Читать книгу Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band - Gerhard Henschel - Страница 4
ОглавлениеLicht ausmachen, Handflächen neben die Augen legen und durchs Fenster schräg nach oben kucken, in den fallenden Schnee: Dann hatte man das Gefühl, man würde fliegen, zwischen den Schneeflocken durch.
Das hatte Renate mir beigebracht.
Ich und du, Müllers Kuh.
Renate hatte vorne einen braunen Leberfleck am Hals. Daran war sie immer zu erkennen.
Da war ein Weg, wo Mama sich mit anderen Müttern unterhielt, die auch alle Kinderkarren dabeihatten. Die Sonne schien, und über eine Mauer hingen Zweige runter mit roten Beeren.
Ich hatte Krümel aus dem Graubrot im Netz gepult. Wegen dem Loch im Brot kriegte ich zuhause keine Bombongs.
Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.
Meins war das Lätzchen mit den Marienkäfern. Ein Löffel für Oma, ein Löffel für Opa, bis unten im Teller die schwarzen körnerpickenden Hühner auftauchten. Mein Löffelstiel war zur Seite gebogen.
Ein Löffel für Martin. Das war ich selbst. Martin Schlosser.
»Nicht träumen!«
Nach dem Essen leckte Mama einen Lätzchenzipfel an und wischte mir damit den Mund ab.
Bim, bam, beier, die Katz mag keine Eier.
Volker hatte Murmeln mit farbigen verdrehten Schlieren innendrin.
Wenn Papa gute Laune hatte, ließ er mich kopfüber an der Decke langspazieren oder kitzelte mich durch: »Prr-prr-prr-prr-prr!«
Papa roch nach Pfeife, und ihm wuchsen graue Haare aus der Nase.
Auf Papas Knien: So fahren die Damen, so fahren die Damen – so reiten die Herren, so reiten die Herren – und so reitet der Bauersmann, der nicht besser reiten kann. Da fiel ich immer fast runter.
Leute, die uns besuchten, kriegten vom Wohnzimmer aus die Festung Ehrenbreitstein gezeigt und die Striche an der Kinderzimmertür: wie groß ich wann gewesen war.
Die Jalousie war grün.
Bei der roten Autokiste im Kinderzimmer war das Lenkrad ab.
Im Doppelstockbett durfte Volker oben schlafen, weil er drei Jahre älter war als ich. Dafür war er drei Jahre jünger als Renate.
Zum Beten faltete Mama ihre Hände über meinen. Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm.
»Und jetzt will ich keinen Mucks mehr hören!«
Meine Beine waren mit Bademantelgürteln an die Bettpfosten gebunden, eins links und eins rechts, damit ich die Decke nicht abstrampeln konnte.
Maikäfer, flieg!
Unten auf dem Hof machte Mama ein Foto von Volker und mir auf dem Dreirad. Volker fuhr, und ich stand hinten auf der Stange.
An den Sandkasten kam man nicht ran, der war immer besetzt.
Ein Kind hatte auch einen Ball.
Der Hof war voller Rauhbeine, die den Mädchen hinten den Rock hochhoben: »Deckel hoch, der Kaffee kocht!«
Straßenwörter, die nicht in die Wohnung gehörten, waren Scheiße, Kacke, Arsch und Sau.
Einmal machte Renate mit ihren Freundinnen eine Puppenmuttiparade vom Hof bis zum Rheinufer, und die Puppen kriegten das Deutsche Eck gezeigt.
Ulrike Quasdorf hatte den schlechtesten Puppenwagen. Die Räder eierten und quietschten, und vorne fehlte eins.
Ihre neue Puppe Annemarie hieß so wie eine Frau aus der Tagesschau. Annemarie war besser als Renates alte Puppe Christine, die nur aufgemaltes Haar hatte. Annemarie hatte echtes und machte immer Bäh, wenn sie auf dem Kopf stand. Das Bäh kam aus einem Sieb am Rücken raus.
Bei der Parade wollte ich auch mal schieben, aber Renate ließ mich nicht.
Groß und Klein. Nach Groß mußte ich immer noch Mama rufen, damit sie mir den Po abwischte.
»Mama, fertig!«
Dreimal am Tag oder noch öfter.
Im Wildgehege Remstecken waren Fasane, Rehe, Wildschweine und Kühe.
Mama hielt mir ein Papiertaschentuch vor die Nase: »Schnauben! Tüchtig!«
Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen.
Das Taschentuch warf ich einer Kuh zu, und die fraß es auf.
Für uns selbst gab es Fanta mit Eiswürfeln.
Im Sommer wurden zum Planschen Wannen im Hof aufgestellt: ein Eimer heißes Wasser, zwei Eimer kaltes. Angelika Quasdorf machte Pipi ins Wasser und spritzte damit. Die war ein freches Luder.
An Oma Schlossers Krückstock war in der Mitte ein silbernes Wappen genagelt.
Sie redete Mama und Papa mit ihren Vornamen an, Inge und Richard, und sie nähte ein Kleid, das Renate immer wieder anprobieren mußte, mit allen piekenden Stecknadeln drin.
Als rauskam, daß Renate mit den Quasdorfs zum Rheinufer gegangen war, schwimmen, wurde sie von Mama ins schwarze Klo gesperrt. Tür zu, Schlüssel rum und kein Licht! Der Schalter war außen, und das Klo hatte kein Fenster.
Das schwarze Klo war die schlimmste Strafe. Wenn man an der Klinke rüttelte, heulte, brüllte und gegen die Tür trat, wurde man erst recht nicht rausgelassen. Raus durfte man erst, wenn man nicht mehr bockig war.
Gut war das Spiel, jemanden was nachsprechen zu lassen, bloß abgekürzt. »Ich kaufe Zucker«, mußte man sagen, und dann mußte der andere sagen: »Ich ka Zucker.« Dann sagte man: »Ich kaufe Nudeln.« Und der andere mußte sagen: »Ich ka Nudeln.« Dann sagte man: »Ich kaufe Mehl«, und wenn man Glück hatte, sagte der andere: »Ich Kamel.«
Einmal war ich darauf reingefallen, aber als ich andere damit reinlegen wollte, kannten die das schon alle.
Dann fuhren Mama, Papa und ich mit dem Käfer nach Dänemark. Renate wurde bei Oma und Opa in Jever abgeliefert. Volker war schon da. Renate und Volker waren auch beide in Jever geboren worden. Ich war in Hannover geboren worden, von wo wir nach Lützel gezogen waren.
Auf einem Rastplatz gab es ekligen Kartoffelsalat zu essen, mit langstieligen bunten Plastiklöffeln aus Gläsern mit Schraubverschluß.
A-a mußte ich hinter einer Mülltonne auf den Rasen machen, mit dem Rücken an Mamas Bauch und ihren Händen in den Kniekehlen.
Hinten im Käfer sah ich im Liegen die kleinen schwarzen Punkte an der weißen Decke tanzen.
In Dänemark stellte Papa Klappstühle vor dem Zelt auf und rauchte Pfeife. Ich durfte wieder Fanta trinken.
Am Hafen sprang ein Fisch aus dem Eimer von einem Angler und flitschte über die Steine.
Die dänischen Kühe hatten Augen wie die Rehe in Remstecken.
Ins Wasser wollte ich lieber nicht.
Auf dem Rückweg machten wir in Jever Station, um Renate und Volker einzusammeln. Oma Jever, die Mamas Mutter war, briet Rührei mit Schnittlauch, und Opa konnte so miauen, daß man dachte, unterm Tisch sitzt ’ne Katze.
Mein großer Vetter Gustav stotterte. Tante Gisela war seine Mutter, aber die hatte keinen Mann, deshalb wohnte Gustav bei Oma und Opa.
Der Wohnzimmerteppich hatte ein Muster, das sich gut als Straße für Spielzeugautos eignete. In der Ecke tickte und gongte die Standuhr.
Im Garten gab es eine Schaukel, einen Sandkasten, einen Schuppen, Sträucher mit Johannisbeeren und eine Spielwiese, und im Fernsehen kam das Sandmännchen. Nun, liebe Kinder, gebt fein acht, ich hab euch etwas mitgebracht!
In Jever hörte ich auch, daß ich eine neue Kusine bekommen hatte. Hedda.
Renate sagte: »In acht Jahren bin ich ’ne schöne junge Frau, und Hedda ist ’ne olle Göre!«
Wir waren alle aus Mamas Bauch gekommen, erst Renate und dann Volker und dann ich.
In Jaderbutendieks wohnte Tante Lina. Sie hatte ein Punktekleid an und kochte Hühnersuppe.
Als wir die aufhatten, machten wir Winkewinke.
In Lützel wurde gebadet. Erst Papa, dann Mama und dann wir, alle im selben Wasser.
Renate fischte die Haare raus und legte sie auf den Wannenrand. Sie war Käpt’n, Volker Steuermann und ich Matrose. Wir spielten, daß wir Piraten in Seenot wären, bis Mama reinkam: »Geht das nicht ’n bißchen leiser? Und müßt ihr die ganze Bude unter Wasser setzen?«
Mama schäumte uns die Haare ein und spülte sie mit dem Brauseschlauch aus. Ich kriegte Seife in die Augen. Volker auch.
Danach wurden wir mit dem großen braunen Badehandtuch abgerubbelt.
Ob der Nikolaus und Knecht Ruprecht zwei verschiedene oder einer und derselbe waren, wußte keiner so genau. Knecht Ruprecht war jedenfalls der mit der Rute.
Volker hatte Mandelentzündung und mußte ins Krankenhaus. Am Tag nach der Operation nahm Mama mich mit hin.
Er wollte partout nichts essen, und nur mit viel Mühe und gutem Zureden trichterte Mama ihm einen halben Leibnizkeks ein.
Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben.
Volker sehe aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve, sagte Mama abends zu Papa.
Als Volker wieder da war, konnte er sechs Adventskalendertürchen aufmachen. Sonne, Blume, Apfel, Kerze, Glocke, Pilz.
Auf meinem Kalender waren Kinder beim Rodeln mit fliegenden Engeln obendrüber. Auf Renates und auf Volkers Kalendern war beide Male der Weihnachtsmann, einmal im Schlitten mit schnaubenden Hirschen davor und einmal mit Geschenkesack über der Schulter auf einem beschneiten Hausdach, ein Bein schon im Schornstein.
Türchen offenlassen oder wieder zudrücken, das war die Frage. Bei offenen war das Bild vornedrauf zerlöchert, und bei zuen wußte man nicht, wieviele Tage schon um waren und wie dicht das Christkind vor der Tür stand.
Das Christkind gehörte auch irgendwie dazu, aber mir war der Weihnachtsmann lieber, weil der die Geschenke brachte.
Am größten war das letzte Türchen. Das hatte zwei Türflügel und ging in der Mitte auf.
Wir durften alle drei beim Backen helfen, mit Lätzchen um und hochgekrempelten Ärmeln.
Safran macht den Kuchen gehl. Gehl, was das wohl sein sollte. Nie gehört.
Den von Renate gekneteten Teig rollte Volker mit der Kuchenwalze platt, und ich durfte die Kekse ausstanzen. Eckige, runde und sternförmige.
Von mir aus hätten wir den Teig auch gleich so aufessen können.
Am 24. war bei uns allen ein Krippenbild im Adventskalender. Maria und Josef mit dem Christkind und die drei Könige aus dem Morgenland.
Im Wohnzimmer wurde den ganzen Tag geraschelt und gewispert, aber durchs Rubbelglas in der Tür konnte man nicht viel sehen.
Für Mama und Papa hatte ich ein Bild gemalt, mit Buntstiften: Hühner beim Spaziergang.
Vor der Bescherung mußten wir Ihr Kinderlein kommet singen, zusammen mit dem Chor auf der knisternden Platte.
Und seht, was in dieser hochheiligen Nacht!
Es war heiß im Wohnzimmer wegen der brennenden Kerzen am Tannenbaum. Silbernes und goldenes Lametta und die schillernden Christbaumkugeln, die man nicht anfassen durfte.
Jeder hatte seinen bunten Teller, mit Lebkuchen, Keksen, Walnüssen, Dominosteinen und Schokoladenkugeln in Goldpapier, das nur mit Knibbeln abging. Die Dominos waren innen schön süß.
Meine Geschenke waren Max und Moritz als Handpuppen und ein Holztraktor mit Lenkrad und Anhänger und ein Buch, das Renate mir vorlas: Die Sonne stieg weiter ins Himmelszelt, da kamen drei Füchse über das Feld. Da flohen drei Hühnchen und Hähnchen. Da schlüpften drei Katzen ins Mausehaus, da sprangen drei Mäuse vor Graus hinaus, da weinten die Mäuse drei Tränchen.
Die Schwänze von den Mäusen sahen aus wie Regenwürmer.
Freuen sollte ich mich auch über die blaue Strumpfhose von Tante Gertrud, obwohl ich nicht mal wußte, wer das war, Tante Gertrud.
Renate hatte eine Kindernähmaschine gekriegt und Fingerhandschuhe und zwei Bücher: Die wunderbare Puppenreise und Gutenachtgeschichten am Telefon.
Wenn das neue Lichtsignal an Volkers Eisenbahn auf Rot stand, hielt die Lok automatisch an. Der Trafo war dunkelrot und wurde nach einer Weile ganz warm.
Da schliefen drei Hühner in ihrem Schlag. Da piepten drei Mäuse: Was für ein Tag! Und sanken erschöpft in die Betten.
»Und das tut ihr jetzt auch, meine Lieben!« sagte Mama.
Ungerecht fand ich, daß Volker schon drei Wochen nach Weihnachten Geburtstag hatte und wieder Geschenke einkassieren konnte, einen Güterbahnhof, Geld und Süßigkeiten. Aus Wut zerbiß ich mein Wasserglas und kriegte einen Klaps.
»Bist du noch ganz bei Trost?«
Ich sei ein Schlot. Ein Schlingel und ein Schlot.
Rickeracke, Hühnerkacke.
Beim Essen brauchte Volker immer am längsten. »Du mußt doch mal was auf die Rippen kriegen«, sagte Mama. Er sei so spillerig, so spuchtig und verträumt. Ein Hungerhaken, nichts als Haut und Knochen. »Von Luft und Liebe kannst du auf Dauer nicht leben!«
Dann sollte er auch noch zum Zahnarzt, und ich mußte im Wartezimmer neben Mama stillsitzen.
Die Tapete war schwarz mit grünen Dreiecken, und von den Regenschirmen im Schirmständer tropfte Wasser auf den Fußboden.
Auf der Fensterbank stand eine Topfpflanze mit staubigen Blättern, die ich nicht anfassen durfte.
Eine Frau hatte ein schniefendes Kind auf dem Schoß, das sich den aus der Nase gelaufenen Schnött immer mit der Zunge wegleckte.
Wenn wenigstens Spielzeug dagewesen wär.
Im Kinderzimmer operierte ich Renates Puppe Annemarie auf dem Küchenhackbrett mit der Plastikschere die Mandeln raus, natürlich nur gespielt, aber mit Doktorbrille auf und Brustabhorchen, und Mama machte Fotos davon. Ich schrieb auch ein Rezept aus: Krickelkrackel.
»Du Schlauberger«, sagte Mama.
Ein anderes Mal, als Volker und ich erkältet waren, sagte sie, wir würden husten wie die Weltmeister.
Als genug Schnee lag, machten wir eine Schlittenkarawane im Hof. Acht Kinder auf vier Schlitten hinternander, und Rainer Westermann zog die alle allein, so stark war der.
»Kapuze auf!« rief Mama aus dem Küchenfenster.
Rainer Westermann half mir auch oft, wenn mir welche von den Großen auf den Fersen waren und Mama oben nicht schnell genug auf den Summer drückte.
Rosenmontag wollten Volker und ich als Max und Moritz gehen, mit Plastikmasken auf, die Mama uns gekauft hatte, aber Volker hatte Lungenentzündung und mußte im Bett bleiben.
Hinter der Maske schwitzte man und kriegte nur schlecht Luft.
Renate ging als Möhne mit langem Rock und Rüschenschürze. Als Möhnen gingen in Lützel fast alle Mädchen. Möhnen waren Omas in altmodischen Kleidern.
Aus der Schule hatte einer bunte Kreide mitgebracht und malte damit auf dem Hof einen Kreis, in dem man sich aufstellen konnte, wenn man Krieg spielen wollte. »Deutschland erklärt den Krieg gegen … Amerika!« Wenn man dann Rußland oder Frankreich war und wegsprang, hatte man verloren, aber auch, wenn man Amerika war und nur so weit weggesprungen war, daß der, der Deutschland war, mit einem Schritt an einen drankommen konnte.
Angelika Quasdorf spielte lieber Hüpfekästchen: auf einem Bein in bunten Quadraten rumhopsen.
D.b.d.d.h.k.P. Selbst Aspirin versagt.
Im Sandkasten schmiß einer mir immer Sand in die Haare. Ralfi Meier hieß der Arsch.
»Dann wehr dich doch mal!« sagte Mama und schickte mich wieder runter.
Ralfi Meier schmiß mir gleich die nächste Handvoll Sand ins Gesicht: »Da, du beleidigte Leberwurst!«
»Selber«, sagte ich.
»Selber sagen nur die dümmsten Kälber«, rief Ralfi Meier, und ich haute ihm mit der Schippe auf den Kopf, der sofort ganz voller Blut war, überall, Stirn, Backen, Nase, Kinn, auch die Hände, alles war blutig, und Ralfi Meier rannte heulend weg.
Von seiner Mutter hörte Mama später, daß er noch ins Krankenhaus gemußt hatte, wo die Wunde mit fünf Stichen genäht worden war. »Ich hab dir geraten, dich zur Wehr zu setzen, aber doch nicht, den Jungen krankenhausreif zu schlagen!«
Meine Schippe hatte Mama weggeschlossen, aber dafür ließ mich Ralfi Meier jetzt in Ruhe.
Renate ist ein artiges, stilles Kind und dürfte sich lebhafter am Unterricht beteiligen, stand in Renates Zeugnis.
Ostern fuhren wir mit dem Käfer nach Jever. Als Proviant hatte Mama wieder nur Kartoffelsalat mitgenommen, wovon ich die Kotzeritis kriegte.
Renate las uns was aus ihrem Buch mit Gutenachtgeschichten vor. Von dem Bonbonregen, der Schokoladenstraße und dem unsichtbaren Jungen, der in der Konditorei Nußhörnchen und Zwetschgenkuchen einsteckte, ohne daß ihn jemand fangen konnte. Und von dem Jungen, der immer die seltsamsten Fragen stellte: Warum haben die Schubladen Tische? Warum trinken die Briefmarken kein Bier?
An den Seitenfenstern liefen Regentropfen runter.
Müde bin ich, geh zur Ruh.
In Jever war auch Tante Dagmar, Mamas jüngste Schwester. Wer kommt in meine Arme? Wenn sie das rief, konnte man ihr in die ausgebreiteten Arme laufen und wurde rumgewirbelt.
Tante Dagmar war meine Patentante. Sie kam auch immer mit in den Schloßgarten zum Entenfüttern, und sie sagte, ich sei ihr Augenstern.
Abends gingen wir zum großen Osterfeuer. Einmal hatten sich Kinder aus Übermut in so einem Holzhaufen versteckt und waren dann jämmerlich verbrannt.
Das Feuer prasselte und knackte.
Jetzt war vielleicht auch schon der Osterhase auf Achse und versteckte die Ostereier, damit er am Morgen damit fertig war.
In Jever konnte ich oben auf dem Boden rumtoben und im Garten schaukeln, mit Renate und Volker Schubkarre spielen und Purzelbäume schlagen, aber ewig bleiben konnten wir in Jever nicht, weil Volker nach Ostern in die erste und Renate in die dritte Klasse kam.
Ich wollte auch gerne eingeschult werden, vor allem wegen der Schultüte, die man dann kriegte, aber in der Schule, auf die Renate und Volker gingen, wurde man dauernd verhauen. Die Jungs bekämen mit dem Stock den Arsch versohlt und die Mädchen Schläge auf die Finger, sagte Renate.
Dann war ich endlich selbst das Geburtstagskind. Im Wohnzimmer stand ein Kettcar, das gehörte jetzt mir. Auf dem Hof wollten alle mal damit fahren, aber wenn das denen ihr Kettcar gewesen wär, hätten sie’s mir auch nicht abgegeben.
Fünf Geburtstagsgäste durfte ich einladen, mehr erlaubte mir Mama nicht.
Alle, alle, alle Vögel fliegen hoch …
Mein Kababecher war blau, Renates gelb und Volkers grün.
Eins, zwei, drei, vier Eckstein. Ich versteckte mich unter der Bügelmaschine, und Angelika Quasdorf mußte suchen.
»Mäuschen, mach mal piep!«
Als alle wieder weg waren, rief Mama mich ans Wohnzimmerfenster und zeigte auf Rainer Westermann, der sich die Schnürsenkel zuband. Der konnte eben alles, auch Knoten machen oder Flöte mit der Zunge.
»Von dem kannst du dir ruhig ’ne Scheibe abschneiden«, sagte Mama, aber Rainer Westermann hätte schön gekuckt, wenn ich angekommen wär, um mir ’ne Scheibe von dem abzuschneiden.
Wenn Frau Quasdorf Mittagsschlaf machte, ließ sie Angelika und Ulrike nicht rein, und die klingelten dann immer bei uns, wenn sie aufs Klo mußten, jeden Tag, bis Mama sagte, sie sollten gefälligst ihr eigenes Klo benutzen.
Auf Quasdorfs war Mama sauer, weil Renate erzählt hatte, daß sie mit Ulrike bei denen im Badezimmer gewesen war, als Herr Quasdorf in der Wanne gelegen hatte.
Abends konnte man oft hören, wie Herr und Frau Quasdorf sich gegenseitig anbrüllten. Die wohnten ja gleich unter uns.
Über uns wohnte die alte Frau Jahn, die sich im Treppenhaus immer am Geländer festhielt.
Einmal brachte Mama den Müll runter, und als sie den Deckel von der Mülltonne aufmachte, saß Angelika dadrin und war am Kacken.
»Ich hab gedacht, ich seh nicht recht«, sagte Mama. »Sitzt da und grinst mich auch noch frech an. Überhaupt auf so ’ne Idee zu kommen! Ijasses!«
Angelika und das andere Gör, Ulrike, die würden es mal schwer haben im Leben. Kaum aus den Windeln raus und schon völlig verroht. Welche Rabenmutter lasse denn ihr Kind in die Mülltonne kacken? Die gehörten eben zum Plebs. Zum Pofel.
An meinen Bildern fand Renate falsch, daß ich den Himmel immer weiß und die Wolken blau gemalt hatte. Andersrum brauchte man aber viel länger, oder man mußte mehr Wolken malen.
Dann waren die Zootiere, die ich im Fernsehen gesehen hatte, alle bei uns im Hof, auch Zebras und Giraffen und ein Elefant, der mich mit dem Rüssel hochhob, um mich aufzufressen.
Das sei ein Alptraum gewesen, sagte Mama.
Nach Österreich fuhren wir ohne Renate, die lieber nach Jever gewollt hatte und von Papa hingebracht worden war. Hinten im Käfer durfte ich jetzt auf Renates Platz am Fenster sitzen.
Für die Reise hatte ich mir Hänschen im Blaubeerenwald mitgenommen. Das war mit Zwergenkindern, die barfuß im Wald auf Mäusen ritten.
Nach Österreich war’s noch weiter als bis nach Jever.
Mama und Papa hatten einen Bauernhof ausgesucht, der schon vierhundert Jahre alt war und einer alten Oma gehörte, Frau Weitgasser. Leider sei kein Fließwasser nicht da, sagte Frau Weitgasser, aber auf der Alm könnten wir die Tiere sehen in der guten Luft, und für die Kinder gebe es auch genug Platz zum Auslaufen.
Von Volker und mir wollte Frau Weitgasser den Namen und das Alter wissen.
In Österreich war alles voller Berge. Mama hatte Volker und mir kurze Lederhosen gekauft für die Wanderungen und Papa sich selbst einen Spazierstock und ein Fernglas mit Hülle und Henkelband zum Um-den-Hals-Hängen.
Geh aus, mein Herz, und suche Freud!
Wasser konnte man aus Brunnen am Wegrand trinken, und auf einem der Berge lag oben Schnee, mitten im Sommer. Mama machte viele Fotos, und dann machte Papa auch eins von Mama in ihrem blauen Blumenkleid.
Narzissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide.
Bei Regen durften Volker und ich im Kuhstall rumklettern. Da war auch ein quiekendes Schwein mit nassem, schnüffelndem Rüssel und Ringelschwänzchen. Wir warfen dem Schwein Zement aus einem Zementsack zu, der da stand. Das schmeckte dem Schwein, aber Volker sagte, das sollten wir lieber für uns behalten, daß wir das Schwein damit gefüttert hatten.
Dann gab es noch einen Hahn, der aber nicht Kikeriki machen, sondern nur röcheln konnte, und ein Zicklein, das einem abgerupfte Grashalme aus der Hand fraß.
Als eine von den Kühen ein Kalb kriegte, mußten alle Männer mit anfassen, auch Papa. »Kalbiziachen«, sagte Frau Weitgasser dazu.
Das Kälbchen hieß Heinrich. Es tat mir leid, weil es eingesperrt war, und ich ließ es frei. Draußen wußte das Kälbchen aber nicht, wo es hinrennen sollte, und Frau Weitgasser fing es wieder ein.
Mit dem Käfer machten wir Ausflüge ins Gebirge, aber einmal kamen wir nicht weiter, weil die Straße überflutet war.
Papa nahm Glimmerschiefer mit.
Ein Stausee und ein Wasserfall.
In Kaprun kaufte Mama ein Edelweiß, das sie ins Urlaubsalbum kleben wollte.
Wie heißt der König von Wesel?
Für den Abstecher nach Salzburg an Mamas Geburtstag mußten Volker und ich Trachtenjacken anziehen. Mama wollte ins Mozarthaus.
Wir sollten nicht so schlurfen. »Na los, ihr Schlafmützen!«
Salzburg. Als ob die da ’ne Burg gehabt hätten aus Salz.
Im Fiaker durften wir auf dem Kutschbock sitzen, aber Tauben jagen war ungezogenes Benehmen.
Als ich lange husten mußte auf dem Hof und da an der Hauswand stand, kam Papa um die Ecke und sagte: »Du steckst noch die Wand an mit deinem Husten!«
»Ih, wie scheußlich«, sagte Renate, als sie den Faltenrock sah, den Mama ihr in Salzburg gekauft hatte.
Den Blumenkohl auf ihrem Teller suchte Renate immer nach Läusen und Käfern ab.
Gulasch, Gurkensalat und Kartoffeln mit Mehlschwitze. Einmal war das letzte Stück Gulasch so sehnig, daß ich das nicht runterkriegte, aber Mama erlaubte mir nicht, das Gulasch zurück auf den Teller zu spucken. »Keine Widerworte! Und zieh hier nicht so ’ne Flunsch!«
Ich aß dann den ganzen Nachtisch an dem Gulaschwiepen in der Backe vorbei und spülte das Ding nachher heimlich das Klo runter.
Renate kaufte sich jetzt immer Superman. Volker und ich liefen dann bis zum Zeitschriftenladen vor und kuckten uns im Schaufenster an, was bei dem neuen Supermanheft vornedrauf war.
Superman konnte Bäume ausreißen und Pistolen zerquetschen und schon als Kind über Häuser springen, Autos hochheben und beim Rennen Züge überholen. Kugeln prallten an Superman ab. Der war unverwundbar.
Ich selbst konnte mir noch nicht mal die Nägel alleine schneiden.
Komisch war, daß Superman blaue Haare hatte.
Beim Laternenumzug regnete es in meine Laterne rein, und wenn Mama das ausgegangene Licht wieder anzündete, mußte Renate den Regenschirm halten.
Sonne, Mond und Sterne.
Ein Kind war hingefallen und heulte, und ein anderes heulte, weil dem seine Laterne Feuer gefangen hatte und zertrampelt wurde. Rabimmel, rabammel, rabumm! Da hätte ich auch geheult.
Ich sollte auf dem Hof bleiben, wo Mama mich vom Küchenfenster aus sehen konnte, aber ich hatte noch nichts für Papa zum Geburtstag, und ich dachte, ich würde draußen was finden. Ich wollte ja nur einmal rund ums Viertel und immer auf dem Bürgersteig bleiben.
Zigarettenfilter und Streichhölzer lagen da rum, die ich alle aufsammelte, um sie Papa zum Geburtstag zu schenken zum Rauchen. Ich fand auch noch ganz viele Geldscheine, aber als ich die Renate zeigte, sagte sie, das sei bloß das Papier, das die Leute von ihren Zigarettenschachteln abgerissen hätten.
Dabei waren da Adler drauf. Wenn das keine Geldscheine waren! Aber dann hätten die Leute die ja nicht weggeworfen.
Aus Amerika brachte Papa einen Wippvogel mit Blechpo und rotem Stoffkopf mit. Wenn man den Schnabel von dem Vogel in ein Glas mit Wasser drückte, wippte der von alleine nach hinten und wieder vor und mit dem Schnabel in das langsam weniger werdende Wasser rein, das bei jedem Wippen vom Schnabel in den Blechpo floß.
Außerdem hatte Papa einen Apparillo mitgebracht, in den er Streifen mit bunten Bildern reinschob, die man dann an der Wand sehen konnte. Popeye, der spinatfressende Seemann, und Caspar, das Gespenst.
Den Start von dem Flugzeug, mit dem er geflogen war, hatte Papa auf Kassette aufgenommen. Da hörte man aber nur Dröhnen und Brummen, und irgendwann sagte Papa auf der Kassette: »Start.«
Mama und ich holten Renate von der Ballettschule ab und konnten noch sehen, wie die Mädchen in der Halle Spagat übten, alle in Strumpfhosen.
Auch Blockflöte übte Renate oft. Es geht ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum.
Volker sammelte Winnetoubilder.
In den Adventskalendern war jetzt hinter jedem Türchen ein Stück Schokolade, und es war noch viel schwerer, immer den nächsten Tag abzuwarten.
Als Ulrike und Angelika Quasdorf mit mir allein im Kinderzimmer waren, ging Ulrike zu meinem Kalender und fing an, die Türchen aufzumachen und die Schokolade zu essen. Erst war ich dagegen, aber dann wollte ich was abhaben, auch wenn ich Angst hatte, weil ich nicht wußte, was wir tun sollten, wenn Mama reinkommt.
»Dann hau ich die hiermit«, sagte Ulrike und hob den losen blauen Stock auf, der zu meinem Kinderstühlchen gehörte, hinten unten.
Die Türchen machte ich wieder zu, aber Mama merkte trotzdem was und sperrte mich ins schwarze Klo, obwohl Ulrike Quasdorf schuld war. Die hatte ja damit angefangen, und die Schokolade war doch sowieso meine gewesen!
Renate bastelte Häuser aus schwarzer Pappe, mit Fenstern aus Buntpapier, die leuchteten, wenn Kerzen dahinter brannten.
Zur Bescherung zogen Volker und ich unsere blauen Skihosen an. Die waren mit Steg unterm Fuß.
Hoch oben schwebt jubelnd der Engelein Chor!
Ich kriegte eine Pistole, die ich mir schon lange gewünscht hatte, eine Eisenbahn, ein Feuerwehrauto mit Leiter, ein Mainzelmännchen, eine Bommelmütze, Pantoffeln, einen Pullover mit Vau-Ausschnitt und ein Buch: Von früh bis spät die Uhr sich dreht. Tante Gertrud hatte wieder eine Strumpfhose geschickt und Oma Schlosser für uns alle zwei Bücher: Die Geschichte vom hölzernen Bengele und Petunia.
Volker hatte auch eine Pistole gekriegt. Sonst waren seine besten Geschenke die Rollschuhe, der Schrankenübergang für seine Eisenbahn und das Gebirge mit dem Gebirgssee mit echtem Wasser drin.
Renate tanzte uns in ihrem neuen Ballerinatrikot was vor. Sie konnte auf einem Bein stehen und das andere nach oben strecken und mit der einen Hand oben die Zehen festhalten.
Volker und ich suchten den ganzen Hof nach Zündplättchen ab, die noch heile waren, weil die Pistolen mit Zündplättchen beim Schießen viel lauter knallten als ohne.
Bei meiner Eisenbahn wollte ich das Häuschen und das Gebüsch woanders hinstellen, aber die waren festgeklebt, und ich mußte sie erst abreißen. Als Papa das sah, tafelte er mir eine und nahm mir die Eisenbahn weg. Da sei ich offenbar noch nicht alt genug für.
An Silvester fuhren wir alle bis auf Papa mit dem Zug nach Jever.
Mama verbot mir, bei voller Fahrt den Arm aus dem Fenster zu halten. Ein Kind hatte das mal gemacht, und dann war der Zug ganz dicht an einem Baum vorbeigefahren, und dem Kind war der Arm abgerissen worden.
Von ihrem Taschengeld hatte Renate sich eine Gummiwurstscheibe gekauft, die sie Opa Jever aufs Brot legen wollte.
An der Schnitte mit der Gummiwurst konnte Opa kauen, wie er wollte, die bekam er nicht klein, und er wollte schon sein Gebiß rausnehmen und nachkucken, ob das kaputt war, als Mama Opa die Wahrheit über die Wurst verriet.
Es gab auch Berliner, für jeden zwei, und in einem war Senf drin statt Marmelade, aber das hatte nur Oma gewußt, und dann war der mit dem Senf bei ihr selbst gelandet.
Von den Berlinern kriegte ich kreblige Finger.
»Klebrige heißt das, nicht kreblige«, sagte Renate.
»Paprikaschnitzel, Piprikaschnatzel, Schnaprikapitzel, Schniprikapatzel«, sagte Oma, die auch noch andere Zungenbrecher kannte. Einen mußte sie Renate aufschreiben: El o lo, ka o ko, oko, loko, em o mo, omo, komo, okomo, Lokomo, te i ti, oti, moti, omoti, komoti, okomoti, Lokomoti, vau e ve, ive, tive, otive, motive, omotive, komotive, okomotive, Lokomotive.
Die halbe Nacht lang lernte Renate das im Bett auswendig und brauchte am nächsten Morgen zum Aufsagen nur dreizehn Sekunden.
Das gleiche ging auch mit dem Wort Kapuziner: Ka a ka, pe u pu, apu, kapu, zett i zi, uzi, puzi, apuzi, Kapuzi, en e er, ner, iner, ziner, uziner, puziner, apuziner, Kapuziner.
Vom Moorland aus konnte man den Turm der evangelischen Kirche, den Turm der katholischen Kirche und den Schloßturm sehen. Als kleiner Junge war Gustav mal gefragt worden, zu welcher von den Kirchen er gehöre, und da hatte er gesagt: »Ich bin Schloßturm.«
Zu seinem Geburtstag lud Volker auch den dicken Hansi Becker ein, der immer angefressene Fingernägel hatte. Renate sagte, der würde seine eigene Mutter hauen. Das hatte ihr Ulrike Quasdorf gesagt.
Von Onkel Walter hatte Volker Tiere, ein Stück Wald und eine Futterkrippe für seine Eisenbahn gekriegt, aber als rauskam, daß Volker und ich Renates Puppe Annemarie mit der Nagelschere die Ponyhaare abgeschnitten hatten, schloß Papa den Trafo weg, und Mama sagte, wir hätten Zimmerarrest.
Hoppel Langohr. Da flogen Hasen im Hubschrauber, ein Igel rauchte Pfeife, und die Bäume hatten einen Ast als Nase. Auf einem anderen Bild brachte Hoppel Langohr den Hühnern die Post.
Unsere eigenen Bilder hatte Mama alle in einer Mappe aus Pappe gesammelt. Eine von Volker getuschte Prinzessin, Renates Schule, das Hoftor, Häuser mit Bäumen daneben und Jägerzaun davor oder Ritter beim Turnier. Renates Bilder waren die besten. Sogar unseren Käfer hatte sie mal gemalt und eine große Kirche mit rotem Dach und einem Wetterhahn obendrauf mit langen Schwanzfedern.
Ich malte mit links, was Mama falsch fand. Schlangen mit buntem Muster und Schlangenloch.
Karneval gingen Renate und ich als Harlekin mit Farbe im Gesicht und Tütenhut auf mit Papierkrause am Rand. Ich wäre lieber als Prinz gegangen, so wie Volker, mit Degen und goldenem Panzerhemd, aber Mama sagte, ich könne ja nächstes Jahr als Prinz gehen.
Nächstes Jahr, das war noch lange hin.
Einmal kamen Onkel Walter und Tante Mechthild mit Christiane zu Besuch, die unsere Kusine war. Wir hatten sechs Kusinen und vier Vettern.
Onkel Walter war Papas Bruder und Volkers Patenonkel, und Volker zeigte ihm, was er für die Schule aus seiner Fibel abgeschrieben hatte. Wo ist Mutti? Was tut Mutti? Oma ist am Zaun. Was tut Oma? Kasper ist im Nußbaum. Was tut Kasper? Wo ist Fifi? Was tut Fifi? Was tut Rolf? Mu mu miau miau.
Tante Mechthild war ganz dick, weil in ihr das nächste Baby drin war, genau wie in Mama, die uns schon gefragt hatte, was uns lieber wäre, ein Brüderchen oder ein Schwesterchen. Renate war für ein Schwesterchen, aber da war sie die einzige.
Mit allen Mann und zwei Autos fuhren wir auf den Mallendarer Berg, wo Mama und Papa ein Haus bauen wollten, aber da waren noch nicht mal Straßen, und wo später das Haus stehen sollte, war nur Matsche.
Als wir wieder alleine waren, ging Papa mit Volker und mir zur Mosel, wo wir übten, Steine auf dem Wasser aufditschen zu lassen. Das ging aber nur mit ganz flachen Steinen.
Alle meine Entchen schwimmen im Klosett.
Mama erzählte ich, wir hätten keinen einzigen Stein ins Wasser werfen dürfen.
»Ach Gott, warum denn das nicht?« fragte Mama, und Papa sagte, ich würde Stuß reden. »Die halbe Mosel haben die zugeschmissen!«
Neu an Ostern waren dieses Jahr die großen Holzeier mit Schleife drum und Schlickerzeug drin.
Wenn Mama Fotos machte, stellte Renate ihre Füße immer so schief hin, wie sie es in der Ballettschule gelernt hatte.
Mein schönstes Geburtstagsgeschenk war das Bilderbuch Johannes Nilpferd von Tante Dagmar. Wie Johannes Nilpferd aus dem Zirkus wegläuft und sich im Wald versteckt. Da erschrecken sich alle Tiere, als er gähnt, nur die Vögel auf seinem Rücken nicht, und dann fährt Johannes Nilpferd mit einem Schiff übers Meer nach Afrika und spielt den ganzen Tag im Fluß und freut sich.
Mama wurde immer dicker. Sie hatte ein Umstandskleid an und wollte nicht mehr von der Seite geknipst werden.
»Ich hab ’n kleinen Fußballer im Bauch«, sagte sie, und manchmal durften wir horchen.
In den Füßen hatte Mama Wasser. Wenn das innen in die Füße floß, hätte ich an Mamas Stelle einfach keins mehr getrunken.
Papa sperrte mein Kettcar im Keller weg, weil ich Frau Jahn in der Hofeinfahrt in die Hacken gefahren war, aber ohne Absicht. Frau Jahn war hingefallen, und ihr einer Fuß hatte geblutet.
»Alles wegen dir«, rief Mama. »Hab ich dir nicht tausendmal gesagt, du sollst dich vorsehen? Hier rein, da raus!« Ins Grab würde ich sie noch bringen mit meiner Unartigkeit. Ob ich denn keine Augen im Kopf hätte? »Marsch ins Bett! Aber ’n bißchen plötzlich! Und daß du mir keine Fiesematenten mehr machst!«
Bevor Mama ins Krankenhaus mußte, kam Oma Jever zu uns, und wir machten einen Ausflug nach Treis an der Mosel. Renate pflückte Blümchen, und ich hatte ein Klingen im linken Ohr.
»Dann denkt jemand an dich«, sagte Oma. »Vielleicht Opa? Oder Tante Dagmar?«
Das Klingen hörte aber schnell wieder auf. Die hätten ruhig noch länger an mich denken können.
Das Schwesterchen, das wir gekriegt hatten, hieß Wiebke und war ein Koblenzer Schängel, weil alle in Koblenz auf die Welt gekommenen Kinder Koblenzer Schängel waren.
Ich durfte Wiebke auch mal kurz halten und bei ihr am Hals kille-kille machen.
Sie nuckelte am Fläschchen, bis sie Schluckauf kriegte und das Fläschchen alle-alle war.
Puder, Öl, Nivea und Penatencreme. Auf dem Dosendeckel war ein Schafhirte mit Hirtenstab und Schaf.
Wenn Wiebke gebadet wurde, tunkte Mama vorher den Ellbogen ins Wasser.
Oma Jever brachte mich zu Tante Dorothea und Onkel Jürgen nach Düsseldorf. Da kotzte mir mein Vetter Klaus beim Autofahren meinen blauen Luftballon voll, und als ich im Bett lag, sang mir Tante Dorothea, die eine Schwester von Papa war, ein Gutenachtlied vor.
Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget.
Die traurigste Strophe war die mit dem kranken Nachbarn, von dem aber man nicht wußte, was der hatte.
Tante Dorothea hatte schon ganz weiße Haare.
Nach der Taufe wollte auch Renate mal mit Wiebke auf dem Arm aufs Foto, durfte aber nur die Hand unter Wiebkes Kopf schieben und hätte fast geheult.
»Na, hat dir der Storch ein Schwesterchen gebracht?« fragte mich Frau Jahn im Treppenhaus.
»Das ist bei meiner Mama aus dem Bauch rausgekrabbelt«, sagte ich, und dann beschwerte sich Frau Jahn bei Mama, daß ich ein loses Mundwerk hätte und daß ich vorlaut und frühreif sei.
Wiebke kriegte Wurzelbrei eingeflößt und klassische Musik vorgespielt.
»Wiebke, sing mal«, sagte Renate, und Papa nahm Wiebkes Getödel auf Kassette auf.
Da fällt herab ein Träumelein.
Aus Leibeskräften schreien konnte Wiebke aber auch.
Beim Spaziergang zum Deutschen Eck mußten wir über die große Moselbrücke, von der aus man das neue Hallenbad sah, wo Renate immer zum Schwimmen hinging.
Auf dem Denkmal am Deutschen Eck war früher Kaiser Willem draufgewesen, aber der war da runtergeschossen worden im Krieg.
Ein kurzes Stück durfte ich dann auch mal den Kinderwagen schieben.
Mama gab acht, daß wir nicht ins Wasser fielen.
Einmal brachte Papa Fische aus der Stadt mit. Die zappelten noch im Einkaufsbeutel rum. Papa schloß sich mit den Fischen im Badezimmer ein und schlug sie in der Wanne mit dem Hammer tot, was man gut hören konnte, auch durch die Tür.
Was macht er in dem Mausekrieg, Mia-Mia-Mausekrieg, was macht er in dem Krieg?
Von den Fischen wollte Renate nichts essen.
Vor der Fahrt nach Jever kriegten wir jeder eine PEZ-Figur. Ich Donald, Volker Goofy und Renate Micky Maus. Da mußte man den Kopf nach hinten klappen und konnte dann vorne das nächste Pfefferminzstück rausnehmen.
Wiebke hatte Hitzepickelchen im Gesicht.
Oma und Opa Jever standen im Garten und verbrannten alte Zeitungen. Die glühenden Fetzen angelte Opa mit dem Rechen aus der Luft.
Den Schweinen hinter dem Zaun am Gartenende warfen wir Fallobst zu, und sie fraßen gierig grunzend alles auf, selbst wurmstichige und angeschimmelte Äpfel mit braunen Stellen und auch Kartoffelschalen, Hühnerknochen und anderes Zeug aus der Küche.
In Hooksiel wohnte Onkel Bertus, der ein Fischerboot hatte. Am Hafen stand eine alte Kanone, und im Wasser wuchsen Bäume. Einen davon hätte ich um ein Haar umgefahren, als Onkel Bertus mich in seinem Boot das Steuerrad halten ließ.
Opa konnte Rauchringe blasen. Wir durften uns nicht bewegen, und Fenster und Tür mußten zu sein. Das Schlüsselloch wurde mit einem Handtuch zugehängt, weil auch durchs Schlüsselloch Zugluft kam.
Als alles vorbereitet war, zündete Opa sich eine Zigarre an. Er kaute auf dem Rauch, machte die Lippen rund, steckte die Zungenspitze raus und pustete dann einen Rauchring aus, der in Richtung Zimmerdecke schwebte.
Renate las vor, was Oma ihr ins Poesiealbum geschrieben hatte. Die glücklichsten Menschen sind nicht die, die am meisten haben, sondern die, die am meisten danken können.
Klassenkameradinnen von Renate hatten Schmetterlinge und Blumen in das Album gemalt. Mit Gott fang an, mit Gott hör auf, das ist der beste Lebenslauf!
Sei ein Sonnenkind durchs ganze Leben, denn wer Sonne hat, kann Sonne geben. Das war von Tante Jutta.
O möchte doch Dein Herz so rein wie diese Seehundschnauze sein!
Gustav konnte man gut ärgern, wenn man ihm die Hose vom Pyjama runterzog. Wir balgten uns, und dann mußte der Glaser kommen, weil die eine Kleiderschrankscheibe einen Sprung gekriegt hatte.
In der Prinzengraft zeigte Gustav mir, welche Hexe nachts auf welchem Baum saß: »Und da oben sitzt in der Nacht die Hexe Bohnenstroh!«
Einmal waren abends Studelgeister im Zimmer. Gustav setzte mich auf die Fensterbank und riet mir, still zu sein und mich nicht zu rühren. Dann knipste er das Licht aus, ging raus, machte die Tür zu und ließ mich allein mit den Studelgeistern.
Auf der Fahrt nachhause übte ich mit Bleistift, meinen Namen zu schreiben.
MRTN. MARTN. MRTIN. MATIN.
»Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen«, sagte Mama.
Renate nahm mich mit zu einem Malwettbewerb in der Stadtbücherei für Kinder unter zehn.
Eine alte Frau mit einem lila Muttermal an der Backe las uns das Märchen von Hänsel und Gretel vor, und dann sollten wir mit Tusche ein Bild dazu malen.
Wieso hatte die Hexe nicht lieber ihr Kuchenhaus aufgegessen als Hänsel und Gretel?
Wassergläser mußte man sich auf dem Klo abholen.
Den ersten Preis gewann ein Mädchen, das schon elf war und sein Alter auch auf das Blatt geschrieben hatte, aber wir trauten uns nicht, da was gegen zu sagen.
Von ihrem Taschengeld kaufte Renate sich eine Flasche Liebesperlen, für Volker Kaugummi und für mich eine Zuckerkette.
An runtergeschluckten Kaugummis waren schon viele Kinder erstickt, aber den Faden von der Zuckerkette konnte man mitessen. Das hatte Angelika Quasdorf mir gesagt.
Hansi Becker nannte mich Häuptling Rasendes Mondgesicht.
Dunkel war’s, der Mond schien helle, schneebedeckt die grüne Flur, als ein Auto blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr. Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft, als ein totgeschoßner Hase auf der Sandbank Schlittschuh lief.
Was eine Sandbank war, konnte mir auch Renate nicht sagen.
In der Stadt kriegten wir neue Anziehsachen gekauft, und in der Apotheke durften wir auf die Waage steigen.
Wiebke hatte schon zwei Zähne. Wenn sie schlief, schnitt Mama ihr die Fingernägel.
Als ich mein Kettcar wiederhatte, tauschte ich das bei Wilfried und Günter Potthoff gegen deren ihr Fahrrad ein. Das hatte Stützräder, aber nach drei Tagen konnte ich auch ohne die Stützräder fahren und nach fünf ohne Hände am Lenker, aber das durfte Mama nicht sehen.
Morgen, Kinder, wird’s was geben. Selbst im Treppenhaus roch schon alles nach Plätzchen, und Renate war wie eine Wilde am Topflappenhäkeln.
Zum ersten Mal auf den bunten Tellern waren Printen, Schokoladentaler mit Goldhülle und Marzipanbrote. Wenn man davon zweimal abgebissen hatte, war man satt.
Immer wieder hörten wir uns die Europaschallplatte an, die wir alle drei vom Weihnachtsmann geschenkt gekriegt hatten. Oder alle vier, aber Wiebke war noch zu dösig zum Schallplattenhören.
Die Sterntaler. Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und schließlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand. Zu dem Mädchen kam dann ein armer Mann, der sprach: »Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungerig.« Hungerig, nicht hungrig. Darüber platzte Renate fast vor Lachen, so wie die Bohne in dem Märchen von Strohhalm, Kohle und Bohne, als der Strohhalm und die Kohle im Bach ertrunken waren, aber dann war ein mitleidiger Schneider gekommen und hatte die Bohne wieder zusammengenäht.
Uns gehörten auch noch andere Schallplatten. Der gestiefelte Kater, Rumpelstilzchen, Till Eulenspiegel, der in einem leeren Bienenkorb eingeschlafen war, und Schneewittchen, dem der Jäger Lunge und Leber rausschneiden sollte, weil die böse Königin neidisch war auf Schneewittchens Schönheit.
Gemein war auch die Ziege von dem Schneider, die sich erst auf der Weide sattfraß und zuhause dann sagte: »Ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einzig Blättelein, mäh, mäh!« Das war gelogen, aber der Sohn von dem Schneider kriegte Kloppe dafür.
Bei König Drosselbart hatte ich die meiste Angst, wenn der Frau auf dem Markt das irdene Geschirr entzweigeritten wurde und in tausend Scherben zersprang.
»Irdenes Geschirr ist Geschirr aus Ton«, sagte Mama.
Noch viel schrecklicher war das Hufgetrappel auf der Schatzinselschallplatte, wenn die Kutsche da über den bösen alten Seebären wegrollte. Es war aber gut, daß der totging.
Fünfzehn Mann auf der Kiste vom toten Mann und ’ne Buddel voll Rum!
Oder der Todesschrei von dem Jungen, dem John Silver mit der Krücke das Genick gebrochen hatte.
In Bristol lag die Hispaniola vor Anker, mit der Jim Hawkins zur Schatzinsel fahren wollte. Ich wäre auch gerne Jim Hawkins gewesen, als der im Hafen von Bristol die Hispaniola sah.
Am langweiligsten war Peter und der Wolf und am lustigsten Max und Moritz. Ritzeratze, voller Tücke, in die Brücke eine Lücke! Statt Käferkrabbelei sagte Onkel Fritz auf der Schallplatte Käferkrabbelahihi.
Ob vermittelst seiner Pfeifen dieser Mann nicht anzugreifen, die Stelle verstand ich nicht.
Die Rotkäppchenschallplatte konnten wir auswendig, und Papa wollte uns das ganze Märchen auf Kassette sprechen lassen, erst Volker und dann mich und dann Renate.
Ich hab ein kleines Käppchen, das ist aus rotem Samt!
Als ich an der Reihe war, sollte ich sagen: »Aber du bist ja gar nicht mein Rotkäppchen, du bist ja der Wolf, hilfe, hilfe«, nur wußte ich dann nicht mehr weiter, und Renate erzählte den Rest.
Danach sollte ich das Lied vom Rotkäppchen singen. Drum werd ich von den Leuten nur Rotkäppchen genannt. Es waren aber keine Leute da, und ich sagte, da müßten noch Leute hin.
»Ach, du Dusseltier«, sagte Papa, und dann mußte er wieder nach Amerika fliegen.
Als Oma Schlosser gekommen war, las sie uns selbst Grimms Märchen vor. Die Bremer Stadtmusikanten und wie Aschenputtels Stiefschwestern sich mit einem Messer die große Zehe und was von der Ferse abhackten, damit der Fuß in Aschenputtels Schuh paßte. Wie das wohl wehgetan hatte.
Ruckedigu, Blut ist im Schuh!
Aus Amerika brachte Papa mir einen Hubschrauber und Volker einen Jeep mit. Der Hubschrauber war mit Propellern und der Jeep mit Raketenrohr, Anhänger und Blinkscheinwerfer. Zum Geburtstag hatte Volker noch einen Bagger, ein Angelspiel und die Bücher Peps und Mary Poppins gekriegt.
Mary Poppins war eine Frau, die mit ihrem Regenschirm fliegen konnte. Als ich meinen Hubschrauber vom Küchenfenster aus fliegen lassen wollte, fiel er runter und ging unten kaputt, und Papa sagte, ich sei ein Rindvieh.
Bei dem Angelspiel waren an den Angelschnüren Magneten, mit denen man sich Fische aus einem Kasten angeln konnte. Volker kuckte immer oben rein, obwohl das verboten war.
Behalten durfte man nur die Fische, die einem nicht wieder von der Angel gefallen waren.
Meistens gewann Renate. Die konnte auch das eine Geduldsspiel mit den Kügelchen in der runden Dose gut. Wenn man die Dose richtig schüttelte und kippte, rollten die Kügelchen in die Löcher, aber nur bei Renate.
Am schwersten war das Spiel mit dem Holzkasten mit den zwei Drehknöpfen außendran und der weißen Kugel, die in keins der vielen Löcher fallen durfte. Ich war noch nie weiter als bis zum dritten Loch gekommen.
Wenn bei Flipper welche tauchten, hielt ich die Luft an, aber das schaffte ich nie so lange wie die im Fernsehen.
Flipper gehörte einem Jungen mit Sommersprossen. Der Vater von dem Jungen war Oberaufseher im Schutzgebiet und rettete Leute vorm Ertrinken. Die Bösen spritzte Flipper mit Wasser naß und schnatterte dann, und die Guten ließ er auf sich reiten. Rufen konnte man Flipper mit einer Unterwasserhupe. Jeder liebt ihn, den klugen Delphin!
Im Rhein und in der Mosel schwammen keine Delphine, auch keine Haifische oder Riesenschildkröten.
Karneval durfte ich diesmal als Prinz gehen, aber das Prinzenkostüm war längst nicht so gut wie das Supermankostüm, das Mama für Volker genäht hatte. Immer kriegte der was Besseres als ich.
Beim Rosenmontagszug sahen wir einen Jungen, der als Trapper ging, mit Schießgewehr und Biberfellmütze. Einer ging auch als Cäsar, der lustige Hase. Nur ich mußte als doofer Prinz rumlaufen, und wenn von den Wagen Bonbons geworfen wurden, kam ich nie an einen dran. Außerdem hatte ich kalte Füße.
»Wenn du nicht aufhörst zu quengeln, fahren wir Ostern ohne dich nach Jever«, sagte Mama.
Volker nahm seinen Bagger mit und Renate ihre Knüpferli, die zum Zusammenstecken waren. Daraus konnte sie Ringe, Reifen und Kugeln basteln.
Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot (der Shell-Atlas, den Mama die ganze Fahrt über auf den Knien liegen hatte).
Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist braun (Renates Apfelkernkette).
Als wir nach drei Stunden Rast machten, gab es lauwarmen Kaba aus der Thermoskanne zu trinken, mit dem abgeschraubten Deckel als Becher.
Oma Jever machte Bratkartoffeln für uns alle, mit Zwiebeln und fettem Speck.
»Wenn ich noch mehr esse, muß ich kotzen«, sagte Renate.
»Das sagt man nicht«, sagte Oma.
»Mama sagt das aber auch«, sagte Renate.
»Und Papa auch!« sagte Volker.
Eins zwei drei vier fünf sechs sieben, eine alte Frau kocht Rüben.
In der einen Wohnung unten unter der von Oma und Opa wohnten Kaufholds und in der anderen Frau Apken, die verwitwet war, so wie die Witwe Bolte in Max und Moritz. Daß sie von dem Sauerkohle eine Portion sich hole.
Gustav hob mich über den Zaun am Gartenende rüber und sagte, gleich würden die Schweine aus dem Stall gelaufen kommen, um mich aufzufressen, und ich fing an zu schreien und am Zaun zu rütteln, bis Gustav mich wieder rüberhob.
Das mit den Schweinen hatte er mir nur vorgelogen.
Beim Tag der offenen Tür auf dem Fliegerhorst in Upjever konnte man Starfighter und Düsenjäger fliegen sehen, und man mußte sich die Ohren zuhalten, weil einem sonst das Trommelfell platzte, das innen im Ohr war.
Danach wollte Volker Fallschirmspringer werden.
Zurück mußten wir zu Fuß gehen, weil Papa mit dem Käfer auf dem Fliegerhorst im Stau steckengeblieben war, und als wir in der Mühlenstraße ankamen, fühlte Oma sich ganz bregenklöterig, was ein anderes Wort für schwindelig war.
In Lützel steckte Papa Stöpsel in die Steckdosen, damit Wiebke da nicht reinfassen konnte.
Mittags schmiß sie immer ihren Löffel runter oder haute mit der Hand in ihren Brei rein.
»Du du!« sagte Mama dann, aber das nützte nicht viel.
Oma Schlosser war ein Hagelkorn aus dem Auge operiert worden, deswegen mußte sie noch warten mit dem Pulloverstricken. Das stand in einem Brief, den sie mir zum Geburtstag geschickt hatte. An Herrn Martin Schlosser, Straßburger Straße 5, 5400 Koblenz-Lützel.
Am frohesten war ich über den großen Schokoladenmarienkäfer und das Geld, für das ich mir Indianer kaufen konnte, welche mit Flitzebogen und welche mit Gewehr.
Im Kinderzimmer spielten wir Memory. Da gewann immer Renate, weil die sich von den Karten auch die blöden merkte, die mit dem Gemüse, die mit Karos und die mit der Frau, die so doof kuckte. Ich merkte mir immer nur Barbar, Petunia, den Ball, die Sonne und den Löwen.
Gemein war, daß es zwei verschiedene Schiffe gab und zwei verschiedene Kerzen. Und daß die eine gelbe Memorykarte nur fast so ähnlich aussah wie die andere gelbe.
»Bei dir piept’s wohl im Oberstübchen«, sagte Renate, wenn ich mir ein Pärchen holen wollte, das nicht zusammenpaßte.
Ganz am Ende konnte man aufholen, wenn man keinen Fehler machte beim Umdrehen. Tanne, Schwalbe, Hase, Fuchs und Zitrone.
Jetzt sei es bald soweit, sagte Mama, wir würden umziehen, auf die andere Rheinseite, in ein Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe, mit viel mehr Platz und mit Garten und herrlicher Aussicht und einem Wald in der Nähe. Gute Luft, kein Durchgangsverkehr mehr und keine Frau Quasdorf, die im Treppenhaus steht und dummes Zeug redet. Volker und ich würden ein Zimmer zusammen kriegen, Renate ein anderes und Papa eine Werkstatt im Keller. Endlich raus aus dem schedderigen Lützel. Wie wir das fänden.
Am Fernsehprogramm würde sich nichts ändern. Schlager für Schlappohren könnten wir auch auf der Horchheimer Höhe kucken.
Vor dem Umzug wurde ich wieder nach Düsseldorf gebracht zu Tante Dorothea und Onkel Jürgen und meinen Vettern, die ihre Fahrräder nachts auf dem Bürgersteig liegenlassen durften oder sogar mitten auf der Straße.
Vorm Einschlafen wollte ich von Tante Dorothea immer das Lied von dem Mond und dem Wald vorgesungen kriegen. So legt euch denn, ihr Brüder, und ist doch rund und schön, so traulich und so hold, der weiße Nebel wunderbar!
Beim Singen schob sich Tante Dorothea die nach vorn gerutschte Brille mit dem Ringfinger auf die Nase zurück.
Bei Papas Geschwistern war die Reihenfolge so, daß erst Tante Gertrud kam, dann Papa, dann Onkel Rudi, dann Tante Dorothea, dann Onkel Walter und dann Onkel Dietrich. Mama hatte nur Schwestern, die alle jünger waren: Tante Therese, Tante Gisela, Tante Luise und Tante Dagmar.
Auf der Horchheimer Höhe stellte Papa Blumenkästen auf die Terrasse, und Mama pflanzte Stiefmütterchen rein. Im Laufstall saß Wiebke und krähte. Ich lief barfuß durch den Garten auf die Straße, aber die war so heiß, daß ich mir lieber meine Sandalen holte.
Volker fuhr Rollschuh auf der Straße neben dem Haus und Renate Fahrrad. Bergauf hielt Volker sich am Gepäckträger fest und ließ sich ziehen. Ich wollte auch mal, aber dafür mußten die Rollschuhe verstellt werden. Nach langer Suche fand Papa den Rollschuhschlüssel in einer der Umzugskisten, die im Keller standen, wo die Möbelpacker sie hingepfeffert hatten.
Als Volker die Rollschuhe hergegeben und Papa sie kleiner gestellt hatte, rollte ich los, fiel um und schrammte mir die Knie auf.
Mama schnitt zwei Pflaster für mich ab.
Mit Volker lief ich in das Wäldchen vorm Haus. Gleich vorne stand ein guter Kletterbaum. Es gab Trampelpfade und eine Schlucht, und unten vorm Wäldchen entdeckten wir eine Hausruine. Trümmer und Drähte.
In der Schlucht wuchsen Ginsterbüsche mit gelben Blüten. Da säßen Zecken drauf, sagte Volker, heimtückische Biester, die nur darauf warteten, daß einer vorbeikommt, auf den sie sich fallenlassen könnten, um ihn auszusaugen.
Wir sammelten Kiefernzapfen und steckten so viele davon in die Hosentaschen, daß es beim Gehen wehtat.
Zum Geburtstag bekam Wiebke eine Puppe mit langen Wimpern, eine Entenfamilie zum Ziehen und eine Zimmerschaukel, die wie eine große Hose aussah und an Strippen vom Türrahmen hing. Wenn Wiebke nicht Laufen übte, saß sie jetzt in ihrer Schaukelhose und hielt sich an der Puppe fest, die Dagmar hieß.
Papa legte einen Komposthaufen an. Da kamen Kartoffelschalen, Essensreste und Filtertüten rein.
Renate wollte picknicken gehen, im Wald, der weiter oben hinterm Haus anfing. Sie schmierte Marmeladenbrote. Dann packte sie noch Pfirsiche, Zitronensprudel und die karierte Decke ein, und Mama spendierte drei Lutscher.
Der Weg war steil und voller Steine. Beim Korbtragen wechselten wir uns ab. Auf einer Wiese standen schiefe Apfelbäume, und Volker sagte, das sei eine Lichtung.
Renate breitete das Essen auf der Decke aus. Der Sprudel schäumte beim Öffnen über, und vom Marmeladenbrot kriegte ich kreblige Finger.
Mein Lutscher war gelb. Ich biß eine Ecke ab, auch wenn Renate sagte, daß das nicht gut für die Zähne sei.
Gänseblümchen und Leberblümchen. In den Butterblumen saßen kleine schwarze Tiere, und durchs Gras kroch eine fette rote Schnecke, die ihre Fühler einzog und schrumpfte, wenn man sie anfaßte.
Renate pflückte einen Strauß aus Schlüsselblumen. Manche Pflanzen waren giftig, aber welche? An den Kleeblüten saugten Hummeln, und aus den abgebrochenen Pusteblumenstengeln tropfte weißer Saft.
Als mein Lutscher alle war, kaute ich noch den Stiel durch.
Ein Specht war zu hören, aber nicht zu sehen. Immer, wenn man dachte, jetzt hat man ihn gleich gefunden, hörte er zu klopfen auf.
Statt Blut hatten Bäume Harz, das wie Honig aussah und schlecht wieder von den Fingern abging.
Wie die Wolken aussahen. Die eine wie ein halbes Brot und die daneben wie ein Strumpf.
Meinen Pfirsich wollte ich nicht mehr, weil da ein Ohrenkneifer drübergekrabbelt war. Einen Ohrenkneifer kriegte man nie wieder raus, wenn der einem erst einmal ins Ohr spaziert war. Der knusperte dann von innen an einem rum.
Mama saß mit ihren Nähsachen auf der Terrasse und paßte auf Wiebke auf, die unterm schräggestellten Sonnenschirm im Laufstall stand und schrie. Die Jalousie vor der Terrassentür war halb runtergelassen. »Ochotti, wie niedlich«, sagte Mama, als ich ihr den Blumenstrauß hinhielt.
Nachdem wir um Erlaubnis gefragt hatten, schlüpften wir unter der Jalousie durch ins Wohnzimmer und machten den Fernseher an.
Rund um die Manege mit Klaus Havenstein.
Nebenan wohnte Familie Strack. Die hatten auch vier Kinder: Claudia, Uwe, Heinz und Kurt, und das fünfte war unterwegs. Uwe war so alt wie ich. Der hatte ein grünes und ein blaues Auge. Ich hatte braune. Heinz war vier und trug eine Brille. Kurt war drei, ein kleiner Dicker mit großer Klappe. Claudia lag im Garten und las Micky Maus.
Grubes, die noch ein Haus weiter wohnten, hatten keine Kinder.
Im Wäldchen kannte Uwe sich aus. Er wußte auch, über welche Äste man im Kletterbaum noch höher steigen konnte, bis fast ganz oben. Dafür zeigte ich Uwe den Weg zur Schlüsselblumenwiese.
Auf der anderen Straßenseite wohnte Kalli Kasimir, der ein halbes Jahr älter als Volker war, auf einem Grashalm blasen konnte und einen Dackel besaß, der Waldi hieß. Kallis Vater war Jäger, und Volker durfte zusammen mit Kalli, Kallis Vater und Waldi auf die Jagd gehen, früh am Morgen. Tridihejo!
Ich selbst war angeblich noch zu klein für die Jagd. »Dich wittern die Böcke doch drei Meilen gegen den Wind«, sagte Volker.
Besser als Jäger war nur noch Förster. Förster waren den ganzen Tag lang im Wald.
Als Gustav zu Besuch kam, sollte ihm was geboten werden. Es gab viele Ausflugsziele – den Rittersturz, Schloß Stolzenfels, den Kühkopf, den Asterstein, die Karthause und eine Flugschau in Ramstein. Gustav entschied sich für die Flugschau. Er hatte X-Beine und stotterte noch immer.
Bei einem von den Flugzeugen durfte man sich ins Cockpit setzen. Vor der Treppe, die zum Cockpit führte, stand eine lange Schlange. Volker und ich drängelten uns ganz vorne rein.
Im Cockpit war es gut, aber man mußte sofort wieder raus und über die Treppe auf der anderen Seite nach unten gehen. Wir liefen ums Flugzeug rum und wollten uns zum zweiten Mal vorne in die Schlange mogeln, aber diesmal fingen die Leute an zu meckern.
Papa kaufte uns Popcorn, das aber fast zu salzig war zum Essen. Das sei eben auf amerikanische Weise zubereitet, sagte Papa. Renate spuckte ihres auf die Straße.
Auf der Rückfahrt kamen wir an einem Gasthof vorbei, der Kratzkopfer Hof hieß, und Renate sagte, da hätten wir mal anhalten sollen und kucken, ob sich einer am Kopf kratzt.
Gustav fuhr jeden Tag mit dem Bus nach Koblenz zum Bahnhof, um Zügen beim Rangieren zuzusehen und Waggons zu zählen.
Eines Abends fing Papa im Garten eine große grüne Laubheuschrecke ein. Bevor er sie wieder freiließ, konnten wir sie uns ankucken, wie sie im Einmachglas saß, mit langen, zitternden Fühlern und einem Bauch wie eine Erbsenschote.
Dann kam Onkel Walter aus Schmallenberg, um Volker abzuholen, und Papa brachte Renate, Gustav und mich im Zug nach Jever.
Eisenbahn die krachte, Dickmadam die lachte.
In Sande stand ein dicker schiefer Turm vorm Bahnhof. Papa sagte, die Leute hätten nach dem Krieg versucht, den Turm in die Luft zu sprengen, aber der sei nur auf die Seite gesackt, und da hätten sie ihn so stehengelassen.
Tante Gisela holte uns ab. Sie hatte einen roten Käfer. Von Gustav wollte sie wissen, wie es ihm in Koblenz gefallen habe.
»So m-m-mittelhochprächtig«, sagte Gustav.
Opa Jever stand am Vorgartentor und rauchte Zigarre, und Oma jauchzte, als ich in den Garten gelaufen kam. Sie hatte unter der Birke den Teetisch gedeckt.
Ich rannte zur Schaukel und dann zum Sandkasten, um eine Burg zu bauen. Oben der Burghof und unten der Graben. Die meiste Mühe machte der Tunnel zum Burghof. Wenn der Sand zu trocken war, fiel beim Bohren die Decke ein.
Papa schüttelte den Kopf. »Wie du schon wieder aussiehst!« Bevor ich was vom Aprikosenkuchen kriegte, mußte ich mir die Hände waschen gehen.
Auf dem Flur vor der Dachkammer mit den Gästebetten stand Omas Nähmaschine, ein Trumm aus Gußeisen mit einem Fußpedal. Wenn man das bewegte, drehte sich oben die Handkurbel, und die Nadel fuhr auf und ab.
Um im Kämmerchen durch die Dachluke den Schloßturm sehen zu können, mußte ich auf die Kommode klettern. Die Federbetten waren dicker als bei uns, und beim Umdrehen knarrte das Bettgestell. Hier gebe es bestimmt auch Mäuse, sagte Renate. Ihr würden die Mücken genügen.
Beim Frühstück lief das Küchenradio. Hör mol ’n beten to!
Plattdeutsch sei eine eigenständige Sprache und kein Dialekt, sagte Opa. Ich kriegte Honigbrot und ein Tüt-Ei, wie Oma das nannte. Renate hatte schon sechs Mückenstiche, einen am Rücken, zwei am Fuß und drei am Hals.
Gustav schlief noch, und ich ging ihn wecken. Er stieg aus dem Bett und fragte mich, ob ich schon mal eine Gangschaltung gesehen hätte. Dabei faßte er durch den Pyjama seinen Piepmatz an und drehte ihn in verschiedene Richtungen: »Erster Gang – zweiter Gang – dritter Gang – vierter Gang!«
Draußen bimmelte der Milchmann. Oma drückte mir zwei Stück Würfelzucker in die Hand, für die Pferde, und ich lief nach unten. Oma stakste hinterher.
Außer Milch verkaufte der Milchmann auch Käse, Butter und Eier. Mit seinem Fuhrwerk hielt er den ganzen Verkehr auf.
Die Pferde waren riesengroß und dunkelbraun. Sie trugen Scheuklappen und schnauften laut. An ihren Hängebäuchen konnte man die Adern sehen.
»Nu man los, die beißen nicht!« rief Oma, und der Milchmann lachte. Ich hielt dem einen Pferd die Hand mit den Zuckerstücken hin. Es fraß mir mit seinen dicken Lippen alle beide von der Hand. Das Pferd hatte gelbe Zähne. Jetzt kackte es auf die Straße. Die Pferdeäpfel waren gelb und pelzig.
Im Schloßgarten fütterten Renate und ich die Enten. Oma hatte uns altes Brot dafür mitgegeben. Die Enten stritten sich um jeden Krümel, so als ob die halb verhungert wären. Wir versuchten, auch denen was zuzuwerfen, die sonst nichts abkriegten.
Wenn die Schwäne kamen, gingen sie auf einen los und schlugen mit den Flügeln. Dann warf man am besten alles hin und lief weg.
Woanders im Schloßgarten schrie der Pfau. Als wir ihn gefunden hatten, verdrückte er sich gerade unter die Büsche. Seine Federn schleiften auf der Erde, hinten schon ganz zerschlissen.
Aus der Stadt brachte Oma Tee mit. In der Packung war ein Karl-May-Bild zum Sammeln: Männer mit Turban, nachts an einem Lagerfeuer in der Wüste, und daneben ein Kamel. Das Bild, das gut nach Tee roch, durfte ich behalten.
Es gab Heringe mit Pellkartoffeln und zum Nachtisch Erdbeeren mit süßer Sahne. Dann machten Oma und Opa Mittagsschlaf, und wir mußten leise sein. Die Türklinken hatten Schnörkel und waren golden, und auf einem Teller auf dem Tisch im Flur lag Zierobst, das nicht eßbar war.
Vom Balkon aus konnte man die Mühlenstraße sehen, die Fußgängerampel und die Anton-Günther-Straße. Wenn man Glück hatte, gab es einen Unfall. Einmal schepperten zwei Autos an der Straßenecke zusammen. Bei dem einen war die Stoßstange ganz verbeult.
Aus dem Edekaladen an der Ecke liefen Leute raus. Dann kam auch ein Polizeiauto, und die anderen Autos mußten im Bogen um die Stelle rumfahren.
Im Vorgarten strich mir Frau Apken über die Haare. »So ein hübsches Mädchen«, sagte sie. Die war nicht mehr ganz richtig im Kopf. Ich sagte ihr, daß ich ein Junge sei, und sie patschte in die Hände und rief: »So ein entzückendes Mädchen!«
Mit einem Stock drehte ich eine tote Amsel um, die ich auf dem Rasen vor der Veranda von Frau Apken gefunden hatte. Über den Bauch der Amsel krabbelten Ameisen. Ich holte Opa. Er sah sich die Amsel an und sagte, die sei wohl gegen das Fenster geknallt und habe sich das Genick gebrochen. »Nicht anfassen, da holt man sich wer weiß was weg!«
Auf einem Spaten trug Opa die tote Amsel hinters Haus und begrub sie zwischen den Haselnußsträuchern.
Durchs Gartenfenster sah uns der alte Herr Kaufhold zu. Er war im Unterhemd und hustete. Im Keller hatte er einen Friseursalon, wo er Soldaten aus Upjever das Haar schnitt, aber das sollte ich niemandem sagen. Das hatte Oma mir eingeschärft.
Renate pflückte rote Johannisbeeren. Für hundert Gramm ohne grüne Strünke zahlte Oma sechs Pfennig. Ich pflückte mit, aber Renate war schneller. Sie hatte schon fast zwei Mark verdient, als ich erst dreißig Pfennig beisammenhatte. Die lagen in einer alten Zigarrenkiste von Opa.
Mit einem heulenden Elektroquirl stellte Oma Bananenmilch für uns her. Ich sah ihr vom Flur aus zu, durch Gustavs blaues Um-die-Ecke-Kuck-Rohr, das innen zwei Spiegel hatte.
Einmal brach ein Gewitter los, als wir im Garten waren. Wir liefen zum Schuppen. Sonst ging ich da nicht rein, wegen der vielen Weberknechte, aber auf der Bank zwischen Renate und Opa hatte ich keine Angst. Es blitzte und donnerte, und dann fing es an zu regnen wie verrückt.
Die Entfernung eines Gewitters konnte man berechnen, wenn man die Sekunden zwischen Blitz und Donner zählte und die Zahl mit irgendwas malnahm.
Im strömenden Regen rannte ein Eichhörnchen über den Rasen.
Spinnen waren auch auf dem Speicher viele, aber da war mehr Platz als im Schuppen, und man konnte besser ausweichen.
Auf dem Speicher stand Gustavs Eisenbahnplatte. In den Tunneln lagen Figürchen, die vor das Bahnhofsgebäude gehörten. Der Trafo war hinüber, und die Eisenbahn fuhr nicht mehr.
An der Wand standen Kisten mit Gribbelgrabbel: Gürtel, Schürzen, Schlipse, muffige Kittel und Holzpantinen. Solche Botten würden die Holländer tragen, sagte Renate und klabasterte damit rum.
Es gab auch einen Kaufmannsladen mit einer klingelnden Registrierkasse und einer kleinen Waage. Brühwürfel, Erbsen und Ochsenschwanzsuppe. Die Schachteln waren leer, aber bunt bedruckt.
Bis Oma hier oben mal was bei mir einkaufen kam, mußte ich lange betteln. Als sie dann raufgestiefelt war, verlangte sie ein Pfund Mehl, aber ich hatte kein Mehl. »Was ist denn das für ’n Kaufmannsladen, in dem’s kein Mehl gibt«, schimpfte Oma. Ich bot ihr Brühwürfel an, die Schachtel für eine Mark. »Also dann eben Brühwürfel«, sagte Oma und zählte mir Luft hin. Das hatte ich mir anders vorgestellt.
Der Speicher von Frau Apken war abgeschlossen. Durch die Ritzen der Tür war nicht viel zu sehen, nur ein Stapel Dachziegel und ein Handfeger.
Bei einer Radtour nach Waddewarden nahm Oma mich auf ihrem Fahrrad mit, das vorne einen Kindersitz hatte und zwei Klinken zum Ausklappen, auf die ich die Füße stellen konnte. Gustav fuhr auf seinem eigenen Rad und Renate auf dem von Opa, das ihr viel zu groß war. Sie konnte nur im Stehen fahren.
In Waddewarden fand ein Sommerfest statt. Es gab ein Münzkarussell, und wir tranken Sinalco.
Als Mama im Auto mit Wiebke hergekommen war, machten wir einen Spaziergang durchs Moorland. Opa erzählte uns, was hier alles kreuchte, fleuchte und gedieh: Braunkehlchen, Kiebitze, Lerchen und Bachstelzen, Kuckuckslichtnelken, Schwertlilien, Blutweiderich und Wiesenschaumkraut.
Der Schloßturm war zwiebelförmig, weil Jever mal zu Rußland gehört hatte.
Ein Rebhuhn flatterte auf, und Wiebke fing in ihrem Wägelchen zu drinsen an. Um sie abzulenken, zeigten wir ihr eine Muhkuh auf der Weide.
Der Moorlandweg führte zum Waldschlößchen, einem Gasthof mit einem Holzkarussell im Garten, das nur schwer in Schwung zu bringen war, aber wenn es sich mal drehte, dann lange. Darauf sei sie selbst schon als Kind gefahren, sagte Mama.
Ich kriegte ein Erdbeereis. Die Tischdecken waren rotweiß gewürfelt, und in einer Ecke standen Käfige mit Kaninchen und Zebrafinken.
Wir gingen noch in den Forst Upjever und sammelten Heidelbeeren. Neben dem Wanderweg war ein Reitweg mit Hufspuren.
Meine Badehose mochte ich nicht anziehen, weil sie zu lang war. Mama nähte sie um, bevor wir nach Hooksiel fuhren, erst zu Tante Toni und dann ins Schwimmbad.
Tante Toni hatte knochige Hände. Vor dem Haus lagen Fischerboote im Hafen. Bis da und da hatte dann und dann das Hochwasser gestanden.
Im Schwimmbad kriegte ich ein Milky Way. Gustav hatte sich einen Klappstuhl mitgebracht, und Renate hatte ihren schicken neuen Bikini an.
Opa war mager und vom Hals bis zu den Füßen käseweiß, aber er konnte schwimmen. Oma ging nur bis zu den Knien ins Wasser: »Sonst bekomme ich einen Herzschlag.« Ihr Badeanzug war schwarz, und ihre Badekappe hatte Glibberschuppen.
Mama wollte mit mir Schwimmen üben. Ich sollte mich ziehen lassen, mit ihrer Hand unterm Bauch. Mama hatte versprochen, die Hand nicht wegzunehmen, aber dann nahm sie sie trotzdem weg. Ich schrie und zappelte und kriegte Wasser in die Nase.
»Hör auf zu jöseln«, sagte Mama.
In Schillig wanderten wir durchs Watt. Barfuß, weil das gesund für die Füße war. Es lagen Muscheln rum und tote Krebse. Ich fand auch zwei Vogelfedern im Schlick. Vor Quallen mußte man sich hüten, die konnten wie Feuer brennen, obwohl sie aus Wasser waren.
Zum Geburtstag schenkte ich Renate eine von meinen Vogelfedern. Die andere hob ich für Mamas Geburtstag auf. Von Tante Grete kriegte Renate zwei Badekappen, eine rote und eine gelbe, von Mama ein Tausend-Teile-Puzzle mit einer Kirche und von Oma und Opa das Buch Der kleine Mann. Tante Grete war aber gar keine richtige Tante, die war nur Renates Patin und eine alte Freundin von Mama.
Von dem Puzzle hatten wir erst ein Randstück fertig, als wir fahren mußten. Renate wollte es in den Kasten legen, aber es fiel auseinander.
Oma gab mir ein neues Karl-May-Bild mit: Indianer, die durch einen Fluß reiten und mit Pfeil und Bogen schießen.
Auch als wir schon wieder auf der Horchheimer Höhe waren, rochen meine Bilder noch nach Tee.
In Schmallenberg hatte Volker haufenweise Segelflugzeuge gesehen und in einem Freigehege Hirsche und Wildschweinkeiler.
Kalli nannte Wildschweine Wutzen und sagte, die seien friedlich, es sei denn, sie hätten gerade Frischlinge geworfen. Dann würden sie auch Menschen angreifen. Kallis Vater hatte schon mehr als zwanzig Wutzen geschossen.
Uwe hatte eine Schwester gekriegt, die Vera hieß und viel brüllte, genau wie Wiebke früher. Kleine Schwestern waren zu nichts zu gebrauchen.
Der Fußgängerweg vorm Wäldchen führte zu einem Spielplatz, der für Babys war. In der Kurve davor zweigte ein Pfad in die Büsche ab. Zwischen Disteln, Birnbäumen und wilden Brombeersträuchern ging es da zu einer Mauerruine. Überall flogen Wespen rum, und von den Brombeerranken kriegten wir Kratzer ab.
In den Ritzen der Mauer wuchs Löwenzahn. Auf den Steinen krabbelten winzige rote Tierchen rum. Uwe Strack sagte, das seien Blutläuse, und wir schlugen sie mit Steinen kaputt.
Hinter der Mauer lag Schutt. Wir fanden einen Stollen, wo es schräg nach unten ging, aber es war zu dunkel. Vielleicht war da ein Bunker aus dem Krieg.
Weiter hinten war eine Müllkippe. Da fanden wir einen Benzinkanister, einen Handschuh und drei Batterien. Oder waren das Zündkerzen?
An einer Stelle hatte jemand Feuer gemacht. Die Asche qualmte noch. Von den verkohlten Ästen kriegten wir schwarze Finger.
Ich nahm eine kleine rote Vase mit, die noch heile war.
Mama sagte, ich solle mich bloß vorsehen. Einmal sei ein Junge auf einer Müllkippe in einen alten Kühlschrank gestiegen, und dann sei die Tür zugefallen, und der Junge sei fast erstickt, weil man Kühlschranktüren von innen nicht aufmachen kann. Der Junge habe zum Glück einen Stock dabeigehabt und sein Taschentuch drangebunden und den Stock durch die Türritze gefummelt und gewinkt, und das habe jemand gesehen, der da zufällig vorbeigekommen sei. Der habe den Jungen dann befreit.
Auf einem Lastkraftwagen kam ein großes Schaukelgestell für uns, aus Metall. Papa schaufelte Löcher neben dem Haus und betonierte das Gestell da ein. Mit dem Schaukeln mußten wir warten, bis der Beton hart war.
Ich kriegte neue Sandalen von Romika und fand raus, daß ich damit gut an den Straßenlaternen hochklettern konnte, bis obenhin. Das machte ich auch den Engländern vor, als sie uns besuchen kamen: Tante Therese, Onkel Bob, Kim und Norman. Kim hatte einen Pagenschnitt und konnte englische Lieder singen. Leider wußte Mama nicht, was Klettermaxe auf englisch heißt.
Wir fuhren mit dem Schiff nach Boppard zur Sesselbahn. An den Ufern standen Ritterburgen.
In der Sesselbahn saß ich neben Papa. Auf halber Strecke stand ein Fotograf und machte ein Foto von uns und dann eins von Renate und Volker, die als nächste kamen. Bei meiner einen Sandale war die Schnalle offen, und als ich mich zu Renate und Volker umdrehte, fiel die Sandale runter in die Bäume. Papa sagte, ich sei ein Hornochse.
Als Denkzettel kriegte ich oben keine Limonade. »Und das Foto kannst du dir auch in die Haare schmieren«, sagte Mama.
Oben war ein Spielplatz mit Rutsche und Schaukel, aber mit nur einer Sandale an machte das Rumlaufen keinen Spaß. Ich konnte nur humpeln, und huckepack tragen wollte mich keiner.
Tante Therese kaufte mir dann doch eine Limonade. Papa ging zu Fuß ins Tal, um auf dem Weg nach meiner Sandale zu suchen.
»Und jetzt sitz gefälligst still«, sagte Mama, als wir wieder runterfuhren. Auf Papa mußten wir noch lange warten. Die Sandale hatte er nicht gefunden. Es war gut, daß wir Besuch hatten, sonst hätte ich die Hucke vollgekriegt.
Am nächsten Tag ging Mama mit mir in die Stadt, Sandalen kaufen, und die anderen gingen zum Deutschen Eck. Bei Salamander war eine Rutschbahn, aber ich durfte nur dreimal drauf. »Wir sind schließlich nicht zum Vergnügen hier«, sagte Mama.
Mit Uwe schloß ich im Wäldchen Blutsbrüderschaft. Wir piekten uns jeder mit einem Dorn in den Zeigefinger, bis Blut kam, und dann hielten wir die Finger aneinander. Jetzt floß Uwes ganzes Blut in mich und meins in Uwe.
Mama sagte, ich sei ein Torfkopp. Was ich so für Vorstellungen hätte. »Wenn das ganze Blut aus jemandem rausfließt, kippt der um wie ’n nasser Sack.«
Morgens lief ich immer gleich zum Kletterbaum. Uwe schaffte es höher, aber der war auch nicht so schwer ich. Bei mir wären die dünnen Äste ganz oben abgebrochen. Uwe sagte, ich sei bloß zu feige, aber dafür kam er nicht die Laternen hoch.
In einem Gebüsch im Wäldchen fanden wir eine tote Schlange, eine Ringelnatter oder eine Blindschleiche. Wir hätten sie wem in den Schuh legen können, Uwes großer Schwester Claudia meinetwegen, aber dazu hätten wir die Schlange anfassen müssen, und die konnte noch giftig sein.
Im Wäldchen wuchsen auch Brennesseln. Davon juckten einem die Beine und die Arme, und wenn man sich kratzte, juckten die Stellen noch mehr.
Einen großen Stein, der aus der Erde ragte, wollten wir ausgraben. Vielleicht war da ja was drunter, eine Schatztruhe oder ein Hirschgerippe. Wir zogen an dem Stein, aber der rührte sich nicht vom Fleck.
Oben von der Schlucht aus konnte man bis zu einer Stelle runterklettern, wo der Felsen ein kleines bißchen ausgehöhlt war. Wenn wir dahinwollten, sagten wir jetzt immer, daß wir zu unserer Höhle gehen.
Wir zeigten auch Volker und Kalli unsere Höhle. Kalli sagte, wenn wir eine Höhle haben wollten, müßten wir sie hier in den Felsen schlagen. Dafür brauchten wir aber Werkzeug. Von zuhause holte Kalli einen Hammer und lange Nägel. Damit kloppten wir Stücke aus der Höhlenwand, zu viert nebeneinander. Wenn die Höhle groß genug wäre, könnte man sich da ein Versteck anlegen wie das Häschen in der Grube.
Vor dem Mittagessen mußte ich die Hände vorzeigen. »Jetzt andere Seite!«
Gulasch, Kartoffeln und Bohnen oder Bratwurst, Kartoffeln und Erbsen oder Milchreis mit Dosenpfirsich. »Schmatz nicht so!« sagte Papa. »Und nimm die Knochen vom Tisch!« Wenn mir was von der Gabel fiel, verdrehte Papa die Augen.
Ich saß rechts neben Volker, und weil ich Linkshänder war, kamen wir uns immer mit den Ellbogen ins Gehege, bis wir ein für allemal umgesetzt wurden, Volker nach rechts und ich nach links, damit wir uns nicht mehr benahmen wie die Botokuden.
Den Eßtisch hatte Papa selbst gebaut. Ein schwarzes Metallgestänge, zusammengeschweißt, und obendrauf eine weiße Schleiflackplatte, groß genug für sechs Leute. Da hätten auch acht Leute drangepaßt.
Wiebke sabberte in ihr Lätzchen. Ich selbst durfte schon eine Serviette benutzen.
Nachtisch gab es erst, wenn der Teller leer war. Auch die letzten Soßenreste mußten weg sein. Papa prampte da bei sich mit der Gabel immer eine Kartoffel rein. Ich versuchte das auch, aber so blank wie Papas Teller wurde meiner nie. Einfacher wäre es gewesen, den Teller abzulecken, aber das war verboten.
Quarkspeise mochte ich am liebsten und am zweitliebsten Vanillepudding. Wenn Mama fragte, wie es schmecke, sagte Papa: »Wie Zement.«
Stracks aßen früher als wir. Wenn wir uns gesegnete Mahlzeit wünschten, turnte Uwe oft schon wieder im Kletterbaum rum, und ich löffelte eilig meinen Nachtischteller aus.
»Erster!«
Vor dem Aufstehen wurde nochmal gebetet: Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte wäret ewiglich. Amen.
Im Wäldchen brachen Uwe und ich uns Speere ab, um Karnickel zu jagen. Ein Karnickelloch hatten wir schon gefunden, und wir legten uns auf die Lauer. Als wir keine Lust mehr hatten, auf Karnickel zu warten, schleuderten wir die Speere in die Schlucht. Ich kriegte einen Splitter in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger und lief nachhause. Mama zog mir den Splitter mit der Küchenpinzette raus, machte die Stelle mit Wasser und Seife sauber und streute ein Puder drauf, das brannte.
»Hab dich nicht so.«
Auf der Müllkippe hatte jemand eine große Ladung Schalen mit Fleischsalat abgeladen. Die durchsichtigen Deckel konnte man abmachen. Mit den Fingern holten Uwe und ich die Fleischwurststückchen raus und aßen sie auf, bis wir genug davon hatten. Auf die restlichen Schalen ließen wir große Steine fallen, damit es spritzte.
Auf dem Nachhauseweg wurde mir schlecht. Auch Uwe wurde schlecht. Ich mußte ins Klo brechen. Mama wischte mir mit Klopapier den Mund ab. Ich wollte nie wieder Fleischwurst essen. Ich wollte überhaupt nie wieder was essen.
Mama brachte mich ins Bett und sagte, daß morgen früh alles wieder gut sein werde, aber als sie das Licht ausgemacht hatte, dachte ich an den Fleischsalat und mußte ins Bett brechen. »Herr des Himmels!« sagte Mama und ging wieder mit mir aufs Klo und steckte mir den Finger in den Hals, aber diesmal kam nicht mehr viel.
Weil das Kinderzimmer so nach Gebrochenem roch, durfte Volker auf dem Wohnzimmersofa schlafen und ich auf einer Luftmatratze im Handarbeitszimmer.
An einem heißen Sonntag fuhren Stracks an die Lahn zum Baden. Ich durfte mit. Im Auto saßen wir hinten zu fünft. Ein Fensterplatz war für mich reserviert, weil ich nach Claudia das zweitälteste Kind war. Am anderen Fenster saß Claudia. Zwischen uns quetschten sich Uwe, Heinz und Kurt. Sie stritten und hauten sich, bis Herr Strack anhielt und Backpfeifen verteilte. Frau Strack, die vorne die brüllende Vera auf dem Schoß hatte, sagte, Volker und ich, wir seien doch bestimmt nicht solche Rotzlöffel.
Um mich nicht nackt ausziehen zu müssen, hatte ich meine Badehose schon angezogen. Daß ich noch nicht schwimmen konnte, wollte Herr Strack nicht glauben, aber Uwe konnte auch noch nicht schwimmen.
Da sitzt sie nun bei Wasserratzen, muß Wassernickels Glatze kratzen.
Claudia sagte, daß ihr das Wasser zu kalt sei. Herr Strack hatte Haare auf der Brust und auf dem Rücken.
Uwe sagte, sein Vater sei stärker als meiner, aber meiner war im Krieg gewesen und seiner nicht.
Als ich Claudia ein Beinchen gestellt hatte, schnauzte Herr Strack mich so an, daß ich mir fast in die Hose machte.
Im Ufergebüsch fanden Uwe und ich leere Colaflaschen und Zeitungspapier, mit dem sich jemand den Arsch abgewischt hatte.
Wir sahen auch eine Libelle, die ganz blau war und in der Luft stillstand. Libellen würden nicht stechen, sagte Uwe, aber wir waren froh, als die Libelle weiterflog.
Bevor wir zurückfahren konnten, mußten wir Heinz seine Brille suchen helfen.
Mama saß am Eßtisch und klebte Fotos ein. Das hellblaue Zackenband aus der Schachtel mit den Fotoecken hing auf den Boden runter.
Mein Album. Ich als Baby, in der Wanne, auf der Waage und wie ich die Flasche kriege. Auf dem Topf, im Laufstall, bei der Suche nach Ostereiern und vorm Weihnachtsbaum. Mein fünfter Geburtstag. Renate in ihrem Karokleid, und auf dem Wohnzimmertisch steht eine Flasche Bier.
Die neuen Fotos hatte ich mir aufgespart bis zum Schluß. Die Wattwanderung und dann Gustav, Oma, Renate, Opa und ich in Hooksiel vor dem verschlossenen Strandkorb, der zu teuer gewesen war für Normalsterbliche wie uns.
Wiebke hing in ihrer Schaukelhose, und Volker hatte den Jeep in der Mangel. Da ging das Licht nicht mehr an. Nebenan schimpfte Herr Strack, und man hörte Kurt heulen. Oder Heinz.
Was hängt an der Wand, macht tick-tack, und wenn’s runterfällt, ist die Uhr kaputt?
Mainzelmännchen kucken, Kaba mit Schmelzflocken trinken und Reklame raten: Erstmal entspannen, erstmal Picon. Bauknecht weiß, was Frauen wünschen. Hoffentlich Allianz versichert. Ei ei ei Verpoorten, Afri-Cola, der Gilb und die Kellergeister, die aus dem Kühlschrank getanzt kamen. Wiebke wollte immer nur den Bärenmarkebären sehen. Ich hatte Bärenmarke mal probiert, aber das schmeckte nicht.
»Nimm deine Käsemauken da weg!« sagte Volker.
Pistolen und Petticoats, Abenteuer im Wilden Westen, Bonanza und Rauchende Colts kuckte auch Uwe immer. Aber wenn wir Rauchende Colts spielten, wollten wir beide Marshall Matt Dillon sein und keiner Festus, auch wenn Festus einer von den Guten war.
Bei Bonanza wollten wir beide Little Joe sein. Kurt war manchmal Hoss und Heinz gar nichts.
Im Wilden Westen wurden die Pferde vor dem Saloon immer nur lose angeleint. Wieso liefen die nicht weg?
Neckermann macht’s möglich.
Weil ich Kopfweh hatte, schickte Mama mich hoch, das Fieberthermometer aus Papas Nachtschränkchen holen, aber im Elternschlafzimmer fand ich den Lichtschalter nicht. Auf Papas Bett lag was Schwarzes, das wie ein Wolf aussah. Ich ging wieder nach unten und sagte, daß auf Papas Bett ein Wolf liege.
Volker tippte sich an die Stirn und ging selber hoch.
»Das war kein Wolf, das war Papas Jackett, du Spinner«, sagte er, als er wieder runterkam.
Dann kriegte ich das kalte Thermometer in den Po. Ich hatte Temperatur, aber Mama sagte, das sei kein Grund, das Zähneputzen ausfallen zu lassen. Danach kam sie zum Gutenachtgebet zu mir. Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.
Das arme Jesuskind. Das mußte jeden Tag Essen bescheren und segnen und ganz allein wohnen. Wahrscheinlich hatte das Jesuskind nicht mal Spielzeug.
Ich hatte Kater Mikesch, den Hasen Mumpe, einen Teddy, einen Schlumpf, neun Indianer, vier Mainzelmännchen und das weiße Schaf, das immer umfiel, weil das eine Bein ab war. Dann hatte ich noch die Kasperfiguren, auch wenn die mir nicht alleine gehörten: Kasper, Rotkäppchen, Schutzmann, Krokodil, Großmutter, König, Prinzessin, Teufel, Hexe, Gespenst und Tod. Beim Käppchen von Rotkäppchen blätterte aber schon die Farbe ab. Im dicken Krokodil fing einem immer die Hand an zu schwitzen, und der Schutzmann schielte und hatte einen weichen Kopf, den man von innen mit dem Finger gut verknautschen konnte. Der Totenkopf vom Tod war viel härter.
Volker mußte auch schon ins Bett, weil die Schule wieder angefangen hatte. Als Mama gegangen war, machten wir das Licht wieder an und deckten alle Spielzeugtiere zu, auch die Mensch-ärgere-Dich-nicht-Figuren noch, und dann stand mit einemmal Mama im Zimmer: »Ich seh wohl nicht recht!«
Papa ließ uns im Wohnzimmer Kniebeuge machen, damit wir müde wurden, aber wir wurden nicht müde, und ich hatte auch kein Kopfweh mehr, nur meine Kniegelenke knirschten so laut, daß es Mama über die Hutschnur ging. »Ab in die Falle! Und keine Sperenzchen mehr!«
Ich hatte schon geschlafen, als unter meinem Bett am Kopfende ein Wolf rauskam und rief: »Ich bin der große böse Wolf und will dich fressen!«
Von meinem Geschrei wurde Mama wach. Volker sagte, daß ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. In meinem Bett wollte ich nicht mehr schlafen, und ich durfte ausnahmsweise zu Mama und Papa.
Am Morgen hatte ich wieder Kopfweh, und mir lief die Nase. Mama machte mir eine Schwitzpackung. Vorher mußte ich Pipi machen, ein Medikament schlucken und mich nackt ausziehen. Dann mußte ich mich im Bett auf ein heißes, feuchtes Badelaken legen. Mama wickelte mich damit ein, so daß ich die Arme nicht mehr bewegen konnte. Ich kriegte noch zwei Decken obendrauf, ein warmes Tuch um den Hals und eine Wärmflasche an jede Seite, und dann mußte ich Fliedertee trinken.
Weil meine Arme eingewickelt waren, konnte ich nicht mal Bilderbücher bekucken. Mir war so heiß, daß ich die Handtücher wegstrampelte, aber vorsichtig, damit Mama nichts merkte, wenn sie raufkam, um mir die Nase zu putzen.
Vom Bett aus konnte ich an der Wand das schwarze Plastikbild von Max und Moritz sehen, die im Schornstein von der Witwe Bolte nach den Hühnern angeln. Der eine Zopf von Moritz war irgendwann abgebrochen.
Mama wollte wieder Fieber messen und nahm die Decken weg. Da sah sie, daß ich die Handtücher alle ans Fußende befördert hatte, und schimpfte mit mir, und ich kriegte eine neue Schwitzpackung.
Als Renate aus der Schule kam, las sie mir was aus ihrem Buch über den kleinen Mann vor, der Mäxchen Pichelsteiner hieß und in einer Streichholzschachtel schlief. Seine Eltern waren auch ganz klein gewesen und im Zirkus als Artisten aufgetreten. Als Mäxchen sechs Jahre alt war, hatte der Wind die Eltern in Paris vom Eiffelturm geweht, und seitdem paßte der Zauberkünstler Jokus von Pokus auf den kleinen Mann auf. Er wollte Katzen dressieren, aber die gehorchten ihm nicht. Die bissen seine hübsche Lackpeitsche mittendurch.
Mittags fütterte Mama mich mit Grießbrei, aber ich konnte nicht viel davon und auch von der Götterspeise zum Nachtisch nicht.
Mama brachte mich zum Kinderarzt, der mir mit einem Holzstück die Zunge runterdrückte, wovon ich fast brechen mußte.
Ich hatte Grippe. Um keinen anzustecken, kam ich in Renates Zimmer, und Renate kam zu Volker. Mama schmierte mir die Brust mit gelber Salbe ein, von der mir die Augen tränten. Dann mußte ich den Kopf in den Nacken legen und kriegte Nasentropfen, die mir innen durch die Nase in den Mund liefen und bitter schmeckten.
Bei Renates Klappbett konnte man die Vorhänge zuziehen und sich vorstellen, daß man in einem Indianerzelt wohnt. Man konnte auch die Schrauben aus den Stoppern an den Vorhangschienen drehen, aber nicht, wenn man eine Schwitzpackung hatte.
Ich hörte Mama den Wohnzimmerteppich saugen. Wir hatten einen Klopfstaubsauger. Die gute Wahl – Hoover.
Später kriegte ich noch einen Löffel roten Hustensaft, und als ich die Arme wieder frei hatte, brachte Renate mir ein Pixibuch. Frau Entes großer Tag. Wie Frau Ente ans Meer reist und da von den Wellen untergespült wird und dann doch lieber wieder nachhause fährt zu ihrem Teich.
Im Klappbett träumte ich, daß ich sterbe, weil Kalli mir im Wäldchen ein Messer in den Rücken gestochen hat. Als ich aufwachte, war mein Nacken pitschnaß und das Kopfkissen auch.
Beim Schlafen sickerte in der Nase der Schnött immer auf die Seite, die unten war. Dann mußte man sich umdrehen.
Nach ein paar Tagen ging es mir wieder besser, aber ich durfte noch nicht raus. Mama war einkaufen gegangen und hatte Wiebke mitgenommen. Volker war mit Kalli weg, und Renate war beim Zahnarzt, dem guten, bei dem sie die Hand heben durfte, wenn es ihr wehtat, und dann hörte er auf zu bohren.
Ich hatte versprochen, keine Dummheiten zu machen. Eine Weile spielte ich auf Renates Blockflöte, die nach Stuhlbein schmeckte. Am lautesten war es, wenn man das Mundstück abnahm und mit voller Kraft reinblies.
Unter der Heizung lag einer von Renates Ballettschuhen. Den anderen fand ich in ihrem Puppenkleiderschrank, aber die Ballettschuhe paßten mir nicht.
Im Keller stand Papas Zeichenmaschine, die wir nicht anfassen durften. Hinten Hebel und Gewichte und unten Pedale. Die Bretter für den zweiten Komposthaufen lagen zum Trocknen auf Böcken und rochen nach Farbe. Volkers alter Roller, Mamas Gitarre mit dem Sprung in der Rückseite und Papptonnen mit Papierrollen drin. In einem Karton lagen Renates rostige Springschuhe.
Wenn ich mich auf die Zehen stellte, kam ich in der Küche an den Griff der Glasschütte mit Zucker.
Auf dem Brotschapp war vorne ein Bild von drei Männern, die Trompete spielten. Innen im Schapp lag das große Brotmesser mit den scharfen Zacken. Das Brot war alle, und die grüne Taschenlampe in der Küchenschublade ging nicht.
Ich machte das Küchenradio an und drehte an der weißen Scheibe, aber da kam nur Gebritzel. Dann kippte ich Ata ins Waschbecken und ließ Wasser drüberlaufen. Ata war giftig. Heißes Wasser aus dem Hahn und kaltes Wasser. Der Abfluß gluckerte.
Das Frühstückstablett stand oben auf dem Kühlschrank, und ich mußte einen Stuhl aus dem Eßzimmer holen. Erdbeermarmelade, Honig und Kirschmarmelade. Ich leckte die Deckel aus.
Dann brachte ich den Stuhl zurück, ging ins Wohnzimmer und versuchte, den Fernseher anzumachen. Der weiße Knopf war der Ausknopf. Ich versuchte auch die anderen, aber da kam nichts.
In der Ecke stand der Papierkorb, beklebt mit Bildern von Pfeifen und Tabaksbeuteln. Einer davon sah so aus, als ob er einen böse ankuckt. Als ob man was ausgefressen hätte.
Ich kniete mich auf den Stuhl an Papas Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab. Es tutete. Irgendwo anrufen, in den Hörer rülpsen und wieder auflegen? Ich wählte was, aber dann ließ ich es doch lieber bleiben. Nachher war da noch die Polizei dran oder Papa im Büro.
Pfeifenständer, Locher, Stiftebecher. Der Magnet, der die Büroklammern festhielt, und die Haut über Mamas Schreibmaschine.
Neben der großen Karte von New York hing der Scherenschnitt von Renate und Volker an der Wand. Renate mit Pferdeschwanz. Den hatte sie schon lange nicht mehr. Und die Fotos von Oma und Opa Schlosser. Opa Schlosser war schon tot. Schwarzer Opa hatte Renate den genannt, weil er nie was anderes als schwarze Sachen angehabt hatte.
Solange ich allein war, konnte ich auch den Wohnzimmertisch raufkurbeln und wieder runterkurbeln oder mit Hausschuhen an auf dem Sofa hüpfen. Oder alle Sofakissen aufstapeln, mich obendrauf setzen und wippen, bis der Stapel umfiel. Oder die großen Ozeanmuscheln an die Ohren halten und das Meer rauschen hören.
Ich holte mir das Witzebuch aus dem obersten Regal. Knaurs lachende Welt: der Regenwurm, der am Angelhaken hängt und einen Fisch auffrißt. Der Butler, der Rauchringe mit dem Spazierstock auffängt. Der Fakir mit der Hose aus Stacheldraht und der Engel, der seine Flügel bügelt.
Als ich das Buch zurückstellen wollte, fiel es runter und knickte ein Blatt vom Gummibaum halb ab. Ich suchte in Papas Schreibtischschubladen nach der Uhutube, weil ich das Blatt wieder ankleben wollte, aber als ich die Tube gefunden hatte, kriegte ich den Deckel nicht auf. Stattdessen machte ich das Blatt dann ganz ab und riß es in kleine Schnipsel, die ich auf dem Komposthaufen verstreute.
Mama konnte ich damit jedoch nicht hinters Licht führen, und ich kriegte eine gescheuert.
Mit dem Roller fuhr ich die Straße neben dem Haus runter. Der Roller fuhr schnell. Hinten konnte man mit der Hacke auf die Bremse treten, aber die ging nicht. Abspringen konnte ich auch nicht mehr. Ich knallte gegen den Bordstein und fiel hin.
Mein eines Knie war blutig. Als ich aufstand, prickelten mir die Hände so doll, daß ich heulen mußte.
Mama machte mir ein Pflaster aufs Knie, und Renate ging den Roller holen. Der Vorderreifen war platt.
Das Abziehen der Pflaster tat mehr weh als alles andere.
Wiebke schob ihre Rasselwalze auf dem Rasen hin und her. Aus dem Garten von Stracks kamen Seifenblasen über den Zaun geflogen. Claudia pustete die in den Himmel. Kurt und Heinz scharwenzelten um sie rum und wollten auch mal. Uwe rannte hinter den Seifenblasen her und haute sie kurz und klein.
Papa sagte, Seifenlauge könne man auch selber machen, aus Wasser und Palmolive. Aber man brauchte auch was, wodurch man pusten konnte. Dafür klemmte Papa im Keller ein altes Teesieb in den Schraubstock und hatte damit zu tun, bis es dunkel wurde.
Uwe hatte rausgefunden, daß in den Betonschächten links und rechts von der Auffahrt zur Tiefgarage unterm Ladenzentrum leere Flaschen lagen, für die man bei A&O Geld bekam.
Ein Duplo kostete zwanzig Pfennig und ein Mars fünfunddreißig, und beim Bäcker gab es für jeden Pfennig ein Gummibärchen. Wenn wir keine Pfandflaschen fanden, schickten wir Heinz los, Leute anbetteln: »Können Sie mir einen Pfennig geben?« Wir warteten hinter der Ecke. Von den Pfennigen kauften wir uns Gummibärchen, ohne Heinz was abzugeben.
Das petzte er Claudia. Die sagte, daß wir gemein seien, und Uwe sagte doofe Kuh zu ihr.
Als wir nachhause kamen, stand Frau Strack schon keifend vorm Haus: »Uwe, küste bej misch!«
Uwe rannte über das Beet vor der Tür bis zum Zaun. Erst wollte Frau Strack ihm nach, aber dafür hätte sie auch über das Beet gemußt.
»Dau damische Sau do!« rief Uwe.
Das werde sie dem Papa sagen, brüllte Frau Strack und drohte Uwe mit der Hand, da sei aber was fällig! Dann stampfte sie ins Haus und knallte die Tür zu.
Wir liefen ins Wäldchen. Das werde er Claudia noch heimzahlen, sagte Uwe.
Unten in der Hausruine stand ein Mann und schoß mit einem Gewehr auf Zielscheiben aus Papier. Wir sahen zu. Dann fragte ich den Mann, ob er Platzpatronen benutze. Er zeigte mir einen Vogel und sagte: »Mit Platzpatronen kann man nicht schießen, die knallen nur.«
Wir gingen wieder hoch und schmissen Steine in die Schlucht, bis Bezaubernde Jeannie anfing.
Ich war froh, daß ich nicht Uwe war.
Uwe hatte Hausarrest. Ich ging alleine ins Wäldchen, um eine Falle zu bauen. Mit der Sandkastenschippe buddelte ich ein Loch in einen der Pfade. Da sollte jemand reinstolpern.
Die Erde war hart, und ich stieß auf Baumwurzeln.
Nachmittags nahmen Volker und Kalli mich in den Wald mit. Waldi war auch dabei. Er hatte es gern, wenn man ihn hinter den Ohren kraulte. Im Wald nahm Kalli ihm die Leine ab, und Waldi rannte kläffend ins Dickicht, hinter Karnickeln her oder hinter Ratten. Sieben Hundejahre würden einem Menschenjahr entsprechen, sagte Kalli, und deshalb sei Waldi schon vierzehn Jahre alt.
Kalli konnte Fährten lesen. Er wußte, wie man Eichelhäher, Bussarde, Falken und Habichte unterscheidet, daß Bäume eingehen, wenn man die Rinde abschält, und daß Laubbäume durch die Blätter atmen. Er konnte auch Schmetterlinge unterscheiden: Admiral, Zitronenfalter, Tagpfauenauge und Nachtpfauenauge.
Hin und wieder waren am Himmel Bananenhubschrauber zu sehen.
Wenn Waldi angehechelt kam, dann nie mit Beute, aber er brachte Stöckchen zurück, die man geworfen hatte. Die legte er einem vor die Füße. Dann bellte er laut und wedelte mit dem Schwanz.
Neben einem der Wege war ein Bach und weiter oben ein Tümpel mit grünem Zeug drauf. Da gab es Fliegen, die auf dem Wasser laufen konnten. Aus dem Tümpel kuckten Äste.
Unter einer Bank fanden wir ein Schlüsselbund mit Etui. Einer von den Schlüsseln hatte oben ein VW-Zeichen, wie der von Papa, aber Papas Schlüsseletui sah anders aus. Kalli sagte, wir könnten ja mal kucken, ob der Schlüssel zu einem VW auf der Horchheimer Höhe paßt, und dann ’ne kleine Spritztour unternehmen. Kalli war schon mal Auto gefahren, ein kleines Stück auf der Schmidtenhöhe, mit seinem Vater zusammen.
Volker sagte, daß der Besitzer uns Finderlohn geben müsse, aber weil wir nicht wußten, wie wir den Besitzer finden sollten, legten wir das Schlüsselbund wieder unter die Bank. Wenn der Besitzer dann ankäme und das Etui da liegen sähe, wäre der völlig aus dem Häuschen vor Freude.
Wir gingen noch mit zu Kalli. Seine Eltern waren weg. Waldi legte sich in der Küche in sein Körbchen. An den Wänden im Wohnzimmer waren Geweihe aufgehängt, und auf dem Boden lag ein Wildschweinfell als Teppich.
Kalli stellte eine Holzkiste mit Katjes auf den Tisch und sagte, daß wir uns bedienen sollten. Zu trinken gab es Karamalz aus der Flasche. Kalli hatte auch ein Tonband und massenweise Micky-Maus-Hefte. Er legte die Füße auf den Tisch und sagte, am Sonntag würde er wieder auf die Jagd gehen. Der hatte es gut. Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera!
Ich wollte auch einen Dackel haben, aber Mama sagte, vier Kinder seien ihr genug, da brauche sie nicht auch noch einen Köter im Haus. Ich würde binnen kürzester Zeit jedes Interesse an dem Tier verlieren, und dann wäre sie diejenige welche, an der die ganze Arbeit hängenbleibe. Außerdem hätten Hunde Flöhe, und damit basta.
Das nächste Mal wollten Volker und Kalli ohne mich los, aber ich schlich ihnen nach. Im Wald versteckte ich mich hinter Bäumen, mit Abstand, damit Waldi mich nicht witterte.
Indianer konnten auf Zweige und Blätter treten, ohne ein Geräusch dabei zu machen. Indianer hatten aber auch Mokassins an und keine Gummistiefel.
Volker und Kalli gingen einen Weg rauf, den ich noch nicht kannte. Einmal blieben sie stehen, und Volker sah mich. Sie glaubten mir nicht, daß ich nur zufällig im Wald war. Volker sagte, ich sei eine Nervensäge, aber Kalli hatte nichts dagegen, daß ich mitkam.
Von einer Stelle am Waldrand aus konnten wir Panzer auf der Straße fahren sehen. Da, wo wir saßen, lag eine Patrone zwischen den Blättern, die grün und untendrunter golden war. Als wir in den Blättern wühlten, fanden wir noch mehr Patronen, ein ganzes Vorratslager davon. Kalli sagte, das sei Gewehrmunition. Wir wollten was davon mitnehmen, aber dann kam ein Soldat und sagte, daß wir die Patronen liegenlassen sollten. Kalli sagte, daß wir die Patronen als erste gefunden hätten, und der Soldat sagte, wir sollten die Goschen halten und Leine ziehen.
Er blieb da stehen, bis wir weg waren. Acht von den Patronen hatte Kalli gemopst. Die wollte er aufbrechen und das Zündpulver rausholen und dann irgendwas in die Luft jagen. Wir dürften ihn aber nicht verpfeifen, sagte Kalli. »Wenn mein Alter das spitzkriegt, bin ich geliefert.«
Als Uwe wieder rausdurfte, gingen wir in den Wald. Das Schlüsseletui war weg. Dafür fanden wir mitten auf dem Weg einen toten Hirschkäfer, der ganz schwarz war.
Wir gingen einen steilen Pfad rauf. An der einen Seite standen die Tannen so dicht, daß man nicht mehr durchkucken konnte. Da mußten auch irgendwo Wutzen sein. Um sie in die Flucht zu schlagen, sangen wir die Lieder, die wir kannten, auch das von Bolle, der seinen Jüngsten im Gewühl verliert, bei einer Keilerei das Messer zieht und fünfe massakriert. Das Hemd war ohne Kragen, das Nasenbein zerknickt, und am Ende wird Bolle von seiner Ollen noch ganz fürchterlich verdrescht.
Ich mußte kacken und hockte mich dazu in eine Kuhle. Uwe sagte, das sei ein Bombentrichter aus dem Weltkrieg. Als ich fertig war, brachte Uwe mir Blätter zum Abputzen und hielt sich die Nase zu.
Und was dahinten runterfällt, das ist der Duft der weiten Welt.
Die Kackwurst lockte große Schmeißfliegen an, die in allen Farben schillerten.
Oben auf dem Berg war eine Lichtung mit Hochstand. Wir stiegen die Leiter hoch. Die Tür war offen. Hier saßen sonst die Jäger und schossen auf Rehe und Wutzen.
Unten gingen ein Mann und eine Frau lang. Wir warteten, bis sie fast nicht mehr zu sehen waren, dann riefen wir: »Verliebtes Paar! Küßt euch ma!« Danach duckten wir uns. Durch die Ritzen konnten wir sehen, daß das Liebespärchen stehengeblieben war und in unsere Richtung kuckte. Als nächstes riefen wir: »Verliebt, verlobt, verheiratet!«
Simsaladim, bambaa, saladu, saladim.
Dann flog eine Hummel in den Hochstand, die so groß war, daß sie auch eine Hornisse sein konnte. Bei Hornissen genügte ein einziger Stich, und man starb. Erst nach einer ganzen Weile haute das Mistvieh wieder ab.
Auf dem Rückweg gingen wir nochmal zum Bombentrichter. Über der Kackwurst schwirrten jetzt noch viel mehr Fliegen. Bei den dicksten funkelte der Rücken grün und dunkelblau. Sie hockten auf der Wurst und rieben sich die Vorderbeine.
Um Wanderer zu erschrecken, brüllten wir: »Hilfe, ein Wolf! Hilfe, ein Wildschwein! Hilfe, ein Krokodil!« Bis uns ein Mann entgegenkam, der sagte, daß wir das lassen sollten. Irgendwann brauche wirklich mal jemand Hilfe, und dann gehe da keiner hin, weil alle die Hilferufe für Kindermätzchen hielten.
Mama wollte wissen, woher der Riß in meinem Anorakärmel stamme und weshalb die Hose an den Knien und am Hintern schon wieder durch sei, aber das wußte ich auch nicht. Das kam, ohne daß ich was dafür konnte.
Einmal traf ich morgens Kalli auf der Straße. Er hatte seinen Schulranzen in der Hand und ich meine Schippe. »Na, Martin, willste wieder zu deiner geliebten Falle?« Ich müsse Zweige über die Falle legen und zur Tarnung Erde und Blätter drüberstreuen, sagte Kalli. Tarnung sei die halbe Miete.
Bei der Falle kratzte ich mit der Schippenspitze Erde zwischen den Baumwurzeln raus. In die fertige Falle wollte ich Stöcke stecken. Dann würde vielleicht ein Junge kommen und sich wundern, daß da Stöcke stecken. Der würde dann seine Mutter holen, und dann würden alle beide in die Falle krachen.
Weil sie auch mal unsere Höhle sehen wollte, zeigten Uwe und ich Renate den Weg dahin. Renate ging sonst nie ins Wäldchen. »Das ist ja gar keine Höhle«, sagte sie, als wir da waren. Sie wollte wieder nach oben klettern, rutschte aber ab und schlidderte die Schlucht runter.
An den Armen hatte Renate Striemen von den Dornen und den Ginsterbüschen, und dann war ihr noch der Fuß umgeknickt. Auf dem Oberschenkel hatte sie einen blauen Fleck, der abends violett wurde, und sie sagte, das sei die blödeste Höhle gewesen, die sie je gesehen habe.
Wenn Familie Feuerstein lief, kuckte auch Papa zu. Der Dinosaurier schleckte Fred Feuerstein immer ab und legte Eier, die drei Stunden lang gekocht werden mußten, bevor man sie essen konnte. Man kriegte sie aber nur mit Hammer und Meißel auf. Zu trinken gab es dazu Säbelzahntigermilch. Die Frau von Fred Feuerstein benutzte ein Elefantenbaby als Staubsauger, und Barny Geröllheimer, der Nachbar, lief dauernd bei Familie Feuerstein rum. Herr Strack lief nie bei uns rum.
Meinen Schlafanzug durfte ich auch im Wohnzimmer anziehen, aber ich wollte nicht, daß mir die Leute im Fernsehen beim Ausziehen zusahen. »Die kucken dir schon nichts weg, die können dich gar nicht sehen«, sagte Mama, aber ich ging lieber in den Flur, bis ich die Hose anhatte.
Dann hatte ich schon wieder Fieber, Schnupfen und Husten und mußte allein in Renates Zimmer liegen. Mama rief den Kinderarzt an, gab mir eine Rheumalinddecke und ließ die Jalousie runter.
Antibiotika.
Der Kinderarzt leuchtete mir in den Hals, sah sich auch meinen Bauch an und sagte, daß ich die Masern hätte. Von dem Kartoffelbrei, den Mama mir brachte, wollte ich nur zwei Löffel. Ich hatte nicht mal Lust, an den Schrauben in den Vorhangstoppern zu drehen.
Der liebe Gott hatte alles gemacht, am Anfang auch sich selbst. Aber womit hatte er sich die Arme drangesetzt, wenn er noch keine Arme hatte?
Einmal würde die Sonne der Erde so nahekommen, daß alles verbrennt, hatte Mama mal gesagt. Die Häuser würden verbrennen, und die Leute würden über die Straßen rennen, weg von der Sonne. Da würden wir aber alle schon längst im Himmel sein.
Ich hatte Pickel am Hals und am Bauch. Wenn ich aufs Klo mußte, rief ich Mama. Sie half mir dann, und sie schlackerte auch die Decken auf.
Wenn man in den Himmel komme, öffne der liebe Gott ein Buch, und da stehe alles drin, was man gemacht habe, das Gute und das Böse, hatte Volker gesagt, und dann werde der liebe Gott nachkucken, ob man nicht doch in die Hölle gehöre. Da würden die bösen Menschen vom Teufel in Kochtöpfen gekocht.
Renate, die die Masern schon gehabt hatte, las mir was aus ihren zerfledderten Teddy-Heften vor: Es lebte einst ein dicker Mann in einem kleinen Hause. Der aß und schlief und schlief und aß und schlemmte ohne Pause. Gebratene Tauben, rohen Schinken, ein ganzes Reh, fünf Liter Milch und drei Schokoladentorten hatte der dicke, schlampampende Mann in sich reingestopft, bis er nicht mehr durch die Tür paßte und sich in ein Schwein verwandelte.
Dann sang Renate mir ein Lied vor: Wenn die Bettelleute tanzen, wackeln Kober und der Ranzen.
Als ich wieder gesund war, versuchten Uwe und ich einen neuen Trick. Wir gingen bei A&O rein und suchten uns Süßigkeiten aus den Regalen, bis wir beide Hände voll hatten, und gingen langsam zur Kasse. Vor uns war noch eine Frau dran. Dann rannten wir an der Frau vorbei nach draußen. Die Kassiererin rief uns nach, daß wir stehenbleiben sollten, aber wir rannten weiter, vom Ladenviertel aus über die Straße vorm Hochhaus und in den Wald rauf, bis ich Seitenstechen kriegte.
»Die Luft ist rein«, sagte Uwe.
Ich hatte eine Tüte Treets verloren, aber wir hatten noch genug übrig. Waffeln, Kekse, Bonbons, Schokolade mit Haselnüssen und eine Rolle Drops, von denen es einem kalt im Mund wurde.
Bevor wir wieder bei A&O reingingen, kuckten wir von draußen durch die Scheibe nach, ob da noch dieselbe Kassiererin saß. Es war eine andere, die uns noch nicht kannte. Die konnten wir reinlegen.
Als wir losrannten, lief ein Mann hinter uns her, der bei A&O was eingekauft hatte. Vorm Hochhaus hielt er Uwe an der Kapuze fest. Ich trat dem Mann vors Schienbein, und da ließ er Uwes Kapuze los und schnappte sich meine. Uwe half mir und boxte dem Mann in den Bauch. Wir seien Diebe, rief der Mann, und Uwe rief zurück, daß er, der Mann, dafür ein Arschloch sei. Dabei fiel uns fast alles hin, was wir uns bei A&O ausgesucht hatten.
Dann ließ der Mann uns beide los und sammelte auf, was uns runtergefallen war.
Oben im Wald legten wir zusammen, was wir noch hatten. Mir war ein Packung Puffreis durch das Loch in der Hosentasche ins Hosenbein gesackt. Uwe hatte noch eine Lutscherkette und ein Netz mit Schokoladenkugeln.
Der würde sich jetzt schön ärgern, der Kacker, sagte Uwe. Dem hätten wir’s gezeigt. Was hatte der uns überhaupt nachrennen müssen? Als ob dem die Sachen selber gehört hätten. Das waren genausowenig dem seine wie unsere.
Oma Schlosser kam zu Besuch. Sie schlief im Nähzimmer, auch mittags, und dann mußten wir leise sein.
Wenn sie ausgeschlafen hatte, setzte sie sich an den Eßtisch und legte Patiencen. Es mußte auch oft nach ihrem Krückstock gesucht werden. Der stand dann hinter der Küchentür, an der Flurgarderobe oder neben dem oberen Klo.
Renate, die seit neuestem Geigenunterricht hatte, mußte Oma was vorspielen. Papa sagte, daß er stumpfe Zähne kriege von dem Gefiechel, und er ging in den Keller.
Da bastelte er einen Drachen, den wir auf dem Feld vorm Wäldchen steigen ließen. Papa hielt die Schnur, und Volker mußte den Drachen hochwerfen, der in die höchsten Höhen flog.
Ich hätte auch gerne mal die Schnur gehalten.
Den Trick bei A&O versuchte ich auch mit Volker zusammen. Die Kassiererin war wieder eine andere. Um schneller rennen zu können, klemmten wir uns nichts unter die Arme, sondern nahmen nur jeder eine Tafel Ritter-Sport mit.
Volker kannte eine Hochhaustür, die nicht richtig zuging. Wir liefen eine Treppe hoch, die zu einem großen Balkon führte, von wo man auf die Straße und aufs Ladenviertel kucken konnte. Da wickelten wir die Schokoladentafeln aus und aßen sie auf.
Nougat und Vollmilch.
Hier sei seine Ponderosa, sagte Volker.
Mama brachte Adventskalender von A&O mit. Meiner wurde so hoch aufgehängt, daß ich nicht drankam. »Sonst frißt du ja doch wieder alles gleich leer«, sagte Mama. Ich mußte sie jeden Tag darum bitten, das neue Türchen aufzumachen und mir die Schokolade zu geben.
In der Augsburger Puppenkiste rollten die Soldaten der Blechbüchsenarmee vom Berg runter, um die Feinde plattzuwalzen wie Pfannekuchen, und der Sultan von Sultanien hatte einen fliegenden Teppich, der auch aufgeribbelt fliegen konnte. Man mußte sich nur auf den Teppich stellen, dreimal die Arme heben und dann rufen: »Teppich, erhebe dich!« Ich versuchte das auf dem Kloteppich, aber der flog nicht.
Am zweiten Adventssonntag gab es Spritzgebäck zum Tee und Spekulatiuskekse mit Windmühlenmuster. Volker durfte die zweite Kerze am Adventskranz anzünden.
Auf der Matschwiese vorm Wäldchen war Uwe Strack zugange. Durchs Eßzimmerfenster konnten wir sehen, wie er ein Taschentuch in eine Pfütze tauchte, auswrang, wieder eintauchte und wieder auswrang.
»Ijasses«, sagte Mama, und Papa sagte, es sei kein Wunder, daß ich mich mit diesem ausgemachten Dreckschwein zusammengetan hätte.
Vor Bonanza war im Fernsehen Weihnachtssingen. Weihnachtlich glänzet der Wald. Freue dich, Christkind kommt bald! Es waren aber noch zwei Wochen bis Weihnachten.
Am Vogelhäuschen auf der Terrasse hatte Papa einen Meisenring aufgehängt. Die Meisen setzten sich kopfüber dran, pickten sich die Körner raus und flogen weg, wenn man an die Wohnzimmerscheibe klopfte.
Es hatte geschneit, und wir wollten rodeln. Renate holte ihren Schlitten aus dem Keller. Auf der Straße vorm Haus waren auch andere Kinder mit Schlitten, aber man kriegte keinen Schwung. Der Schnee war nicht glatt genug, und man kam immer an Stellen, wo die Kufen auf der Straße kratzten und der Schlitten stehenblieb, und von hinten kamen welche und schrien: »Bahn frei!«
Im Garten bauten wir einen Schneemann. Die Kopfkugel mußte Papa draufsetzen. Als Hut kriegte der Schneemann einen Persilkarton auf.
Wir warten aufs Christkind konnten wir nicht bis zum Ende kucken, weil Mama im Wohnzimmer den Weihnachtsbaum schmücken wollte.
Alle paar Minuten riefen wir von oben runter: »Dürfen wir jetzt kommen?« Aber wir durften noch nicht. »Ihr macht einen ja ganz hibbelig!«
Dann sagte Mama, daß der Weihnachtsmann gleich kommen werde, und wir sollten in Renates Zimmer gehen. Da war die Jalousie runtergelassen. Wenn wir auch nur einen Mucks machten, würde der Weihnachtsmann wieder weggehen, ohne Geschenke dazulassen.
Wiebke nuckelte am Daumen. Volker linste durchs Schlüsselloch auf den Flur.
Dann kam jemand an die Haustür gestapft und klingelte. Wir hörten, wie Mama aufmachte und sagte: »Guten Abend, lieber Weihnachtsmann! Hast du uns auch was mitgebracht?«
»Ja, viele Geschenke«, sagte der Weihnachtsmann. »Aber sind die Kinder denn auch brav und artig gewesen?«
»Meistens schon, lieber Weihnachtsmann«, sagte Mama.
»Na gut«, sagte der Weihnachtsmann. »Dann sollen sie auch ein paar Geschenke bekommen.«
Der Weihnachtsmann kam rein, und ich wollte auch mal durchs Schlüsselloch kucken, aber Volker ließ mich nicht. Wir hörten, wie der Weihnachtsmann über die Flurtreppe nach unten ins Wohnzimmer ging, und als er wieder raufkam, sagte Mama: »Vielen Dank, lieber Weihnachtsmann! Auf Wiedersehen!«
Volker und ich trommelten an die Tür und wollten raus, aber Mama sagte, wir sollten uns noch einen Moment gedulden.
Als wir rausdurften, mußte ich erst noch aufs Klo. Im Treppenhaus war das Licht aus, und im Wohnzimmertürspalt war helles Kerzenlicht zu sehen.
An der Wohnzimmergardine hing ein großer Weihnachtsstern aus Buntpapier. Die redlichen Hirten stehn betend davor.
Ich kriegte einen G.I.-Joe mit Uniform und Stiefeln, bei dem man die Arme und die Beine bewegen konnte, ein Bilderbuch, Eßbesteck mit Pluto, Micky Maus und Donald auf den Griffen, eine Pudelmütze, einen Pullover, schwarze Gummistiefel und fünf Mark von Tante Dagmar.
Die Paranüsse kriegte nicht mal Papa mit dem Nußknacker auf. Es lag auch eine Apfelsine im bunten Teller, in dünnes Papier verpackt.
Auch Volker hatte einen G.I.-Joe gekriegt. An der Backe hatte er die gleiche Narbe wie meiner. Dazu hatte Volker noch einen Taucheranzug mit Taucherhelm für seinen G.I.-Joe gekriegt, eine Armbanduhr, einen Colt, einen Sheriffstern, Skistiefel, ein Quartett und von Tante Jutta ein Buch über einen Jungen, der ein Eichhörnchen hat.
Renate hatte vom Weihnachtsmann einen neuen Faltenrock, eine Kittelschürze, einen weißen Pulli, ein dunkelblaues Stirnband und einen Fotoapparat gekriegt und Wiebke eine Schippe und einen Puppenwagen. Renate holte ihre Barbiepuppe, damit Wiebke die G.I.-Joes und die Barbiepuppe zusammen im Puppenwagen spazierenfahren konnte, aber ich wollte meinen G.I.-Joe dafür nicht hergeben und Volker seinen auch nicht.
Vom Apfelsinenpellen hatte ich weiße Pelle unter den Nägeln. Die braunen Haribos, die ich nicht mochte, konnte ich bei Volker tauschen. Haribo macht Kinder froh.
Unter Papas Aufsicht durften wir die Weihnachtsbaumkerzen auspusten. Für Notfälle stand ein Eimer Wasser hinterm Baum.
An den Weihnachtsfeiertagen spielte Wiebke draußen mit ihrer Schippe im Schnee. Viel war nicht mehr da. Unser Schneemann war kleiner und ganz schief geworden, und der Persilkarton war ihm vom Kopf gefallen.
Papa bastelte im Keller ein großes Segelflugzeug aus Holz. Die Flügel bestrich er mit Spannlack. Renate mußte helfen und wurde oft angeschnauzt.
Mit dem Flugzeug fuhren wir im VW auf die Schmidtenhöhe, um es fliegen zu lassen. Papa suchte eine Stelle, wo der Wind blies, hob das Flugzeug an einer Hand hoch über den Kopf, holte Anlauf und warf es in den Wind.
Das Flugzeug segelte über einen Hügel. Wir liefen hinterher, aber das Flugzeug war nicht mehr zu sehen. Wir suchten den Waldrand ab, und wir fragten auch andere Leute, ob sie unser Segelflugzeug gesehen hätten, aber das war weg.
Am nächsten Tag fuhren wir wieder hin, aber das Flugzeug konnten wir nicht mehr finden. Das sei vermutlich schon in der Erdumlaufbahn, sagte Papa.
Mit dem Geld von Tante Dagmar lief ich zum Spielzeuggeschäft im Ladenviertel, um mir eine Cowboyfigur zu kaufen, aber die Frau, der das Spielzeuggeschäft gehörte, schloß gerade die Ladentür ab. »Morgen ist auch noch ein Tag«, sagte die Frau.
Bei der doofen Kuh wollte ich nie wieder was kaufen.
Oben wackelte ein Milchzahn. Ich konnte ihn mit der Zunge nach vorne und nach hinten drücken, und beim Teetrinken fiel er mir raus. Ausgefallene Zähne mußte man auf die Fensterbank legen, dann kam über Nacht das Mäuschen, nahm den Zahn mit und ließ Süßigkeiten da.
Mir brachte das Mäuschen eine Tüte Karamelbonbons. Ich wollte alle auf einmal essen, aber sie pappten mir im Mund zusammen, und ich kriegte keine Luft mehr. Auch die Seitenzähne klebten zusammen. Mama ging mit mir zum Klo und sagte, ich soll durch die Nase atmen.
Mit den Fingern holte Mama mir die Bonbons aus dem Mund. Ich mußte weinen. Als ich wieder durch den Mund atmen konnte, klebte mir noch immer was von den Bonbons an den Zähnen, und mein Mund war innen oben ganz rauh geworden.
Die Bonbons schwammen im Klowasser, und Mama spülte sie weg. »Das hast du nun davon, du Gierschlund!«
Nach Silvester pflanzte Papa den Weihnachtsbaum in den Garten. Es war kalt draußen, aber als der Polsterer kam, der die Sessel im Wohnzimmer neu beziehen sollte, wollte Mama, daß die Terrassentür offenblieb, weil der Polsterer so nach Schweiß stank. An dem grauen Pepitamuster hatte Mama sich satt gesehen.
Papa half dem Polsterer beim Beziehen. Der Stoff mußte an den Sesseln strammgezogen und dann hinten und unten festgetackert werden, wobei Papa die Zunge im Mundwinkel hatte.
Ich ging mit Uwe auf die Schmidtenhöhe. Wir suchten das Flugzeug. Es mußte ja noch dasein. Oder jemand hatte es gestohlen. Oder es war immer weitergeflogen, bis Amerika oder bis zum Mond.
Das Flugzeug konnten wir nicht finden. Dafür ging mir auf der Schmidtenhöhe mein Schal verloren. Als ich wiederkam, sagte Mama, daß der Schal ganz teuer gewesen sei. Ich sollte ihn gleich am nächsten Morgen suchen gehen.
Volker kam mit. Er nahm auch seinen Colt mit. Im Haus durfte er damit nicht knallen. Kalli hatte Volker einen roten Munitionsring geschenkt, der noch für drei Schüsse reichte.
Auf der Schmidtenhöhe spielten wir, daß wir ausgebrochene Gefangene wären, die sich verstecken müßten. Wenn ein Auto kam, sprangen wir in den Straßengraben und legten uns hin, bis es vorbei war. Volker feuerte mit seinem Colt auf die Autos und pustete dann in den Lauf.
Mittags gingen wir nicht nachhause, sondern spielten weiter ausgebrochene Gefangene, bis es dunkel wurde. Den Schal hatten wir nicht gefunden, und wir kriegten Zimmerarrest. »Wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht«, sagte Mama. Papa sei ewig und drei Tage lang auf der Schmidtenhöhe rumgefahren, um uns zu suchen. »Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen!«
Renate klebte ihren Bravo-Starschnitt von Emma Peel zusammen, ganz in Orange mit knatschblauem Hüftgürtel. »Das ist doch Kacke, wie du das machst, das wird doch viel zu labberig«, sagte Papa, und dann leimte er im Keller alle Teile säuberlich auf eine Tapetenbahn. Vom Ausschneiden kriegte Renate einen Krampf im Daumen.
Den Starschnitt pinnte sie in ihrem Zimmer an, aber von dem Kleister waren Emma Peels Arme so schwer geworden, daß sie immer die Reißbrettstifte aus der Wand zogen und runterhingen.
Morgens hatte Papa einen Hexenschuß und kam ganz krumm vom Klo. Mama sagte, das komme davon, daß er dem Polsterer bei der Grabeskälte im Wohnzimmer zur Hand gegangen sei. Das tue ihr ja nun in der Seele leid, aber die Sessel röchen jetzt noch nach dem Heini.
Damit Papa zur Arbeit fahren konnte, mußte Mama ihm ins Auto helfen.
An seinem Geburtstag weckte mich Volker ganz früh, als alle noch schliefen. Wir schlichen nach unten, wo der Geburtstagstisch schon gedeckt war.
Am Regal stand ein blaues Paar Skier mit Stöcken, und auf dem Tisch lagen zwei Bücher, ein neues Federmäppchen mit Reißverschluß und ein Karton mit einem Segelflugzeug zum Selberkleben. Volker sagte, daß wir das auf der Schmidtenhöhe fliegen lassen könnten. Dann würde es da landen, wo das andere lag.
Wir kuckten uns alles genau an. Dann gingen wir wieder ins Bett, und als wir runtergerufen wurden, mußte Volker die Geschenke alle nochmal neu bestaunen.
Als Geburtstagsgäste hatte Volker Kalli und aus Lützel Hansi Becker eingeladen, der noch dicker geworden war. Es gab Apfelkuchen. Beim Versteckspiel durfte ich mitmachen, aber ich schied als erster aus, und da ging ich lieber mit Uwe ins Wäldchen.
Überall lagen Köttel von Karnickeln, obwohl wir noch nie welche im Wäldchen gesehen hatten. Die kamen wohl nur nachts zum Kacken aus dem Bau raus.
In der Schlucht versuchten wir, aus Steinen Funken zu schlagen und damit Feuer zu machen. Dafür seien die Steine mit roten Streifen am besten, sagte Uwe. In der Schlucht sei mal ein Vulkan gewesen.
Als ich wiederkam, waren Hansi und Kalli noch da. Mama las uns im Wohnzimmer die Geschichte von dem Gespensterschiff aus Hauffs Märchen vor. Als Fracht hatte das Schiff Seide, Perlen und Zucker geladen. Ein Mann war auf dem Schiff durch die Stirn an den Mastbaum genagelt, aber nachts lief der tote Mann mit dem Nagel in der Stirn die Kajütentreppe runter.
Lassie kam jetzt einmal wöchentlich im Zweiten. Neu war auch der Hustinettenbär. In den Nachrichten wurde gezeigt, wie jemand totgeschossen wurde. Einer hatte dem Mann eine Pistole an den Kopf gehalten und abgedrückt, und dann war der Mann tot umgefallen.
Opa Jever besuchte uns. Im Badezimmer mußte er morgens immer lange husten. Er machte einen Spaziergang mit mir zu der Schule, auf die ich kommen würde. Opa war mal Lehrer gewesen.
In der Schule würde ich Lesen und Schreiben und Rechnen lernen, sagte Opa. In der Grundschule würden die Weichen gestellt fürs ganze Leben. Faule Schüler würden irgendwann nur die Kühe hüten, aber fleißigen Schülern stehe die Welt offen. Die könnten auch Lehrer werden oder Förster oder Astronaut.
Ein Bettler klingelte bei uns. Mama bot ihm ein Käsebrot an, aber der Bettler wollte lieber Geld haben, und da schickte Mama ihn wieder weg. Das Geld hätte der ja doch nur versoffen, sagte Mama.
Unten im Haus war der Kriechkeller. Durch ein Loch konnte man in den nächsten und in den übernächsten Kriechkeller kriechen. Die Tür zum letzten Nachbarkeller war offen. Da standen drei Paar Pantoffeln auf einer Matte. Ich schmiß sie alle durcheinander und kroch zurück.
Ich hätte so Hunger, sagte ich zu Frau Strack, und sie schmierte mir ein Marmeladenbrot. Uwe, Heinz und Kurt standen im Treppenhaus und glotzten mich an.
Als Mama mich mit dem Marmeladenbrot sah, kriegte ich ein paar hinter die Löffel. »Nachbarn um Brot anzubetteln! Was sollen die denn von uns denken? Als ob du hier nicht genug zu essen kriegst! Wie kann man nur so unerzogen sein?«
Im neuen Stern klebte Mama zwei Seiten zusammen, die wir nicht sehen sollten. Da wären Fotos vom Vietnamkrieg gewesen, sagte Volker. Im Vietnamkrieg wurde Leuten der Kopf abgehackt.
Karneval ging ich als Postbote. Papa hatte mir eine blaue Postbotentasche gebastelt, in der ich Briefumschläge sammeln konnte. Er baute mir auch eine Dienstmütze und wollte wissen, ob vornedrauf Deutsche Bundespost oder Postbote stehen solle. Ich war für Postbote. Papa schnitt die Buchstaben aus gelbem Filz aus und klebte sie vorn auf die Mütze.
Wiebke brauchte noch als nichts zu gehen. Renate ging als Hexe und Volker als Cowboy. Uwe ging auch als Cowboy. Das nächste Mal wollte ich auch lieber wieder als Cowboy gehen.
Wiebke quietschte vor Vergnügen, wenn Papa sie hochhob und im Wohnzimmer über Kopf an der Decke rumlaufen ließ. Mit mir hatte Papa das früher auch gemacht. Jetzt war ich schon zu groß dafür.
Im Ersten kam eine neue Serie mit einem Raumschiff, aber die überschnitt sich mit Bonanza. Einmal überschnitt sich auch Graf Yoster mit Bezaubernde Jeannie. Mama wollte Graf Yoster sehen, und wir durften Bezaubernde Jeannie nicht zuendekucken.
Jeannie konnte sich kleinzaubern und mußte in einer Vase wohnen, in der kein Klo war. Renate fand doof, daß auch Graf Yoster nie aufs Klo mußte.
»Der soll mal aufs Klo gehen, sonst kackt der sich in die Hose«, sagte ich und kriegte Zimmerarrest deswegen.
Als Renate und Volker Ferien hatten, fuhren wir mit dem Zug nach Jever, alle außer Papa, der mit Onkel Dietrich an den Plänen für unser Haus arbeiten mußte.
»Hier sind wir mit der ganzen Blase«, sagte Mama zu Oma.
Ein guter Gast ist niemals Last. Das stand auf einem Brett, das in Jever im Flur hing.
Tante Dagmar war auch wieder da. Wir gingen mit ihr in den Schloßgarten und spielten Plumpsack. Dafür waren die im Kreis stehenden Steine auf dem Berg im Schloßgarten gut. Wer der Plumpsack war, mußte hinten um die andern auf den Steinen rumgehen und ein Taschentuch fallenlassen. Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel blaugemacht! Wenn das Taschentuch hinter einem lag, mußte man damit hinter dem Plumpsack herrennen und ihn kriegen, bevor er einmal rum war, sonst war man selbst der Plumpsack.
Wenn Tante Dagmar der Plumpsack war, kuckte sie immer gefährlich, damit man dachte, man sei gleich dran.
Einmal fuhren wir auch im Bus zum Forst Upjever. Renate hatte ihren Fotoapparat mitgenommen. Volker und ich machten auf dem Waldweg ein Kämpfchen und wollten, daß Renate uns knipst.
Am Rand von dem Weg lagen Holzstämme. Da knipste Gustav uns alle. Tante Dagmar im Pelzmantel und Renate im Poncho.
In den Schloßgarten durfte ich auch schon alleine gehen. Die Adresse von Oma und Opa hatte ich auswendig gelernt: Mühlenstraße 47.
Die Gefängnismauer hatte grüne Flaschenscherben obendrauf.
In den Schloßgarten ging ich immer links rein, an den Pfauenkäfigen vorbei bis nach unten zu der Entenfütterstelle am Schloßgraben und nach dem Entenfüttern am Schloßgraben lang auf die andere Seite zu den großen Bäumen. Da waren weniger Enten, aber manchmal war der Pfau da. Einmal schlug er ein Rad. Er stand mitten auf dem Weg. Die Federn im Pfauenrad zitterten. Eine von den Federn fiel hinten runter. Der Pfau hatte graue Krallen und zuckte mit dem Kopf.
Ich wollte mir die runtergefallene Pfauenfeder holen, aber ein anderer Junge war schneller als ich.
Wenn Oma und Opa Mittagsschlaf machten, liefen Volker und ich in den Garten, um zu schaukeln und im Sandkasten Burgen zu bauen.
Frau Apken ging im Garten rum und fragte uns, ob wir ihr Radio reparieren könnten. Das sei kaputt.
In Frau Apkens Wohnzimmer war schlechte Luft, aber wir kriegten einen Werkzeugkoffer und durften mit den Werkzeugen das Radio reparieren. Volker schraubte die Rückwand ab, die aus Sperrholz war.
»Daß ihr das könnt in euerm Alter!« rief Frau Apken.
Ich nahm die Kneifzange und kniff damit Sachen ab, die überstanden. Volker drehte Schrauben raus. Wir steckten auch mal den Stecker in die Steckdose, um den Empfang zu überprüfen, aber es gab keinen.
Gustav war noch frecher. Der klingelte bei Frau Apken, wenn er Fußball kucken wollte, und kriegte Zigarren und Likör vorgesetzt, weil Frau Apken nicht merkte, daß Gustav noch nicht erwachsen war.
Die Zigarren hatte sie von ihrem Mann geerbt, der schon lange tot war.
Am Ostersonntag gingen wir Eier im Garten suchen. Mama erzählte Wiebke, daß der Osterhase die Eier gebracht habe, dabei hatte Mama alle selbst versteckt.
Zum Einsammeln kriegten wir Blumentöpfe aus Plastik. Die blauen und die roten Eier waren am leichtesten zu finden. Eins lag mitten auf dem Rasen, aber das sollte ich für Wiebke da liegenlassen.
Oma streute das Salz aufs Frühstücksbrettchen statt aufs Ei und stippte den angeleckten Eierlöffel in das Salz, damit die Salzkörner unten am Löffel klebenblieben.
Dann kamen Moorbachs mit Hedda und Corinna, unseren Kusinen, die ausgeleierte rote Strumpfhosen anhatten.
Im Wohnzimmer fragte meine Kusine Corinna meine Tante Luise: »Warum hat Hedda Locken und ich nicht?« Tante Luise sagte, daß Locken angeboren seien, und Corinna fragte: »Kannst du mir auch welche anbohren?«
Corinna hatte nur sogenannte Schnittlauchlocken.
Beim Spazierengehen kamen wir am Mariengymnasium vorbei, wo Mama und Papa zur Schule gegangen waren. Mama hatte da jeden Tag von Moorwarfen aus mit dem Fahrrad hinfahren müssen, und die Jungs, die nur zur Volksschule gegangen waren, hatten Mama vom Rad gerissen und mit Schnee eingeseift.
Auf dem Friedhof gingen wir zum Grab von Omas Eltern. Mama holte eine Gießkanne mit Wasser, um die Sträucher auf dem Grab zu begießen, und Tante Luise riß Unkraut aus.
Da lagen auch noch mehr von unserer Familie begraben, Ururgroßeltern und Ururgroßonkel oder Ururgroßtanten und noch andere, aber wie die alle mit uns verwandt waren, konnte ich mir nicht merken.
Der Fernseher in Jever hatte Holztüren zum Zumachen. Hinten war eine Lampe, die beim Fernsehen immer ansein mußte, damit man sich nicht die Augen verdarb.
Abends nahm ich Gustavs Meckibücher mit ins Bett. Wie Mecki sich mit seinen Goldhamstern durch das Gebirge aus Brei und Kuchen frißt, um ins Schlaraffenland zu kommen. Da gab es ein Schloß mit Säulen aus Kandis, eine Eisenbahn aus Speiseeis und einen Baum, auf dem Spielzeug wuchs. Ein Fußballtor war aus Würstchen und Broten. In der Schlaraffenlandschule saßen Bären, die Honig und Eis aßen, und Mecki tat so, als ob er der Lehrer sei. Auf einem Bild regneten Bonbons auf den bösen Fliegenpeter. Charly Pinguin stibitzte ihm den Pilzhut vom Kopf, und dann mußte der Fliegenpeter in den Sirupsee kriechen.
Oder Mecki bei Sindbad, wo der große Vogel Roch herbeigeflogen kam. Da war auch ein Strudel mit Raubfischen, die Brillen aufhatten. Oder Mecki bei Zwerg Nase mit der Hexe und den hilflosen Eichhörnchen.
Das beste Buch war Mecki auf dem Mond. In der Sternbäckerei kriegten die Engel Kekse um den Hals gehängt, um am Himmel als Sterne zu leuchten, und auf der Milchstraße galoppierten die Pferde mit Meckis Kutsche so wild, daß die Milch überschäumte. Es gab ein Gewitter mit Blitzen, die Hahnenköpfe hatten. Dann kriegte Mecki eine Krone mit Flügelohren, womit er durch den Himmel fliegen konnte, und Kater Murr und Charly Pinguin kuckten Mecki zu.
Über das gräßliche Bild mit der Regentrude blätterte ich immer schnell weg.
»Am Morgen dabba dabba dab, dabba dabba dab«, sang Gustav morgens.
Im Garten spielten Volker und ich Vietkong.
Papa kam uns mit dem Auto abholen. Ich wollte noch in Jever bleiben, aber Mama sagte, daß wir beim Jaderberger Zoo vorbeikämen. Da könnten wir Ziegen streicheln.
Auf der Streichelwiese im Jaderberger Zoo waren auch Schäfchen, und es gab eine Riesenrutsche und eine Wippe, bei der man sich oben schwer und unten leicht machen mußte.
Renate saß am Eßtisch und bastelte was für mich zum Geburtstag. Das hatte ich nicht gewußt, als ich reinkam. Sie legte die Arme drüber und schickte mich raus. Später wollte sie wissen, ob ich was gesehen hätte, und ich sagte, ich hätte nichts gesehen, aber das war geschwindelt. Ich hatte genau gesehen, daß Renate Zelte für meine Indianerfiguren bastelte.
Hinterm Ladenzentrum hatte Uwe einen Spielplatz gefunden, der auch Klettergerüste hatte. Da gingen wir jetzt immer hin. Ein Mädchen, das Andrea hieß und ganz dunkle Augen hatte, konnte gut klettern. Ich wollte Andrea zum Geburtstag einladen. Mama erlaubte das, aber ich traute mich nicht, Andrea zu fragen. Ich wollte, daß Mama das macht, und sie fragte mich, ob ich noch bei Groschen sei. »Ich lauf doch nicht in der Gegend rum und frag wildfremde Kinder, ob sie zum Geburtstag von meinem Herrn Sohn kommen wollen! Das tu du mal schön selbst, du Angsthase.«
Das nächste Mal auf dem Spielplatz fragte ich Andrea, und sie sagte, daß sie kommt.
Jetzt hatte ich mit Uwe und Andrea schon zwei Geburtstagsgäste.
An meinem Geburtstag standen die Indianerzelte auf einer Decke neben dem Kranz mit sechs Kerzen und dem Lebenslicht in der Mitte. Die Zelte waren aus Filz und Stöcken. Eins war rot, eins blau und eins orange. Volker sagte, das seien keine Zelte, sondern Wigwams.
Es waren auch neue Indianer dabei. Einer mit Mustang. Den Indianer konnte man runternehmen, aber ohne Mustang blieb er nicht stehen.
Dann kriegte ich noch einen Fußball, zwei Federballschläger, drei Federbälle und ein Boot, das mit Batterie fuhr.
Auf die Feier mußte ich bis nachmittags warten. Dann gab es Kaba und Nußkuchen. Andrea hatte als Geschenk ein Etui mit Buntstiften mitgebracht und Uwe eine Tafel Schokolade.
Andrea wunderte sich, daß bei uns die Türklinken nach oben standen. Das war wegen Wiebke, damit sie die Türen nicht aufmachen konnte.
Im Wohnzimmer spielten wir Topfschlagen. Volker war mit Kalli im Wald, aber Mama, Renate und Wiebke spielten mit.
Als erste war Andrea dran. Mama band ihr mit einem Küchenhandtuch die Augen zu. Dann mußte Andrea versuchen, mit einem Kochlöffel den Kochtopf zu treffen, unter dem Schokolade lag. »Kalt – kälter – eisigkalt – warm – wärmer – heiß, heiß, heiß! Du verbrennst dich gleich!«
Dann Blindekuh. Als ich das Handtuch um den Kopf hatte, drehte Mama mich rum, damit ich nicht mehr wußte, wo ich war und wo die anderen standen. Wiebke kicherte, und ich tapste in die Richtung, aus der das Kichern gekommen war, aber dann rief Uwe hinter mir: »Fang mich doch, du blinder Ochse!« Als ich mich umdrehte, fiel ich über die Sofalehne, biß mir beim Hinfallen auf die Zunge und mußte heulen.
Wir spielten auch noch Federball im Garten, aber das war schwer. Ich kam immer nicht an den Federball dran, und wenn ich ihn mal getroffen hatte, flog er in den Komposthaufen oder über den Zaun auf die Straße. Oder die Kappe ging ab. Die mußte man dann erst finden und wieder aufsetzen. Einmal knallte der Federball Wiebke an den Kopf, und sie brüllte los.
Das Boot durfte ich in die Badewanne mitnehmen. Hinten war ein Schalter zum Anmachen. Dann drehte sich unten die Schraube, und es fuhr zum Wannenrand. Wenn ich es unter Wasser drückte, flutschte das Boot wieder hoch.
Mit den Buntstiften von Andrea malte ich ein Bild von Menschen, die in der Hölle gekocht wurden. Rot und Gelb für das Feuer unterm Kochtopf, Blau für den Topf und Schwarz für die Menschen, weil die vom Rauch und von der Hitze schon so eingeschrumpelt waren.
Renate hatte mir einen Anspitzer gegeben. Am öftesten mußte ich den schwarzen Stift anspitzen, weil bei dem immer die Mine abbrach, auch im Anspitzer.
Im Wäldchen schossen Uwe und ich mit dem Fußball rum, bis er ein Loch hatte und die Luft verlor. Mama sagte, das sehe mir ähnlich, meine Geschenke gleich zu zerdeppern. Ich würde wohl glauben, wir hätten es dicke!
Tante Dagmar wollte zu Besuch kommen, und ich räumte die Spielzeugkiste auf, als Überraschung für Tante Dagmar. Auf der einen Seite stapelte ich Cowboys, Indianer, Mainzelmännchen, Spielzeugtiere und die grünen Schienen, die zu Volkers Metallbaukasten gehörten, und auf der anderen Seite Autos, Legosteine, Puppensachen und den Rest, aber die Stapel fielen immer um.
Bei dem einen Mainzelmännchen war der Kapuzenzipfel zerkaut.
»Ob die Spielzeugkiste aufgeräumt ist oder nicht, ist Tante Dagmar piepe«, sagte Renate.
Auf dem Spielplatz hinterm Ladenviertel zeigte ich Tante Dagmar, wie ich an den Gerüsten klettern konnte.
Andrea war nicht da.
Renate war ins Nähzimmer umgezogen, und Tante Dagmar schlief in Renates Zimmer. Morgens kuckte ich rein. Tante Dagmar war schon wach, und sie hob ihre Decke hoch, damit ich zu ihr ins warme Bett springen konnte. Tante Dagmar hatte ein Nachthemd an.
Ob ich mich auf die Schule freute, wollte sie wissen. Renate, Volker und Kalli gingen schon zur Schule, und ich wollte auch endlich hin.
In der Sesselbahn bei Boppard durfte ich neben Tante Dagmar sitzen. Oben war mir heiß, und sie trug meine Jacke für mich. Zu Volker sagte ich, er soll seine Jacke Tante Dagmar geben, die trage alles, was wir ihr geben würden, aber Tante Dagmar hatte das gehört, und da mußte ich meine Jacke wieder selber tragen.
Mit einem Fernrohr, das vorne am Zaun stand, hätte man die Schiffe auf dem Rhein in Augenschein nehmen können, aber das Fernrohr ging nur, wenn man Geld reinsteckte. Große Pötte und kleinere, die weiter am Rand fuhren.
Am Kiosk gab es Weingläser, Wappen und Schlüsselanhänger zu kaufen und ein Fahrtenmesser mit Lederhülle zum Anschnallen. Die Schaukel war besetzt und die Wippe auch.
Mama und Tante Dagmar tranken Kaffee. Tante Dagmar schuldete Mama noch fünf Mark, aber Mama wollte die fünf Mark nicht haben. Sie schoben das Fünfmarkstück immer auf dem Tisch hin und her. Das Fahrtenmesser im Kiosk kostete genau fünf Mark, und ich sagte, ich würde das Fünfmarkstück nehmen, wenn es über sei, aber das durfte ich nicht.
Wie blöd. Wenn alle beide die fünf Mark nicht haben wollten, hätte ich mir dafür doch gut das Fahrtenmesser kaufen können?
Die Zähne putzte Tante Dagmar sich mit Blendamed, also hatte sie wohl Zahnfleischbluten, aber als ich sie fragte, sagte sie: »Du hast wohl ’n Vogel.«
Auf der Schlüsselblumenwiese standen am nächsten Tag zwei Jungen, die Uwe und mich fragten, ob wir eine Höhle haben wollten. Die Jungen waren größer als wir, und wir sagten, wir hätten schon eine Höhle, aber die Jungen sagten, daß ihre besser sei als unsere. Wir könnten ja mal reinkriechen.
Zuerst wollten wir nicht, weil wir dachten, die wollten uns eine Falle stellen. Die Höhle war am oberen Ende der Schlüsselblumenwiese. Vorne war ein Loch, dann kam ein Kriechgang, und dann kam eine Stelle, wo man sitzen und durch ein Loch rauskucken konnte. Von außen war die Höhle gut getarnt. Obendrauf wuchs Gras, und daß da eine Höhle war, sah man vom Weg aus nur, wenn man’s wußte.
Die Jungen hatten sie selbst gebuddelt, aber jetzt brauchten sie die Höhle nicht mehr, weil sie von der Horchheimer Höhe wegzogen, und sie wollten uns die Höhle schenken.
Die Höhle war wirklich besser als unsere alte. Die neue Höhle war so gut, daß wir sie geheimhalten wollten, auch vor unseren Brüdern.
Einmal kam Kallis Vater mit, als Kalli, Volker, Uwe und ich in den Wald gingen. Waldi war angeleint.
In einem Baum entdeckte Kallis Vater ein Elsternnest. Elstern seien diebisch, sagte Kallis Vater. Die seien verrückt nach allem, was glänze, schimmere und blinke, und würden auch Münzen oder Schmuckstücke von Fensterbänken stehlen. In dem Nest könnten alle möglichen Wertsachen liegen.
Kalli spuckte sich in die Hände und kletterte den Baum hoch, obwohl der Stamm nicht gut zum Klettern war. Die Äste waren dünn und pieksig, und Kalli hatte eine kurze Hose an, so daß er sich beide Beine aufscheuerte. Kallis Vater gab Volker Waldis Leine und stellte sich so hin, daß er Kalli auffangen konnte, falls Kalli runterfiel.
Kalli klammerte sich mit beiden Beinen und beiden Armen an den Baumstamm und kam nur langsam voran. Irgendwann konnte er dann mit der Hand in das Nest fassen. Da sei nichts drin, rief Kalli.
Als er wieder unten war, hatte er blutige Beine, aber er grinste und sagte, daß das Klettern kinderleicht gewesen sei.
Im Wald fanden Uwe und ich ein Stück Holz, das genau wie eine Pistole aussah. Griff, Lauf, Kimme, Trommel und Abzug. Wir verzogen uns damit in unsere neue Höhle und zielten nach draußen.
Die Pistole sollte uns abwechselnd gehören. Erst mir, dann Uwe, dann wieder mir und so weiter. Ich zeigte sie Papa, der große Knopplöcher machte und sagte, daß ihm sowas noch nicht untergekommen sei.
Als wir wieder zu unserer Höhle gingen, waren da schon Heinz und Kurt drin. Jetzt mußten wir die Höhle mit denen teilen. Uwe sagte, daß er keinem was von unserer Höhle verraten habe, aber früher waren Heinz und Kurt nie so weit oben im Wald gewesen. Ich sagte zu Uwe, daß er ein Lügner sei. Da ging Uwe auf mich los, und wir prügelten uns. Heinz und Kurt halfen Uwe, sonst hätte ich bestimmt gewonnen. Als Heinz die Brille vom Kopf flog, fing er an zu heulen und rannte nachhause.
Ich blutete aus der Nase und wollte auch nachhause. Mit Uwe wollte ich nie wieder spielen. Der hatte erst unsere Höhle verraten, dann gelogen und dann noch mit drei gegen einen gekämpft.
Als ich wegging, rief er mir nach, ich sei ein Arschloch mit Scheiße dran. Ich rief zurück, das sei er selber, und ich würde ihm noch was auf die Schnauze hauen.
Doof war, daß ich Uwe vor dem Streit die Pistole gegeben hatte. Sonst hätte ich die jetzt für mich behalten können.
Ich würde mir einen anderen Freund suchen, der nicht so ein Lügner war wie Uwe. Einen, der zwei Pistolen hatte und mir eine abgab. Dann würden mein neuer Freund und ich mit den Pistolen zum Duell in den Garten gehen, und Uwe würde sehen, daß unsere Pistolen die besseren wären, und mein neuer Freund und ich würden ihm sagen, daß er uns am Arsch lecken kann.
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.
Die Häschenschule hatte ich schon so oft vorgelesen gekriegt, daß ich sie auswendig konnte. Die Nase putzte sich der Hasenjunge mit einem Kohlblatt, bevor er zur Schule ging, die im Wald war. Auf dem Rücken sitzt das Ränzchen, hinten wippt das Hasenschwänzchen.
Der Lehrer legte seinen dicken Bauch auf die Schulbank, und die Hasenjungen lernten Eiermalen, Pflanzengießen und Hakenschlagen, aber sie wurden auch am Ohr gezogen, wenn sie unartig gewesen waren. Aufpassen mußten sie vor dem bösen Fuchs, der sie fressen wollte. Der Fuchs war im Gebüsch versteckt und hatte scharfe Zähne.
Wenn ich in der Schule wäre und jemand würde sagen: »Da haben wir den Salat«, dann würde ich zu dem sagen: »Wo ist der Salat denn? Ich will ihn aufessen.«
Abends im Bett fragte ich Volker, ob er wissen wollte, was ich zu einem in der Schule sagen würde, der gesagt hätte: »Da haben wir den Salat«, aber Volker sagte: »Weiß ich nicht, will ich auch nicht wissen. Halt die Klappe.«
Volker war schon im dritten Schuljahr, aber er wollte mir nie verraten, wie es in der Schule war. Er tat immer so, als ob es da ganz langweilig wäre. Früher war Volker gleich nach dem Aufwachen aufgestanden, aber seit er zur Schule ging, blieb er morgens immer so lange wie möglich liegen.
So wollte ich auch mal werden. Zur Schule gehen dürfen, aber die Augen verdrehen, wenn einer wissen will, wie’s da ist. Zu Wiebke würde ich dann auch bloß sagen: »Halt die Klappe, ich will schlafen.«
Im Traum war ich nackig auf einem Weg im Wäldchen. Dann kamen Leute, die sahen, daß ich nackig war, und ich mußte mich verstecken.
Mama hatte neue Batterien gekauft, und die grüne Taschenlampe ging wieder. Damit wollten Volker und ich zum Bunker vor der Müllkippe. Die Taschenlampe mußten wir aus der Küchenschublade holen. Volker machte das, als Mama telefonierte.
Im Bunker war es kühl. Es ging steil runter, und dann kam eine Stahltür, die zu war, und es roch nach Pisse. Vor dem Schlüsselloch hing ein Scheibchen, das man zur Seite schieben konnte. Wir leuchteten durchs Schlüsselloch. Sehen konnte man nichts.
Neben dem Weg, wo ich Volker und Kalli nachgeschlichen war, wuchsen kleine Erdbeeren, aber ich aß lieber keine, weil ich nicht wußte, ob die giftig waren.
Zwischen den Bäumen stand ein Zelt. Vorne war es offen, und innen lagen Decken. Ich kroch in das Zelt und fand einen blauen Kugelschreiber, bei dem man die Mine rausknipsen konnte. Den nahm ich mit.
Mama sagte, daß irgendwelche Halbstarken einen von den Müllcontainern vor dem Haus die Straße hochgezogen und dann runterrollen gelassen hätten. Der Container sei unten gegen ein Auto gedonnert, und die Eltern müßten jetzt den Schaden bezahlen. Wenn mich jemals einer auffordere, bei solchen dummen Streichen mitzumachen, dann solle ich den einfach stehenlassen und weggehen. »Versprich mir das in die Hand!«
Sonst würde ich mein blaues Wunder erleben.
Mit dem Kugelschreiber pauste ich für Wiebke zum Geburtstag ein Bild ab. Reinhold, das Nashorn. Das war jede Woche im Stern. Das Pauspapier hatte Mama mir gegeben.
Renate wollte auch ein Bild für Wiebke malen. Dafür sollte ich eine Laterne hochklettern. Als ich oben war, stand Renate unten und malte mich ab. Ich mußte ganz lange oben bleiben und winken. Hinterher fand ich aber, daß Renate meine Segelohren zu groß gemalt hatte.
Zum Geburtstag kriegte Wiebke Lakritze, ein Dreirad, einen gelben Ball mit bunten Punkten und einen weißen Stoffhasen mit goldenen Schellen an den Pfoten. Am Rücken hatte der Hase eine Schraube. Wenn man die drehte, klapperte er mit den Schellen.
Mama sagte, daß Wiebkes Ball für mich tabu sei. Als ob ich freiwillig der ihren Babyball angefaßt hätte.
Dann starb Waldi. Das sei der Lauf der Dinge, sagte Kalli. Waldi sei eben schon alt gewesen, aber man konnte sehen, daß Kalli geheult hatte.
Waldi wurde im Wald begraben, an einem Platz, wo man nicht so leicht hinkam. Man mußte erst weit hoch, und dann mußte man noch zwischen den Tannen durchgehen.
Bei Waldis Beerdigung waren Kallis Vater, Kalli, Volker und ich dabei. Kalli hatte den Spaten getragen und Kallis Vater den toten Waldi in einer Plastiktüte. Mit dem Spaten grub Kallis Vater ein Loch für Waldi. Als Kallis Vater Waldi in das Loch gelegt hatte und das Loch zuschippte, mußte Kalli wieder heulen. Volker heulte auch. Ich heulte schon fast die ganze Zeit.
Auf dem Rückweg sagte Kallis Vater zu Kalli, daß zuhause eine Überraschung auf ihn warte. Volker und ich durften mitkommen. Die Überraschung war ein neuer Dackel, der Ina hieß.
Jetzt sei das Rudel wieder komplett, sagte Kalli, und Kallis Mutter gab uns Cola zu trinken.
Volker und ich fragten Mama, ob wir nicht doch einen Dackel haben könnten, aber Mama war immer noch strikt dagegen. Eine Töle komme ihr nicht ins Haus. Ende der Diskussion.
Volker fragte mich, ob ich Lust zu einer Wanderung hätte. Wir kriegten Äpfel und Schnitten mit, damit wir nicht schon mittags wieder umkehren mußten.
Bei der Wanderung kamen wir zu einem Bahndamm, wo Volker sein Ohr auf die Schienen legte, um zu horchen, ob ein Zug kommt. Ich horchte auch, aber dann kam ein wütender Mann, der schrie, daß wir uns verziehen sollten, und wir liefen weg.
Auf dem Rückweg kamen wir an einem Fluß vorbei und fanden einen glipschigen toten Fisch am Ufer. »Der hat das Zeitliche gesegnet«, sagte Volker.
Mit Uwe vertrug ich mich wieder. Er sagte, daß er ehrlich nicht gelogen habe mit der Höhle. Heinz und Kurt hätten die von alleine gefunden. Zur Rache sei er dann aber zusammen mit seinem Vater zu der Höhle gegangen, um sie einzutrampeln, und die Pistole hätten sie weggeschmissen, weil die zur Hälfte noch meine gewesen war.
Wir wollten jetzt für immer Freunde bleiben. Wenn man sich stritt, hatte man keine Höhle und keine Pistole mehr.
Ich wollte Uwe Waldis Grab zeigen. Als wir ankamen, schwirrten da Tausende von Fliegen rum. Irgendeiner hatte Waldi wieder ausgebuddelt und die Leiche neben das Grab gelegt.
Waldi war ganz grau geworden. In den Augenhöhlen ringelten sich Würmer, und überall saßen Fliegen.
Wir standen da und starrten Waldi an. Die Würmer waren weiß und wimmelten übereinander weg. Das mußte jemand gemacht haben, der was gegen Waldi hatte oder gegen Kalli oder gegen Kallis Vater. Ein Drecksack, der gewußt hatte, wo Waldi begraben lag.
Uwe sagte, wir sollten Hilfe holen, und wir rannten durch den Wald nach unten und klingelten bei Kasimirs. Kalli war mit Volker im Wäldchen, aber Kallis Vater kam sofort mit. Wir liefen ins Wäldchen, um Kalli und Volker zu alarmieren.
Dann gingen wir zu Waldis Grab hoch, und da war immer noch alles mit Fliegen voll. Kalli sagte, wenn er die Sau erwischt, die das getan hat, macht er sie kalt.
Kallis Vater grub Waldi wieder ein. Volker sagte, er habe schon einen Verdacht, wer das gewesen sei, und zeigte mit dem Daumen auf Uwe und mich.
Das war gemein, und ich ging auf Volker los, aber Kallis Vater sagte, wir sollten nicht verrückt spielen. Das habe einer ohne Grütze im Kopf gemacht, irgendein Dummkopf halt, und wir sollten uns nicht weiter streiten.
Uwe und ich überlegten noch lange, was wir mit dem Scheißer tun würden, der Waldi wieder ausgebuddelt hatte. Uwe war dafür, den Kerl gefesselt in die Schlucht zu stoßen und dann unten verhungern zu lassen. Ich hätte gewollt, daß er rotglühende Schuhe angekriegt hätte wie in Grimms Märchen oder einen Kessel voll Pech über den Kopf.
Gut war es, ins Wohnzimmer zu schleichen, wenn die anderen schon frühstückten, und plötzlich um die Ecke zu springen und alle zu erschrecken.
»Mann Gottes!« rief Mama dann, wenn es geklappt hatte, und faßte sich ans Herz.
Im Kriechkeller fand Papa eine tote Katze, die ganz ausgedörrt war und sensationell stank. Wie die da wohl reingekommen war. Verhungert und verdurstet.
Papa begrub die Katze neben dem Komposthaufen. Überall waren jetzt Katzen und Hunde begraben, Waldi im Wald und die Katze im Garten.
Als ich wieder mit Uwe auf der Müllkippe war, hielten uns Große an, die uns nicht durchlassen wollten. Wir sollten unser Taschengeld hergeben. »Entweder oder!« sagte einer von den Großen. »Entweder«, sagte Uwe, und da fingen die Großen an zu lachen und ließen uns laufen.
Weil ich wieder mit zerrissener Hose angekommen war, sagte Mama, sie habe den Kanal voll, jetzt werde eine Lederhose gekauft.
Ich lief die Treppe hoch und warf mich heulend aufs Bett.
Dann pulte ich an der Kruste von der Wunde, die ich am Schienbein hatte.
Volker mußte eine Zahnspange tragen. Es zischelte, wenn er beim Sprechen die Spange drinhatte. Abends kam sie in eine rote Plastikschachtel.
Papa schichtete den Komposthaufen um.
Ich übte Klimmzüge an der Querstange vom Schaukelgestell. »Unser kleiner Kraftmeier.«
Mama und Papa wollten mit Renate und Wiebke nach Spanien fahren. Volker durfte mit Kasimirs nach Italien, und ich sollte nach Bruchköbel zu Onkel Dietrich und Tante Jutta.
Onkel Dietrich holte mich mit dem Auto ab. Erst hatte ich mich noch auf Bruchköbel gefreut. Dann wollte ich doch lieber nach Spanien mitkommen, aber da war es schon zu spät.
Die Wohnung von Onkel Dietrich war in einem Hochhaus, und ich kriegte erklärt, wo ich draufdrücken mußte, wenn ich mit dem Fahrstuhl nach unten fahren wollte. Unten vor dem Hochhaus war ein Sandkasten. Ich wollte aber gar nicht nach unten fahren.
Meine Kusinen waren noch klein und fuhren jeden Tag nach unten. Tante Jutta sagte, daß es unten viel schöner für mich sei. Da sei der Sandkasten, und da seien auch noch andere Kinder, aber ich wollte nicht zu den anderen Kindern. Ich wollte oben bei Tante Jutta bleiben.
Auf dem Balkon konnte ich ihr beim Abnehmen der Wäsche helfen. Ich warf die abgemachten Klammern in einen großen Känguruhbeutel.
Onkel Dietrich kaufte mir zwei Spielzeugindianer, bei denen man die Arme bewegen konnte. Von Mama hatte ich fünf Mark als Taschengeld mitgekriegt. Davon wollte ich mir noch mehr von den Indianern kaufen, aber Tante Jutta war dagegen. Mehr als eine Mark durfte ich für die Indianer nicht ausgeben, obwohl das Geld meins war. »Klappe zu, Affe tot«, sagte Tante Jutta. Das sagte sie ganz oft, auch wenn sie den Telefonhörer aufgelegt oder die Spülmaschine zugemacht hatte: »Klappe zu, Affe tot.«
Im Kinderzimmer bauten meine Kuinen und ich eine Butze. Über den Tisch kam eine Decke, die bis zum Boden runterhing. Jetzt konnten wir unter den Tisch kriechen und in der Butze sitzen.
Dann wollten sie wieder nach unten. Ich blieb lieber in der Butze hocken.
Einmal machten wir einen Spaziergang in den Wald. Da fand ich Himbeeren und Blumen und einen Stock, den ich als Schwert benutzen konnte. In die Wohnung durfte ich das Schwert aber nicht mitnehmen.
Dann sollte ich in die Badewanne, aber die Badewanne war nicht weiß wie bei uns, sondern grün, und ich klammerte mich an die Türklinke. Ich wollte nachhause, und ich mußte heulen.
Am nächsten Tag brachte Onkel Dietrich mir eine Wasserpistole mit, die ich nur in der Badewanne benutzen durfte. Mit Wasserpistole hatte ich auch nichts mehr gegens Gebadetwerden.
Und dann ging ich doch mal mit nach unten. Tante Jutta hatte mir einen Haustürschlüssel mitgegeben, der an einem Band um meinen Hals hing. Ich hatte auch eine Schippe mit.
Von den Ecken war im Sandkasten keine frei, und ich versuchte, anderswo am Rand eine Burg zu bauen. Der Sand war oben ganz warm von der Sonne.
Neben meiner Burg bauten meine Kusinen eine für sich. Im Sandkasten war es besser, als ich gedacht hatte, und es war auch besser als in der Butze oder in der Küche bei Tante Jutta.
Von Bruchköbel spedierte Onkel Dietrich mich nach Jever. Auf der Autobahn überholten wir Lastwagen mit Röhren hintendrauf, die sich drehten. In denen wurde Beton gemischt.
Mir fiel ein, daß ich meine Indianer nicht eingepackt hatte, aber Onkel Dietrich wollte nicht mehr zurückfahren. Tante Jutta würde mir die Indianer mit der Post schicken. Klappe zu, Affe tot.
Wegen Frau Apken mußte die Haustür abends jetzt immer abgeschlossen werden. Neulich sei Frau Apken im Nachthemd aus dem Haus gelaufen, um ihren Mann zu begrüßen, sagte Oma, aber der war ja schon tot. Einmal habe Frau Apken nachts um eins mit Hut und Mantel im Flur gestanden und gerufen: »Ich muß hier raus, die wissen ja nicht, wo ich bin!«
Ich ging auch wieder Enten füttern. Dafür hatte Oma immer altes Brot. Es gab Enten und Erpel. Die Erpel waren schöner, aber ich warf auch den Enten was zu.
Unter einem Busch fand ich eine Pfauenfeder, die länger war als ich selbst.
Zum Geburtstag sang ich Oma ein Lied vor. Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord, in den Kesseln, da faulte das Wasser, und täglich ging einer über Bord. Nach der ersten Strophe wollte Oma das Lied nicht weiterhören. Ich sollte lieber eins ohne Pestleichen singen. Was ich noch kannte, war: Die Affen rasen durch den Wald, der eine macht den andern kalt, aber das war auch nichts für Oma. »So ’n Schiet bruukt wi nich!« rief sie.
Die ganze Affenbande brüllt: Wo ist die Kokosnuß, wo ist die Kokosnuß, wer hat die Kokosnuß geklaut?
Durchgang verboten! Das stand auf einem Schild hinten im Garten, an einem Pfad, der auf das verwilderte Nachbargrundstück führte. Zusammen mit Gustav ging ich da einmal hin, und wir sammelten Äpfel für die Schweine. Als wir zurückkamen, versperrte uns Herr Kaufhold den Weg. Er zeigte auf das Schild und sagte, da stehe ausdrücklich, daß der Durchgang verboten sei.
»Wir wollen hier ja auch nicht durch, wir wollen hier nur lang«, sagte Gustav, und dann gingen wir an Herrn Kaufhold vorbei.
Zum Kaputtlachen. »Wir wollen hier ja auch nicht durch, wir wollen hier nur lang!« Da hatte Herr Kaufhold keine Antwort drauf gewußt.
Tante Dagmar kam von Mallorca nach Jever. Sie war ganz braun geworden, und sie ging mit mir zum Waldschlößchen, wo ich mit dem Karussell fahren konnte, bis Tante Dagmar schlappmachte und das Karussell nicht länger drehen wollte.
Oma brachte mich zurück nachhause. Im Zug war es heiß. Oma hatte eine hellgrünes Kleid an, das unter den Ärmeln und am Rücken, wo Oma geschwitzt hatte, immer dunkler wurde.
Wiebke hieß jetzt »der Ninnich«, weil sie in Spanien immer »Ninnich« gesagt hatte. Nicht einmal Eis hatte sie essen wollen, bloß immer »Ninnich« gesagt und alles abgelehnt. Gut gefallen hatte es ihr nur im Wasser auf der Hupfatatze alias Luftmatratze.
Renate zeigte mir die Muschelkette und die Puppe, die sie sich gekauft hatte, eine Flamencotänzerin mit einem Kleid, in dem Streifen aus Gold waren.
Mama und Papa hatten eine Holzfigur mitgebracht, Don Quichotte, mit einem langen dünnen Speer, den man der Figur aus der Faust rausziehen konnte. Der Don Quichotte kam im Wohnzimmer ins Regal, und wir durften ihn nicht anfassen.
In Spanien hatten Renate und Papa das Tausend-Teile-Puzzle von der Kirche dreimal zusammengesetzt. Am schwersten sei immer der Himmel gewesen, sagte Renate. Beim dritten Mal hatte sie das Puzzle umgedreht und die Teile hinten mit Kugelschreiber numeriert, von A1 bis Y40, als Hilfe fürs nächste Mal.
Volker hatte in Italien schwimmen gelernt. Er konnte jetzt fünf Züge. Am Strand hatte er eine Angel und ein Messer gefunden. Die Spange hatte er die ganzen Ferien über weggelassen, aber nicht weitersagen.
Ich zeigte Uwe meine Pfauenfeder und die Indianer, die Tante Jutta im Paket nach Koblenz geschickt hatte. Was ein Pfau war, mußte ich Uwe erst erklären.
Weil sie sich daran übergesehen hatte, ließ Renate sich von Mama die Zöpfe abschneiden. Die landeten in der Schublade von Renates Schreibtisch, als Andenken.
Einmal mußte Mama mit Wiebke zum Kinderarzt, und Renate hatte die Aufsicht über uns. Ohne Zöpfe sah Renate anders aus, und sie war strenger als sonst und sperrte Volker und mich im Kinderzimmer ein. Auch als wir aufs Klo mußten, ließ sie uns nicht raus. Sie sagte, wir würden nur so tun, aber wir mußten wirklich, und wir hopsten auf den Betten, um nicht zu merken, wie dringend wir mußten.
Erst als Mama wieder da war, konnten wir raus und aufs Klo.
Wir sollten mal an die Kinder in Biafra denken, sagte Mama. Die hätten nicht mal genug zu essen.
Die Kinder in Biafra hatten alle dicke Bäuche, aber Mama sagte, da sei nichts drin. Das seien Wasserbäuche.
Biafra war ein kleines Land, und wer da Essen hinbringen wollte, wurde von den Leuten in dem größeren Land daneben nicht durchgelassen.
Vor der Einschulung mußte ich zur Pockenimpfung. Da sollte ich mich wie die anderen Kinder obenrum ausziehen. »Nun mach dir mal nicht ins Hemd, du Bangbüx«, sagte Mama, aber ich trampelte und strampelte, weil ich Angst vor der Spritze hatte, und die Tafel, an der ich mich festhielt, rollte mit, als Mama mich wegzog.
Meinen Namen konnte ich schon schreiben, aber nur mit links. Mama wollte, daß ich mit rechts schreibe. Kinder, die mit links schreiben lernten, würden später, wenn sie Füller hätten, die nasse Tinte beim Schreiben mit der Hand verschmieren. Ich sollte mit rechts schreiben lernen und durfte dafür weiter mit links malen.
Uwe sollte erst im nächsten Jahr eingeschult werden, weil er noch nicht groß genug war.
Auf Mamas Frisiertisch lag meine Schultüte. Ich schlich auf Zehenspitzen hin. Es waren Süßigkeiten in der Tüte, und oben kuckte ein großes blaues Auto raus.
Ich mußte meine blaue Bobbyjacke anziehen, die mir schon fast zu eng war. Dann fuhren wir zum Schulgottesdienst in der Hoffnungskirche.
Man mußte aufstehen und beten und sich wieder hinsetzen. Eine Frau hielt allen Leuten einen Beutel am Stiel hin, und die Leute sollten Geld reinwerfen. Mama gab mir einen Groschen, damit ich auch was in den Beutel werfen konnte.
Jetzt war ich Erstkläßler. Mama brachte mich zu einem Zimmer in der Schule, wo auch die anderen Erstkläßler hingebracht wurden, und ich suchte mir einen Platz am Fenster aus.
Neben mir setzte sich ein dünner Junge mit Brille hin.
Vorne war das Pult mit einer großen Blumenvase. Da stand auch eine dicke Frau. Das war Frau Kahlfuß, die Lehrerin.
An unserem ersten Schultag müßten wir noch nicht soviel tun, sagte Frau Kahlfuß. Aber wer seinen Vornamen schon schreiben konnte, sollte den auf die Schiefertafel schreiben.
Frau Kahlfuß ging auf und ab und kuckte sich die Namen auf den Tafeln an. Der Junge neben mir hieß Dieter Aulich.
Das hätten wir sehr schön gemacht, sagte Frau Kahlfuß, und dann war der erste Schultag zuende.
Das blaue Rennauto durfte ich für mich alleine behalten, aber von den Süßigkeiten mußte ich Wiebke welche abgeben, weil sie quakig wurde, als sie mich die alle fressen sah.
Am zweiten Schultag sollte Volker mich zur Schule mitnehmen. Wir gingen am Hochhaus vorbei und dann über die Straße, wo wir aufpassen und nach beiden Seiten kucken mußten. Dann kam die Ampelkreuzung. Wenn das grüne Männchen kam, durften wir gehen.
Eigentlich sollte Volker mich bis zur Schule an der Hand halten, aber er wollte, daß ich hinter ihm und Kalli herging, damit keiner von seinen Schulfreunden merkte, daß ich dazugehörte.
Auf der anderen Straßenseite war die Kaserne. Da gingen wir vorbei und über eine Wiese und noch eine Straße runter, und dann sah man schon die Schule. »Ab hier brauchen wir dir ja wohl nicht mehr zu helfen«, sagte Volker, und Kalli zwinkerte mir zu.
Frau Kahlfuß zeigte uns, wie wir uns morgens auf dem Schulhof hinstellen mußten. Wir sollten immer zu zweit in einer Reihe stehen und warten, bis wir abgeholt werden. So sollten wir das auch nach der großen Pause machen, wenn es geschellt hatte.
Dann führte uns Frau Kahlfuß zum Klassenzimmer. Die Jacken mußten wir im Flur an die Haken hängen. Ich setzte mich wieder neben Dieter Aulich an die Bank am Fenster.
Es waren auch Mädchen in der Klasse. Eins war ganz lang. Ein anderes weinte, weil es seine Tafel vergessen hatte.
Ich hatte alles dabei, die Tafel, die Kreide, den Lappen, die Turnsachen und die Fibel. Frau Kahlfuß brachte uns ein Lied mit Kuckuck und Esel bei. Wer wohl am besten sänge zur schönen Maienzeit!
Zum Turnen mußten wir wieder in zwei Reihen hinter Frau Kahlfuß hergehen. In der Turnhalle hingen Seile von der Decke. Frau Kahlfuß brachte uns Brücke und Kerze bei.
Nach dem Turnen war Pause. Von den Jungen spielten welche Fangen. Mama hatte mir für die Pause ein Leberwurstbrot geschmiert. Dieter Aulich hatte ein Käsebrot, und wir tauschten, weil ich Leberwurst nicht mochte und Dieter keinen Käse. Wir wollten jetzt immer tauschen.
Vorne auf der Fibel waren ein Mädchen und ein Junge, die mit Ranzen auf zur Schule gingen. Der Junge hatte eine Brezel in der Hand.
Wir sollten die erste Seite aufschlagen. Da war ein Junge, der eine Sonne und einen Osterhasen und Küken malte. Der Junge hieß Hans. Frau Kahlfuß schrieb den Namen von dem Jungen an die Tafel, und wir sollten versuchen, den Namen abzuschreiben.
Dieter Aulich und ich waren früher damit fertig als die anderen in der Klasse. Ich mußte aber nochmal neu anfangen, weil ich mit links geschrieben hatte. Mit rechts dauerte es viel länger.
Dieter Aulich und ich hatten denselben Schulweg, und wir gingen zusammen. Geschwister hatte Dieter keine. Seine Eltern wohnten weiter unten auf der Horchheimer Höhe, beim Spielplatz. Dieter sagte, daß er einen Kaufmannsladen habe.
Sechs Wörter konnte ich schon schreiben: Hans, Suse, Rolf, Sonne, Brot und Kasper. Renate brachte mir noch andere Wörter bei: Igel und Maus.
Auf einem Bild in der Fibel war Hänschen, der in die Welt hineinging, während die Mutter am Haus stand und weinte, und auf einem anderen Bild begoß Kasper den Teufel mit Tinte und jagte ihn dann in einen glühenden Ofen rein.
Uwe wollte wissen, wie es in der Schule sei und ob ich neue Freunde hätte. Ich erzählte ihm von Dieter Aulich und dessen Kaufmannsladen, und Uwe sagte, da sollten wir mal zusammen hingehen.
In Dieters Kaufmannsladen lagen die Schachteln mit den Zuckerpillen in einem Regal, vor dem ein Vorhang war. Dieter erlaubte uns, dahinterzukucken, aber er sagte, wir sollten die Schachteln zulassen. Hinter dem Vorhang machten Uwe und ich die Schachteln trotzdem auf und aßen sie leer.
Dieter hatte auch Zinnsoldaten und ein Schaukelpferd, und er mußte nichts, was er hatte, mit Geschwistern teilen.
Als wir alles aufgegessen hatten, gingen wir weg.
In der Schule wollte Dieter Aulich sein Pausenbrot nicht mehr mit mir tauschen. Es gab aber sowieso bessere Jungen in der Klasse. Ingo Trinklein zum Beispiel, weil der mich beim Fangen mitspielen ließ, selbst wenn ich meine Kniebundlederhose anhatte. Die anderen waren dagegen gewesen, aber Ingo Trinklein hatte gesagt, daß die Hose egal ist, wenn einer gut rennen kann.
Ingo Trinklein wohnte in einem von den Häusern an der Straße vor der Schlucht. Jetzt ging ich immer mit Ingo Trinklein zusammen nachhause, und morgens kam er mich abholen.
Auf einer Seite in der Fibel waren Rolf und Lotte im Stockgeschäft. Da kostete ein Stock zwei Mark. Die Stöcke hingen hinter der Verkäuferin im Regal.
Daneben war ein Bild aus dem Schlachterladen. Der Schlachter hatte eine Glatze. Hans, Wurst, Hut, Stock, Hase, Rabe, Reh.
Baum, Bach, Fisch.
An einem Tag kam Ingo Trinklein mich nicht abholen, und ich ging alleine zur Schule. Ich dachte, wir hätten Turnen, aber die Turnhalle war leer. Ich war eine Stunde zu früh gekommen und mußte heulen.
Da kam Frau Kahlfuß. Sie nahm mich in den Arm und sagte: »Das macht doch nichts, wenn man zu früh zur Schule kommt!«
Die hatte gut reden.
Wir mußten auch rechnen. Zwei und fünf oder vier weniger drei. Das konnte Nulfi am allerbesten. Nulfi hieß eigentlich Arnulf, aber alle sagten Nulfi.
Einem Jungen in der Klasse lief immer Spucke aus dem Mund, wenn er was sagte. Bernhard hieß der.
Ich schrieb lieber, auch mit rechts. Kasper, Kuchen, Kerze, Ranzen. Kinder: la la la. Kasper: lo lo lo. Lehrer: o o o. Teufel: hu hu hu. Kasper: ho ho ho. Kinder: ha ha ha. Hans: o weh o weh.
Der Teufel spielte auch mit, als in der Schule ein Kaspertheater war. Der Kasper sah anders aus als unserer. Bei dem hier war die Nase viel dicker, und er hatte eine Klingel an der Mütze. »Tri, tra, trullala«, schrie der Kasper. Dann stritt sich der Teufel mit dem Krokodil, und dann kam Kasper wieder, um die beiden zu verhauen. Er wollte wissen, wen er kräftiger verhauen soll, den Teufel oder das Krokodil. Ich war für den Teufel, aber es gab auch welche, die für das Krokodil waren. Zuletzt verhauten sich das Krokodil und der Teufel gegenseitig.
Mit unseren Kasperpuppen wollte ich für Wiebke alles nachspielen, aber das ging nicht, weil sie immer selber anfing, das Krokodil und den Teufel zu verhauen. Die kapierte nicht, daß das nur Puppen waren.
An einem Sonntag machten wir mit der ganzen Familie einen Spaziergang. Wir gingen einen Weg lang, den ich noch nicht kannte, und kamen am anderen Ende von der Müllkippe vorbei, wo Hagebuttensträucher wuchsen. Papa sagte, daß man Hagebutten essen kann, mit Zucker, und ich pflückte mir welche.
Mama wusch, zerschnippelte und zuckerte die Hagebutten. Innen waren kleine Kerne, die mir zwischen den Zähnen klebenblieben.
Volker wollte Brennesseln essen. Das konnte man, wenn man die Brennesseln eingeweicht hatte. Zum Abrupfen zog Volker sich Winterhandschuhe an. Dann steckte er die Brennesseln zusammengeknüllt in ein Einmachglas mit Zuckerwasser. »Abwarten und Tee trinken«, sagte Volker.
Renate kriegte einen Brief, in dem stand, daß sie was gewonnen hatte. Der Brief war vom Kaufhof. Da hatte Renate bei einem Preisausschreiben mitgemacht.
Den Gewinn mußte Renate in Koblenz abholen. Sie fuhr mit dem Bus hin, und als sie wiederkam, brachte sie ein Puzzle mit. Sie hätte auch ein Fahrrad gewinnen können oder Schlittschuhe, die da als Gewinne gestanden hätten, sagte Renate, aber sie hatte nur das Puzzle gekriegt.
Das Puzzle hatte auch wieder tausend Teile. Auf dem Deckel konnte man Frauen mit orangen Regenschirmen auf einem Waldweg sehen. Das seien Japanerinnen, sagte Renate, und die Regenschirme seien Sonnenschirme. Die Japanerinnen waren unten ganz klein auf dem Bild. Der Rest war voll mit Blättern. Die Teile sahen fast alle genau gleich aus, und es dauerte ewig, bis man zwei gefunden hatte, die zusammenpaßten. Volker nahm sich immer nur ein einzelnes Teil und suchte dann auf dem Deckel, wo es hingehörte. Ich suchte die Randteile raus, die an einer Seite gerade waren.
Als Kasimirs Volker und mich zum Zirkus mitnahmen, mußten wir lange im Auto fahren. Ich saß hinten in der Mitte, Volker links und Kalli rechts am Fenster.
Der Zirkus war einer mit Seehunden, Pferden, Clowns und Löwen. Die Seehunde konnten Bälle auf der Nase balancieren, und die Pferde hatten bunte Büschel auf dem Kopf und liefen im Kreis, bis ein Mann mit der Peitsche knallte. Dann drehten sich die Pferde um und liefen andersrum.
Nach den Pferden kamen die Akrobaten. Einer ging oben auf einem Seil lang, ohne runterzufallen, und ich klatschte Beifall, bis mir die Hände wehtaten.
Dann bauten die Zirkusleute einen Käfig auf, was so lange dauerte, daß ich vor der Raubtiernummer zweimal pinkeln gehen mußte.
Aus einem Gittertunnel kamen die Löwen raus. Die mußten über einen Balken gehen und über eine Lücke springen.
Einmal waren morgens auf dem Schulhof schon alle Schlangen abgeholt worden außer unserer. Frau Kahlfuß kam nicht. Wir warteten noch ganz lange. Dann kam der Schuldirektor raus und sagte, daß Frau Kahlfuß krank sei. Wir sollten nachhause gehen.
Als die anderen weg waren, gingen Ingo Trinklein und ich in die Schule zurück und warfen die Jacken, die vor den Klassenzimmern am Haken hingen, auf den Fußboden, und auf dem Weg vorm Wäldchen nahm Ingo einem Kind den Ball weg. Das Kind heulte so laut, daß seine Mutter aus dem Haus gelaufen kam und uns anschrie, daß wir uns schämen sollten, kleine Kinder zu beklauen, und daß wir den Ball wieder hergeben sollten.
Ingo schmiß den Ball in eine Pfütze.
In der Schule brachte uns Frau Kahlfuß das Lied vom schwarzen Peter bei, der im Garten sitzt und didelidelitt singt. Hinter Dieter Aulich und mir saß ein Mädchen, das Osela hieß und immer heiser war. Wie ein Reibeisen. Wenn die was sang oder was sagte, hörte sich das so kratzig an, daß mir die Augen davon tränten.
Für das Lied sollten wir uns im Kreis aufstellen und alle einzeln eine Strophe aufsagen. Ich wollte nicht, daß die anderen sahen, wie mir die Augen tränten, wenn Osela dran war, aber ich konnte auch nicht weg. Dann schellte es zum Glück, und Osela kam nicht mehr dran.
Nach der Schule schraubten Ingo und ich bei den Autos an der Straße vor der Kaserne die Tankdeckel ab und warfen sie weg. Weil Benzin gut brannte, wollte Ingo irgendwann auch mal ein Streichholz anzünden und bei einem Auto in den Tank werfen.
Auf der Horchheimer Höhe wollte jeder der erste sein. Wer als erster beim Hochhaus war, hatte gewonnen. Hinter der Ampelkreuzung raufte ich mich deswegen mit Ingo, der mir in die Hand biß und mich an den Haaren zog, bis ich aufgab. Vor dem Kämpfchen hatte er seinen Ranzen abgenommen. Ich hatte meinen noch auf, und als ich unten lag, drückte mich der Ranzen im Rücken.
Als Ingo mich freiließ, waren alle anderen schon an uns vorbeigegangen, und wir konnten beide nicht mehr Erster werden.
Mama sagte, den Namen Osela gebe es nicht. Ursula würde das Mädchen heißen. »Wasch dir mal die Ohren.«
In dem Spielzeuggeschäft im Ladenviertel wollte Ingo Trinklein eine Pistole klauen. Paul Dickel, Rainer Waletzky und ich gingen nach Schulschluß mit, um durchs Fenster zuzukucken.
In dem Geschäft drehte Ingo den Ständer mit den Pistolenschachteln und nahm eine davon raus. Die sah er sich an. Dann steckte er die Schachtel in die Jacke und kam raus. Die Verkäuferin hatte nichts gemerkt.
Wir liefen um die nächste Ecke. Da packte Ingo die Pistole aus und schmiß die Schachtel auf den Weg. Die Pistole war schwarz mit dunkelbraunem Griff. Wir durften sie alle mal halten, und dann verbuddelten wir sie im Sandkasten vorm Hochhaus.
Wir seien jetzt eine Bande, sagte Ingo, und wir müßten schwören, daß wir niemandem was verraten.
Zuhause stellte ich meinen Ranzen ab, lief zum Sandkasten zurück und buddelte die Pistole wieder aus.
Mama stand in der Küche und machte Mittagessen. Ich ging mit der gestohlenen Pistole ins Kinderzimmer hoch und versteckte sie im Schiebeschrank.
Ingo Trinklein wollte noch eine Pistole klauen. Paul Dickel, Rainer Waletzky und ich gingen wieder mit.
Die neue Pistole war anders. Der Lauf war länger, und der Griff war weiß. Ingo wollte die neue Pistole neben der alten im Sandkasten vergraben, aber vorher wollte er die alte ausgraben.
Wir gruben den ganzen Sandkasten um, aber die alte Pistole war weg. »Die hat einer geklaut«, sagte Rainer Waletzky. Wir buddelten und buddelten, aber die Pistole war nicht mehr da. Ingo Trinklein sagte, daß wir die neue Pistole tiefer vergraben müßten als die alte.
Nach dem Ranzenabstellen lief ich gleich wieder zum Sandkasten, um mir auch die neue Pistole zu holen. Ich war noch mit beiden Händen am Buddeln, als auf der Straßenseite gegenüber ein Fenster aufging und Paul Dickel rüberschrie: »Martin, was machst du da?«
Ich hatte nicht gewußt, daß der da wohnte, mit freier Sicht auf den Sandkasten.
»Ich such nach der verlorenen Pistole«, rief ich.
»Dann ist gut«, rief Paul Dickel und machte das Fenster wieder zu. Ich setzte mich im Sandkasten anders hin, mit dem Rücken zu dem Haus, in dem Paul Dickel wohnte, zog die neue Pistole aus dem Sand und lief nachhause.
Ich dachte, ich hätte die Pistolen gut genug versteckt, aber Mama fand alle beide, und ich sollte sagen, woher ich die hatte. »Keine faulen Ausreden! Und lüg mich nicht an, sonst passiert was!«
Als ich mit dem Namen von Ingo Trinklein rausrückte, war Mama schon zufrieden.
Mama telefonierte mit Ingos Eltern, und dann kamen die Trinkleins alle zu uns ins Wohnzimmer. Mama hatte denen nur gesagt, daß ich alles zugegeben hätte, und nicht, daß ich die Pistolen aus dem Sandkasten genommen hatte.
Wir saßen im Wohnzimmer. Ingo hatte mir eine Tafel Schokolade mitgebracht. Ich war von Mama gekämmt worden.
Unsere Eltern schüttelten sich die Hände. Mama hatte Kaffee gekocht.
»Stell dir doch mal vor«, sagte Ingos Vater zu mir, »jetzt würde jemand kommen und dir deine Lederhose wegnehmen, das würde dir doch auch nicht gefallen.«
Ich sollte was dazu sagen, und ich sagte, daß ich meine Lederhose nicht leiden mochte. Die könnte mir ruhig jemand wegnehmen, das wär mir ganz egal.
Mit Bengeln wie Ingo Trinklein und Konsorten solle ich mich gar nicht mehr abgeben, sagte Mama, als wir wieder alleine waren. Das sei ein falscher Fuffziger.
Ich kriegte eine Woche Hausarrest, genau wie Ingo. Weil wir dann nicht wieder weggekonnt hätten, gingen wir nach der letzten Stunde nicht nachhause.
Ein Gartenzaun hatte ein Loch, wo wir durchpaßten. In dem Garten war ein Schuppen mit einem Spalt über der Tür. Ich machte Räuberleiter, und Ingo faßte in den Spalt und zog eine Säge aus dem Schuppen, die an jedem Ende einen Griff hatte. Mit der Säge gingen wir zu einem Apfelbaum, den wir umsägen wollten. Das war schwer, aber die Rinde hatten wir nach einer Weile eingeritzt.
Mama sagte ich, wir hätten nachsitzen müssen.
Am nächsten Tag liefen wir nach der Schule wieder zu dem Garten und sägten weiter und waren schon fast bei der Mitte vom Stamm angekommen, als ein Mann in dem Haus, zu dem der Garten gehörte, uns durchs Fenster anschrie, ob wir sie noch alle hätten.
Die Säge ließen wir im Apfelbaum stecken.
Mama sagte, ich sei ein Filou. Sie hatte Frau Kahlfuß angerufen und wußte, daß ich mir das mit dem Nachsitzen nur ausgedacht hatte, und sie hatte auch schon mit den Eltern von Ingo Trinklein telefoniert.
Als Papa eine Dienstreise nach Amerika machen mußte, durfte ich dann aber mit zum Bahnhof. Wiebke hatte ihren fusseligen weißen Poncho an und winkte Papa noch nach, als der Zug schon lange verschwunden war.
Renate sang Lieder aus der Mundorgel. Die Gedanken sind frei, kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Da müsse man »erschissen« singen, sagte Renate, sonst würde sich das nicht reimen.
Sabinchen war ein Frauenzimmer. Ich hätte kein Zimmer für Frauen sein wollen. So ’n Zimmer mit Strumpfhosen überm Stuhl, und dann sitzen da Frauen mit Lockenwicklern.
Mama konnte ein plattdeutsches Lied, in dem ein tanzendes Tier vorkam: Und he danzt ganz alleen op de achtersten Been. Ich wollte wissen, was op de achtersten Been sei, aber Mama sagte, das könne man nicht übersetzen. Da kriegte ich die Wut, weil op de achtersten Been doch irgendwas heißen mußte. Ich schmiß mich auf den Boden und schrie und durfte deshalb Pat und Patachon nicht sehen.
Frau Kahlfuß erzählte uns, wie der liebe Gott das Paradies gemacht hatte. Weil Adam und Eva einen Apfel von dem verbotenen Baum gegessen hatten, schickte der liebe Gott die beiden weg aus dem Paradies. Daran war die Schlange schuld, die Eva den Apfel gegeben hatte.
Frau Kahlfuß las uns auch aus der Fibel vor. Hu – was ist das? O weh – eine Laus! Eine Li-, eine La-, eine Lause-Laus! Holt die Laus! Haltet die Laus! Hoho – da saust die Laus los! Oma, Mama, Hans, Lotte, Rolf, Fifi, Stuhl, Dose, Deckel, Tasse, alle, alle sausen. Wo ist die Laus?
Im Traum fand ich eine Abkürzung nach Jever. Man mußte im Wäldchen durch eine Hecke, und dann war man im Garten von Oma und Opa. Als ich wieder wach war, sagte ich Mama, daß wir nie mehr mit dem Auto oder mit dem Zug nach Jever fahren müßten, weil ich eine Abkürzung gefunden hätte, aber als ich im Wäldchen nachsah, fand ich das Gebüsch nicht mehr, von dem ich geträumt hatte. Bomben Granaten Element Blitzblotz Donnerwetter Sakrament nochmal!
Wenn ich ein Vöglein wär und auch zwei Flügel hätt.
Aus Amerika brachte Papa einen Sechs-Farben-Kuli mit. Die Farbe, die man haben wollte, mußte man oben im Schlitz ankucken. Wenn man dann am Kuli klickte, kam unten wie durch Zauberei die Mine mit der Farbe raus, die man angekuckt hatte.
Mir schenkte Papa ein kleines Messer. Ich lief damit ins Wäldchen und probierte an meinem rechten Daumen aus, wie scharf das Messer war. Aus der Wunde schoß ein Blutstrahl, und noch einer, und noch einer, und ich rannte nachhause.
»Das war ja nun nicht im Sinne des Erfinders«, sagte Papa. Er schiente mir den Daumen mit einem kleinen Stock und wickelte einen Verband drumrum, den er mit einer Sicherheitsnadel zumachte. Die Narbe werde mir erhalten bleiben, sagte Papa, bis ins hohe Alter, zur Erinnerung an meine Doofheit.
Ich fand die Narbe aber gut. Uwe hatte keine so große. Ingo auch nicht. Gar keiner sonst.
Aus Amerika hatte Papa auch ein großes Buch mit Fotos aus dem Wilden Westen mitgebracht. Da waren Soldaten zu sehen, die in der Wüste vor der Leiche von einem Skalpierten knieten, drei Frauen mit Haar, das bis zur Erde hing, ausgezogene Kinder beim Baden, Indianerhäuptlinge mit Federschmuck und ein Mann und eine Frau, die auf riesigen Seerosen auf einem Teich standen. Auf einem anderen Foto tanzten zwei Frauen auf einer Felsenklippe, und auf noch einem anderen stürzte sich ein Reiter mit seinem Pferd von einem hohen Holzturm ins Wasser.
Aus Amerika hatte Papa auch eine Zeitschrift mit Nacktfotos mitgebracht, das Mama gleich in die Mülltonne warf. Als es dunkel war, schickte Renate mich heimlich raus, die Zeitschrift wiederholen.
Auf einem Foto sah man eine halb ausgezogene Frau, die an einen Baum gefesselt war.
An Sankt Martin verschenkte ein Bäcker Teilchen auf dem Parkplatz vorm Haus. Wir gingen immer wieder hin, holten uns was und stapelten die Teilchen auf dem Eßtisch. Der Stapel reichte schon fast bis zur Lampe. Ich wollte nicht, daß der Bäcker mich erkannte, weil ich schon so viele Teilchen geholt hatte, deshalb streckte ich am Tisch nur den Arm zwischen den anderen Leuten durch und hielt die Hand auf, aber der Bäcker zog mich an der Hand zu sich hin und sagte: »Na, wen haben wir denn da?« Dann gab er mir einen Amerikaner und ein Hörnchen. Amerikaner hatten Zuckerguß.
Das Zeug werde uns noch zu den Ohren wieder rauskommen, sagte Papa. »Friß nicht wie so ’n Scheunendrescher!«
Frau Strack fiel auf, daß Wiebke mit dem linken Auge schielte, und als Mama mit ihr beim Augenarzt gewesen war, kriegte Wiebke eine Brille. Das rechte Glas war schwarz zugeklebt, damit Wiebke sich beim Kucken mit dem Schielauge mehr anstrengen mußte.
Wiebke versteckte die Brille immer unterm Bett oder hinterm Klo oder woanders, und wenn Mama nach der Brille fragte, sagte Wiebke nur: »Ninnich!«
Als Hausaufgabe mußte ich dreimal schreiben: hurra hurra der Kasper ist da. Jetzt konnte ich auch lesen, was auf dem Brotschalenrand stand: Unser täglich Brot gib uns heute.
Papa hatte einen kleinen Ofen gekauft, in dem man Aschenbecher mit Emaille buntmachen konnte. Dafür mußte Papa Pulver in den Aschenbecher streuen. Im Ofen schmolz das, aber es blieb nie so liegen, wie es sollte. »Alles Kacke, deine Emma«, sagte Papa dann, und einmal schmiß er den Aschenbecher nach dem Emaillieren vor Wut an die Wand.
Die Wortzaubermühle. Aus dem Mond wird der Mund. Aus dem Mund wird der Hund. Aus dem Hund wird die Hand. Aus der Hand wird die Wand. Aus der Wand wird der Wind. Aus dem Wind wird das Kind. Aus dem Kind wird der Wind, daraus die Wand, daraus die Hand, daraus der Hund, daraus der Mund, und daraus der schöne Mond, der am Himmel oben wohnt.
In der Fibel war ein Bild von einem Fisch, der mit dem Löffel Brei aus einem Teller ißt und einen Tisch haben will. Den Tisch hat die Maus, und die Maus will das Haus von dem Schwein, das den roten Wein will. Den roten Wein hat die Katze. Der Fisch schwimmt zur Katze. O weh! Die böse Katze holt mit der Tatze den armen Fisch; holt den Fisch, holt den Wein! Wo wird nun das Fischlein sein?
Mutter bäckt. Was bäckt Mutter? Mutter bäckt Plätzchen. Mutter bäckt einen Kuchen. Mutter bäckt Plätzchen und Kuchen.
Im Fernsehen kam Tom Sawyer, aber erst spät, und ich mußte lange quengeln, um das sehen zu dürfen.
Tom Sawyer stahl sich immer nachts durchs Fenster übers Dach aus dem Haus raus, um sich mit Huckleberry Finn zu treffen, der in einer Tonne wohnte. Ich hätte auch gerne in einer Tonne gewohnt, aber auf der Horchheimer Höhe gab es keine Tonnen, in denen man wohnen konnte. Bei uns konnte man sich auch nicht nachts durchs Fenster nach draußen schleichen.
Plemmplemm war Tom Sawyers kleiner Bruder Sid. Und daß Tom Sawyer sein Kaugummi Becky Thatcher abgab, fand ich eklig. Die schielte fast so schlimm wie Wiebke.
Huckleberry Finn war vernünftiger als Tom Sawyer, aber dafür war Tom Sawyer mutiger. Vor dem Indianer-Joe hätte ich aber auch Angst gehabt. Der wollte Tom und Huck massakrieren, weil sie Augenzeugen gewesen waren, als er auf dem Friedhof den Doktor erstochen hatte.
Die Höhle, in der Tom Sawyer sich verlief, war millionenmal besser als unsere im Wäldchen.
Als Geschenk für Oma Jever hatte Renate schon das ganze Jahr lang Kreuzworträtsel aus dem Stern ausgeschnitten. Die klammerte sie jetzt zusammen.
Ich malte den Weihnachtsmann, mit Hirschen im Schneesturm, und obendrüber den Mond mit Zipfelmütze.
Ingo Trinklein sagte, an den Weihnachtsmann würden nur Babys glauben. Ich sollte mal überlegen, zu wievielen Familien der hinmüßte, um alle Geschenke abzugeben. Das gehe gar nicht.
Als Hausaufgabe hatten wir aufgekriegt: Am Christbaum sind Kerzen, am Christbaum sind Herzen, am Christbaum sind Sterne, am Christbaum sind Kugeln. Mama lobte mich dafür, daß ich die Hausaufgaben immer sofort nach der Schule machte. Volker hatte sich das schon lange abgewöhnt.
Nulfi petzte Frau Kahlfuß, daß Ingo und ich seinen einen Handschuh über die Mauer aufs Kasernengelände geworfen hatten, und da mußten wir zur Kaserne gehen und den Handschuh wiederholen.
Am Kasernentor stand ein Soldat. Dem sagten wir, daß wir für unsere Lehrerin einen verlorengegangenen Handschuh wiederfinden müßten. Dann kam ein anderer Soldat, dem wir die Stelle zeigen sollten, wo der Handschuh lag. Wir gingen an der Schranke vorbei in die Kaserne zur Mauer. Nulfis roter Handschuh war schon von weitem zu sehen.
In der Klasse waren Ingo und ich jetzt die einzigen, die schon mal in der Kaserne gewesen waren, und wir erzählten den anderen, daß da Panzer geschossen hätten.
Wenn ich selbst einen Handschuh verloren hatte, schickte Mama mich jedesmal gleich wieder los, den Handschuh suchen. Einmal mußte ich fast bis zur Schule zurück. Da lag der Handschuh am Straßenrand im Schneematsch.
Als ich ein anderes Mal den Handschuh nicht finden konnte, wollte Mama, daß ich nochmal losgehe und den Hausmeister frage. Bei dem würden alle Fundsachen abgegeben.
Ich trödelte, und es fing schon an, dunkel zu werden, als ich bei der Schule ankam.
Drinnen waren Kerzen an, und auf der großen Treppe stand der Schulchor und sang ein Weihnachtslied, das ich noch nie gehört hatte. Es schlafen Bächlein und Seen unterm Eise, es träumt der Wald einen tiefen Traum!
Der Hausmeister hatte einen Karton, der bis obenhin voll war mit einzelnen Handschuhen, und einer davon war meiner.
Durch die weite, weiße Welt.
Mama und Renate kannten das Lied. Es ist für uns eine Zeit angekommen, sie bringt uns eine große Freud! Mama sang mit zweiter Stimme, anders und tiefer als Renate, aber so, daß es gut dazu paßte. Vom hohen Himmel ein leuchtendes Schweigen erfüllt die Herzen mit Seligkeit!
Davon kriegte ich ’ne Gänsehaut.
Mama nähte meine Handschuhe mit einer langen Schnur zusammen, die durch die Ärmel vom Anorak gesteckt wurde. So konnten die Handschuhe nicht mehr verlorengehen, aber ich mußte aufpassen, daß keiner was von der Schnur merkte. Der einzige, der sonst noch Handschuhe mit Schnur hatte, war Dieter Aulich, und mit dem wollte keiner spielen.
Auf dem grünen Kalender an der Eßzimmerwand konnte man sehen, wieviele Tage es noch bis Weihnachten waren. Das Stövchen war innen mit was Rotem beklebt, das leuchtete, wenn das Teelicht brannte. Wenn man das Deckenlicht ausmachte, leuchtete das Rote im Stövchen noch heller.
Schwarzer Tee mit Kluntje und Sahne. Weil wir reicher geworden waren, gab es dazu dieses Jahr Spekulatiuskekse mit Mandelsplittern.
Frau Kahlfuß las uns eine Geschichte von einem Mädchen vor, das weggelaufen war, weil die Eltern so arm waren, daß sie keine Weihnachtsgeschenke kaufen konnten. Da brachte auch der Weihnachtsmann keine. Die Eltern suchten alles ab, das Haus, die Stadt, den Wald, aber das Mädchen war weg, und an Heiligabend saßen die Eltern im Wohnzimmer am Tisch und weinten und hielten sich unterm Tisch an den Händen, und ich mußte mir schnell was anderes vorstellen, sonst hätte ich selbst angefangen zu weinen.
Dann kam das Mädchen aber doch noch zurück, und alle waren wieder fröhlich, auch ohne Geschenke.
Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär. Mär sei ein anderes Wort für Botschaft, sagte Frau Kahlfuß, so wie Heiland ein anderes Wort für Jesus sei.
Wir sangen auch ein trauriges Weihnachtslied, in dem jemand darum bettelte, ins Haus gelassen zu werden, um nicht zu erfrieren.
Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit?
Für Mama und Papa schrieb ich als Weihnachtsgeschenk ein Lied ab: Laßt uns froh und munter sein und uns recht von Herzen freun! Lustig, lustig, trallerallera, bald ist Nikolausabend da!
Als ich fast fertig war, riß das Blatt ein, und Renate flickte den Riß mit Tesafilm.
Im Kinderzimmer übten wir für Mama und Papa ein Krippenspiel ein. Renate war Maria und Volker Josef. Wiebke und ich sollten Hirten sein. Als Christkind lag die Puppe Annemarie auf Kissen in der Krippe, die Renate aus zwei Kinderstühlchen gebaut hatte. Ochs und Esel hatte sie auf Papier gemalt und mit Stecknadeln an der Gardine festgemacht.
Wir sollten vor der Krippe knien und beten. Ich hatte als Hirte einen Cowboyhut auf. Wiebke trug auch einen, der aber umgekrempelt war. Für sich selbst hatte Renate einen Umhang ausgesucht. Volker kriegte eine Sofadecke als Mantel und eine von Renate gebastelte Perücke aus weißer Watte. Wiebke wollte, daß neben Annemarie ein Mainzelmännchen in der Krippe liegt, obwohl im Stall in Betlehem bestimmt keins dringelegen hatte.
Als wir zum letzten Mal übten, hatte Renate auf dem Schrank auch Kerzen aufgestellt und angezündet. Wir sollten erst das Jesuskind begrüßen, dann Ochs und Esel an der Gardine füttern und dann zusammen beten. Als wir uns zur Gardine umdrehten, kam Volker mit der Perücke ans Kerzenfeuer, und die Perücke fing an zu brennen.
Das Feuer kriegten wir nicht aus. Renate lief aus dem Zimmer und schrie: »Das ganze Haus brennt ab!«
»Ach du Scheiße«, rief Papa, der in der Badewanne lag, und man hörte das Wasser klatschen und schwappen. Von unten kam Mama die Treppe raufgelaufen.
Mama und Papa machten das Feuer mit Tüchern und Wasser aus. Unter der Perücke waren Volkers Haare angesengt und stanken. Renate ärgerte sich, weil die Perücke kaputt war, aber Mama sagte, das sei doch wurscht. Sie holte neue Watte aus dem Elternschlafzimmer und packte Volker was davon auf den Kopf, und Renate heulte, weil die neue Perücke viel schlechter war als die alte.
Ich wollte nur wissen, ob Mama und Papa was gesehen hätten von der Krippe und von Ochs und Esel. Dann wäre das Krippenspiel ja keine Überraschung mehr gewesen. Mama sagte, nein, sie hätten nichts gesehen.
Renate wollte nicht mehr, weil sie Volkers neue Perücke so blöd fand, und da wurde Mama böse. »Los jetzt!« rief sie, und dann führten wir das Krippenspiel eben auf.
Vor der Bescherung gab es Würstchen mit Senf und Kartoffelsalat. »Nachher schlagt ihr euch den Bauch ja doch mit Süßigkeiten voll«, sagte Mama.
Ich kriegte ein Wildwestfort mit Cowboys, eine rote Cowboyweste, eine neue Pistole und von Tante Therese aus England ein Auto. Volker hatte aus England auch ein Auto gekriegt, Mama Seife und Wiebke ein Kleid, weil Tante Therese Wiebkes Patentante war.
Meistens bekam man als Junge bessere Geschenke als als Mädchen. Volker und ich kriegten neue Schlitten und Volker sogar einen Fotoapparat, aber Wiebke nur ein Spielzeugtelefon und Renate Strumpfhosen im Häkellook, kniehohe Lederstiefel und Briefpapier.
Wir hatten aber auch Bücher gekriegt: Das Geheimnis der orangefarbenen Katze, Künstler Mäxchen, Herders buntes Bilderlexikon und Käuze, Schelme, Narren, mit Geschichten über die Schildbürger, die immer alles falsch machten.
Nach Weihnachten fuhren Mama und Papa zum Klassentreffen nach Jever. Volker fuhr mit. Renate blieb mit Wiebke und mir auf der Horchheimer Höhe und sollte auf uns aufpassen.
In dem großen Dampfkochtopf mit dem roten Deckel, aus dem oben ein zischender Stift rauskam, wenn das Essen gar war, kochte Renate uns Gulasch mit Nudeln.
Beim Abendbrot machten wir eine Wurstscheibenschlacht am Eßtisch. Die Brote schmierten wir mit den Fingern, und ich feuerte meine Cowboypistole ab. Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch! Wir hatten die Jalousie runtergelassen, damit uns keiner sehen konnte, und dann gingen wir alle drei im Ehebett schlafen.
Als nächstes kochte Renate Gulasch mit Kartoffelbrei, aber das schmeckte nicht wie sonst, und der Kaba abends hatte Haut drauf. Ich war ganz froh, als Mama und Papa wiederkamen, obwohl Mama erstmal schimpfte, weil überall im Haus Licht an war. »Was ist denn das hier für ’ne Festbeleuchtung?«
Mama war gereizt, weil sie sich für das Klassentreffen ein neues Kleid bei C&A gekauft hatte, und dann waren drei andere Frauen mit genau dem gleichen Kleid gekommen.
Um wie Huckleberry Finn auszusehen, zerrissen Uwe und ich uns im Wald die Anoraks. Lieber als Postbote wollte ich jetzt Globetrotter oder Kopfgeldjäger werden oder ein Floß haben, und weil ich meinen Anorak mutwillig ruiniert hatte, kriegte ich Hausarrest.
Papa saß am Eßtisch und bosselte an dem Modell von dem Haus, in das wir umziehen sollten. Das Dach und die zwei oberen Etagen lagen lose auf, und man konnte alles sehen, die Kinderzimmer, das Wohnzimmer, das Arbeitszimmer, die Küche und die Klos und die Garage. Die Fenster waren aus Plastik und die Treppenstufen aus Pappe.
Mit einer Kulimine bohrte ich hinter Papas Rücken in der Steckdose, bis ich einen Schlag im Arm und im Bauch kriegte und vor Schreck umfiel.
»Prost Mahlzeit«, sagte Papa. Jetzt hätte ich einen gewischt gekriegt. Das werde mir hoffentlich eine Lehre sein.
An Silvester durften Volker und ich mit Streichhölzern die Lunten der Tischraketen anzünden. Die Raketen jaulten, und dann kamen unten graue Würste raus. Aus Knallbonbons, die man an beiden Enden ziehen mußte, flogen beim Knall kleine Glücksschweinchen und Schornsteinfeger aus Plastik in die Bude.
Dann durfte auch der Tannenbaum geplündert werden. Am leckersten waren die Schokoladenkringel.
Draußen war alles matschig, und es regnete Bindfäden. Im Treppenhaus war Schimmel an der Decke, den Mama mit dem Handfeger wegbürsten mußte.
Das Buch mit Künstler Mäxchen gehörte Wiebke. Mäxchen war ein Bär mit Mütze, der malen konnte und mit einem Elefanten befreundet war, der Ziehharmonika spielte. Der Elefant hieß Jimmy.
Mein Wildwestfort hatte Palisaden, einen Turm mit Auskuck und ein Holzhaus. Wenn ich damit spielen wollte, zog ich meine Cowboyweste mit dem Sheriffstern an.
Als die Schule wieder anfing, holte Ingo Trinklein mich morgens ab, zusammen mit Rainer Waletzky und Hermann Kalb. Am Himmel funkelten die Sterne. Gott der Herr hat sie gezählet.
Hermann Kalb hinkte, weil sein eines Bein zu kurz war. Beim Fangen auf dem Schulhof machte er nicht mit, aber er hatte einmal bei einem Kämpfchen Paul Dickel untergebuttert.
Frau Kahlfuß las uns das Märchen von dem bösen Wolf vor, der sechs Geißlein gefressen hatte und schnarchte, und von der Geißenmutter, die dem Wolf den Bauch aufschnitt. Schnipp schnapp, schnipp schnapp, schneidet die Schere. Schon hat der Wolf ein Loch im Bauch. Heraus kommen alle sechs Geißlein! Lauft, Kinder! Schnell! Schnell! Steine herbei! Steine für den Bauch! Stich, stich, stich, das Loch ist wieder zu. Der Wolf wacht wieder auf. Er brummt: Ach, och, uch, auch, was rumpelt mir im Bauch?
Buschbrände löschen und auf der Wamerustation helfen, wenn die Leoparden krank waren, das war auch ein guter Beruf.
Weil der Löwe Clarence in der Serie schielte, sagte ich zu Wiebke, daß wir zusammen Daktari spielen könnten, mit ihr als Clarence, und sie heulte los, obwohl ich das nur als Witz gemeint hatte.
Mama erwischte mich mit einem Nimm 2 im Mund, das ich von Volkers Geburtstagstisch genommen hatte.
Wir hätten doch eine Abmachung, sagte Mama. Ich hätte versprochen, nie wieder was zu stehlen. Das Nimm 2 mußte ich in den Küchenmülleimer spucken, und dann kriegte ich Zimmerarrest.
Vom Fenster aus sah ich Uwe, Heinz und Kurt im Wäldchen spielen. Tom Sawyer wäre durchs Fenster geklettert und mit Huckleberry Finn auf eine Insel abgehauen, aber bis zum Rhein war es zu weit. Der hatte auch keine Insel, jedenfalls keine, die ich kannte, und wenn eine dagewesen wäre, hätte ich nicht gewußt, wie ich hinkommen soll.
An einer Stelle war die Tischplattenleiste kaputt, da konnte man die Leiste bis zur Tischecke rausziehen. Ich knickte ein Stück von der Leiste ab, und dann zerbrach ich noch das Tor von meinem Cowboyfort. Das hatte Mama jetzt davon.
Auf der Fensterbank lagen die Bilder, die ich als letzte gemalt hatte. Eine Burg mit einem Ritter auf einem Pferd und ein Forscher, der gebückt mit einer Taschenlampe durch den Kriechkeller geht.
Wir hatten noch nicht alle Buchstaben gelernt, aber das meiste im Räuber Hotzenplotz konnte ich schon lesen, auch wenn ich lange dafür brauchte. Wie er der Großmutter die Kaffeemühle stiehlt und mit der Pfefferpistole auf Seppel schießt. Die Brille von der Großmutter hieß Zwicker.
Der große böse Zauberer Petrosilius Zwackelmann hatte Warzen auf der Nase, und in seinem Schloß hatte er ein Zimmer mit Augen auf der Tapete, einem ausgestopften Krokodil an der Decke und einem Knochengerippe neben dem Bücherregal. Auf einem Bild sah man, wie Petrosilius Zwackelmann auf seinem Zaubermantel nach Buxtehude flog. Kasperl suchte währenddessen nach dem Feenkraut, um damit die verzauberte Unke im Schloßkeller zu retten. Dann krachte das ganze große Schloß zusammen, mit allen Türmen, und Kasperl und Seppel kriegten von der Großmutter Pflaumenkuchen mit Schlagsahne, bis sie Bauchweh bekamen, und sie waren so glücklich, daß sie mit keinem Menschen getauscht hätten, selbst mit dem Kaiser von Konstantinopel nicht.
Mama brachte die entwickelten Weihnachtsfotos mit. Da waren zum ersten Mal welche in bunt bei. Auf dem einen hatte ich die rote Cowboyweste an und den Cowboyhut auf und zielte mit der Pistole an die Decke, das fand ich am besten.
Hausaufgaben. Die armen Vögelein. Da liegen sie und piepen. Hilfe, Hilfe, wir frieren und hungern! Peter hilft. Ei, da freuen sich die Vögel. Ziwitt, ziwitt, zwitschern sie.
Wir mußten uns entscheiden, ob wir lieber im Ersten Sindbads siebente Reise kucken wollten oder Bonanza im Zweiten. »Man kann sich aus des Lebens Kuchen nicht nur die Rosinen suchen«, sagte Mama.
Sindbads siebente Reise war mit einem Zauberer, der eine Frau in eine Schlange mit vier Armen verwandeln konnte. Eine Prinzessin machte der Zauberer mit Zauberdampf ganz klein. Um sie wieder großzumachen, brauchte Sindbad eine Eierschale aus dem Nest vom Vogel Rock auf der Zyklopeninsel.
Von den Männern, mit denen Sindbad zu der Insel gefahren war, röstete sich der Zyklop einen am Spieß, aber Sindbad warf dem Zyklopen einen brennenden Speer ins Auge, und der Zyklop fiel einen Abhang runter und war tot.
Auf der Insel war auch ein Schatz, und aus dem Ei vom Vogel Rock schlüpfte ein Riesenküken mit zwei Köpfen. Später mußte Sindbad noch ein Skelett und einen Drachen besiegen.
Von dem Drachen malte ich ein Bild. Da versuchten Sindbad und die anderen Männer von seinem Schiff den Drachen totzumachen. Einer saß auf dem Knie von dem Drachen und stach mit dem Messer rein. Andere schossen Kugeln und Pfeile ab, und vom Fuß des Drachen wurde einer von den Jägern zermanscht. Dem malte ich eine Sprechblase. Er sollte »Prost Mahlzeit« sagen, und Sindbad, der auf dem Rücken von dem Drachen saß und da eine Axt reinhaute, sollte denken, daß der, der »Prost Mahlzeit« gerufen hatte, irgendwas aufißt, und ich malte für Sindbad eine Sprechblase, wo er sagte: »Freßsack da unten!« Die Wörter konnte ich aber noch nicht alle. Ich schrieb »Brust Malzit« und »Fräsack da onten«, und als Papa das Bild sah, fand er »Fräsack da onten« so gut, daß er das immer sagte, wenn einer von uns beim Essen schmatzte, aber man konnte auch eine gescheuert kriegen.
Volker wollte sich aus Wiebkes altem Kinderwagen eine Seifenkiste bauen, aber Mama sagte, der sei noch tadellos in Schuß und zu schade für solche Schnapsideen.
Kallis Eltern luden Volker und mich ins Kino ein. Es war schon dunkel, als wir in Koblenz ankamen. Kallis Vater fuhr mit uns in die Tiefgarage. Kallis Mutter hatte eine weiße Hose an.
Das Kino hieß Residenz und hatte überm Eingang eine Krone mit drei Zacken als i-Punkt.
Ein Mann mit Taschenlampe zeigte uns, wo wir sitzen sollten. Ich saß neben Volker. Der Film hatte gerade angefangen. Vor uns saßen Leute, die mit ihren Köpfen immer im Bild waren, aber dazwischen konnte ich was sehen.
Der Film war mit einem Jungen, der im Dschungel wohnte. Der Junge hieß Mogli. Der Panther Baghira sollte Mogli zur Menschensiedlung bringen, weil der Tiger Schir Khan Mogli fressen wollte, aber Mogli wollte im Dschungel bleiben. Da waren aber auch die Schlange Kaa und der böse Affenkönig. Am besten war Balu, der Bär. Der schubberte sich mit rausgerissenen Palmen den Rücken, gab Mogli Boxunterricht und hielt Schir Khan am Schwanz fest, aber dann ging Mogli doch in die Menschensiedlung. Ich wäre lieber bei Balu geblieben, wenn ich Mogli gewesen wäre.
Ein Junge aus der zweiten Klasse war von einem Auto überfahren worden. Der habe nicht nach links und nicht nach rechts gekuckt, sagte Frau Kahlfuß, und jetzt sei er tot, und die Eltern würden sich die Augen aus dem Kopf weinen. Wir sollten bloß immer gut aufpassen!
Zur Beerdigung mußten wir alle hin. Der Unterricht fiel aus an dem Tag. Es hatte geschneit und gefroren, und auf dem Friedhof hatten die Bäume Eis an den Ästen.
Der Junge war schon im Himmel. Vor dem Grab, in das der Sarg kam, standen Frauen, die heulten. Frau Kahlfuß ging zwischen uns rum und achtete darauf, daß keiner Faxen machte.
Nach dem Fernsehkucken malte ich einen Indianer mit zwei lila Federn am Kopf und mit Messer und Speer im Gürtel, auf dem Weg vom Saloon zum Pferd. Volker malte einen Taucher mit Sauerstoffflaschen und Schwimmflossen. Im Fernsehen ließen sich die Taucher immer rückwärts im Sitzen vom Boot ins Wasser purzeln.
In meinem Zeugnis stand, daß ich einen guten Schulanfang gemacht hätte, aber ich solle mutiger sein und mich lebhafter am Unterricht beteiligen. »Martin kann mehr, als er denkt.«
Karneval ging ich als Cowboy, genau wie alle anderen Jungen in der Klasse, außer Dieter Aulich, der als König ging, mit einer Krone, die aus Pappe war und an der Klebestelle immer aufsprang.
Abends wurden auf dem Eßtisch Baupläne ausgerollt, und Papa knipste das Hausmodell.
Ingo hatte eine Streichholzschachtel aufgetrieben, Welthölzer, und wollte irgendwas in Brand stecken. Wir gingen die Schmidtenhöhe hoch. An der einen Seite war ein schneebedecktes Feld mit einer offenen Scheune hinten. In der Scheune war Stroh. Das zündeten wir an.
Das Stroh brannte gut. Ich lief nach draußen, um den Rauch zu sehen. Aus dem Scheunendach kam soviel Rauch raus, daß er meilenweit zu sehen sein mußte. Ich kriegte Angst und brach von dem harten Schnee vor der Scheune Stücke ab, die ich ins Feuer warf, aber davon rauchte es nur noch doller, und Ingo schmiß immer mehr brennende Streichhölzer ins Stroh.
Von der Straße bog ein Auto ab und fuhr zu uns. Ein Mann stieg aus, der mit uns schimpfte und mit einem Feuerlöscher Schaum auf das Feuer spritzte, bis es ausging.
Dann mußten wir im Auto mitkommen. Der Mann brachte uns in ein Büro, wo wir sagen sollten, wie wir hießen, wie unsere Eltern hießen und wo wir wohnten.
Als ich nachhause kam, schnupperte Mama an meinen Händen und sagte, ich würde nach Rauch stinken. Ob ich dafür eine Erklärung hätte. Ob ich irgendwo mit Feuer gespielt hätte?
Nein, hätte ich nicht.
»Du riechst aber so«, sagte Mama. »Geh dir die Pfoten waschen, du Ferkel.«
Am Fuß der blauen Berge.
High Chaparall durfte ich nicht kucken, weil das zu spät kam, aber dafür Percy Stuart. Da war schon die Erkennungsmelodie gut. Wenn des Nachts der Mond am Himmel steht und der Wind um dunkle Ecken weht, lauert, wie das immer so war, im schönsten Moment die große Gefahr!
Wenn ich Percy Stuart gewesen wäre, hätte ich alles genauso gemacht, aber ohne den affigen Diener. Uwe war auch für Percy Stuart und gegen den Diener. Percy Stuart, das ist unser Mann. Ein Mann, ein Mann, ein Mann, der alles kann!
Ich hatte Bauchweh. Mama steckte mich mit Wärmflasche ins Bett, aber die Wärmflasche half nicht, und ich mußte auf mein Schlafanzugoberteil brechen.
Mama brachte mich wieder zum Kinderarzt. Der kannte mich schon. Er drückte mir auf den Bauch, und ich sollte Aua sagen, wenn es wehtat, aber als es wehtat, schrie ich.
»Das ist der Blinddarm«, sagte der Kinderarzt.
Oma Jever hatte in Saarbrücken vor Gericht gemußt, als Zeugin, um in einem Prozeß gegen zwei Einbrecher auszusagen. Die waren bei Oma und Opa im Haus gewesen und hatten gesagt, daß sie von einer Behörde kämen und nachsehen müßten, ob Holzböcke im Dachstuhl seien. Dabei hatten sie nur die Wohnung auskundschaften wollen.
Für jede Stunde, die Oma wegen der Reise nicht als Hausfrau in Jever arbeiten konnte, kriegte sie von dem Gericht zwei Mark. Mama fand das zuwenig. Eine Verhohnepipelung sei das.
Oma sagte, sie habe mächtig Angst gehabt vor den Richtern, selbst als Zeugin. Aber davon abgesehen lebe sie mit Opa in Jever ihren ruhigen Stremel hin. Im Garten würden schon die Osterglocken blühen.
Ins Krankenhaus bekam ich meinen blaukarierten Schlafanzug mit. Ich hatte Blutgruppe AB.
In meinem Zimmer lagen noch zwei andere Jungs, die beide größer waren als ich. Kai und Peter. Kai hatte das Fußgelenk gebrochen und Peter die Mandeln rausgekriegt. Zu trinken kriegten wir Kamillentee, von dem mir übel wurde.
Morgens kamen zwei Frauen, Schwester Anneliese und Schwester Erika, um uns Fieberthermometer in den Po zu stecken. Ab einer bestimmten Temperatur würde man sterben.
Zum Frühstück gab es wieder Kamillentee, aber nur für Kai und Peter, weil ich operiert werden sollte.
Ich mußte aus dem Bett aufstehen und mich nackt ausziehen. Dann kriegte ich eine weiße Schürze an und durfte mich wieder hinlegen.
Schwester Anneliese schob mich im Bett auf den Flur. Wir fuhren im Fahrstuhl nach unten. Da setzte mir ein Arzt eine Maske auf die Nase. Ich wußte von Mama, daß das die Narkose war. Der Arzt würde jetzt gleich denken, daß ich betäubt sei von dem Chloroform, aber ich wollte wach bleiben und zukucken bei der Operation.
Dann hatte ich aber doch nichts mitgekriegt. Ich wachte auf und war schon operiert.
Die Blinddarmnarbe durfte ich mir nicht ankucken. Die Stelle war verbunden. Das habe Zeit, sagte Schwester Erika. Die Narbe würde ich mir noch mein ganzes Leben lang ankucken können.
Als Mama kam, sagte Schwester Erika, daß sechs Stiche genügt hätten. Mama hatte mir ein Spielzeugauto mitgebracht. Damit fuhr ich immer auf der Bettdecke lang.
Peter wollte auch mal das Auto haben. Ich wollte es aber nicht hergeben. Da kam er aus seinem Bett raus. »Achtung, Überfall!« rief er und riß mir das Auto weg.
Ich drehte mich auf die Seite und heulte ins Kopfkissen.
Als er fertiggespielt hatte, warf Peter mir das Auto wieder hin, aber ich wollte es nicht mehr haben.
Mama konnte ich nur zuflüstern, daß die Jungen in meinem Zimmer gemein seien, und Mama sagte, das sei nun mal leider so, daß es überall primitive Menschen gebe. Denen kehre man den verlängerten Rücken zu, das sei die einfachste Methode.
Als Peter entlassen worden war, kam in das leere Bett ein Junge mit Gipsbein rein. Helmut. Der war beim Klettern vom Baum gefallen und hatte sich an drei Stellen das linke Bein gebrochen. Das machte Helmut aber nicht viel aus. Er war auch mal vom Dach gefallen und hatte sich das andere Bein gebrochen, und einmal hatte er sich den linken Arm gebrochen.
In der Besuchszeit sagte die Mutter von Helmut zu Mama: »Ist Ihrer auch so ’n Wildfang?« Dann unterhielten sie sich darüber, was wir schon alles angerichtet hätten, und Helmut und ich grinsten uns an.
Gebrochen hatte ich mir aber noch nie was. Mama sagte, ihr sei schon oft das Herz stehengeblieben, wenn sie mir beim Klettern zugekuckt hätte, und gestürzt sei ich auch schon oft. Ich müsse wohl Gummiknochen haben.
Ich überlegte, was besser war, Gummiknochen haben oder sich was brechen.
Beim nächsten Besuch war Mama böse. Das sah ich gleich, als sie reinkam. »Ich hab ein Hühnchen mit dir zu rupfen«, sagte sie und holte einen Brief aus der Handtasche, in dem drinstand, daß Mama und Papa das verbrannte Stroh bezahlen müßten. Ingo Trinkleins Eltern hätten auch so einen Brief gekriegt.
Ich fing an zu heulen, aber Mama ließ nicht locker. Ob das eine Mutprobe gewesen sei oder bitte was? Und ob ich vorhätte, die ganze Familie unglücklich zu machen? Erst Dieb und dann Brandstifter! Das sei kein Dummejungenstreich mehr, das sei Kriminalität. »Ja, jetzt kuckst du bedripst!«
Von allen ihren Kindern hätte ich ihr immer den meisten Kummer gemacht.
Und das viele Geld! Ihr Leben lang hätten sie und Papa jeden Pfennig dreimal umgedreht, um irgendwann auf einen grünen Zweig zu kommen. Keinen krummen Nagel weggeworfen, und jetzt sowas.
Mit Ingo Trinklein sei Schluß. Der habe keinen guten Einfluß auf mich. Und ich übrigens auch nicht auf Ingo Trinklein, da seien dessen Eltern sich mit ihr und Papa einig. Sie hätten auch schon mit Frau Kahlfuß gesprochen. Die werde ein Auge auf uns haben.
Ob das klar sei. Ob wir uns verstanden hätten?
Mama ließ mir ein Buch von Tante Dagmar da. Eigentlich hätte ich das ja nicht verdient nach alledem, und ich mußte hoch und heilig versprechen, nie wieder was anzuzünden und künftig ein artiger Junge zu sein, der seinen Eltern auch mal Freude macht.
Als Mama gegangen war, sagte Kai, ich sei eine Heulsuse, und Helmut sagte: »Wenn du das noch einmal zu dem Kleinen sagst, polier ich dir die Fresse.« Da sagte Kai nichts mehr, obwohl er älter war und Helmut mit dem Gipsbein gar nicht aus dem Bett gekonnt hätte.
In dem Buch von Tante Dagmar war ein Bild von einem Mann, der miesepetrig aussah, weil er eine Glatze hatte, aber wenn man das Buch umdrehte, sah der Mann frohgelaunt aus, weil er oben Haare hatte, die andersrum nur die Barthaare waren: Sah Herr Stoppel sich im Spiegel, litt er große Seelenqual – unten war er wie ein Igel, oben aber gänzlich kahl. Eines Tages, liebe Leute, drehte er den Spiegel um, und da sah er voller Freude seine neue Haarfrisur!
Meine Blinddarmnarbe war ein weißer Strich mit Punkten an beiden Seiten, und Mama schärfte mir ein, daß ich mich nicht gleich wie wild bewegen dürfe, sonst gehe die Narbe wieder auf.
Die Narbe wollten alle sehen, auch Papa. Ich hatte Angst, wegen der Scheune übers Knie gelegt zu werden, aber von der Scheune wurde nicht mehr geredet.
Was ich für die Schule aufholen mußte, brachte Mama mir bei. Das Dehnungs-h in Kohl, Kuh, mehr, Möhren, Ohr, sehr, weh und Zeh.
Auf dem Schulhof war es jetzt Mode, andere mit auf den Bauch geschnalltem Ranzen anzurempeln, aber ich wollte nicht mitmachen, wegen meiner Blinddarmnarbe.
Mit Ingo Trinklein traf ich mich in der Pause an der Stelle, wo immer die Schulbrote hingeschmissen wurden. Seine Eltern hätten ihm verboten, sich mit mir zu verabreden, sagte Ingo. Er werde sonst ins Internat kommen, das sei Scheiße. Aber die Scheune habe schon toll gebrannt.
Weil die Wohnzimmerjalousie klemmte, schraubte Papa den Deckel ab. Im Jalousiekasten lag ein Spatz, der noch nicht flügge war. Ein erwachsener Spatz war mit dem Nest in der Jalousie eingerollt worden und totgegangen.
Der kleine Spatz war nackt und piepte. Papa holte eine Styroporschachtel aus dem Keller. Der Spatz kam in die Schachtel und die Schachtel auf den Kleiderschrank im Nähzimmer.
Wir fütterten den Spatzen mit Brotkrümeln. Papa bot ihm auch einen Regenwurm an, aber den mochte der Spatz nicht.
Nach der Schule lief ich immer gleich ins Nähzimmer. Der Spatz aß nicht viel. Er wurde immer schwächer. Der hätte Fäden dranhaben müssen, wie der Spatz vom Wallrafplatz, um sich zu bewegen.
Dann war er tot, und wir beerdigten ihn im Garten.
Von der Styroporschachtel waren zwei Ecken abgebrochen. Es quietschte, wenn man die Stücke aneinander rieb, und Renate kriegte Gänsehaut davon und hielt sich die Ohren zu. Renate wußte, daß ich unter den Armen und am Rücken kitzelig war. Sie selbst war nirgendwo kitzelig, aber jetzt hatte ich raus, wie ich mich fürs Kitzeln an ihr rächen konnte.
Im Wäldchen fand ich einen Ast, der wie der Buchstabe V aussah. V wie Volker. Ich legte den Ast auf einen Weg und versteckte mich im Gebüsch. Wenn Volker zufällig da langlief, würde er den Ast sehen und sich wundern, daß der wie ein V aussah, und dann würde ich aus dem Gebüsch kommen und Volker verraten, daß ich den Ast da hingelegt hätte.
Ich wartete lange, aber Volker kam nicht.
Abends machten Mama und Papa eine Flasche Sekt auf, weil sie die Baugenehmigung gekriegt hatten. »Na endlich«, sagte Mama, »nach dem ganzen Ämtergerenne ewig! Mein lieber Herr Gesangverein!«
Von dem Sekt mußte Papa rülpsen.
Jetzt würden wir bald in unser eigenes Haus ziehen, mit einem eigenen Zimmer für jeden und mit einem Hobbyraum, in dem wir Fußball spielen könnten. Oder Rugby, noch brutaler.
In der Schule schrieb Frau Kahlfuß was an die Tafel, das wir abschreiben sollten. Hans und Suse laufen in den Garten. Das Nest unter dem Strauch ist leer. Das Nest am Zaun ist leer. Da ruft der Vater: »Sucht doch einmal im Zimmer.«
Mama, Renate, Wiebke und ich saßen am Eßtisch und malten Ostereier an, als ein fremder Mann durch die offene Terrassentür reinkam. Auf den Armen trug er Volker, der ganz blutig war.
»Ist das Ihrer?« fragte der Mann.
»Ogottogott, ja!« rief Mama.
Der Mann legte Volker aufs Wohnzimmersofa. Volker war mit seinem Fahrrad Kindern ausgewichen, mit Karacho gegen eine Mauer geknallt und über den Lenker geflogen.
Mama wischte das Blut von Volkers Stirn und tupfte Jod auf die Wunde. Nach einer Stunde konnte Volker wieder sitzen und Renate helfen, Eier auszublasen.
Als ich im Fernsehen einen Bumerangwerfer gesehen hatte, bat ich Mama, mir einen Bumerang mitzubringen, und sie brachte wirklich einen mit vom Einkaufen und dazu Baisers, die weiß und süß waren und knackten, wenn man reinbiß.
Der Bumerang war orange und aus Plastik. Ich ging damit auf die Wiese vorm Wäldchen, aber ich warf ihn falsch, denn er plumpste immer runter.
Ein fremder Junge kam vorbei und machte mir vor, wie man werfen mußte. Bei dem kam der Bumerang, nachdem er hoch übers Wäldchen geflogen war, bis vor die Füße zurück, und der Junge stoppte den Bumerang mit dem Schuh.
Ich wollte das nachmachen, aber bei mir flog der Bumerang in ein Dornengestrüpp, und da kriegte ich ihn nicht mehr raus.
Zu meinem Geburtstag wollte ich Tom Sawyer und Huckleberry Finn einladen, aber Mama sagte, die seien schon viel älter als im Fernsehen und außerdem Ausländer. Die könnten gar kein Deutsch.
Wenn das so war, wollte ich meinen Geburtstag überhaupt nicht feiern. Ich knallte die Zimmertür hinter mir zu und heulte in den gelbroten, kratzigen Vorhangstoff.
Komm, lieber Mai, und mache.
Renate schenkte mir zum Geburtstag ein Taschenbuch, das ich schon fast ganz alleine lesen konnte. Der Riese Nimmersatt. Im Nimmerleinsland, weit hinter Berg und Meer, wohnte ein Riese. So groß war er, daß Büsche und Bäume ringsum rauschten, wenn er nur ein Augenlid bewegte.
In dem Buch stand auch die Geschichte von dem Riesenapfel. Der mußte mit Stöcken gestützt werden und fiel irgendwann mit großem Gepolter vom Baum, kullerte den Hang runter, wurde von einem Fluß fortgeschwemmt und von einem armen Familienvater geangelt, der mit dem Apfel die ganze Familie sattmachen konnte.
In einer anderen Geschichte kam ein Königssohn vor, der immer lachen mußte. Der wohnte im Königreich Balabaschi und kriegte Pfefferklöße in den Mund geschossen, damit er mit dem Lachen aufhörte. Der Schütze erhielt dafür den Orden vom goldenen Kloß.
Wir mußten ein Diktat schreiben: Hans will Holz hacken. Aber er ist so dumm. Er hackt sich in die Hand. Oh – das tut weh! Hans schreit: Mutter! Mutter! Da kommt schon die Mutter: Lotte, lauf schnell zum Doktor! Der Herr Doktor kommt. Er verbindet die Hand.
Hans muß sechs Tage im Bett bleiben. Und der Herr Doktor sagt: Beil und Messer, Scher und Licht sind fürs dumme Hänschen nicht!
Dann las Frau Kahlfuß uns die Geschichte von der Rübe vor, die alle starken Tiere vergeblich aus dem Acker zu ziehen versuchten, und dann kam ein Spatz und flatterte mit der Rübe im Schnabel davon.
Im Sprachbuch war eine Seite, auf der wir alle Buchstaben ausmalen konnten, die wir durchgenommen hatten. Wie wohl das große Eszett oder Rucksack-S aussah. Das kleine war schon drangewesen. Als alles ausgemalt war, fehlte immer noch das große Eszett. Ich fragte Frau Kahlfuß danach, und sie sagte, das gebe es nicht. Es gebe nur das kleine Eszett.
Das war der größte Beschiß, den die Welt je erlebt hatte.
Auf unserem Grundstück auf dem Mallendarer Berg wurden die Fundamentgräben ausgehoben. Stein auf Stein, Stein auf Stein, das Häuschen wird bald fertig sein.
Einmal kam ich abends an einem Fenster vorbei, aus dem ein Mädchen mit braunen Zöpfen rauskuckte. Das Mädchen war schon im Schlafanzug und sagte: »Ich heiße Daniela.«
An den nächsten Abenden ging ich immer an dem Fenster vorbei, aber Daniela sah ich nicht wieder.
Um irgendwas zu machen, tippte ich auf Mamas Schreibmaschine in Geheimschrift einen Brief an Daniela.
Cjvb kzui qwrcf hjq34hjkg xxfhjhui!
Den Brief steckte ich in einen der Briefkästen an Danielas Haus.
Zum Muttertag malte ich für Mama ein Bild mit Kuchen, Kaffeekanne und Kaffeetasse. Am schwierigsten war der Löffel, aber Mama fand, daß ich den besonders gut gemalt hätte: »Mich laust der Affe!«
Ceh, ah, eff, eff, eh, eh, trink nicht soviel Kaffee, nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blaß und krank. Der Tchibo-Experte in der Reklame war aber dick und fett.
Für Mama war das Lenorgewissen interessanter, das aus der Hausfrau mit den falsch gewaschenen Pullovern rauskam.
Es knackte, wenn Papa Gewürzgurken und Radieschen aß. Er trank Bier dazu und sagte, daß es mit dem Kellerfußboden im neuen Haus doch länger dauern werde als geplant.
Dann durfte ich zum ersten Mal Aktenzeichen XY ungelöst kucken. Da sah man, wie eine Witwe in den Abendstunden in ihrem abgelegenen Haus ermordet aufgefunden wurde. Die Wohnung war durchwühlt. Kurz vorher war in einem Wochenendhaus in der Nähe eingebrochen worden. Der Täter hatte aus unbekannten Gründen in dem Haus Schüsse abgefeuert, und die Untersuchung hatte ergeben, daß die Projektile aus derselben Waffe stammten, mit der die Witwe totgeschossen worden war. Es mußte eine Beziehung zwischen den Verbrechen geben.
Aus dem Wochenendhaus hatte der Täter zwei Kofferradios und eine Pistole gestohlen. Die Kofferradios sollten auf die Spur des Mörders führen.
Danach kam was über eine Putzfrau, die vornehmlich im norddeutschen Raum Geld stahl, und danach was über einen Räuber, der aus dem Gefängnis geflohen war. Seit dem Ausbruch häuften sich im süddeutschen Raum Straftaten, die die Handschrift des Räubers trugen.
Mama sagte, daß wir weder zum süddeutschen noch zum norddeutschen Raum gehörten. Koblenz liege so dazwischen.
An Himmelfahrt fuhren wir alle zur Baustelle. Jetzt waren auch schon die Kellermauern gebaut worden. Mama zeigte uns, wo der Hobbyraum hinkommen sollte, und Papa sagte, daß ihm die Kaminmaße spanisch vorkämen.
»Müßt ihr hier so rumbirsen?«
Eltern haften für ihre Kinder.
Der Kamin mußte wieder eingerissen werden, und dann hatten die Halsabschneider uns noch vierzig Kubikmeter Erdaushub zuviel berechnet.
Am liebsten würde er alles selbst machen, sagte Papa. Dann könne er sicher sein, daß ihn keiner bescheißt.
Das nächste Mal fuhren wir zur Baustelle, als Tante Dagmar und Tante Hanna zu Besuch waren. Tante Hanna ging am Stock. Sie war die jüngere Schwester von Oma Schlosser und sagte Jungchen zu Volker und zu mir, aber auch zu Papa.
Die Kellerdecke mußte noch eingeschalt werden. Was eingeschalt werden war, wußte ich nicht.
Mama sagte, mit viel Phantasie könne man sich jetzt auch den künftigen Garten vorstellen.
Es war auch ein Wald da. Nur eine kurze Straße runter vorm Haus, dann fing er an.
Wir sollten ein Gedicht auswendig lernen. Vom Himmel fällt der Regen und macht die Erde naß, die Steine auf den Wegen, die Blumen und das Gras. Die Sonne macht die Runde im altgewohnten Lauf und saugt mit ihrem Munde das Wasser wieder auf.
Wenn die Sonne knallte, ließ Mama die Eßzimmerjalousie halb runter, und man konnte Staubfäden in den Sonnenstrahlen schweben sehen, die durch die Jalousieritzen fielen.
Im Küchenradio sang Heintje, und Mama suchte einen anderen Sender, weil sie Heintje nicht verknusen konnte. Der singe nur Schnulzen für Krethi und Plethi. Demnächst werde er in den Stimmbruch kommen, dann hätten wir’s hoffentlich überstanden.
In den Stimmbruch komme jeder Junge irgendwann. Man werde heiser und könne vorübergehend nur kieksen und krächzen, und dann habe man eine tiefe Männerstimme. Das tue nicht weh.
Abends saß Papa über den Dachstuhlplänen. Auf der Baustelle stehe jetzt ein Kran, und bald würden die Erdgeschoßmauern hochgezogen.
Im Ersten kam Schlager für Schlappohren, aber Volker überredete mich, den Wildwestfilm im Zweiten zu kucken. Der war mit einem Jungen, der von einem Kopfgeldjäger ein Pferd geschenkt kriegte und noch einen Hund dazu.
Ein Pferd hätten wir hier gut im Garten halten können. Ein Pferd wäre mir auch lieber gewesen als ein Wellensittich, weil acht von zehn Sittichen an lebensgefährlicher Vergrößerung der Schilddrüse litten und mit Jod-S-11-Körnchen von Trill davor geschützt werden mußten. Millionen Sittichfreunde wissen es: Trill schützt das Leben Ihres Sittichs!
Im Reklameraten war Wiebke besser geworden. Sie erkannte jetzt schon immer gleich den Essotiger, Sanso, Ajax weißer Wirbelwind mit Salmiak plus und die Bellindamädchen mit den Feinstrumpfhosen.
Wenn der Ozean nicht zu Ihnen kommt, holen Sie ihn doch – mit der wilden Frische der marmorierten Fa! Marmoriert war ein Wort, das auch in Bolle reist’ jüngst zu Pfingsten vorkam: Das eine Auge blutig, das andre marmoriert, aber dennoch hat sich Bolle ganz prächtig amüsiert.
Das beste war das HB-Männchen, das brabbelte und in die Luft ging, bevor es zur HB griff. HB rauchen heißt frohen Herzens genießen. Das HB-Männchen kämpfte mit tropfenden Wasserhähnen und wegflutschenden Seifenstücken, verhedderte sich in Sonnenschirmen, Wäscheleinen, Stromkabeln und Teppichen, blieb an Türklinken hängen, stieß Geschirrstapel um und trat in Farbeimer und Marmeladentöpfe.
Schlechter als das HB-Männchen hatte es aber Klementine, die immer mit einer Arieltrommel bewaffnet in Waschküchen rumlaufen und sich da mit Hausfrauen über synthetische Wäsche und eingetrockneten Schmutz unterhalten mußte. Oder der Reporter von Omo, der als Beruf hatte, Hausfrauen zu fragen, was für sie das besondere an Omo sei. Oder Meister Proper. Der mußte jedesmal, wenn eine Hausfrau nach ihm rief, angeflitzt kommen und alles so sauber putzen, daß man sich drin spiegeln konnte.
Im Ersten kam jetzt immer Skippy, das Känguruh. Das spielte auf der anderen Seite der Erde, wo die Leute und die Tiere nur wegen der Erdanziehungskraft nicht ins Weltall fielen. Bei denen war der Himmel unten, und die Erde war oben.
Spannend waren auch Yancy Derringer und Renn, Buddy, renn! Yanci Derringer war Geheimagent, und Buddy, hinter dem ein Gangstersyndikat her war, rannte auch unter Wasser weiter.
Onkel Dietrich brachte Oma Schlosser, die in Afrika gewesen war, vom Flughafen in Frankfurt mit dem Auto nach Koblenz.
»Na, du Räuber«, sagte Onkel Dietrich und kniff mich in die Seite. Dann gab er mir eine rotweiß gestreifte Zuckerstange zum Lutschen.
Wir fuhren alle zur Baustelle. Das Haus war schon bis zum Dachgeschoß fertig, aber in den Kamin war Beton gekleckert und festgebacken.
Nun müßten schleunigst neue Gelder ins Rollen gebracht werden, sagte Mama.