelt hat, spricht nicht nur ein gesundes Grundvertrauen in die syrische Rechtspflege, sondern auch eine profunde Kennerschaft auf dem Gebiet der Kriminalität im Nahen Osten, und wenn du darüber wirklich soviel weißt, dann solltest du dich den dortigen Justizorganen fürderhin als Gutachterin in Strafprozessen zur Verfügung halten.«

»Ach was«, sagte Oma, »nun red doch nicht so’n Tühnkram daher!«

In den fünfziger Jahren war die SPD noch im Dreißig-Prozent-Turm gefangen gewesen, aber der Genosse Trend war ihr seit 1953 treu geblieben, und sie hatte bei jeder Bundestagswahl ein bißchen zugelegt und es zuletzt auf satte 45,9 % gebracht.

Wie sich schon um kurz nach sechs herausstellte, war diesesmal jedoch die CDU als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen, und es zeichnete sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der sozialliberalen Koalition und den Oppositionsparteien ab, sehr zum Verdruß von Oma und Mama, die Helmut Kohl nicht ausstehen konnten.

»Wartet’s mal ab«, sagte Gustav. »Wenn Helmut Kohl erst regiert, dann wachsen dem mit der Amtswürde auch Charisma und eine irisierende erotische Ausstrahlung zu, und am Ende der nächsten Legislaturperiode werdet ihr beide Feuer und Flamme sein für diesen Mann …«

»Da luer up!« rief Oma aus, was soviel hieß wie: Darauf kannst du lange warten.

An die absolute Mehrheit kam die Union nach den jüngsten Hochrechnungen aber doch nicht ganz heran, und damit war die Sache bereits nach gut dreißig Minuten entschieden, mehr oder weniger.

Früher sei das spannender gewesen, sagte Mama. Da hätten sich diese Geschichten über viele Stunden hingezogen. »Und wir haben oft bis weit nach Mitternacht gezittert, wenn die Ergebnisse aus irgendwelchen gottverlassenen Wahlkreisen bekanntgegeben worden sind!«

Als mündiger Bürger wollte Gustav von seinem Recht Gebrauch machen, in einem Wahllokal die Auszählung der Stimmen zu beobachten, und ich durfte mitkommen.

In einem Grundschulklassenzimmer brachten Wahlhelfer Ordnung in das Durcheinander der Stimmzettel. Wir sahen eine Weile zu, und dann fiel mir auf, daß oben auf dem FDP-Häufchen einer abgelegt worden war, der nicht gültig sein konnte, weil der Wähler weiter unten in der Zweitstimmenspalte außerdem noch die rechtsextremistische NPD angekreuzt hatte.

»Oh, vielen Dank«, sagte einer der Wahlhelfer und sortierte diesen Stimmzettel aus. Der kam auf das noch kleinere Häufchen mit ungültigen Stimmen von Wählern, die Hakenkreuze aufs Papier gekrakelt oder alles durchgestrichen hatten.

Eine der zur Wahl stehenden Parteien hieß AUD (»Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher«). Wer die wohl gegründet hatte? Und mit welchen Hoffnungen? Da konnte doch nie was draus werden.

Vor den Splitterparteien brauche man sich nicht zu fürchten, meinte Gustav. »Bonn ist nicht Weimar!« Von denen werde keine auf einen grünen Zweig kommen.

Danach begaben wir uns wieder vor den Fernseher. Der nervtötend näselnde Reporter Ernst-Dieter Lueg fragte Willy Brandt, wie die SPD die Probleme jugendlicher Wähler zu lösen gedenke, und Brandt erwiderte, er könne sich jetzt nicht »bei Petitessen aufhalten«.

Petitessen? Das Wort hatte ich noch nie gehört. Es stand auch weder in Opas Duden noch in Gustavs Fremdwörterlexikon.

Alles in allem hatten die Koalitionsparteien zwar viele Zweitstimmen verloren, aber nicht genug für einen Regierungswechsel. Da konnte Helmut Kohl noch so trotzig blaffen: »Ich will Bundeskanzler werden!«

Franz-Josef Strauß war aus München zugeschaltet worden und saß also nur in einem Fernsehgerät mit am Tisch der ARD.

Renate erhielt einen Anruf von Olaf, und hinterher erzählte sie, der sei schon betüdelt, aber einfach süß. In genau 109 Stunden werde sie wieder bei ihm sein. Und dann zog sie mit Gustav zu einer Wahlparty der Jusos los.

Mama, Volker und Wiebke fuhren zurück nach Meppen. Ich selbst hatte mir gewünscht, mal wieder eine Woche lang in Jever bleiben zu dürfen, und ich teilte mir das Kellerzimmer mit Renate, die allerdings erst spät und nicht gerade nüchtern angetorkelt kam.

Vorläufiges amtliches Endergebnis: SPD 42,6 %, CDU/CSU 48,6 %, FDP 7,9 %, Sonstige 0,9 %. Die Koalitionsregierung hatte eine Mehrheit von acht Sitzen, und Helmut Kohl, der sich trotzdem als Wahlgewinner betrachtete, war sauer auf die Freidemokraten, weil die sich nicht mit ihm an den Verhandlungstisch setzen wollten.

Ein besseres Ergebnis hatte die Union bisher tatsächlich nur ein einziges Mal erreicht, in der Ära Adenauer. Wie es damals zugegangen war, konnte man einem alten, in Opas Bücherschrank vorrätigen Sammelband mit den denkbar drögsten Adenauer-Anekdoten entnehmen. Einmal hatte Konrad Adenauer sich im Bundestag mit dem kommunistischen Abgeordneten Heinz Renner gefetzt. »Da lachen ja die Hühner, Herr Bundeskanzler«, hatte Renner ausgerufen und darauf von Adenauer zu hören bekommen: »Dann lachen Se mal, Herr Renner.«

Vollkommen hirnrissig war schon der Titel dieses Buchs: »… gar nicht so pingelig, m.D.u.H.« Wobei »m.D.u.H.« als Abkürzung der Floskel »meine Damen und Herren« auf dem Schutzumschlag stand.

Im Wahlkreis Emsland hatte die CDU 62,2 % der Zweitstimmen gekriegt, und das Direktmandat war natürlich an den christdemokratischen Kandidaten gegangen, Rudolf Seiters aus Papenburg. Im Emsland hätte die CDU auch ’n Besenstiel aufstellen können.

Von dem Taschengeld, das mir von Mama zugemessen worden war, kaufte ich mir bei Tolksdorff ein Buch über Lenin, der in Rußland 1917 die Oktoberrevolution angezettelt hatte. Vorher war er, wie ich aus dem Buch erfuhr, auch einmal in London gewesen und hatte den Stadtplan penibel genug studiert, um selbst Einheimische durch genaue Ortskenntnisse verblüffen zu können. In London! Ich dagegen hätte nicht mal sagen können, wo genau die Meppener Kuhstraße verlief.

Geschildert wurde in dem Buch auch, wie Lenin die Menschewiki ausmanövriert und die Macht an sich gerissen hatte. Die Angehörigen der Zarenfamilie waren 1918 erschossen und die zerhackten Leichen mit Benzin und Schwefelsäure übergossen und verbrannt und dann in einen Sumpf geschmissen worden.

Alle diejenigen abzuschlachten, die im Kampf gegen uns verwundet wurden, ist das Gesetz des Bürgerkriegs.

Das hatte ein Leitartikler der Iswestija geschrieben, und es waren Zehntausende liquidiert worden, von Erschießungskommandos der Tscheka, zackbumm, ohne Gerichtsverfahren und Grabreden. Im Hauptquartier des Moskauer Sowjets hatte 1918 ein Arbeiter die Erkennungsmerkmale eines todeswürdigen Bourgeois zusammengefaßt: »Ich würde einfach in sein Haus gehen und in seine Töpfe gucken. Wenn Fleisch darin ist, ist er ein Volksfeind und müßte an die Wand gestellt werden.«

Irgendwann hatte auch Jever mal zu Rußland gehört, aber diese Zeit lag zum Glück schon lange zurück. Sonst hätte uns jetzt bei einer Razzia der Rotarmisten vielleicht bereits der Geruch der von Oma in der Pfanne geschmurgelten Bratwürste ans Messer geliefert.

Wie er nach der Revolution mit den Beamten des alten Regimes umspringen werde, hatte Lenin 1908 einem Freund erläutert: »Wir werden den Mann fragen, ›wie stellst du dich zu der Revolution? Bist du dafür oder bist du dagegen?‹ Wenn er dagegen ist, werden wir ihn an die Wand stellen. Ist er dafür, so werden wir ihn willkommen heißen und ihn auffordern, mit uns zu arbeiten.« Und die Krupskaja, Lenins Frau, hatte dazu angemerkt: »Ja und ihr werdet selbstverständlich die wertvolleren Menschen erschießen, weil sie den Mut haben, zu ihrer Überzeugung zu stehen.«

Und so hatten die Kommunisten die zaristische Diktatur durch einen Staat ersetzt, in dem nur Arschkriecher nicht ständig um ihr Leben bangen mußten.

»Was liest’n du da Schönes?« fragte mich Gustav, als er das Wohnzimmer nach seinem Teerkocher durchsuchte.

Ich hielt das Buch hoch: »Lenin – Geburt des Bolschewismus«.

»Das lies man weiter«, sagte Gustav.

Er selbst las momentan ein Buch aus der Serie Bonn aktuell (»Hans Friedrichs – Staranwalt der Marktwirtschaft«). Diese Bücher konnte man, wie mir Gustav mitteilte, kostenlos in Bonn bestellen: »Postkarte genügt.«

Wieso erfuhr ich das erst jetzt? Ich wetzte noch am gleichen Tag zur Post und orderte beim Auswärtigen Amt ein solches Buch über Hans-Dietrich Genscher, und bei der Bundeszentrale für politische Bildung abonnierte ich die Heftreihe Informationen zur politischen Bildung. Die gab es nämlich ebenfalls umsonst.

Nachdem Renate abgedampft war, blieb ich als letzter Vertreter der Familie Schlosser in Jever zurück und mußte ganz alleine in dem Gästezimmer im Keller schlafen. Einmal lag ich da mit meinem Buch und ahnte nichts Böses, als ich mitten über meine Bettdecke eine fette, schwarzhaarige Spinne stolzieren sah. Mit einem Wuppdich sprang ich aus der Falle, unwillkürlich, ohne groß zu überlegen, und ich schaltete das Deckenlicht an und wich noch einmal einen halben Meter zurück.

Und nun? Was hätte Lenin wohl getan, nach den Gesetzen des Bürgerkriegs?

Für einen Mutanten aus dem niederen Tierreich und mich war dieses Gästebett auf jeden Fall zu klein. Einer von uns beiden mußte weichen, und ich wußte auch schon wer, aber ich hatte meine liebe Mühe, die Spinne wiederzufinden. Ich drehte Bettdecke und Kopfkissen vorsichtig um, und ich wuchtete sogar die Matratze hoch, doch die Spinne blieb unauffindbar, und das war keine geringe Leistung im Versteckspielen für ein Raubtier mit so vielen und so langen Beinen.

Schließlich ging ich selbst auf alle viere, um auch das Gelände unterm Bett zu kontrollieren, wobei ich die Nachttischlampe zuhilfenahm, und da sprotzelte was, und die Glühbirne war hinüber.

Womit hatte ich nun das wieder verdient?

Den Rest der Nacht verbrachte ich in dem anderen Gästebett.

Oma zeigte morgens kein Verständnis für die Nöte, die ich ausgestanden hatte. »Spinne am Abend, erquickend und labend«, sagte sie, und damit hatte sich die Sache.

Bei einer langen Radtour durchs Wangerland dozierte Gustav über die sogenannte Spiegel-Affäre von 1962: Da hätten Adenauer und Strauß nach einem kritischen Bericht über die Stärke der Bundeswehr die Pressefreiheit auszuhebeln versucht und den Spiegel-Chef Rudolf Augstein verhaften lassen, wegen »Landesverrat«, aber diese Anschuldigung sei an den Haaren herbeigezogen gewesen. Strauß habe dann im Parlament die Lüge aufgetischt, daß er mit der ganzen Affäre nichts zu tun habe, »im Wortsinne nichts«, aber damit sei er nicht durchgekommen. »Lügen haben kurze Beine«, sagte Gustav, »und aus diesem Grunde mußte Strauß alsbald die Amtsgeschäfte als Verteidigungsminister niederlegen …«

In einer Ortschaft namens Stumpens kehrten wir in ein stilles Wirtshaus ein, wo Gustav sich ein Jever Pilsener bestellte und ich mir ’ne Fanta, auf Gustavs Einladung.

In der Ecke stand eine Musikbox mit säuischen Schlagertiteln. »Bumsfallera« lautete einer. Ich opferte fünfzig Pfennig und drückte die Taste F7. Und schon tschingbummte es durch die Kneipe: »General Schlambambes liegt im Bett mit seiner Frau Elisabeth! Sie liegen beide Arsch an Arsch und furzen den Radetzkymarsch …« Darauf folgten Trompetenstöße, die die Fürze simulieren sollten. Ein einziger Schweinkram.

»Das hast du dir selber ausgesucht«, sagte Gustav, »also beschwer dich nicht.«

Er las in Bild am Sonntag. Sonntags gab’s in Deutschland nur zwei Zeitungen: Bild am Sonntag und Welt am Sonntag, BamS und WamS, und alle beide gehörten dem Verleger Axel Springer.

Im Kellerschrank entdeckte ich ein angegammeltes Pamphlet aus dem Jahr 1947, über die Menschenversuche der Nazis, die sich in ihrer Hybris dazu verstiegen hätten, KZ-Häftlinge zwangsweise in Eiswasser zu baden, um herauszufinden, bei welcher Temperatur ein Mensch erfriere. Als Herren über Leben und Tod hätten sich diese Schergen aufgespielt, und in der sowjetisch besetzten Zone würden gegenwärtig leider ganz ähnliche Verhältnisse herrschen.

Ich schnürte auch wieder einige der Stöße aus Gustavs eingekellerter Spiegel-Sammlung auf, wobei mir eine Fortsetzungsserie über das Leben von Adolf Hitler vor Augen kam. Diese Serie schnitt ich mir aus, mit Omas Handarbeitsschere, und ich war schon fast fertig damit, als Oma beim Kartoffelholen zufällig mitkriegte, was ich da trieb.

»Na, das wird Gustav aber gar nicht recht sein, daß du ihm hier seine geliebten Hefte zerschnibbelst«, sagte sie. »Das leg man alles schön wieder zurück!«

Was ich dann auch tat.

In dem Freundschaftsspiel gegen Wales stand wieder einmal Rudi Kargus im deutschen Tor, und die Waliser mußten sich mit 0:2 geschlagen geben.

Wahrscheinlich dachte Helmut Schön jetzt darüber nach, ob er den alternden Sepp Maier vor der WM ’78 durch Kargus ersetzen sollte, was aber auch wieder traurig gewesen wäre, weil ich die Vorstellung anziehend fand, den WM-Pokal spätestens 1982 gemeinsam mit Maier wieder nach Deutschland zu holen. Ich als Newcomer und Sepp Maier als Veteran, und wir beide in einer Mannschaft, deren Glanzvorstellungen die ganze Welt in Entzücken versetzten: »Ramba-Zamba: Deutschland – Brasilien 7:0! Pelé mit Maulsperre auf Intensivstation – Herzinfarkt?«

So in etwa. Aber ich traute mir auch zu, im Fünfmeterraum mit Rudi Kargus oder Norbert Nigbur zu harmonieren. Oder mit Wolfgang Kleff oder wem auch immer.

Näheres über seinen Fahrradunfall und dessen Folgen mußte man Gustav mühsam aus der Nase ziehen.

»Und was hast du gemacht, wenn du gemußt hast?«

»Dann, mein werter Vetter, habe ich in eine eigens dafür bestimmte Flasche hineingestrullt, und wenn es dicker gekommen ist, hat man mir eine Pfanne untergeschoben, mit langem Stiel und breitem Rand. Im allgemeinen sind dafür die Bezeichnungen ›Schieber‹ oder ›Stechbecken‹ gebräuchlich. Zufrieden?«

Im Wochenblatt studierte Oma immer als erstes die Todesanzeigen, auf der Suche nach den Namen von Bekannten, die das Zeitliche gesegnet haben könnten, völlig unerwartet oder auch nach langer, schwerer Krankheit. Der größte Teil von Omas und Opas Bekanntenkreis lag bereits unter der Erde, und es paßte irgendwie dazu, daß das Jeversche Wochenblatt die älteste Zeitung Deutschlands war. Seit 1791 auf dem Markt, das mußte man sich mal vorstellen.

Gustav erschien mit der neuen Zeit, und die enthielt meinen Beitrag über die Umgangssprache. Wieder 25 Eier! Dieser guten Nachricht des Tages folgte am frühen Abend die schlechte, daß Renate bei der Fahrprüfung in Meppen durchgefallen sei. Angeblich hatte sie das Fahrzeug vor einem Stoppschild nicht bis zum völligen Stillstand abgebremst.

Während in Bonn schon die Koalitionsverhandlungen anfingen, tobte in den USA noch der Wahlkampf. Im Fernsehduell mit Jimmy Carter war dem Präsidenten Gerald Ford dabei ein grober, möglicherweise wahlentscheidender Schnitzer unterlaufen, als er einfach rundweg abgestritten hatte, daß es eine sowjetische Vorherrschaft in Osteuropa gebe. Selbst Polen und Rumänien, hatte Ford behauptet, seien unabhängige Länder.

Und dieser Schafskopf amtierte als Präsident der Vereinigten Staaten!

»Falls du dir von dem demokratischen Erdnußfarmer Jimmy Carter größere intellektuelle Leistungen erhoffen solltest, kann ich dir nur empfehlen, dich erst einmal selbst mit den politischen Gegebenheiten in anderer Herren Länder vertraut zu machen«, sagte Gustav. »Könntest du mir beispielsweise aus dem Stegreif einen Vortrag über die geopolitische Situation in Ozeanien halten?«

»Nein, aber ich will ja auch nicht Präsident von Amerika werden.«

»Das könntest du auch gar nicht als Deutscher. Aber wenn du glaubst, daß du dich in der Welt besser auskennst als der Präsident der Vereinigten Staaten, mußt du dir schon gefallen lassen, daß man sich im Gespräch mit dir ein Bild von deiner eigenen Weltläufigkeit verschaffen will! Wie heißt beispielsweise der Bürgermeister von Meppen?«

Was hatte denn wohl der Bürgermeister von Meppen mit den Patzern des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu tun?

Aufreizend behäbig stopfte Gustav seine Pfeife, und er bat mich um die Erlaubnis, mein Schweigen dahingehend interpretieren zu dürfen, daß mir der Name des Meppener Bürgermeisters mitnichten geläufig sei.

»Na und?« sagte ich.

Zu weiteren Auskünften war Gustav erst bereit, als er seinen Stinkadori nach allen Regeln der Kunst in Betrieb gesetzt hatte, und dann mußte ich mich darüber belehren lassen, daß es nicht angängig sei, sich als Vierzehnjähriger ein Urteil in weltpolitischen Fragen herauszunehmen, wenn man noch nicht einmal auf der niedersten kommunalpolitischen Ebene der eigenen Heimatregion Äpfel von Birnen unterscheiden könne. »Wenn du mir allerdings bei deiner nächsten Fernreise nach Friesland den Namen deines Bürgermeisters verrätst, dann bin ich gern dazu bereit, mit dir auch einmal über die Salt-II-Verhandlungen und die Hegemonie der Sowjetunion zu disputieren …«

Und ich fand die Weltpolitik trotzdem interessanter als die Hegemonie der emsländischen CDU.

Eine noch viel herbere Niederlage als die auf dem Bökelberg mit 3:1 abgefertigten Fortunen aus Düsseldorf mußte am Samstag Bayern München hinnehmen – 0:7 gegen Schalke! Und das zuhause, im Olympiastadion! Viermal hatte allein Klaus Fischer zugeschlagen. Vier Tore gegen Sepp Maier, in einem einzigen Spiel: Das war rekordverdächtig. In dieser Form bildeten die Bayern jedenfalls keine Gefahr für Gladbachs Titelambitionen.

In dem Walt-Disney-Taschenbuch, das ich mir für die Rückfahrt gekauft hatte, flog Donald Duck unter dem Decknamen Phantomias als Superheld durch die Gegend. Ich dachte zuerst, das gibt’s doch nicht. Wer will denn den als Superhelden in Aktion sehen? Der soll sich mit Ahörnchen und Behörnchen in die Wolle kriegen oder seinen Neffen ihre Taler aus dem Sparschwein stehlen, um Daisy zum Dinner einladen zu können, aber doch nicht am Himmel herumdüsen, unter Vernachlässigung aller Gesetze der Schwerkraft! Das war ungefähr so sinnvoll, wie wenn Stan und Ollie die Rollen mit Terence Hill und Bud Spencer getauscht hätten.

Als ausgebuffter Profi hätte Walt Disney das eigentlich wissen müssen.

»Dein Freund aus Vallendar hat dir geschrieben«, sagte Mama, als sie mich in Meppen vom Bahnhof abholte, aber nach dem Brief mußte ich dann fast ’ne halbe Stunde lang suchen, bis er sich in den Geröllschichten auf dem Klavier anfand.

Hallo, hallo …

Dein Vorwurf ist berechtigt. Ich bin längst dran mit Schreiben. Aber Schreiben erinnert mich zu sehr an HAUSAUFGABEN (welch schreckliches Wort), und deshalb hab ich’s gelassen.

Viel los ist ohnehin nicht. Es regnet. Dauernd. Ständig. Ohne Unterlaß. Wenigstens heute hatten wir Besuch aus Amerika. Eine verflossene Arbeitskollegin meines Vaters, die nach dorthin gezogen ist, kam mal vorbei. Mit ihren zwei Kindern. Das eine war noch Säugling, das andere 4 Jahre alt. Sprach kein Wort Deutsch. Daß es Deutsch jedoch verstand, erfuhren wir erst, als Holger bereits einigemale (zu recht) gesagt hatte (und zwar laut und im Beisein des Vierjährigen), daß der eine Pestbeule sei. Nun ja.

Du hast Ferien? Wie denn das? Etwa schon Herbstferien? Die kriegen wir erst am 29.! Skandal! Und am 27. schreiben wir noch ’ne Deutscharbeit. Es ist zum Weinen.

Unser Kassettenrekorder befindet sich wieder in der Reparatur. Zum dritten Mal (in zwei Monaten). Und immer wegen des gleichen Defekts. Und im Januar läuft die Garantie ab. Au weh. Beim nächsten Mal fragen wir aber, ob wir das Scheißding nicht umtauschen können. Glaub ich allerdings kaum. Auf dem Garantieschein steht irgend so ’ne Klausel.

Ich werde mich bemühen, den Brief hier morgen oder übermorgen oder … äh … also ich werde versuchen, mich zu bemühen, diesen Brief schnellstmöglich abzuschicken.

Schö – es grüßt der DMGS.

Ich konterte mit einem kurzen Schreiben, dem ich das Zeitungsfoto von Dregger und mir beilegte, und nachdem ich den Brief eingeworfen hatte, kamen wir zwei Weiber auf dem Rad entgegen. Irgendwie muß ich wohl ziemlich doof gekuckt haben. Die brachen jedenfalls in Lachen aus, als sie an mir vorbeigefahren waren, und ich verkroch mich in mein Zimmer.

With only solitude to meet me like a friend …

Und von unten bölkte Papa: »Bring sofort das Fahrrad in den Keller!«

Am 3. Oktober hatten auch Kommunalwahlen stattgefunden. Im Meppener Rathaus hatte die CDU zwei Plätze verloren, einen an die SPD und einen an die FDP, aber mit 26 von 37 Plätzen konnte die CDU noch immer nach Gutdünken schalten und walten.

Bei einer Tour durch das Waldgestrüpp zwischen E-Stelle und Nordradde fand ich in einer Blätterkuhle ein teils aufgeweichtes und teils pappig hartes Sexheft. Welche Sau das wohl da hingeworfen hatte?

Weil ich als Nachwuchsjournalist noch immer im Geld schwamm, forderte ich bei Zweitausendeins postalisch eine LP von Joan Baez mit einer Stunde Spielzeit an, für acht Mark neunzig plus Versandkosten. Die Bestellnummer mußte man hinten in den Coupon neben dem Brief von Frau Susemihl eintragen, die die Bestellungen bearbeitete.

Auf dem oberen Flur hätten Volker und ich die alte Carrera-Bahn wieder aufbauen können, dachte ich, aber Volker zeigte mir nur ’n Vogel.

Na schön. Wenn der Idiot so hoch über den Dingen schwebte, hatte er ja wohl auch nichts dagegen, daß ich mir aus seinem Parka an der Flurgarderobe zwei Zigaretten borgte.

Camel. Dafür geh’ ich meilenweit.

Die eine hob ich mir für später auf, und die andere schmökte ich gleich nach dem Essen auf dem Balkon, was kein reines Vergnügen war, aber dafür ein teures, auf Volkers Kosten. Mit etwas Übung würde ich mich vielleicht an diesen schmutzigen Geschmack im Mund gewöhnen und Lungenzüge nehmen, so wie richtige Raucher, die den Qualm durch die Nasenlöcher wieder nach draußen bliesen.

Unten auf dem Radweg fuhr Tanja Gralfs vorbei, und da wäre ich gern in Deckung gegangen, wenn’s eine gegeben hätte. Was sollte ich machen? In mein Zimmer hechten, durchs offene Fenster?

Zum Glück sah Tanja Gralfs nicht zu mir hoch. Sonst hätte sie überall herumerzählen können, daß ich heimlich rauchte.

Den Zigarettenstummel versteckte ich auf Volkers Seite vom Balkon zwischen den vermoderten Birkenblättern in der Regenrinne.

Tanja Gralfs. Womit sich diese Belladonna wohl die Ferienzeit vertrieb? Bestimmt nicht mit dem Studium fader Redensammlungen von Genscher über liberale Außenpolitik im Dienste von Sicherheit und Freiheit, so wie ich, und wahrscheinlich auch nicht mit dem Reinigen eines stinkenden Hamsterkäfigs, so wie Wiebke.

Tante Gertrud wurde 50, und ich mußte mir ein paar Zeilen abringen, aber was sollte ich der schreiben, außer Glückwünschen und der Bitte, auch Onkel Edgar und Bodo und Bodos Meerschweinchen schöne Grüße auszurichten?

Von Mama und Papa kriegte Oma Schlosser zum 77. Geburtstag als Lesestoff »Das Inselbuch vom Alter« zugeschickt. Als ob eine Frau in Omas Alter nicht auch mal an etwas anderes als nur immer und ewig an ihr Altsein hätte denken dürfen. Und was sollte dann als nächstes kommen? »Das Inselbuch vom Friedhof«?

Ich, auf meine alten Tage, würde lieber Comics lesen. Die tollsten Geschichten von Donald Duck, als Reprint, im Schuber, von Zweitausendeins: Mit was anderem würden mir meine Kinder und Enkelkinder, wenn ich dann welche hätte, überhaupt nicht erst zu kommen brauchen.

Als Opa würde ich mir auch den Spaß erlauben, sämtliche Briefe von Michael Gerlach wiederzulesen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 68 Jahren hatte ich noch einige tausend Briefseiten von Michael zu erwarten. Oder wenigstens einige hundert, wenn dessen Briefe in Zukunft nicht länger ausfallen sollten als der jüngste:

Heißassa.

So, jetzt bin ich aber wieder dran mit Schreiben. Wird mir allerdings schwerfallen, bei dem, was hier so los ist.

Auf dem Zeitungsfoto habe ich ja erst mal nur einen weiblichen Autogrammjäger gesehen. Doch dann entpuppte er sich als Mitglied des GMS, dessen Angehörige alle – von wenigen Ausnahmen abgesehen – männlichen Geschlechts sind. Wenn auch nur – wie dieses Exemplar auf dem Foto – andeutungsweise.

In der Schule (worüber soll ich sonst schreiben) passe ich absolut nicht mehr auf. Ich vertrödele die Zeit damit, Bücher zu malen und irgend ’nen blödsinnigen Titel vorne draufzuschreiben: HOW TO KILL TEACHERS. Oder: GMS – HORT DER IRREN. Oder: TAUSEND BESCHISSENE OSTFRIESENWITZE. Jedes Blatt und jedes Schulbuch ist inzwischen voll davon. Meine Nachbarn fangen auch schon damit an. Alles, alles voller Bücher! Es ist wie ’n Fieber.

Aber was soll man auch machen. Nichts zu tun, nichts los, alles Scheiße. Mein Zimmer hab ich zig-mal umgeräumt vor Langeweile. Und obwohl ich so viel Zeit hab, mach ich keine Hausaufgaben. Alles ist träge und faul. Sogar das Wetter – alles grau in grau und voller Wolken. Ab und an ein Düsenjäger, Böllerschüsse – spinn ich eigentlich? Erzähle dauernd, hier sei nichts los, und dann hat’s im Reha gebrannt, zumindest zum Schein. Das war wohl irgend ’ne Notstandsübung. Jedenfalls überall Martinshörner, Geheule, Gehupe, Gelache – kurz, wie auf ’m Volksfest. Bloß ’ne Übung. Und ich dachte schon daran, wieder Trebitsche zu jagen, Brandstifter und so. Ach, eben alles Scheiße.

Es grüßt den doofen GMS der einzigartige, unnachahmliche, doch durchaus nachahmenswerte DMGS!

P.S. Den Nobelpreis für Literatur 1976 erhielt Prof. Erwin Erbswurst für sein Werk: MEPPEN – DAS GLANZLOSE DASEIN EINER STADT MITSAMT IHRER VERSOFFENEN BEVÖLKERUNG.

Frecher ging’s ja wohl nicht mehr. Meinem Antwortschreiben, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ, legte ich den Durchschlag eines Protestbriefs ans Stockholmer Nobelpreiskomitee bei, und im Postscriptum flehte ich Michael darum an, mich in seine Gebete einzuschließen, denn in Niedersachsen gingen die Herbstferien zuende, und in Rheinland-Pfalz hatten sie noch nicht mal angefangen.

In der Schlacht gegen Groß Hesepe streifte der Ball meinen rechten Unterarm, und der Elfer war drin. Dieses Ferienerlebnis hatte sich der liebe Gott noch aufgespart für mich, als letzten Leckerbissen vor dem altgewohnten Trott.

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band

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