Читать книгу Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band - Gerhard Henschel - Страница 9

Jugendroman

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Die Sonne bollerte ins Zimmer, und als ich mich auf die andere Seite drehte, knarrte das Bettgestell. Ich rieb mir die Augen und gähnte ein Stück Tapete an, das ich nie zuvor gesehen hatte.

Ach du Schreck – jetzt war ich ja in Meppen! In unserem neuen Haus, das ich noch gar nicht kannte, weil ich den Umzug nicht miterlebt hatte und danach erst spätabends aus Jever abgeholt worden war.

Nichts wie raus aus der Kiste! Hastig frühstücken und sich dann alles ansehen, von oben bis unten.

Von meinem Zimmer konnte ich durchs Fenster auf den Balkon klettern. Volker wohnte links nebenan und verfügte über eine Balkontür, weil er drei Jahre älter war als ich und das bessere Zimmer gleich mit Beschlag belegt hatte. Seins war auch viel größer als meins.

»Untersteh dich, hier durchs Fenster zu steigen!« rief Mama, als sie mit dem Staubsauger nach oben kam. »Schluß damit!« Das war das Ende meiner Karriere als Fassadenkletterer und zugleich der Beginn meiner Laufbahn als ruhmloser Einwohner einer emsländischen Kleinstadt.

Den Auszug aus unserem Eigenheim auf dem Mallendarer Berg in Vallendar bei Koblenz hatte Mama uns damit schmackhaft zu machen versucht, daß wir es von Meppen aus nicht mehr so weit zu Oma und Opa Jever hätten. Das stimmte: Früher hatten wir regelmäßig sechs Stunden lang im vollgefurzten Pkw gehockt oder in überfüllten Zügen, und von hier aus würde die Fahrt bloß noch knapp zwei Stunden dauern.

Das Haus hatten Mama und Papa vom Bund gemietet. Georg-Wesener-Straße 47.

Im oberen Flur gab es außer dem Elternschlafzimmer und Renates, Volkers, Wiebkes und meinem Zimmer ein Bad mit Wanne und Waschbecken und ein Klo mit Waschbecken und Dusche. Zum Dachboden führte eine steile Holztreppe hoch, die man mit einem Hakenstiel nach unten klappen und dann ausfahren mußte, wenn man da raufwollte. Dabei mußte man aber aufpassen, daß einem die Leiter beim Herunterklappen nicht in die Fresse donnerte. Da oben hatten Mama und Papa nach dem Umzug allen Kraßel abgestellt, mit dem sie auch schon in unserem alten Haus nicht gewußt hatten wohin.

Verboten war es, vom Balkon in den Garten zu hopsen oder auf die von Papa übertapezierten Klingeln in den Kinderzimmern zu drücken: Wenn man das tat, bimmelte es unten in der Küche. Damit hatten einstige Hausbewohner ihr Personal alarmiert.

Im Erdgeschoß standen einem da und dort noch unausgepackte Umzugskartons im Weg. Hinter der Küche war eine kleine Vorratskammer versteckt.

Das Klavier thronte im Eßzimmer. Aber was heißt Eßzimmer? Das war ein offenes Durchgangszimmer, rechts vom Flur neben der Küche, und hinter dem Eßzimmer fing das Wohnzimmer an und noch einmal rechts davon, hinter einer Schiebetür, Papas Arbeitszimmer, fast so wie in unserem alten Haus. Die Scheißumzieherei verdankten wir dem Umstand, daß Papa als Ingenieur bei der Erprobungsstelle der Bundeswehr in Meppen bessere berufliche Aufstiegsmöglichkeiten hatte als beim Koblenzer Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung.

Durch eine andere Tür gelangte man aus Papas Büro wieder auf den Flur. Rechts zweigte dann ein Weg zu einem weiteren Klosett ab und vorn ein sogenannter Windfang zur offiziellen Haustür, der zur Begrüßung von Gästen und zum Abstellen von deren Regenschirmen dienen sollte. Einfacher war es, die Seitentür zwischen Küche und Eßzimmer zu benutzen.

Im Keller hatte Papa die Regale des Vormieters abgerissen, neue angedübelt und sein vieles Werkzeug in drei Räumen ausgebreitet. Es gab auch einen großen Trockenraum da unten, in dem es faulig stank, so als ob da einer in den Gulli geschissen hätte.

Die Fenster im Erdgeschoß und im ersten Stock waren alle doppelt. Wenn man eins aufgemacht hatte, war dahinter noch eins.

An den hölzernen Spalieren über den Bögen der Mäuerchen an der Gartenterrasse rankten Kletterrosen empor. Im Garten wuchsen, nach Mamas Zählung, insgesamt sechzig Pflaumenbäume, Kirschbäume, Birnbäume, Apfelbäume und Birken. Die Grundstücksgrenze wurde von einer Hecke gebildet, und links nebenan wohnte ein ruhebedürftiges älteres Ehepaar namens Dr. Schmölders und Gemahlin.

Papa hatte sich einen fabrikneuen Bezinrasenmäher angeschafft und wuchtete dieses brüllende Monstrum über die Grasfläche.

Durch den Briefschlitz in der Haustür vorm Windfang steckte der Postbote mittags eine an mich adressierte Ansichtskarte, die mir mein alter Kumpel Michael Gerlach geschrieben hatte. Vornedrauf war ein Luftbild von Rethem an der Aller zu sehen.

Hallöchen, Martin! Jetzt bin ich in den Ferien doch noch mal weggekommen. Rat mal, wohin: in den hohen Norden. Genau wie Du. Ätsch. Das Dorf, in dem ich wohne, heißt Großhäuslingen. Das liegt bei Verden an der Aller, gleich rechts von Deinem Meppen. Und ’nen Hund haben die hier, wo ich wohne! Meine Güte! Das ist ein lebendiges Vieh! Gerade eben erst ist er im Wohnzimmer aufs Sofa gesprungen, um Schokolade zu kriegen. Mit dem Charly, einem Pony, das ebenfalls meiner Tante gehört, bei der ich wohne, spielt der Hund immer Nachlaufen. Auf dem Pferd bin ich schon geritten, aber mit wenig Erfolg. Ich bin gleich runtergeflogen. Na, denn tschüß, Du Blödmann.

Michael Gerlach war in Vallendar seit der Grundschule mein bester Freund gewesen. Ich wollte ihm gleich zurückschreiben und suchte in Papas Büro nach Papier.

»Du kannst einem den letzten Nerv rauben«, rief Mama. »Mußt du hier rumbirsen wie so ’n wildgewordener Handfeger?«

Um Mamas Nervenkostüm zu schonen, unternahm ich mit Renates Klapprad eine Erkundungstour in die Umgebung. Schräg neben unserem neuen Haus ragte das Maristengymnasium auf und ein paar hundert Meter weiter hinten an der Straße das legendäre Hindenburgstadion des SV Meppen, der in der Oberliga Nord in der letzten Saison den dritten Platz erklommen hatte.

Da durfte man einfach so reinspazieren. Das Stadion auf dem Mallendarer Berg war viel kleiner, aber das in Koblenz-Oberwerth konnte sich durchaus messen mit dem hier, das auch eine Tribüne hatte.

Hier würde ich mir also meine Sporen als Jugendspieler verdienen, erst auf Schlacke, dann auf Rasen, und wenn ich mich ranhielt, hatte ich gute Chancen, vielleicht schon zur Europameisterschaft 1980 in die Nationalelf berufen zu werden, in fünf Jahren, als Achtzehnjähriger. Abiturvorbereitungen hin oder her. Wenn Mama und Papa sich dann auf die Hinterbeine stellen sollten, wäre ich als Volljähriger trotzdem dazu berechtigt, die Einladung des DFB anzunehmen und im EM-Finale den entscheidenden Elfer zu schießen. Pelé hatte sogar schon als Sechzehnjähriger für Brasilien gespielt.

Hinter dem Stadion zweigten verschiedene schmale Waldwege ab, und sobald man querfeldein fuhr, stieß man an den Zaun der E-Stelle und auf Schilder mit dem Hinweis, daß das Fotografieren verboten sei, obwohl es hinter dem Zaun auch nichts Dolleres zu sehen gab als Nadelbäume, Birken, Sträucher und Sand.

Das Gute an dem Wald war, daß es da nicht so steil auf- und abging wie im Vallendarer Wambachtal. Die paar Steigungen konnte man spielend mit dem Rad bewältigen, ohne absteigen und schieben zu müssen, und überall verliefen Trampelpfade. Es würde noch ein Momentchen dauern, bis ich die alle erkundet hatte.

Von unserem Haus aus führte ein holperiger, von Baumwurzeln aufgerissener Radweg an der Herzog-Arenberg-Straße entlang in Richtung Innenstadt, aber da hielten einen zwei schwere Verkehrshindernisse auf. Das erste war ein beschrankter Bahnübergang. Ich kam gerade auf dem Klapprad angepeest, als die Schranken runtergingen, mit Alarm. Pingeling, pingeling! Nachdem der Schrankenwärter die Schranken runtergekurbelt hatte, vergingen ungefähr dreihundert Jahre, in denen man sich die Titelbilder der Heftchen ankucken konnte, die ein Kioskbesitzer da ausgehängt hatte. Dann zockelte in Zeitlupe ein vorsintflutliches Schienenfahrzeug vorüber, aber die Schranken blieben unten. Nach weiteren dreihundert Jahren rollte dann von links ein Güterzug mit schätzungsweise zehn Milliarden Anhängern heran.

Kattung, kattung, kattung, kattung …

Als der Güterzug endlich bis zum letzten Waggon vorübergerollt war, machten die Autofahrer vorne in der Warteschlange den Motor wieder an, aber die Schranken blieben geschlossen. Was sollte denn jetzt noch kommen?

Nach ich weiß nicht wievielen Jahrtausenden näherte sich von rechts ein Personenzug, der sich im Schneckentempo auf den Meppener Bahnhof zubewegte. Zur allgemeinen Verwunderung kurbelte der Schrankenwärter die Schranken schon drei Monate danach wieder hoch.

Pingeling, pingeling …

Der nächste Verkehrsstau bildete sich vor der Hubbrücke. Wenn die sich für größere Pötte im Schiffsverkehr öffnete, stand der Autodurchgangsverkehr solange still. Für Radfahrer und Fußgänger existierte ein seitlich gelegener Überweg. Da mußte ich das Klapprad hinaufschleppen und am anderen Ende wieder nach unten. Wenn ich den Stadtplan richtig verstanden hatte, floß unter dieser Brücke die Hase hindurch und mündete ein Stück weiter rechts in die Ems.

In der Innenstadt besah ich mir den Brunnen, das Kaufhaus Ceka und Meppens ganzen Stolz, das olle Rathaus. Das war auf neunzig von hundert Ansichtskarten abgebildet.

Links daneben lauerte das Kreisgymnasium Meppen auf mich, mit einer eigenen Kirche und einem geteerten Schulhof, auf den ich vom Hoftor aus einen Blick riskierte. Als Protestanten, hatte Papa gesagt, würden wir auch im Emsland in der Diaspora leben, so wie ehedem im Rheinland.

Am späten Nachmittag radelte ich noch einmal raus, in das Waldstück hinterm Stadion, und da hockte ein Kaninchenrudel und mümmelte Unkraut. Wenn man in die Hände klatschte, hoppelten ein paar von den Kaninchen weg, aber nicht weit. Um sie in die Gänge zu bringen, mußte man mit schrillem Geklingel auf sie zugefahren kommen, mitten hinein in die Meute. Dann spritzte die ganze Bande auseinander und verteilte sich im Unterholz. Rennen konnten sie ja gut, die Karnickel, aber so schreckhaft wie die hätte ich nicht sein wollen.

Meine Starschnitte von Seeler, Grabowski und Bonhof hatten den Umzug glimpflich überstanden, mit kleineren Macken zwar, aber im großen und ganzen doch so heile, daß ich sie in meinem neuen Zimmer wieder aufhängen konnte.

Mamas und Papas altes Radio, das schon in Vallendar die größte Zierde meines Zimmers gewesen war, stand auf dem einen Schiebetürenschrank.

»Dreimal umziehen ist wie einmal abgebrannt«, hatte Papas Tante Hanna mal gesagt, die 1945 die Flucht aus Ostpreußen überstanden hatte und jetzt als Rentnerin im Allgäu residierte. Wir waren schon viermal umgezogen, seit ich auf der Welt war: zwei Jahre nach meiner Geburt von Hannover nach Koblenz-Lützel, dann in das Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe, 1970 in unser Eigenheim auf dem Mallendarer Berg in Vallendar bei Koblenz und jetzt nach Meppen. Am öftesten von uns allen war Papa umgezogen. Geboren worden war er in Schwarzenau und großgeworden in Schirwindt, einem ostpreußischen Kuhdorf an der litauischen Grenze, in das Papas Vater als Pfarrer versetzt worden war, und dann in Marienwerder. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft hatte Papa sich von Petrosawodsk, irgendwo in Rußland, bis nach Cottbus durchgeschlagen, zu Verwandten, und Ende 1945 zu seinen nach Jever geflüchteten Eltern und Geschwistern, und von Jever war’s nach dem Abitur nach Hannover gegangen, wo Papa sich als Maschinenbaustudent in Mama, die er schon aus Jever kannte, verliebt hatte, und dann hatten Mama und Papa noch x-mal ihre Mietwohnungen gewechselt …

Meppen war die Endstation. Hier würden wir bleiben, bis auf Renate, die nach ihrem bestandenen Abitur eine Hausfrauenschule besuchen wollte, in Birkelbach, um da Kochen, Backen und Bettenmachen zu lernen. In Maidentracht, mit allem Drum und Dran. Dazu hatte Renate sich von Oma Schlosser überreden lassen. In Birkelbach war Oma Schlosser ihrerseits nach dem Ersten Weltkrieg zur Hausfrau ausgebildet worden. Das Trachtenzubehör hatte Renate bereits beisammen, und als Oma Schlosser uns besuchte, nähte sie in jeden Fetzen ein Namensschildchen: Schlosser, Schlosser, Schlosser, Schlosser …

36 Stück.

In Meppen würden auch wir anderen das Abitur machen: Volker 1979, ich 1981 und Wiebke 1985, frühestens, wenn keiner von uns klebenblieb. Bei Wiebke wußte man nie, ob sie wirklich so doof war, wie sie aussah, in ihren kreischbunten Helancastrumpfhosen, oder ob sie sich nur aus Durchtriebenheit so dämlich anstellte, daß am Ende immer ich die Senge kriegte.

Renates Klapprad war das einzige Fahrrad, das keinen Platten hatte, und damit es nicht geklaut wurde, mußte es abends in den Keller getragen werden. Der Arschkeks, der das tun mußte, weil tagsüber außer mir kein anderer das Rad benutzt hatte, war meistens ich.

Wahrhaft eklig war die Stubenfliegenplage. Sowas hatten wir noch nicht erlebt in Rheinland-Pfalz. Da war ab und zu einmal ein Exemplar um die Stehlampe gekreist, oder es hatte sich eins in der Küche zwischen Gardine und Fensterscheibe verirrt. In Meppen surrten Myriaden der dicksten Brummer durchs Haus, gefolgt von leichteren Schwadronen mit grauem Bauch und fickrigem Flugverhalten. In der Küche burrselten sie über den Kochtöpfen, krabbelten über den dreckigen Mülleimerschwingdeckel, lutschten das Fett von den Kacheln ab und nuckelten am Obst, und wenn man beim Essen nicht wild genug mit den Händen wedelte, kamen die Fliegen angeschnurrt und setzten sich kackfrech auf jeden Gabelbissen. Auf einem Spiegeleidotter, das ich mir bis zum Schluß aufgehoben hatte, ließ sich einmal, als ich mir das ins Maul schieben wollte, eine Fliege nieder und tunkte vor meinen Augen den Saugrüssel ins Eigelb. Das hätte sich auch Mahatma Gandhi nicht bieten lassen.

Mit eingerollten Zeitungen brauchte man den Fliegen allerdings nicht zu kommen. Selbst wenn man sich bis auf kurze Distanz herangepirscht hatte, rieben die sich, was ich besonders widerlich fand, noch genüßlich die Vorderbeine, und dann gingen die Mistviecher plötzlich geduckt in Startposition, so als ob sie den Braten gerochen hätten, und sobald man zuschlug, waren sie abgezwitschert.

Volker fand heraus, mit welcher Waffe wir die Fliegen schlagen konnten: Einmachgummis. Wenn man die straff über den Daumen spannte und genau genug zielte, hatte keine Fliege, die da irgendwo an der Fensterscheibe saß und sich alles mögliche auf ihre natürliche Reaktionsgeschwindigkeit einbildete, die geringste Chance. Selbst aus vier bis fünf Metern Entfernung schlugen die Einmachgummis blutige Schneisen in das Dickicht der Fliegenpopulation.

Wir gingen im ganzen Haus auf die Jagd und zerdötschten Hunderte von den Biestern. Einem bumsenden Fliegenpärchen, das im Freistil durch Papas Arbeitszimmer propellerte, gab Volker im Liegen mit einem Kunstschuß den Rest, wobei auch die Zimmerdecke einen Spritzer abkriegte, und wir hatten eine Weile damit zu tun, die Spuren zu beseitigen.

Unser Verschleiß an Einmachgummis war groß, weil die meisten davon nach einem Volltreffer mit Innereien beschmiert waren und mit spitzen Fingern zur Mülltonne getragen werden mußten.

Mama fiel irgendwann auf, daß ihr Einmachgummivorrat zur Neige ging, und als sie dahinterkam, woran das lag, untersagte sie Volker und mir die Fliegenjagd, aber wir machten trotzdem weiter, heimlich, bis Oma Schlosser uns dabei ertappte: »Hat die Mutter euch denn nicht verboten, hier mit diesen Gummis rumzuflitschen?«

Oma Schlosser trug sich mit dem Gedanken, in eine Wohnung in Meppen zu ziehen, wegen der guten Luft und der Nähe zu Papa, Omas Kronensohn. Es gefalle ihr gut in dieser betriebsfernen Einsamkeit, sagte Oma.

Wenn nachmittags die Spülmaschine lief und es sonst nichts zu tun gab, setzte Oma sich an den Eßtisch und legte Patiencen. Das waren Kartenspiele, die man solo hinter sich bringen mußte, mit dem Kartenhaufen als einzigem Gegner. Zur Geduldsübung. Aber wozu sollte man sich in Geduld üben, wenn man ungeduldig war und Abenteuer erleben wollte, draußen, Ende Juli, in den letzten, brüllend heißen Tagen der Sommerferien?

Oma Schlosser wollte gern mal wieder nach Afrika, nach Deutsch-Südwest, zu einer Jugendfreundin, Wilma von Hammerstein, die dahin ausgewandert war und eine Farm besaß, aber als nächstes mußte Oma zu einem Internisten nach Mettmann.

Sie lud mich dazu ein, mit ihr etwas Vierhändiges am Klavier einzuüben, von Diabelli, aber das ging über meine Kräfte. Da strampelte ich lieber auf dem Klapprad durch die Jagdgründe der Karnickel oder quer durch die Stadt und über die Emsbrücke nach Esterfeld und in andere, noch unbekannte Stadtteile.

Weil der Waschmaschinenschlauch geborsten war und das bestellte Ersatzteil fehlte, mußte Mama unsere sämtliche Kledage von Hand waschen, und weil die Wäscheklammern nicht ausreichten, wurde ich losgeschickt, neue kaufen.

Wiebke wollte mitkommen. Das hatte mir gerade noch gefehlt, diese dumme Nuß bei bengalischer Hitze auf dem Klapprad mitnehmen zu müssen, aber wenn ich stur geblieben wäre, hätte Wiebke losgeheult, und dann wäre Mama mir aufs Dach gestiegen.

Mit Wiebke hintendrauf gondelte ich zu einem Supermarkt in der Haselünner Straße. Wenn man da Wäscheklammern kaufen konnte, dann hatten sie die gut versteckt. Ich hühnerte zehnmal durch den ganzen Laden, ohne welche zu finden, und als ich zum elften Mal an der Eistruhe ankam, holte ich da zwei Eis zu fünfzig Pfennig raus, bezahlte sie an der Kasse mit meinem eigenen Taschengeld und spendierte Wiebke das eine davon. Da konnte sie mal sehen, was für einen generösen großen Bruder sie hatte.

Wir wollten gerade den Laden verlassen, als ein ohrenbetäubender Knall erschallte. Ob da jemand geschossen hatte?

Irrtum. In der prallen Sommerhitze war der Schlauch im Hinterreifen von Renates Klapprad geplatzt. Und ich durfte das platte Rad nachhause schieben.

Schläuche würden nicht so einfach platzen, sagte Papa. »Wahrscheinlich bist du wieder wie so ’n Irrer über die Bordsteinkante gejagt.«

Obwohl Wiebke bezeugen konnte, daß das nicht stimmte, riß Papa mir das Rad aus der Hand und marschierte wütend damit in den Keller, und Mama war eingeschnappt, weil ich ihr keine Wäscheklammern mitgebracht hatte.

Zwischen Hecke und Bürgersteig zog sich ein zwei Meter breiter Streifen mit Unkraut hin, der vom Ende des Grundstücks in der Herzogstraße bis zur Ecke Georg-Wesener-Straße reichte. Die Vormieter hatten da alles lustig wachsen lassen, aber Mama und Papa störten sich an dem Unkraut, und weil ich mich jetzt auch einmal nützlich machen sollte, wurde ich mit Schubkarre, Schövel und Grabegabel in diese Wildnis entsandt.

»Und sieh zu, daß du das Zeug mit der Wurzel zu fassen kriegst, sonst ist die ganze Arbeit für die Katz!«

Es ging auf keine Kuhhaut, was da alles wuchs. Namentlich kannte ich nur Brennesseln, Disteln, Klee und Löwenzahn, aber ich hätte wetten können, daß da auch Quecke, Melde, Malve, Giersch und Franzosenkraut sprossen. Und Vogelmiere und Knöterich. Um in dem harten, staubtrockenen Boden zu gedeihen, mußten diese Apparate endlos lange, bis ins Grundwasser ausfasernde Wurzelgeflechte besitzen. Aber daß ich hier das Erdreich zwei Meter tief umgrub, konnten Mama und Papa auch nicht von mir verlangen.

Ich hackte, schürfte, stocherte und wühlte eine halbe Stunde lang, bis mir das T-Shirt am Rumpf klebte, und trotzdem hatte ich nur einen kleinen Anfang geschafft. In der Schubkarre lag fast mehr Erde als Unkraut, und ich bedeckte die Erde mit einem Haufen abgerissener Strünke. Um die Wurzeln konnte ich mich auch später noch kümmern. Die liefen mir schon nicht weg.

Als ich mit der ersten Schubkarrenladung zu dem Komposthaufen eierte, den Papa hinter der Garage angelegt hatte, fing Mama mich auf dem Terrassenweg ab und kuckte in die Karre. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst das Zeug mit der Wurzel rausholen!«

»Manche von den Dingern sind eben so groß, daß man die nicht in einem Stück abliefern kann«, sagte ich, aber damit konnte ich Mama nicht überzeugen.

Ich lud die Schiete ab und trottete zurück aufs Schlachtfeld. Von den Unkrautwurzeln reichten viele so tief hinab, daß man halb Meppen hätte abreißen müssen, um die alle vollständig auszujäten. Wieso hatte ich bloß Eltern, die sich auch noch für das Unkraut außerhalb ihrer Gartenhecke verantwortlich fühlten? Da hätten sie mich auch gleich zum Jäten nach Nebraska entsenden können.

Die Fingernägel machte ich mir notdürftig mit Wurzelbürste, Wasser, Seife und danach noch mit der Nagelscherenspitze sauber, und dann lief ich zum Hindenburgstadion, wo der SV Meppen den VfL Osnabrück empfing. Es war das erste reguläre Fußballspiel zwischen Erwachsenen, das ich live zu sehen bekommen sollte. Dafür berappte ich zwei Mark Eintritt.

Einem Handzettel entnahm ich das Spieleraufgebot des SV Meppen: Kugler, Bernert, Mindermann, Stricker, Tappel, Hüring, Heuing, Eilers, Höfer, Runde, Persicke und Görts.

Soweit ich wußte, handelte es sich bei diesen Spielern nach den Statuten des DFB um Amateure, die für ihre Einsätze kein Geld kriegten, bevor sie es schafften, mit ihrem Verein in die Zweite Liga Nord aufzusteigen. Davon konnten die Spieler des SV Meppen allerdings nur träumen. Sie holzten und foulten, leisteten sich Fehlpässe, stolperten über die eigenen Füße und verloren verdientermaßen mit 1:5. Da war ja sogar Hannover 96 noch besser!

Ich hatte mir einen Platz an der Mittellinie ausgesucht, gegenüber der Tribüne, und einmal mitbekommen, wie zwei keuchende Spieler sich wenige Meter vor meinen Augen ums runde Leder balgten. Wie zwei blindwütige Ochsen, die aufeinander losgingen und dabei ausschlugen, stöhnten und rotzten. Im Fernsehen sahen Fußballspiele nicht so brutal aus.

Am Donnerstag kam ein Brief von Michael Gerlach.

Lieber, süßer Martin!

Das war die Rache dafür, daß ich ihn in meinem letzten Brief als »Vielgeliebter Michael« angeredet hatte.

Seit ich aus Großhäuslingen wieder raus bin, habe ich nur Ärger. Von meinem Opa habe ich ein Flitschflugzeug, also ein Flugzeug, das man mit ’nem Gummi abschießt, geschenkt bekommen. Und eins mit Gummimotor habe ich mir selbst gekauft. Alles schön und gut. Bloß waren die Dinger nicht sehr haltbar. Bei dem zum Flitschen gingen die Flügel gleich in Fetzen, denn die Landungen auf dem Sportplatz waren nicht von Pappe. Aber das ließ sich ja wieder kleben, nur waren die Landungen dann noch weniger von Pappe. Und schon – knacks – war das Scheißding in zwei Hälften gekracht. Wenn Du mal zu Besuch kommst, kannst Du die Splitter betrachten. (Holger hat die Überreste nämlich zertreten.)

Na, und das Flugzeug mit dem Gummimotor (Flügel aus 2 mm dickem Styropor, der Rest aus Plastik, Kostenpunkt 6,95 DM) verhielt sich auch nicht besser. Erstens flog es gar nicht (die Gummis rissen dauernd), und zweitens konnte man das Gummi bald gar nicht mehr aufdrehen. Na ja, zum Segeln eignete sich das Ding noch ganz gut, auch wenn bei den Landungen die Flügel zerbrachen.

Da ich noch etwas Geld übrig hatte und Holger von den Leistungen des Flitschflugzeugs ungemein beeindruckt war, kauften wir uns beide noch mal welche. Holgers kostete 8,00 DM. Man konnte es immerhin als Flugzeug identifizieren. Bei meinem für 4,60 DM war das gar nicht so einfach. Da stand irgendwas von »Apollo« drauf und: »100 feet or higher! WOW!« Man konnte einen Fallschirmspringer, eine Andeutung von Rakete und irgendwelches düsenjägerähnliches Silberzeug erkennen. Also drei Teile, die sich als völlig fluguntüchtig erwiesen, egal was man damit anstellte. Holgers Flugzeug aber flog super! Arrg! Ich ärgere mich noch kaputt!

Wie lange hast Du eigentlich noch Ferien? Ich nur noch zwei Tage. Buuhää! Das waren überhaupt die idiotischsten Ferien, die ich je mitgemacht habe, abgesehen von der Woche in Großhäuslingen. Scheißdreck, verdammter.

So, ich mach jetzt Schluß.

Der Trottel Michael!

Diesen Brief beantwortete ich sofort, obwohl es außer der Sache mit dem Fahrradschlauch nicht viel zu berichten gab. »Lieber Schnuckiputzi …« Dann schrieb ich noch an Bayern München, daß ich gern Autogramme von den Spielern hätte, und ich legte ein Mannschaftsposter aus dem Kicker und als Rückporto achtzig Pfennig in Briefmarken bei. Säbener Str. 51, 8 München 90. Die Adresse stand im Kicker-Almanach. Das Poster war von 1974, aufgenommen nach Bayerns Sieg im Europapokal der Landesmeister. Sowas durfte man sich ja wohl auch als Fan von Gladbach an die Wand pinnen, erst recht mit echten Autogrammzügen.

Der nächste Briefkasten hing in der Jahnstraße beim Stadion. Da lungerten zwei Halbstarke rum. Als ich die Briefe eingeworfen hatte, kam der eine von den beiden Typen angeschlendert und schubste mich ins Gebüsch.

Hatte der noch alle Tassen im Schrank?

Ich rappelte mich hoch und ging weiter, und schwubbs, schon lag ich wieder im Gebüsch, ohne daß ich dem Deppen irgendwas getan hätte. Nicht mal schief angekuckt hatte ich den. Weil ich keine Lust hatte, mich noch einmal schubsen oder gar verdreschen zu lassen, womöglich von den beiden Arschgeigen gemeinsam, sprang ich auf die Beine und rannte weg, und der eine von den Typen rief mir hinterher: »Ja, lauf nur, Kleiner! Lauf um dein Leben!«

Um mich zu verfolgen, waren sie zu faul, aber ich rannte noch ein ganzes Stück weiter, ehe ich eine Verschnaufpause einlegte.

Mein lieber Jäger, guter Jäger, lauf, lauf, lauf …

Mit Krawallbrüdern wie denen hatte ich schon in Vallendar Ärger gehabt. Daß die auch in Meppen ihr Unwesen trieben, hätte ich mir eigentlich denken können. Was hatten die bloß davon, einem auf den Sack zu gehen? Wegelagerer waren das, Tagediebe, die Löcher in die Luft glotzten und sich toll vorkamen, wenn sie jemanden, der jünger und kleiner und in der Minderheit war, in die Dornen schubsen durften.

An den Unterarmen hatte ich Kratzer. In den Briefkasten in der Jahnstraße würde ich so bald nichts mehr einwerfen.

Als Mama abends draußen die Wäsche abhängte, war die Gelegenheit günstig, unbemerkt in Vallendar bei Michael Gerlach anzurufen. Ich wollte ihm mein Abenteuer mit den beiden Knalltüten erzählen, und als ich damit fertig war, erzählte Michael mir von den Schweißausbrüchen, die ihn heimsuchten, weil morgen in Koblenz die Schule wieder beginne. Die Sommerferien seien irre schnell verflogen. Wir redeten noch darüber, ob es möglich sei, die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde in Ferienzeiten zu verlangsamen, mit Bremsraketen, und dann blökte Michaels Bruder Harald dazwischen, der mit Volker sprechen wollte.

In Niedersachsen dauerten die Ferien zwar noch eine Woche länger, aber was hatte man davon, wenn nichts los war?

Renate kam aus Jever zurück, mit ihrem geliebten Olaf, den sie nur noch selten zu sehen kriegte, seit er beim Barras diente. Olaf war Juso und wollte nach der Bundeswehrzeit Politologie studieren, wovon Papa nicht begeistert war.

Oma Schlosser hatte Schwindelanfälle. Einmal wäre sie fast hingefallen, als sie vom Eßtisch aufstand, und dann legte sie sich auf dem Wohnzimmersofa in die Waagerechte, und wir durften keinen Pieps mehr von uns geben und nur auf Zehenspitzen durchs Haus schleichen.

Am Samstag kam Michaels nächster Brief.

Lieber und süßer Martin!

Das hatte er sich nicht verkneifen können.

Ich sitze mal wieder hier und schreibe Dir, anstatt Hausaufgaben zu machen, einen Brief. (Vielleicht hast Du’s schon bemerkt.) Und ich habe eine Frage: Seid Ihr verrückt geworden? Das Telefongespräch neulich muß doch ein Vermögen gekostet haben! Ihr habt doch mindestens fünf volle Minuten gequasselt, Du und der Volker! Also ich kann Dich nicht anrufen, das lassen meine finanziellen Verhältnisse nicht zu.

Holger und ich waren übrigens beim Friseur. Ach, was sage ich – wir waren in Frankensteins Werkstatt! Der Kerl hat aus uns nämlich echte Monster gemacht! Der Holger sieht aus, also ob er einen braunen Sturzhelm aufhat. Na, und bei mir steht’s auch nicht besser.

Und bei Dir? Freust Du Dich genauso auf die Schule, wie ich mich darauf, daß Du bald wieder hingehen mußt? Nur noch fünf Tage, fünf kurze, schnell verrinnende, qualvolle Tage. Und wenn der Brief hier bei Dir ankommt, sind es nur noch vier und sogar nur noch drei Tage. Hihi! Hehe! Das wird ein Genuß, wenn ich mir am 7. vorstelle, daß Du jetzt wieder zur Schule mußt. Hehehe!

Na, tschüß denn, und komm mal vorbei.

Die Bemerkungen über den Schulbeginn mochten gemein sein, aber die Briefe von Michael Gerlach gefielen mir trotzdem besser als die Post, die Papa jeden Tag geschickt kriegte, vom Finanzamt, von Versicherungen oder vom Beamtenheimstättenwerk, mit der Anrede: »Sehr geehrter Bausparer!«

Komisch, daß Papa noch Bausparer war, wo er das Haus in Vallendar doch schon vor sechs Jahren gebaut hatte.

In der ersten Hauptrunde im DFB-Pokal schmiß Borussia Mönchengladbach Werder Bremen mit 3:0 aus dem Rennen. Aber ob Udo Lattek als Trainer wirklich soviel taugte wie Hennes Weisweiler, das würde sich zeigen müssen.

Am Sonntag liefen nach dem Frühstück alle außer Oma noch in Schlafanzug und Bademantel durch die Bude, als es klingelte.

Ick sitze hier und esse Klops,

Uff eenmal kloppt’s …

Papa linste aus dem Küchenfenster. »Ach du Kacke«, sagte er, »das ist der Ettinger mit seiner Alten!« Und dann hastete er die Treppe hoch, sich anziehen.

Der Ettinger war ein Arbeitskollege von Papa, und der klingelte schon zum zweitenmal, als Mama, die sich schnell ein Kleid übergestülpt hatte, mit nassen Haaren von oben angebösselt kam, um in rasender Eile das Wohnzimmer aufzuräumen.

Die Ettingers machten bereits Anstalten, wieder zu gehen, obwohl sie das Gepolter im Haus gehört haben mußten, und Mama riß erst im letzten Moment die Tür auf und entschuldigte sich für die Unordnung. Daß es in Meppen üblich war, Bekannten sonntags um elf Uhr vormittags Hausbesuche abzustatten, auch unangemeldet, hatte ja keiner ahnen können.

Mama kochte Kaffee und deckte den Wohnzimmertisch, und nach geraumer Weile stiefelte dann auch Papa die Treppe runter, im Anzug und nach Frisiercreme riechend.

Nach dem Essen lagen Oma die Rindsrouladen so schwer im Magen, daß sie Abstand davon nahm, uns bei dem geplanten Ausflug ins holländische Moor zu begleiten. Renate und Olaf blieben lieber unter sich, bevor Olaf wieder zu den Fahnen eilen mußte.

Mama packte Stullen und Gesöffe ein, und Papa sagte, wir sollten am besten Messer mitnehmen, um uns damit durch die Stechfliegenschwärme zu schneiden.

In Koblenz hatten wir fast nie irgendwelche Sonntagsausflüge unternommen, weil dafür neben dem Hausbau keine Zeit geblieben war. In Meppen sollte das nun anders werden.

Im heißen Peugeot hatte Mama den Shell-Atlas auf dem Schoß und stritt sich mit Papa über die Route.

»Wo zum Teufel sind wir denn hier jetzt?« fragte Papa.

»Zwischen Hamburg und HaÏti«, sagte Volker.

Irgendwo in den Niederlanden stiegen wir aus und sahen uns die flache Landschaft an.

Mit den Fliegen hatte Papa recht gehabt. Auf der Rückfahrt surrten sie zu Dutzenden im Auto herum, obwohl wir alle Fenster runtergekurbelt hatten, um die Viecher durch die Zugluft zu verscheuchen. Und trotz Fahrtwind lastete subtropische Hitze auf uns, so daß einem die Oberschenkel aneinanderpappten, wenn man nicht so breitbeinig dasaß wie Volker.

Abends schloß Papa im Eßzimmer und in der Küche die Lampen an. Das sei ja nun auch längstens fällig gewesen, sagte Mama.

Noch drei Tage Ferien.

Wiebkes künftige Lehrerin hatte ein Papier mit den Namen und Adressen von Wiebkes neuen Mitschülern bei uns abgeliefert. Mit diesem Wisch bewaffnet, watschelten Mama und Wiebke zu einem Mädchen, das in einer Parallelstraße wohnte, die Kellners Tannen hieß, und schon hatte Wiebke auch hier wieder eine Freundin. Carola Kowalski.

Renate knüpfte einen Lampenschirm aus gelber Baumwolle mit Holzperlen für Olafs Eltern und schrieb dann einen Brief an Oma Jever zu deren 69. Geburtstag. Im August häuften sich in unserer Sippe die Geburtstage. Das lag daran, daß einst die Winternächte lang gewesen waren und es noch kein Fernsehen gegeben hatte. So hatte Mama mir das mal erklärt.

Enid Blytons Krimis in der Gemeindebücherei bei der Gustav-Adolf-Kirche kannte ich schon alle, und ich lieh mir ein Buch über drei Freunde aus, die bei einem Fahrradausflug eine Bande von Dieben überführten und der Polizei auslieferten. Per pedales durch die Lande streifen, irgendwo zelten, mit guten Freunden, und nebenbei einer Verbrecherbande das Handwerk legen: So hätte auch ich gern meine Sommerferien verlebt!

Am Mittwoch kriegte ich mehr Post als Papa: eine Karte von Tante Dagmar und gleich zwei Briefe aus Vallendar.

Liebes und süßes Martinlein!

Das war typisch Michael. Der konnte es nicht lassen. Meine Rache würde fürchterbar sein.

Aus Langeweile, und weil ich so viel Hausaufgaben aufhabe, will ich Dir einen Brief schreiben. (Eigentlich ja zwei, aber Holger hat mir den einen gerade zerfetzt, oder besser gesagt: Holger und ich zusammen.)

Bei uns ist’s stickig heiß. Ins Schwimmbad kann man nicht gehen, das ist viel zu voll. Genausogut könnte man mit zehn Mann in eine Telefonzelle steigen. Also hab ich in den letzten Tagen nichts anderes getan als gelesen und gefernseht. Lesen wäre ja ’ne gute Beschäftigung, aber jetzt lese ich alle Bücher schon zum dritten Mal. (Auch die Fernsehsendungen habe ich schon mindestens einmal gesehen.) Da ist die Schule ja direkt ’ne kleine Abwechslung. Zwar keine der schönsten, aber was soll man machen?

Mit Ottokar Trebitsch ist auch nichts los. Der wird bloß von Tag zu Tag fetter und unförmiger.

Den Trebitsch, der auf dem Mallendarer Berg wohnte, hatte ich mal im Verdacht gehabt, daß er kriminell sei, weil er einen Kontoauszug zerfetzt und weggeworfen hatte. Meine Hoffnung, diesen Fall als neuer Kalle Blomquist aufzuklären, hatte sich jedoch zerschlagen.

Der blöde Kerl könnte wenigstens mal einen saftigen Bankraub veranstalten oder ein flottes Kidnapping. Aber nein, das fette Schwein läuft bloß dauernd in der Kaiser-Friedrich-Höhe herum und entwickelt sich mehr und mehr zu einem ganz normalen Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

Sag mal, wie sind wir eigentlich darauf gekommen, daß der irgendwas ausgefressen hat?

Tja. Vielleicht hatten wir uns getäuscht. Das war von Meppen aus schwer zu beurteilen. In dem Umschlag steckte auch ein Brief von Michaels Bruder Holger:

Hallo Martin, hallo Ilja, hallo Freunde!

Wie Du sicher schon weißt, hat für uns am 1. August die Schule wieder angefangen. (Buhuuu!) Seitdem hab ich immer so ein komisches Gefühl im Magen. Es läßt sich leicht mit einem Wort definieren: Mordlust. Wenn Du irgendeine Zeitung aufschlägst, wirst Du lesen: »Mord in Koblenzer Schule! Kind war der Täter!«

Wie Du Dir vielleicht schon gedacht hast, sitze ich jetzt, nämlich auf der Karthause. In einer Woche ist die Gerichtsverhandlung. Mal sehen, was da rauskommt.

Aber jetzt mal zu was anderem: Vorgestern fuhr ich mit dem 1-Uhr-Bus nachhause. Michael war auch dabei. Wir hatten nach der vierten Stunde hitzefrei und mußten bei mindestens 35° im Schatten eine Stunde braten, bis, natürlich mit Verspätung, der Bus kam. Wir setzten uns vorne hin und hofften, daß der Busfahrer die Tür aufläßt. Leider tat er das nicht. (Dieser Schweinehund.) Kein Lüftchen regte sich, als wir am Zentralplatz ankamen. Der Bus war stinkevoll. (Schwitz-puuh.) Die Leute, die in Ehrenbreitstein standen, ließ der Busfahrer schon gar nicht mehr rein. Und fast alle, die im Bus saßen, wollten zum Schwimmbad. Hätten die nicht so viel Zeug mitgenommen, wäre der Bus bestimmt nicht so voll gewesen: 10 Liegen, 15 Kühltaschen, 7 Koffer, 138 Brötchen, 1 Lastauto, 14 Decken, 20 Flaschen Limo usw. Ein Weib mit Limoflaschen stellte sich genau neben den halbverdursteten Michael und mich. Die hat richtig arrogant mit den Flaschen rumgefuchtelt, die doofe Gans!

Noch schlimmer wurde es in Urbar. Da wabbelte so ’ne alte Tante mit zwei Liegen und zwei Kindern am Arm in den Bus und wollte zum Schwimmbad. Der Fahrer verlangte 2.40 DM. Die Alte hatte aber nur 2.– DM in der Hand und kramte fast zehn Minuten lang in ihrer Tasche, bis sie ihren Geldbeutel fand. Dann fiel ihr 1.– DM hinunter. Der Busfahrer lief inzwischen rot an. Als sie ihr elendes 1-Mark-Stück nach einer halben Stunde aufgelesen hatte, fingen die kleinen Kinderlein an zu plärren. Die Mutter versuchte sie zu trösten. Als dies nichts half, putzte sie den Kleinen die Nase, wechselte ihnen die Unterwäsche, ließ alle beide aufs Töpfchen gehen, gab ihnen die Flasche und sang ihnen ein Schlaflied. Das wirkte! Sie waren still. Den Busfahrer hat man bis heute nicht gefunden, obwohl man den Grund des Rheins nach ihm abgesucht hat.

Wie geht es im Fußballclub? Viel Spaß in der Schule. Komm bald mal vorbei und mach mal wieder eine richtige Tour mit uns. Denn seit Du nicht mehr da bist, hat Michael zu nichts mehr Lust.

Tschüß, Dein Holger.

P.S. Meine neue Adresse: Stadtgefängnis Karthause, 5400 Koblenz, Haderlumpenstr. 278.

Da sah man doch, wie gut ich es in Meppen hatte. Hier durfte ich mit dem Rad zur Schule fahren und war nicht auf einen vollgepupten Omnibus angewiesen.

Tante Dagmar schrieb mir, daß das Wetter in Hannover leider Gottes immer noch nicht hochsommerlich sei und daß sie Anfang September nach Italien reisen werde.

Mama hatte einen Duschvorhang gekauft. Den hängte sie an Schlaufen an dem Gestänge über der Duschwanne auf. Als ich die Dusche abends ausprobierte, sauste mir der kalte Vorhang ans Hinterteil. Ob das am Luftdruck lag oder woran auch immer – sobald das heiße Wasser aus der Brause strömte, wehte der Duschvorhang nach innen, und er hörte damit erst auf, wenn man ihn von innen heiß abgeduscht hatte. Dann klebte er unten am Duschwannenrand fest und blähte sich bloß noch ein bißchen.

Papa beanstandete, daß ich zu lange geduscht hätte. Duschen gehe so, daß man sich einmal kurz naßmache, sich dann ohne weitere Wasserzufuhr einseife und sich zuletzt rasch abdusche, am besten kalt. Alles andere sei Wasserverschwendung.

So ging der letzte Sommerferientag zuende. Der einzige Trost bestand darin, daß am Samstag die neue Bundesligasaison anfing.

»Deine Haare haben heute noch mit keinem Kamm Bekanntschaft geschlossen«, meckerte Mama beim Frühstück, das in großer Hektik stattfand, weil Wiebke ihre Brille nicht fand und Papa einen seiner Manschettenknöpfe vermißte.

Wiebke kam auf die Paul-Gerhardt-Schule und Volker auf die Realschule Freiherr vom Stein, in die zehnte Klasse, als zurückgestellter Sitzenbleiber, und wir mußten alle auf Schusters Rappen hinter Mama herhecheln, die auf Renates Klapprad vorausfuhr.

Als Wiebke und Volker in ihren neuen Schulen untergebracht worden waren, mußte ich Mama bis zum Kreisgymnasium nachwetzen.

Im Sekretariat erkundigte sich Mama nach der Klasse, in die ich gehörte. Das war die 8b.

Das Klassenzimmer war im Erdgeschoß, und alle anderen Schüler waren schon da.

Mama stürmte hinein und suchte mir einen Sitzplatz aus: »Hierher, Martin! Da ist noch ’n Stuhl frei!«

Neben einem Mädchen! O Gott. Aber was blieb mir übrig?

Ich setzte mich da hin und hielt die Luft an.

Als der Klassenlehrer aufkreuzte, unterhielt sich Mama mit dem noch eine Weile halblaut draußen vor der Tür. Dann kam er rein und rief: »Hallihallo, ihr Lieben!« Schlüter hieß der. So ’n kleiner Dicker mit Pläte und Hamsterbacken.

Als Neuer sollte ich mal eben kurz nach vorne kommen und mich der Klassengemeinschaft vorstellen. Ach du Scheiße.

»Sag uns doch mal, wie du heißt!«

»Martin.«

»Und wo bist du bisher zur Schule gegangen?«

»In Koblenz.«

»Ach, in Koblenz! Dann bist du ja eine rheinische Frohnatur!«

Ob der mich vergackeiern wollte? Ich sagte lieber nichts dazu. Ich hoffte, daß der Krampf bald überstanden wäre, schon weil ich allmählich nicht mehr wußte, wo ich meine Hände hintun sollte. Zuerst hatte ich sie in die vorderen Hosentaschen gesteckt, dann in die hinteren und dann wieder in die vorderen.

»Gut, Martin, du darfst dich jetzt setzen …«

Das könne ja wohl nicht mit rechten Dingen zugehen, sagte Mama, als ich ihr meinen Stundenplan überreicht hatte. Nie mehr als vier Stunden, und selbst das nur an zwei Tagen, die restlichen Tage nur drei Stunden, zweimal in der Woche die erste frei und einmal die ersten beiden, und das beste: kein Physik, kein Chemie, kein Zeichnen, keine Musik, kein Bio und kein Erdkäs! Und nur zweimal in der Woche Englisch. In meinen Ohren war das Musik.

Michael schrieb ich, daß die Mädchen in meiner Klasse alle wie Pferde aussähen, und das neben mir sitzende würde unentwegt häkeln und husten.

Um Renate zum 19. Geburtstag einen Rückspiegel für ihr Klapprad schenken zu können, hatten Volker und ich unseren Zaster zusammengelegt. Von dem Rad hatte sie allerdings nicht viel, weil ich das für den Schulweg brauchte. Im Kreisgymnasium war ich weit und breit der einzige Junge, der auf so ’ner lächerlichen Chaise angeeiert kam. Und weil das Klapprad immer darauf aus war, den Saum meines rechten Hosenbeins einzuklemmen, zwischen Kette und Zahnrad, mußte ich eine Fahrradklammer tragen, so eine biegsame, hufeisenförmige Metallspange, die man sich unten ums Hosenbein schnallte, was zwar praktisch sein mochte, aber unheimlich doof aussah.

In Mathe, für das ein haariger Dämon namens Schneidewind zuständig war, ging’s um Berechnungsregeln für Terme. Der Term als Produkt, Summe, Quotient, Differenz und Potenz. Mir hätte schon das Rechnen mit Zahlen gereicht, und nun sollte man auch noch mit Buchstaben rechnen und Fremdwörter büffeln.

In Franz war die neue Klasse viel weiter als meine alte. Hier schwallten sie alle Französisch, als ob sie’s mit der Muttermilch eingesogen hätten, und ich verstand nur Bahnhof. Le boeuf, der Ochs, la vache, die Kuh, fermez la porte, die Tür mach zu. Um den Rückstand aufzuholen, würde ich jeden Tag, den Gott werden ließ, zehn Stunden lang französische Vokabeln bimsen müssen.

»Nun, liebe Kinder«, sagte der Schlüter am Ende der dritten Stunde, »gebt fein acht: Ihr habt es besser als die blaugefrorenen Schüler im ehemaligen Königsberg, das heute Kaliningrad heißt – ihr habt hitzefrei!«

Er verteilte dann noch einen vom Kultusminister verfaßten Wisch, den die Eltern zur Kenntnis nehmen und unterschreiben sollten.

Den Schülern aller Schulen meines Amtsbereiches wird hiermit verboten, Waffen jeder Art, also auch Gaspistolen, in die Schule oder zu Veranstaltungen der Schule mitzubringen.

»Na, hier scheinen ja schöne Sitten zu walten, wenn das ausdrücklich verboten werden muß«, sagte Mama.

Auch am Samstag hatten wir nach der dritten Stunde hitzefrei, und ich packte so schnell wie möglich meine Sachen, um mit dem Klapprad abzuzischen, bevor mich jemand damit sehen konnte.

Auf der Treppe lag ein neuer Brief von Michael.

Lieber Martin!

Heute habe ich schon wieder hitzefrei bekommen. Die ganze Woche hatte ich jetzt jeden Tag nur vier Stunden. Das Wetter ist aber auch verheerend. Tag für Tag 32–35° C im Schatten. Einfach grauenhaft!

Wie ist’s in Deiner Schule? Gute Klassenkameraden, gute Lehrer? Oder weißt Du das noch nicht? Na, toi, toi, toi!

Bei ihm in der Penne werde es immer mieser, an seinem Fahrrad klappere hinten das Schutzblech, und es sei auch noch was Schreckliches passiert:

Unser Fernseher ist hin. Einfach hin. Gibt keinen Muckser mehr von sich. Altes, blödes Ding! Jetzt hat man nachmittags schon überhaupt nichts zu tun, und dann geht auch noch das Fernsehen baden. Mist!

Und im Wambachtal würden Millionen Bremsen herumschwirren. Ich wäre trotzdem lieber wieder mal mit Michael ins Wambachtal gegangen, als zum x-ten Mal alleine mit dem Klapprad durch den Meppener Wald zu brettern. Im Wambachtal gab’s mehr Steigungen und weniger Karnickel, aber auf Dauer waren die Karnickel kein Ersatz für einen Schulfreund im Wambachtal.

Weil der Weg von der Küche zum Eßtisch so weit und der Servierwagen so klapprig war, hatte Mama sich einen neuen gekauft und karrte damit das Geschirr, das Besteck und die Schüsseln mit Kartoffeln, Bohnen und Königsberger Klopsen ins Eßzimmer.

»Die müßten eigentlich Kaliningrader Klopse heißen«, sagte ich, und Mama sagte, ich solle mir solche Frechheiten verkneifen, erst recht in der Hörweite von Papa und Oma.

Renate klaubte die Servietten vom Klavier.

Nach dem Essen brachte Papa Oma im Peugeot zurück nach Hilden, und Renate und Mama erledigten die Küchenarbeit in Rekordzeit, weil mit Mamas Schulfreundin Tante Grete der nächste Besuch ins Haus stand, und da sollte es bei uns nicht aussehen wie bei Schweins.

Tante Grete kam mit dem Zug aus Quakenbrück und mußte am Bahnhof ein Taxi nehmen, weil Mama bis auf weiteres keinen fahrbaren Untersatz besaß.

Die kleinen Strolche hatten gerade angefangen, als es Klingeling machte. Wiebke lief zur Tür und wußte überhaupt nicht, wen sie da vor sich hatte, obwohl Tante Grete ihre Patentante war.

Mama schaltete den Fernseher aus. Es war schade, daß der alte nicht mehr ging, den wir von Oma und Opa geerbt hatten. Sonst hätte ich die Sendung in einem anderen Zimmer zuendekucken können.

Vom Teetisch, den Renate gedeckt hatte, holte ich mir drei Kekse, verkrümelte mich damit in mein Zimmer und machte es mir vorm Radio bei der Bundesligakonferenzschaltung bequem. In der Saison 1974/75 war Gladbach Deutscher Meister geworden und mußte jetzt alles daransetzen, den Titel zu verteidigen. Volle Kraft voraus!

Gegen Hannover 96 ging Gladbach schon in der 7. Minute in Führung, aber die Hannoveraner glichen aus und leisteten so heftigen Widerstand, daß Gladbach am Ende noch dankbar sein konnte für das 3:3 und den ersten Auswärtspunkt.

Tante Grete wollte ins Jeverland weiter, und Mama entschloß sich dazu, mitzufahren und mit ihr und Oma und Opa in Jever aufs Altstadtfest zu gehen, statt Das Haus am Eaton Place zu kucken, die langweiligste Serie der Welt.

Papa sollten wir sagen, daß Mama morgen nachmittag mit der Bahn zurückkommen werde. »Und keine krummen Touren! Daß ihr mir hier nicht die ganze Bude auf ’n Kopp stellt!«

Können vor Lachen. Ich mußte Hausaufgaben machen.

Pourquoi est-ce que Paris est le centre de la France? Quel pourcentage de la population française habite dans la région parisienne? Qu’est-ce qu’on fabrique dans la région parisienne?

Die Franzmänner schienen einen schweren Fimmel zu haben mit ihrer région parisienne. Und dabei wußten sie offenkundig nicht mal, wieviele Leute da wohnten und was die herstellten, und verlangten von mir, das herauszufinden.

Was ich noch weniger schnallte, war Mathe.

Aus Draht soll ein Modell einer Raute mit der Seitenlänge a hergestellt werden. Wie lang muß der Draht sein?

Hä? Woher sollte denn ich das wissen? Und was war eine Raute?

Schreibe dazu zunächst einen ausführlichen Term. Forme diesen dann in einen kürzeren um. Beachte: In einer Raute sind alle vier Seiten gleich lang.

Das half mir auch nicht viel weiter.

Die Raute soll zu einem räumlichen Modell mit der Höhe b ausgebaut werden. Wie lang muß der Draht insgesamt sein? Schreibe dazu mehrere Terme in einer Gleichungskette auf.

Gleichungskette? Da hätten sie von mir auch gleich verlangen können, in echt aus Draht ’ne Raute herzustellen. Aber halt – da standen ja auch die Lösungen, gleich untendrunter!

a) Für die Länge des Drahtes gilt: a + a + a + a = 4 · a.

b) Für die Gesamtlänge des Drahtes gilt z.B.: 4 · a + 4 · b + 4 · a = a + a + a + a + a + a + a + a + 4 · b = 8 · a + 4 · b.

Da wär ich nie drauf gekommen. Aber wenn die Lösungen im Buch standen, konnten wir den Mist ja wohl kaum als Hausaufgabe aufgekriegt haben. Sondern vermutlich den Scheiß auf der nächsten Seite:

Bestätige durch Einsetzen, daß …

Wie bitte? Was sollte das denn nun wieder heißen? Wenn da gestanden hätte »Schlumpfe durch Schlumpfen«, dann hätte ich genausoviel gerafft.

Bestätige durch Einsetzen,

also mit anderen Worten: Schlumpfe durch Schlumpfen,

daß bei 7a + 2a = 9a die Terme links und rechts vom Gleichheitszeichen jeweils denselben Wert ergeben.

Oder die Schlumpfe denselben Schlumpf.

Wähle 1; 2; 3; 0; (–1); (–2) für a. Lege dazu eine Tabelle an.

Tabelle? Was für ’ne Tabelle? Und »dazu«? Zu was? Zum Wählen? Oder zum Bestätigenkack durch Einsetzenfickfack?

Wähle 3 3 3 auf dem Telefon … Mann, Mann, Mann, was war doch Mathe für ein geisteskrankes, bekotztes Wildschweingefurze. Zu nichts, aber auch zu gar nichts nutze. Und wenn’s außer Mathepauker wirklich irgendwo auf der Welt noch einen Beruf gab, für den man sich mit Termen und Rauten und Gleichheitsketten auskennen mußte, dann würde ich den nie im Leben ergreifen.

Als Mama wieder da war, erzählte sie, daß die Wohnung in der Mühlenstraße verwaist gewesen sei gestern abend, aber dann hätten sie Oma und Opa glücklich auf dem Altstadtfest angetroffen, auf dem Kirchplatz, im dicksten Gewühle.

Um halb sieben rief Tante Dagmar an und sagte, daß ich ihr altes Fahrrad haben könne. Das werde sie mir bei ihrem nächsten Besuch mitbringen, aber da müsse ich mich noch etwas in Geduld üben. »Ich fahr erst mal nach Abano Terme und aale mich da im Fangoschlamm.«

Was daran wohl so schön war, sich im Schlamm zu winden? Aber Hauptsache, daß ich bald ein vernünftiges Fahrrad kriegte, für das ich mich nicht schämen mußte, wenn ich damit auf dem Schulhof eintraf.

Zu ihrem 46. Geburtstag schenkte ich Mama einen Gutschein für dreimal Staubsaugen im Wohnzimmer.

Am Dienstag stellte sich heraus, daß der Religionsunterricht nur für Katholiken war, und ich durfte nachhause fahren. Nun hatte ich noch zwei Stunden weniger Schule und zusammengerechnet sogar vier weniger als Wiebke. Mama kam das spanisch vor.

Nachdem ich ihr oft genug in den Ohren gelegen hatte, rief sie beim SV Meppen an und fragte nach den Trainingszeiten für Jugendspieler. Die Jugend, hieß es, trainiere dienstags und donnerstags am Nachmittag, und ich stieg in meine Fußballschuhe. Die Leutchen würden sich noch wundern beim SV Meppen: Ich würde als deren erster Nationalspieler in die Fußballgeschichte eingehen, und wenn alles nach Plan lief, würde ich den Verein von der Amateurliga in die Bundesliga führen und dann irgendwann zu Borussia Mönchengladbach wechseln, meinem Traumverein, mit dem ich zehnmal nacheinander Deutscher Meister und auch zehnmal Sieger im Europapokal der Landesmeister werden wollte. Im Verbund mit Kalle Del’Haye, Rainer Bonhof und Jupp Heynckes würde ich auch die Nationalmannschaft neuen Erfolgen entgegenführen, wenn ich mich beim SV Meppen bewährt hatte.

»Das ist genau das richtige für deine überschüssigen Kräfte«, sagte Mama, als sie mich dem Trainer vorgestellt hatte. Uli Möller hieß der. Er ließ sich von mir ein paar Schüsse zeigen und teilte mich dann der C-Jugend zu.

Zu meinem Entsetzen zitierte mich der Schlüter in Franz nach vorne, und ich sollte so tun, als ob ich ein Kunde auf einem französischen Wochenmarkt wäre und dem Schlüter was abkaufen wollte. Pommes de terre et légumes. Des petits pois, des carottes et des tomates. Als ich das vollbracht hatte, im Schweiße meines Angesichts, sollte ich auch noch Wurst kaufen. Wie hieß noch mal das Wort für Wurst? Fleisch war viande und Hackfleisch viande hachée. Und Wurst? Saucisse?

Saucisse war richtig. Die unsichtbare Wurst stopfte ich mir in die Hosentasche, worüber die gesamte Klasse lachte.

»Au revoir, Monsieur«, sagte der Schlüter, und ich durfte wieder Platz nehmen.

Puh.

In Sport demonstrierte ein Schüler namens Hermann Gerdes seine Fitness. Der schaffte es durch rohe Muskelkraft, an zwei nebeneinander baumelnden Tauen bis zur Turnhallendecke zu klettern, mit der einen Pranke am linken und der anderen am rechten Tau.

In Geschi war die deutsche Hanse dran. Wie sich im 14. Jahrhundert die Hansestädte verbündet und die Schlupfwinkel der Seeräuber ausgeräuchert hatten. Darüber hielt die Sportskanone Hermann Gerdes ein Referat. Der Sage nach sei der Pirat Klaus Störtebeker nach seiner Enthauptung an seiner zum Tode verurteilten Mannschaft vorübergelaufen, und jeder, an dem er ohne Kopf vorbeigerannt war, sei begnadigt worden. Die Köpfe der anderen aber habe man auf Pfähle gespießt, zur Abschreckung.

Seeräuber hätte man sein müssen. Das war zwar gefährlich, aber bestimmt nicht so langweilig wie das Mittelstufenschülerdasein in Meppen. Zu allen Übeln kam noch der Konfirmandenunterricht hinzu, der im evangelischen Gemeindehaus hinterm Bahnhof abgehalten wurde, unter dem Vorsitz von Pastor Böker. Da kannten sich natürlich schon alle, und bloß ich kannte keine Sau.

Als ich das erste Mal da war, sollte man pantomimisch ein Hobby darstellen, das man hatte, und die anderen sollten es erraten.

Sterb, reiher, draufgeh! Bei Frau Frischke in Vallendar hatte es genügt, die wöchentliche Katchestunde stumm abzusitzen, was schon anstrengend genug gewesen war, und hier mußte man auf einmal Mätzchen machen. Was hatten denn bitteschön meine Hobbys mit dem lieben Gott und der Konfirmation zu tun? Hatte ich denn überhaupt ein Hobby?

Als erster hampelte ein Junge mit Zahnspange rum. Es sah so aus, als würde er einen schweren Rasenmäher schieben und zwischendurch einen Haufen Kopfnüsse verteilen. Dabei wippte er mit dem Kopf wie einer von diesen Wackeldackeln, die in manchen Autos hinten auf der Hutablage standen. Weil keiner rauskriegte, was das für ein Hobby war, verriet er’s: Reiten habe das sein sollen. Pferde seien seine Leidenschaft, und er reite für sein Leben gern.

Danach führte ein Mädchen, das schon ’ne ziemliche Oberweite hatte, spastische Verrenkungen aus, deren Bedeutung auch wieder niemand erriet. Darauf hätte auch niemand kommen können: »Mein Hobby«, sagte das Mädchen, als es fertig war, »sind Stickbilder.«

Wo war ich hier hingeraten? Mit Stickbildern gab sich nicht einmal Wiebke mehr ab, und die war vier Jahre jünger als dieses depperte Weibsbild!

Als die Reihe an mich kam, stand ich auf und verwandelte einen unsichtbaren Elfer. »Fußball!« riefen alle, und der Fall war erledigt.

Michael klärte ich darüber auf, daß er froh sein könne, seine Konfirmandenzeit bei der Frischke zu verhocken.

Der nächste Brief, den ich erhielt, war maschinegeschrieben und stammte vom Staatlichen Krematorium Wuppertal, Höllenfahrtstr. 6. Da aus meinem Weiterleben keine sozialen Vorteile für die Allgemeinheit zu erwarten seien, habe man nach § 67 Absatz 4 des Kontrollgesetzes zur Lenkung des Menschenüberschusses in Europa meine Bestattung beschlossen.

Sie werden aufgefordert, am kommenden Sonnabend um 10.45 Uhr mit Gesangbuch und Leichenhemd im hiesigen Krematorium Ofen 16 Klappe 9 zwecks Verbrennung Ihres schlaksigen Körpers zu erscheinen. Da Sie in Ihrem verpfuschten Leben überreichlich viel Alkohol gesoffen haben, besteht erhöhte Explosionsgefahr. Es wird daher empfohlen, eine Stunde vor der Einäscherung einen halben Liter ungekochte Schafsmilch zu trinken. Und Sie müssen vorher Ihren Wasserkopf entleeren, da das Feuer sonst erlischt.

Unterzeichnet von »Dr. Flammentod, Professor für schmerzarme Jenseitsbeförderung«. Renate lachte sich dermaßen scheckig darüber, daß gleich klar war, wer mir diesen Brief geschrieben hatte.

Tags darauf kam wieder einer von Michael Gerlach. Die hatten jetzt ’n neuen Fernseher.

Deswegen passiert bei uns ja auch nichts. Wir hocken nämlich nur noch vor dem Glotzrohr. Ischa doll, so ’n Apparat: Man braucht die Schalter nur zu berühren, und ›klick‹, schon sendet er seine tödlichen Strahlen aus, und eine Ansagerin grinst uns an. Die sagt natürlich immer das gleiche: »Und nun sehen Sie eine Wiederholung vom Soundsoten, dann folgt Bilanz und dann Monitor und dann ein interessantes Gespräch von sechs Journalisten aus fünf Ländern! Viel Spaß!« Jeden Tag die gleiche Leier.

Um mal was anderes zu erleben, habe er mit seinen Brüdern einen Abend lang Roulette gespielt, und die hätten ihn mit ihrem unverschämten Glück zur Verzweiflung gebracht.

Ich muß jetzt aufhören, die Erinnerung an das Geschehen bringt mich wieder einem Weinkrampf nahe.

Tschüß, Dein gebrochener Michael

P.S.: Spiele nie Roulette!

Toller Ratschlag. Mit wem hätte ich in Meppen schon Roulette spielen sollen? Ohne brauchbare Geschwister und vor allem ohne Roulette?

Die Zeit, in der Volker und ich zusammen gespielt hatten, ob nun Fußball oder Halma, war vorbei. Volker subtrahierte sich nachmittags gewöhnlich in sein Zimmer, um Raketen zu entwerfen, wenn er sich nicht irgendwo mit seinen neuen Schulfreunden herumtrieb, die Meppen auf ihren Mofas unsicher machten. Und Wiebke schied als Spielkameradin sowieso aus, obwohl ich ihr ein Eis spendiert hatte.

Ich war auf mich allein gestellt.

Tante Gisela brachte Oma und Opa Jever nach Meppen, und Oma patschte bei der Hausbesichtigung vor Bewunderung in die Hände: »O Inge, wie hast du es himmlisch hier! So großzügige Wohnräume! Und wie wunderschön der Parkettboden aussieht!«

Das Parkett wollte Mama aber mit Teppichfliesen belegen, weil ihr das im Winter sonst zu kalt sei.

»Nein, wie jammerschade!« rief Oma. »Tu doch das bloß nicht! Das wär ja fast ’ne Sünde!« Für den Eßplatz legte sie Mama einen Reisstrohteppich von Quelle ans Herz.

Auch den Garten fand Oma gut. Mama sagte, daß wir nun wohl nicht länger um die Anschaffung einer elektrischen Heckenschere herumkämen, und Oma versprach, Saatbohnen für uns zurückzulegen. Stangenbohnen und Buschbohnen.

Mittags gab es Hähnchen mit Reis und Tomatensalat. Den Nachtisch, eine Geschichte aus Sahne und Apfelsinencreme, hatte Renate komponiert.

»Du wirst es in Birkelbach sicher leichter haben als die Mädchen ohne Kochkenntnisse«, sagte Oma zu Renate, und dann kam die Sprache auf Gustav, Tante Giselas unehelichen Sohn. Der arbeite jetzt in Jever wieder in der Baumschule Meyer auf dem Acker, jeden Tag neun Stunden, was kein Vergnügen sei bei der Hitze. Aber er müsse ja in den Ferien etwas Einträgliches unternehmen, und bei der jetzigen schlechten Konjunkturlage habe er keinen anderen Job finden können. Allabendlich brüte er als studiosus iuris über seiner Semesterarbeit.

Auf dem Bökelberg mußte Ronnie Hellström vom 1. FC Kaiserslautern dreimal hinter sich greifen, und man konnte Gladbachs Start in die neue Saison als rundum gelungen bezeichnen.

Fast überall in Niedersachsen wüteten Waldbrände. Irgendwo bei Gifhorn waren sogar fünf Feuerwehrmänner verbrannt. Nur bei uns war nichts los.

Obwohl alle Geschäfte geschlossen hatten, pettete Mama mit Oma und Opa und Tante Gisela am Sonntagvormittag in die Stadt. Vorher hatte Mama einen Schweinespießbraten mit Salz und Gewürzen berieben. Der drehte sich im Backofen tropfend um die eigene Achse.

Beim Essen lobte Oma die »tadellosen Einkaufsmöglichkeiten« in Meppen. Dabei konnte man doch überall irgendwas einkaufen, wenn man nicht hinterm Mond lebte. Was war denn so besonders an den Klamottengeschäften in Meppen? In Jever gab es die doch auch alle, so wie in jeder normalen Stadt.

Nach dem Tee wollte Tante Gisela so bei kleinem zurück. Am Montag mußte sie wieder als Chefsekretärin antreten, bei den Olympia-Werken in Wilhelmshaven.

Von Papas Arbeitskollegen hatte sich keiner mehr bei uns blicken lassen. Vielleicht hatte er denen gesteckt, daß er es vorziehe, seine Freizeit in der Werkstatt zu verbringen und nicht beim Kaffeeklatsch im Wohnzimmer.

Mein erstes Training in der C-Jugend des SV Meppen verlief im Sande. Ich müsse erst meinen Spielerpaß aus Vallendar abliefern, hieß es. Den hatte ich noch nie zu Gesicht gekriegt. Ich schrieb sofort einen Brief an Michael, daß er doch bitte zum Stadion stelzen möge, um dem Trainer da meinen Spielerpaß aus den Krallen zu reißen und ihn mir zuzuschicken, aber in Michaels nächstem Brief war davon noch nicht die Rede.

Sehr geehrter Martin!

Ich habe mich dazu entschlossen, Dich wieder mit einem meiner Briefe zu belästigen. Eigentlich müßte ich ja noch Mathe machen. Aber was soll’s. Ich habe keine Lust, nachzudenken. Darum schreibe ich ja auch den Brief hier.

Die beschämende Qualität der Schrift mußt Du schon entschuldigen. Der Harald, der Holger und ich haben gestern nämlich wieder Roulette gespielt. Und dazu brauchten wir meinen Tisch. Der steht jetzt also beim Harald. Na, und für mich isser zu schwer, und deshalb sitz ich hier auf meinem Bett. Das Blatt liegt auf, Sekündchen, ich muß nachschauen, »Gesundheitsbuch für die Familie«. Gar nicht mal so bequem!

Bei dem Spiel da gestern hab ich mit einem Einsatz von Chips für 10000 DM im Handstreich einen Reingewinn in Höhe von 115000 DM erzielt. Da staunste, was? Die Bank war gesprengt, und wir mußten aufhören. Wenn ich bloß später im Leben mal so ’n Glück hab!

In Katche (besser ja Konfi) wollen wir in den Herbstferien eine Freizeit auf einem Schloß machen. Für 40 bis 50 DM. Ganz schön teuer. Und dann noch mit den ganzen Irren? Also ich weiß nicht. Ich glaube fast, daß ich nicht mitfahre. Würdest Du bei der netten Gesellschaft doch auch nicht tun. Oder?

Meine Mutter hat ein neues Waschmittel bei Spar gekauft. Es steht extra drauf, daß es einen tollen Duft hat. Und den hat es auch! Pfui Deibel, so was Scheußliches hast Du noch nie gerochen! Die ganze Unterwäsche ist versaut. Die kann man jetzt nur noch zum Chloroformieren verwenden.

Sonst passiert aber auch wirklich gar nichts. Für mein Rad habe ich mir zwei neue Schutzbleche gekauft (12 DM). Das eine hat mein Vater schon angeschraubt, und das andere kommt dran, wenn das alte kaputt ist.

Anbei ein kleiner Psychotest, den ich mir selbst ausgedacht habe. Der Lösungsbogen muß irgendwo im Briefumschlag herumliegen.

Tschüß, Michael

Der Psychotest trug die Überschrift »ANTIKOSTISCHER PRÜFBOGEN DER DRECKSAU AG (hohlgurkenversiegelt)«.

Gehen Sie gerne ins Schwimmbad?

Ja: 3 Punkte, Nein: 4854 Punkte.

Lieber im Winter oder im Sommer?

Winter: 10904 Punkte, Sommer: 147 Punkte.

Lieber mit oder lieber ohne Wasser im Becken?

Mit Wasser: 0 Punkte, ohne Wasser: 19999 Punkte.

Machen Sie gern Baucher vom Dreier?

Ja: 14847 Punkte, Nein: 7 Punkte.

Legen Sie sich öfter mit dem Bademeister an?

Ja: 20000 Punkte, Nein: 38 Punkte.

Zur Hauptfrage: Was tun Sie, wenn Sie jemanden ertrinken sehen?

Helfen: 17 Punkte. Ersaufen lassen: 65 Punkte. Ertrinkenden unter Wasser drücken: 70 Punkte. Sagt Ihnen keine dieser Antworten zu, so kreuzen Sie das an, was Ihnen am ehesten zusagt.

Den Lösungsbogen hatte Michael beizulegen vergessen.

In Englisch, das wir bei Herrn Grieß hatten, einem vollbärtigen Hungerhaken, war ich besser als in Franz.

Present perfect tense: I have met some good friends since I came here. Past tense: I met my old friend yesterday.

Schön wär’s gewesen.

In Konfi hechelten wir das Gleichnis vom verlorenen Sohn durch. Der hatte sein Erbe verpraßt und sich als Schweinehirt durchschlagen müssen, und als er zerknirscht zu seinem Vater zurückgekehrt war, hatte der vor Freude ein gemästetes Kalb schlachten lassen. Ich fand ja, daß es eine seltsame Art war, seine Freude auszudrücken, indem man ein Kälbchen zerfleischt, aber darum ging es in dem Gleichnis gar nicht, sondern um Schuld, Reue, Buße und Vergebung. »Was Jesus uns nahebringen möchte«, sagte Pastor Böker, »das sind Tod und Leben in der Verantwortung des Menschen als göttlicher Auftrag …«

Stefan Rüßkamp, einer aus einer meiner Paralleklassen, grinste mich dabei an.

Uli Möller, der Trainer der C- und der B-Jugend, ließ mich bis auf weiteres auch ohne Spielerpaß am Training teilnehmen. Von Beruf war Uli Möller Bäcker, soviel hatte ich schon mitgekriegt. Der legte Wert auf Kondition. Zuerst mußten wir einen Dauerlauf durch den Wald hinter uns bringen und dann dreißigmal einen sandigen Abhang hinaufsprinten. Da spürte man die Wadenmuskeln, und man roch die Fichten, wenn man den Aufstieg gemeistert und sich oben die Lungen mit der Waldluft bepumpt hatte. Manche von der Mannschaft maulten, aber mir machten die Sprints nichts aus. Ich wollte schließlich was werden in der Fußballwelt und mußte natürlich auch Kondition bolzen, wenn ich später als Mönchengladbachs Torjäger Nummer eins meine Schützenfeste feiern wollte, in Heimspielen auf dem Bökelberg und auswärts bei den Zebras, den roten Teufeln vom Betzenberg und den königsblauen Knappen auf Schalke. Und vor allem im Münchner Olympiastadion, der Stätte unseres letzten WM-Triumphs.

Mens sana in corpore sano.

Beim Spiel »Drei gegen einen« mußte man sich immer wieder freilaufen, um für die anderen problemlos anspielbar zu sein, so daß der Mann in der Mitte keine Chance hatte, sich den Ball zu schnappen. Einfacher ging’s nicht, hätte man meinen sollen, aber manche waren zu begriffsstutzig dafür. Oder zu lahmarschig.

Ich hatte bald raus, wer gut war, wer mehr so mittel und wer zu den Pfeifen gehörte. Am besten von allen war Didi. Der war kleiner als ich, aber drahtig und plietsch, konnte irre gut fummeln und hatte die größte Klappe von allen. Dem gehorchten auch alle, sogar die Bulldozzer, die einen Kopf größer waren als er und wohl nur deshalb noch in der C-Jugend spielten, weil sie mit ihren zwei linken Füßen in der B-Jugend auf verlorenem Posten gestanden hätten.

Beim Abschlußspiel dribbelte Didi mich einmal aus, aber ich rannte ihm nach und kickte den Ball in der letzten Sekunde, bevor Didi im Strafraum abziehen konnte, ins Toraus, und den von Didi mit scharfem Effet versehenen Eckball beförderte ich mit einem Scherenschlag aus dem Sechzehner. So machte Fußball Spaß!

Am übernächsten Sonntag, sagte Uli Möller, würden wir gegen Schwefingen spielen.

Nachhause kam ich schweinsdreckig, und Mama meckerte, weil sie die Klamotten immer noch mit der Hand waschen mußte.

Der Muskelkater, den ich am nächsten Morgen hatte, war nicht von Pappe. Ich kam kaum aufs Klapprad rauf. Als ob ich zwei Holzbeine gehabt hätte. Daß ich’s bis zur Penne schaffte, war ein Wunder.

Geschichte und Deutsch hatten wir bei Wolfert, einem Menschen mit Schnäuzer. In Deutsch sollten wir ein Gedicht interpretieren, das Goethe über andere Gedichte geschrieben hatte, die gemalte Fensterscheiben seien.

Dies wird euch Kindern Gottes taugen,

Erbaut euch und ergetzt die Augen!

Stocksauer soll Goethe allerdings gewesen sein, als Johann Gottfried Herder ihn dazu aufgefordert hatte, ausgeliehene Bücher zurückzuschicken: »Der von den Göttern du stammst, von Goten oder vom Kothe, Goethe, sende sie mir«, hatte Herder geschrieben, in Anspielung auf Goethes Nachnamen, und Goethe hatte sich auf den Schlips getreten gefühlt:

Es war freilich nicht fein, daß er sich mit meinem Namen diesen Spaß erlaubte; denn der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa wie ein Mantel, der bloß um ihn her hängt und an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja, wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen, an der man nicht schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu verletzen.

Also, der hatte Sorgen! Wenn er als Schüler öfter gehänselt worden wäre, hätte er vielleicht ein dickeres Fell besessen. Wahrscheinlich hatte er auch nie den Spruch gehört: Goethe spielt Flöte auf Schiller sei’m Piller.

Geheimrat war Goethe gewesen, was sich fast so anhörte wie Geheimagent.

Ich selbst hatte ganz andere Sorgen. Vor allem die, daß ich nie wußte, was ich in der großen Pause mit mir anfangen sollte. Von halb zehn bis zehn vor zehn, das waren zwar nur zwanzig Minuten, aber die zogen sich hin, wenn man niemanden zum Quatschen hatte. Im Klassenzimmer durfte man nicht bleiben, und ich konnte ja nicht ewig den Aushang mit den Vertretungsstunden begaffen. Mir blieb nur die Wahl, irgendwo doof rumzustehen, sinnlos über den Hof zu torfen oder mich auf dem Klo einzuschließen. Das hatte zwar den Nachteil, daß es da stank und man nichts anderes zu sehen kriegte als krakelige Pimmelbilder und eine schedderige Kloschüssel und nichts anderes zu hören als Strullen, Furzen, Abprotzen, Wischen und Wasserrauschen, aber man blieb inkognito.

Einmal, als ich mich gleich zu Beginn der großen Pause in einem der Lokusse eingeschlossen hatte, machten es sich bei den Waschbecken zwei Knilche gemütlich und salbaderten über Drehzahlen, Ritzel, Kettenspannung, Scheibenbremsen, Hinterradfederung, Zylinderköpfe und anderen Quark. Die dachten wohl, sie wären unter sich. Ich wartete und wartete, daß sie endlich abhauten, aber die dachten gar nicht daran, und als ich die Klotür öffnete, wunderten sie sich, wieso da einer so lange stumm auf dem Scheißhaus gesessen hatte.

Dämlicherweise hörte man auf dem Klo die Klingel nicht, und weil ich keine Armbanduhr besaß, mußte ich schätzen, wann die Pause um war, und das ging manchmal so schief, daß ich zu spät zum Unterricht erschien.

»Wo kommst du denn jetzt her?«

Scheiße an der Fahnenstange sieht schlecht aus und hält nicht lange.

Papa bearbeitete die Gartenhecke mit seiner neuen Elektroschere, auf der Trittleiter stehend, was lebensgefährlich aussah. Weshalb er die Hecke nicht so lassen wollte, wie sie war, begriff ich nicht. Wen sollte es stören, wenn da ein Ästchen aus dem Buschwerk ragte? Mußte denn die Hecke dastehen wie ’ne Betonmauer?

Wegen Omas Wunsch nach einer Wohnung in Meppen hatten Mama und Papa eine Suchanzeige aufgeben wollen, aber daraus war irgendwie nichts geworden.

Im Volksparkstadion trennten sich der HSV und Gladbach 0:0. Keine Glanzleistung, aber wieder ein Auswärtspunkt.

Volker brach zu einer Klassenfahrt nach Heidelberg auf. Lust dazu hatte er keine, und es nutzte auch nichts, daß Mama ihm erzählte, wie schön es am Neckar sei und daß sie einiges dafür gäbe, mit Volker tauschen und den Haushalt eine Woche lang in den Wind schießen lassen zu dürfen. Am Neckar und dem Heidelberger Schloß hatte Volker nicht für fünf Pfennig Interesse.

Über den Sportlehrer, der Weiler hieß, kursierte der Spruch: Wo Weiler lange weilt, weilt Langeweile. Unter Sport verstand der Verrenkungen am Barren und an der Sprossenwand sowie Basketball, das nach Völkerball behämmertste Ballspiel der Welt. Da rannten immer alle wie ein Hühnerhaufen hin und her, während die längsten Lulatsche dreihundertmal den Ball aufditschen ließen und ihn sich dann gegenseitig zuwarfen. Schöne hohe Flanken oder steile Pässe und Wettrennen wie auf dem Fußballplatz gab es beim Basketball nicht, sondern nur Gefrickel auf engstem Raum, und sobald man den Ball ergattert hatte, mußte man ihn wieder aufditschen lassen, wenn man nicht riskieren wollte, daß der Weiler abpfiff. Schlechter an Basketball als an Fußball war außerdem, daß man viel öfter den Schweißgestank der Mitspieler zu riechen kriegte, weil man ja permanent deren Achselhöhlen vor den Nüstern hatte.

Der Weiler sorgte aber auch für Überraschungen, zum Beispiel mit einem Langlauf am Dortmund-Ems-Kanal, bis zur Schleuse und zurück. Theoretisch hätte man da weiterlaufen können bis Dortmund, wo Onkel Walter wohnte.

Auf der Strecke bildeten sich verschiedene Pulks. Der Weiler trabte im vorderen Mittelfeld, umgeben von den wichtigtuerischen Bohnenstangen, die in Basketball gut waren, und ganz hinten verschleppte eine Nachhut von Lahmen und Dicken die Durchschnittsgeschwindigkeit. Weil ich nirgendwo dazugehörte, lief ich für mich allein.

Mit der Bitte, meinen Spielerpaß aufzutreiben, hatte ich Michael und Holger zuviel zugemutet, wie es schien.

Huhu! Huhuhuu! Huhuuhuu!

Ich habe gerade Deinen Brief gelesen. Das verlangst Du von uns? Gerade von uns faulen Säcken? Buuhää! Na ja, ich will’s am Donnerstag versuchen nächste Woche.

Meine Schwester hat sich am Mittwoch ’n neues Auto gekauft. Kennst Du noch den kleinen schwarzen Mini von ihr? Jetzt ist sie auf Sportwagen übergewechselt. Genauer gesagt auf Alfa-Romeo. 200 km/h soll das Ding fahren. Hat zumindest der Verkäufer gesagt. Und wenn man die Karre so ansieht, grün mit schwarzen Streifen an der Seite, dann glaubt man’s auch.

Der Freund von meiner Schwester hat uns dann gleich damit zu Konfi gefahren. Ich mußte hinten im Notsitz eingequetscht werden. Die Karre ist ja nur ein Zweisitzer.

Zurück sind wir nach einigen Schwierigkeiten per Anhalter gekommen. Denn gerade als wir uns hinstellten und den Daumen im vorschriftsmäßigen Winkel von 90° spreizten, kam der fette Sack von Qualle mit noch so einem. Kennste den Schubiack noch? Wenn nicht, dann hastes gut.

O doch, ich kannte Qualle noch! Der hatte mir auf dem Mallendarer Berg mal einen Stein an die Birne geschmissen, und ich hatte geblutet wie ein Schwein.

Jedenfalls konnten Holger und ich dessen Visage nicht länger als zwei Sekunden ertragen und sind dann bis zur Einfahrt vom Hochhaus gelatscht, um von da aus weiterzutrampen, und zum Glück hat uns nach zehn Minuten langen Wartens ein zivilisiertes Mitglied der menschlichen Rasse mitgenommen.

Sonst ist bei uns sehr viel passiert. Nämlich – gar nichts! Absolut gar nichts!

Bloß geregnet hat’s wie verrückt. Eigentlich wollte ich ja heute mal wieder ins Wambachtal gehen. Aber ich mußte noch Hausaufgaben machen, abtrocknen, saubermachen etc. etc. etc.

Tschüß denn, und drück uns die Daumen wegen dem blöden Fußballpaß da!

Um nicht gänzlich aus der Übung zu kommen, setzte ich mich ans Klavier und spielte den Türkischen Marsch, mein Bravourstück.

»Nicht so wild!« rief Mama aus der Küche.

Auf dem Mallendarer Berg hatte ich Klavierunterricht gekriegt, aber in Meppen noch nicht. Mama war der Ansicht, daß ich mich erst in der Schule akklimatisieren und gute Noten mitbringen solle. Dann könnten wir über eine Anmeldung in der Musikschule reden.

An den Wohnzimmerfensterbänken machten sich drei Handwerker zu schaffen, mit Stemmeisen, Kalk und Zement. Wenn ich anders enden wollte als diese Brechmänner, mußte ich das Abitur packen oder mir als Fußballprofi einen Namen machen.

Beim Training war ich der dritte, den Didi in seine Mannschaft wählte, und er schoß nach einem Doppelpaß mit mir das 1:0, obwohl Uli Möller im Tor stand, der sonst ausnahmslos alles hielt.

»Achtung, Hintermann!« Das mußte man schreien, wenn einer unbemerkt von hinten angegriffen wurde und den Ball zu vertändeln drohte.

Gladbach besiegte Duisburg mit 3:0 und führte jetzt die Bundesligatabelle an. Auf dem Fußballplatz lief alles wie am Schnürchen, sowohl am Bökelberg als auch im Hindenburgstadion. Richtig mies war nur die Schule. Wenn die nicht gewesen wäre, hätte ich mich in Meppen zwar noch nicht heimisch, aber doch wohler gefühlt.

Am allerbesten war es, die Schule hinter sich zu haben und zuhause einen nagelneuen Brief von Michael zu lesen, und am allerallerbesten war’s, wenn er von seinem Pech erzählte.

Am Sonntag haben Holger und ich ’ne Fahrradtour gemacht. Hier die Route: Simmern, Neuhäusel, Arzbach, Bad Ems, Lahnstein, Horchheimer Höhe, Arzheim, Ehrenbreitstein, Mallendar, Gartenstadt und wieder heim. Äääächz! Und in Mallendar waren so Kaugummiapparate. Die waren unser Ruin! Ich habe ja nur 50 Pfennig ausgegeben, aber Holger ganze 60 Pfennig! Zuerst haben wir nur Kaugummis gezogen. Dann war da noch so ein Apparat mit Kapseln für 20 Pfennig. Holger zog. Und was kam raus? Ein grauer, klebriger, schmieriger, verdreckter Kaugummiklumpen! Zu nichts zu gebrauchen! Holger hat ihn gleich weggeschmissen. Und was tut er dann? Er ist übergeschnappt! Er holt sich da noch was! Diesmal kommt eine Kapsel raus. Was ist drin? Ein zwei Millimeter großes Gummivieh und ein Ring. Was steht auf dem Ring? Love you, love you, love you! So ein Schiet!

Und in Arzheim hatte Holger einen Riesendurst. Zu unserer Rettung kamen wir an so ’nem Automaten vorbei, wo man was zu trinken ziehen und zwischen Limonade und Bier wählen konnte. Holger will natürlich Limo. Aber was ist das? Vor dem Einwurfschlitz ist Klebeband! Kaputt! Oben beim Bier ist alles in Ordnung. Der Durst treibt Holger zu einer Greueltat: Er zieht sich für 1 DM ’ne Flasche Bier! Und was noch bestürzender ist: Er trinkt sie auch aus! Ganz alleine! (Ich wollte nichts, bää!) Deswegen mußten wir erstmal auf ’ner Bank ’ne halbe Stunde ausruhen. Dann konnten wir so halbwegs weiter. Holger war aber eine Gefahr für den Straßenverkehr …

Und was war jetzt mit meinem Spielerpaß?

Papa rechnete abends lange herum, mit Papier und Bleistift, bis er herausfand, daß er seiner Lebensversicherung elf Mark sechzig zuviel überwiesen hatte.

In dem Bau, wo auch der Konfirmandenunterricht stattfand, sollte ein Klassenfest steigen, und ich ging hin, aber das hätte ich besser gelassen. Ich kriegte eine Zigarette angeboten von Ulla Nölting, die Klassensprecherin war, und als ich ablehnte, sagte sie: »Du spielst wohl lieber mit Puppen oder was?«

Fünf Minuten lang blieb ich noch da, rein anstandshalber, und dann machte ich mich dünne.

Siehst du die Kreuze am Waldesrand?

Da liegen die Raucher von Stuyvesant.

Großer Gott. Ob jetzt alle dachten, daß ich lieber mit Puppen spielte, als Zigaretten zu paffen? Wäre ich da bloß nicht hingegangen!

Gladbach mußte auswärts gegen Rot-Weiß Essen antreten. Da spielte Ente Lippens mit, ein brandgefährlicher Sturmtank, dem beim Stand von 0:2 der Anschlußtreffer glückte. In der zweiten Halbzeit sorgte der dänische Wunderknabe Allan Simonsen mit dem 1:3 wieder für klare Verhältnisse. Mit drei Toren, einem Gegentor und zwei Auswärtspunkten wäre ich als Trainer mehr als zufrieden gewesen.

Als Volker von seiner Klassenfahrt wiedergekommen war, löcherte Mama ihn mit Fragen nach dem Heidelberger Faß und dem Philosophenweg, aber Volker schaltete auf stur.

»Seid ihr denn auch mal zum Königstuhl gewandert?«

»Weiß ich nicht.«

»Was? Du weißt nicht, ob ihr zum Königstuhl gewandert seid?«

»Wir sind auf alle möglichen Berge gekraxelt«, sagte Volker, und man merkte, daß er keine große Lust dazu hatte, Anekdoten aus dem Ärmel zu schütteln.

Renate reiste nach Birkelbach ab, zu ihrer Landfrauenschule im Rothaargebirge. Das hörte sich gut an: Rothaargebirge. Nicht so gut wie Elfenbeinküste oder Rocky Mountains, aber besser als Emsland.

Vor dem Spiel gegen Schwefingen händigte Uli Möller mir mein Trikot aus, mit der Rückennummer 4, und er zeigte mir Schwefingens Mittelstürmer. Den sollte ich decken. Also rannte ich hinter dem her, wohin er auch lief, über das gesamte Feld, wenn’s sein mußte, und sobald ihn jemand anspielte, war ich zur Stelle und kickte den Ball ins Aus.

»Der Pappnase hast du’s gezeigt«, sagte Uli Möller in der Pause.

Auch in der zweiten Halbzeit kam der Mittelstürmer nicht mit dem Ball an mir vorbei. Im Rennen, Grätschen und Wegspitzeln war ich gut, und wenn es darum ging, den Ball nach vorne zu treiben, brauchte ich nie lange nach Didi zu suchen, der sich unermüdlich freilief und anbot. Ein echter Aktivposten war auch Glübi, der so hieß, weil er bei der geringsten Kraftanstrengung eine feuerrote Rübe kriegte, wie eine rote Glühbirne. Glübi war ein wendiger und antrittsschneller Linksaußen. Einen hohen Paß servierte ich ihm einmal mit der Fußballschuhspitze, mit der man eigentlich nicht schießen sollte, aber der Ball flog in hohem Bogen – »Schööön!« schrie Didi – über alle gegnerischen Abwehrspieler hinweg und sprang genau vor Glübis Füßen auf, und der zog ab ins rechte obere Eck. 1:0! Das war der Sieg.

In der Kabine knallte Uli Möller einen Pappkarton mit Gebäck auf die Sitzbank: Plunderteilchen, Streuselkuchen, Nußecken, Rosinenschnecken und Mandelhörnchen! Affengeil! Und es gab sogar noch Coca-Cola!

Papa reparierte die Nähmaschine. Wenn ich mal verheiratet wäre und ’ne Frau hätte, die mich darum bitten würde, ihre kaputte Nähmaschine zu reparieren, würde ich dastehen wie Pik Sieben, aber Papa machte das alles mit links. Der hatte eben Maschinenbau studiert, und dazu zählte offenbar auch Nähmaschinenbau.

Ich hätte es ja nicht für möglich gehalten, aber der Weiler hatte was in der Hinterhand, das noch bescheuerter war als Basketball – eine Schwimmstunde im Freibad! Schreckhecklefeck laßhaßlefaß nachhachlefach! Wie grausig, da am Beckenrand antanzen zu müssen, mit nichts am Rumpf als ’ner kneifenden Badehose, mitten zwischen den Mädchen, und dann um die Wette im Chlorwasser zu schnorcheln …

Es war sogar die Rede davon, daß wir vom Fünfer springen sollten.

Irgendwie gelang es mir, mich vor allem zu drücken. Die meiste Zeit standen wir sowieso nur wie Falschgeld rum, während der Weiler mit dem Bademeister am Palavern war.

Kalt erwischt hatte es auch Michael, wie ich seinem nächsten Brief entnehmen konnte.

Brblbrllbl!

So, heute will ich mal probieren, Dir einen richtig langen Brief zu kritzeln. Aber worüber?

Aus der Freizeit in Konfi wird nichts. Erstens habe ich keine Lust, mit diesen Draufgängern irgendwo vier Tage zu verbringen, und zweitens haben wir ja sowieso kein Geld.

Heute war Schwimmwettbewerb von der Schule aus. Wir mußten hin. Freiwillig wäre ich nicht gegangen, wo ich doch kaum schwimmen kann. Aber wo ich ja mußte … Also bin ich heute mit dem 9-Uhr-Bus nach Koblenz zum Beatus-Bad gefahren. Kennste sicher nicht. Jedenfalls hab ich da zehn Minuten lang gewartet, und dann ist unsere Klasse drangekommen. Erst mußten wir uns in einer engen, stinkigen Sammelkabine umziehen. Dann konnten wir zum eigentlichen Bad gehen. Da warteten wir was, und dann ging’s los. Nach dem Alphabet wurden wir aufgerufen. Ich kam im zweiten Lauf auf Bahn 2. Man konnte entweder vom Startblock abspringen oder auch schon ins Wasser gehen. Ich wählte letzteres, weil ich mir immer erst die Augen reiben muß, wenn ich mit dem Kopp unter Wasser komme. Schwimmen mußten wir 50 m, und da die Bahn nur 25 m lang war, mußten wir auch einmal wenden. Das war ja wohl der größte Mist, wenn man davon absieht, daß das Wasser eiskalt war und fast geknistert hat vor Chlor. Aber jetzt zum Rennen: Zuerst ging’s bei mir noch recht schnell, aber dann … Ich muß wohl als Letzter oder Vorletzter ins Ziel gegangen sein. Schnauf! Und als ich dann aus dem Wasser wollte, da kam ich kaum raus! Meine Arme waren lahm, ich hatte ’nen Krampf in den Zehen, und meine Beine konnte ich wegschmeißen. Ich muß ja wohl ’ne schöne Figur abgegeben haben!

Das »neue« Auto von meiner Schwester ist schon wieder kaputt. Sie hat sich reingesetzt, und irgendwas hat »kracks« gemacht. Na, und jetzt springt die Karre nicht mehr an. Schön blöd, für 3800 DM ein Auto, das nur eine Woche lang hält!

Weißt Du was? Gestern war doch Donnerstag. Um 5 Uhr sitze ich also irgendwo herum, und da fällt mir plötzlich Dein Spielerpaß ein. Ich wetze also zum Sportplatz, treffe den Trainer und frage ihn. Und was sagt der mir? Daß er ihn schon längst weggeschickt hat! Hast Du ihn etwa schon und hast uns nichts davon geschrieben? Na warte, wenn das stimmt! Da blamiert man sich nun für nichts und wieder nichts!

So, und jetzt ist mein Grützehirn ausgekratzt. Nichts mehr, aber auch gar nichts mehr drin.

Vielleicht sollte ich zu Deiner Weiterbildung beitragen und Dir irgendeinen lateinischen Satz schicken. Wenn Du willst, kannst Du ja mal versuchen, ihn zu übersetzen: Scimus cuncti, ut stultus sis.

Dann mach Dich mal dran. Salve, tuus Michaelus!

Daß mein Spielerpaß sich bereits in Meppen befand, hatte ich nicht gewußt.

Beim Dienstagstraining wählte Didi mich als ersten in seine Mannschaft und sagte: »Martin, das bedeutet Kampfgeist!«

Wir gewannen 9:3. Einmal hatte ich auf der Linie geklärt und beim Konter den fliegenden Torwart Uli Möller mit einer unhaltbaren Bogenlampe bezwungen.

Nach dem Training tanzten alle splitternackt in der Gemeinschaftsdusche herum, bis auf mich. Ich duschte lieber zuhause.

Abends erwarteten Mama und Papa Besuch von Herrn und Frau Lohmann, einem Pärchen, das Papa wohl nicht hatte abwimmeln können. Herr Lohmann arbeitete auch auf der E-Stelle und seine Frau als Lehrerin an Wiebkes Grundschule.

Mama war schon seit den ZDF-Nachrichten zwischen Küche und Wohnzimmer hin- und hergehuscht und hatte auf den Couchtischen Salzstangen, Fischlis, Aschenbecher, Weingläser und Untersetzer aus Kork plaziert. »Und nun seid bitte so gut, uns hier in Frieden zu lassen«, sagte sie zu Volker, Wiebke und mir. »Wenn ihr euch still auf eure Zimmer zurückzieht und keinen Streit miteinander anfangt, könnt ihr noch ’ne Viertelstunde aufbleiben. Habt ihr gehört?«

Die einzige, die Streit anfing, war Wiebke, nachdem ich angeblich das letzte Quentchen Zahnpasta aus der Tube gepreßt hatte.

»Spurt ihr jetzt da oben?« zischte Mama. »Oder muß ich euch erst Beine machen?«

Aus dem Wohnzimmer tönten Gläserklirren und Gelächter.

Am nächsten Abend hatte ich die Qual der Wahl: Um Viertel nach neun fing im Zweiten »Lachen Sie mit Stan und Ollie« an, präsentiert von Theo Lingen, und um Viertel vor zehn im Ersten das Länderspiel Österreich gegen Deutschland. Wiebke und Volker wollten Stan und Ollie kucken. Um des lieben Friedens willen verzog ich mich um Viertel vor zehn in mein Zimmer und machte das Radio an.

Österreich verlor 0:2, durch zwei Tore von Erich Beer, und ich war froh, ein Deutscher zu sein. Die Österreicher schnitten immer unter ferner liefen ab, genauso wie die Schweizer mit ihren komischen Möchtegernvereinen. Wer wollte schon bei Grasshoppers Zürich spielen? Juventus Turin, Benfica Lissabon, Real Madrid oder eben Borussia Mönchengladbach, das war ein anderer Schnack.

Michael hatte wieder eine Menge Pech gehabt.

Neulich sind Holger und ich zum Pfarrer gegangen und haben gesagt, daß wir nicht mit zu der Freizeit da können. Aber da hatten wir nicht mit dessen Tatkraft gerechnet. »Ihr kommt schon mit, keine Angst, ich komm demnächst mal vorbei und bespreche alles mit eurer Mutter.« Äff, jetzt können wir, besser gesagt: müssen wir vielleicht doch noch mit! Schöne Scheiße! Mit der ganzen idiotischen Bande! Das wird mein Untergang!

Zur Aufbesserung unserer Lage haben Holger und ich uns für 4 DM bei Spar einen Drachen gekauft. Wenn Wind ist, dann fliegt er ganz akzeptabel, aber: WANN IST HIER DENN SCHON MAL WIND? Nie, absolut nie. Alles umsonst.

Hinten auf dem Stoppelfeld beim Rehabilitationszentrum (ein längeres Wort konnten die sich wohl auch nicht ausdenken) bauen sie jetzt ’ne Schule. Dann können wir den Drachen überhaupt nicht mehr fliegen lassen. Und im Wambachtal reißen sie sämtliche Wege für eine Ferngasleitung auf.

Das Schwimmbad war für 14 Tage geschlossen, weil sich da ein paar Leute irgend ’ne fiese Krankheit geholt haben. Schöne Sauerei. 20 % Pisse sollen da im Wasser rumgaukeln, und im Schwimmer mehr als im kleinen Becken. Jaja, die lieben Erwachsenen. Auf den Kindern könnense rumhacken, aber sie selbst sind natürlich die größten Ferkel.

Verflixt und zugenäht. Es muß doch noch irgendwas passiert sein? Bei aller Langeweile, da war doch … ja, natürlich. Vorgestern waren Holger und ich in Bad Ems, Tretbootfahren. War prima! Oder, wenn man’s genau nimmt, auch wieder nicht. Also, wir sind eingestiegen und gleich runter zum Springbrunnen in der Lahn. Da kann man sich nach Herzenslust vollspritzen lassen. Aber genau in der Sekunde, wo wir dahinkommen, geht das Ding natürlich aus. Verflucht! Zum Abreagieren haben wir die Enten eingeschüchtert, die da so rumschwammen. Und ’ne Flaschenpost haben wir gefunden, allerdings war die Flasche bloß voller Bierdeckel, und die haben wir nicht rausgekriegt. Holger wollte dann unbedingt an einem Brückenpfeiler anlegen. Das hat leider nicht so ganz geklappt. Wir sind irgendwie zu schnell gewesen und zu steil drauflos. Jedenfalls sind wir voll mit dem Bug angeknallt. Die Leute auf der Brücke haben alle doof geglupscht. Hatten ja auch allen Grund dazu. Danach sind wir so ’nem Angler zu nah auf den Pelz gerückt. Mann, hat der gemeckert!

Und dann war die Stunde um.

Das waren die aktuellen Nachrichten aus Vallendar.

Im Training übten wir Ballannahme. Innenrist und Außenrist. Wie man den Ball abschirmt, wenn man trotz Hintermann angespielt wird, und wie man halbhohe Bälle von der Brust abtropfen läßt. Das wollte alles gelernt sein.

Als ich am Samstag aus der Schule kam, schickte Mama mich gleich wieder raus, zum Unkrautschöveln. »Da fällt dir schon kein Zacken aus der Krone.«

Wie ich diesen nutzlosen Dreckstreifen vor der Gartenhecke haßte! Nichts als Arbeit hatte man damit, und wenn sie erledigt war, wucherte trotzdem alles im Nu wieder zu. Meine Beine hatten Schrammen, mein rechter Ringfingernagel war umgeglippt, und während ich da auf allen vieren herumkroch, kamen zwei Weiber aus meiner Klasse angeradelt, Tanja Gralfs und Anneliese Junkers. Denen kehrte ich den verlängerten Rücken zu, bis sie vorbeigefahren waren.

Wenn man’s genau bedachte, war eigentlich alles in Meppen zum Kotzen, bis auf den Fußballverein.

Anders als die Gladbacher, die beim 1:1 gegen Bochum ein schwaches Bild abgegeben hatten, spielten wir gegen die C-Jugend des SV Eltern groß auf und gewannen mit 4:1. Für das Gegentor konnte ich nichts. Das war bei einem Handelfmeter gefallen, den unser Vorstopper Andi verursacht hatte. Bei dem mußte man auf alles gefaßt sein. Der brachte es fertig, fünf Leute auszutricksen und seinen Sturmlauf mit einem zentimetergenauen Steilpaß abzuschließen, aber er leistete sich auch Fehlpässe im eigenen Fünfer, wie ein blutiger Anfänger.

Nach dem Spiel erzählte Andi, daß er die Schule satt habe und im nächsten Sommer abgehen werde. Dabei war der gerade mal in der achten Klasse.

»Und was willste dann machen?« fragte Uli Möller. »Ohne mittlere Reife? Betteln gehen? Oder deine Oma auf ’n Strich schicken?«

Darüber hatte Andi noch nicht nachgedacht.

»Ja, du Schlauberger, da kuckste!« rief Uli Möller und schüttelte den Kopf. »Echt, manchmal frag ich mich, wo ich hier bin, beim SV Meppen oder im Irrenhaus!«

Da gebe es keinen Unterschied, sagte Didi.

Der Gedanke, daß Andi einen an der Waffel hatte, war mir schon gekommen, als er im Training einmal seine vielen Strümpfe hochgehalten und verkündet hatte, daß er immer mehrere Paare anziehe, entweder drei oder fünf oder sieben oder maximal neun. Es müsse immer eine ungerade Zahl sein; sonst würde er ein Eigentor schießen. Andi war abergläubisch.

Man hätte mal selbst eine Flaschenpost loslassen müssen. Dem ehrlichen Finder winke eine Belohnung von Martin Schlosser, wohnhaft da und da, tippte ich auf ein Blatt Schreibmaschinenpapier und stopfte es zusammengerollt in eine leere Mineralwasserflasche, die ich fest zuschraubte. Dann fuhr ich zur Hasebrücke hinterm Kreisgymnasium, warf die Buddel ins Wasser und konnte zusehen, wie sie langsam aufs Ufergestrüpp zuschaukelte und sich darin verhedderte.

An einer total unzugänglichen Stelle natürlich.

Und ich hatte gehofft, in ’nem halben Jahr oder so vielleicht einen Schrieb aus New York zu kriegen. Oder aus Hongkong oder Rio de Janeiro. Denkste Piepen! Nicht mal schlappe zwanzig Meter weit war meine Flaschenpost auf ihrer Weltreise gekommen.

Am Montag merkte ich erst in der großen Pause, daß ich vergessen hatte, mir die Fahrradklammer vom Hosenbein abzumachen. Au Mann. Das sah so panne aus! Und alle hatten es gesehen, und keiner hatte was gesagt!

Mir blieb doch wirklich nichts erspart.

Nachmittags nahmen zwei Fritzen vom Bundesvermögensamt und vom Staatshochbauamt unser Haus unter die Lupe, und Papa, der sich dafür freigenommen hatte, zeigte denen jede Macke, die es hatte. In mein Zimmer kiekte die Delegation nur einmal kurz rein, als ich an den Hausaufgaben saß. Railroading in the United States.

What was the first American train pulled by?

Which of the two countries pioneered railroading – Britain or the United States? Give reasons.

Renate rief aufgeregt an und erzählte, Olaf habe ihr ein Telegramm geschickt, daß er nach Kanada fliegen müsse, für mehr als drei Wochen, zu irgendeinem Manöver in Camp Shilo oder so ähnlich.

Na und? Der würde schon wiederkommen. Renate übertrieb’s gelegentlich mit ihrer Affenliebe, fand ich.

Dem neuesten Brief von Michael lag wieder mal einer von Holger bei. Die Anrede mußte man rückwärts lesen.

Ollah Nitram!

Du scheinst ja, im Gegensatz zu uns, ziemlich viel zu erleben.

Ob das ironisch gemeint war?

Leider passiert bei uns rein gar nichts. Und wer ist daran schuld? Michael Gerlach. Seit Du weg bist, sitzt er nur blöd auf seinem Arsch und tut gar nüscht. Von wegen im Wambachtal sind zu viele Mücken oder es ist zu heiß. Er hat ganz einfach keine Lust. In der Schule und im Bus hockt er sieben Stunden lang rum, und wenn er nach Hause kommt, heult er: »Huuuäääh … hab keine Lust, huuuäääh.« Was soll unsereins da schon ausrichten. Allein macht’s eben keinen Spaß. Na ja, manchmal rafft er sich auf, aber dann muß man ihm ’ne Gegenleistung bringen, z.B. Pommes frites oder Kaugummi. Oder auch Schläge kassieren.

Jaja, es ist schon schlimm mit ihm! Hoffentlich brennt Euer Haus ab, und Ihr kommt zurück.

Tschüß – Holger

In seinem eigenen Brief erzählte Michael von ganz was anderem.

Juchhee!

Gerade hat mich Dein jüngstes Gekritzel erreicht. Und so reiße ich mich nun zusammen und schreibe Dir einen meiner berüchtigten Von-der-Langeweile-erzähl-Briefen.

Bei uns herrscht herrliches Wetter. Glühendheiß und stickig. Mir wär’s lieber, wenn Schnee läge. Dicker, fester, schöner Schnee. Und eisig kalt müßte es sein. Und Schlittenfahren müßte man können!

In der letzten Zeit habe ich versucht, mein Kett-Car wieder in Schwung zu bringen, damit ich wenigstens irgendetwas zu tun hatte, aber ich hab’s nicht geschafft.

Für etwas Abwechslung hat unser Wellensittich Jakob gesorgt. In der letzten Woche ist er dreimal abgehauen. Auch gestern. Zum Glück haben wir ihn jedesmal wieder einfangen können. Irgendwann wird er für immer abhauen. Er kann schon fünf Meter weit fliegen.

Aber was der Holger Dir schreibt, stimmt alles gar nicht. Buuhää! Das stimmt nicht, stimmt nicht, stimmt ja alles gar nicht!

Wovon soll ich denn jetzt noch schreiben? Daß Holger sich in einen Werwolf verwandelt hat? Oder von dem Vulkanausbruch in unserer Nähe? Solche Lappalien werden Dich wohl kaum interessieren.

Im Wambachtal reißen sie jetzt den ganzen Boden auf und verlegen Rohre. Schöne Schweinerei! Und im »Heimat-Echo« schreiben sie: »Der Bürgermeister und die Stadträte besprachen gestern die Kultivierung des Wambachtals.« Ich würde wetten, daß die das im Suff besprochen haben, oder sie waren von oben bis unten mit Heroin vollgepumpt.

So, ich mach jetzt Schluß. Wie der lateinische Satz ging, hab ich vergessen.

Ich wünschte mir ein Kaleidoskop, und Papa, sparsam wie immer, bastelte selber eins, aus Spiegelchen, Kleister, Klebeband, Konfetti und ’ner Pappröhre, aber wenn man da reinkuckte, sah man nicht viel, weil es zu dunkel war innendrin.

In Mathe hagelte es Funktionsgraphen, Koordinatenpaare, Vereinigungsmengen und Teilmengenbeziehungen zwischen Erfüllungsmengen.

Zeichne das Pfeildiagramm der Relation. Setze dazu für x und für y Zahlen aus der Menge A = { –2, –1, 0, 1, 2} ein. Prüfe: Ist die Relation reflexiv, ist sie symmetrisch, ist sie transitiv?

Ein einziger Pillefax war das. Ein mieser, hirnverbrannter, verstunkener Mist, den sich irgendwelche Sadisten aus den Fingern gesogen hatten, um harmlose kleine Untertertianer zu schikanieren. Transitive Relation, wenn ich das schon hörte! Überflüssig wie ein Kropf, der ganze Krempel.

Oder etwa nicht? Schon mal ’ner transitiven Relation begegnet, in der freien Wildbahn, außerhalb der Schule? In echt?

Als ich nachhausefahren wollte, waren die Bahnschranken unten. Na klar. Wieviel Lebenszeit ich wohl inzwischen schon vor diesen Schranken verplempert hatte?

Eine andere gute Frage war, wieso die Schranken regelmäßig eine halbe Ewigkeit, bevor der Zug kam, runtergingen. Hätten, sagen wir mal, zwei Minuten nicht genügt? Mußten es wirklich jedesmal zwanzig Millionen Jahre sein? Ob das so in der Dienstvorschrift für Schrankenwärter stand?

Das war überhaupt ein merkwürdiger Beruf, Tag und Nacht Schranken runter- und wieder raufzukurbeln. Und was machte der Wärter in seinem Türmchen, wenn er nicht kurbeln mußte? In der Nase bohren und Comic-Strips lesen? Oder wedelte der sich da oben dann womöglich heimlich einen von der Palme?

In Konfi blubberte Pastor Böker davon, daß Jesus Christus, Gottes Sohn, uns einladen wolle in seine Nähe. Die Liebe Gottes gegen uns, sage die Bibel, sei daran erschienen, daß Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt habe in die Welt, auf daß wir leben sollten durch ihn.

Eingeborener Sohn? Das hörte sich so an, als ob Jesus ein Eingeborener gewesen wäre, mit Knochen im Toupet, Bananengürtel und Missionarskochtopf, aber ich hütete mich, den Böker zu fragen, wie das zu verstehen sei. Der redete auch so schon genug.

Ausnahmsweise durfte die C-Jugend auf dem gepflegten Rasenplatz trainieren, wo sonst die Oberligaspiele stiegen. Mannomann, das war aber was anderes als das Gestocher auf Schlacke! Wie weich und einladend sich das anfühlte, auf Gras, und wie gut das roch! Und dann noch die Tribüne an der Seite! Da konnte man sich fast schon einbilden, wie es wäre, bei einer WM vor ausverkauftem Haus zu einem Jahrhundertspiel aufzulaufen, auch wenn keine Zuschauer da waren und das Hindenburgstadion im Vergleich mit dem Aztekenstadion zugegebenermaßen ziemlich schlapp ausgesehen hätte.

Mit meinem Ball trainierte ich auch bei uns im Garten, wo ich aber darauf achten mußte, daß die Gewächse keinen verplättet kriegten. Ich übte Doppelpässe mit der Hausmauer und dribbelte die Birken aus, und nur wenn’s nieselte oder gewitterte, hörte der Spaß für mich auf. Im Unterschied zu Fritz Walter konnte ich das sogenannte Fritz-Walter-Wetter nicht ab. Da igelte ich mich lieber mit einem fesselnden Schmöker in meinem Zimmer ein, selbst wenn ich den schon auswendig kannte. Die Bücher von Enid Blyton und Astrid Lindgren konnte man immer wieder lesen. Wie Barny, Robert, Stubs und Diana das Rätsel um die verbotene Höhle lösen oder wie Kalle Blomquist dem diebischen Onkel Einar auf die Schliche kommt. Da mochte draußen der Regen pesern, so viel er wollte.

Wenn Tante Dagmars altes Rad mein eigen wäre, wollte ich damit nach Jever fahren. In den Herbstferien vielleicht. Die Entfernung zwischen Meppen und Jever, die ich im Shell-Atlas ausgemessen hatte, betrug rund 120 Kilometer, und in Emden gab es eine Jugendherberge, in der ich übernachten konnte, aber Mama sagte, daß ich eine Schraube locker hätte: »Daraus wird nichts, mein Lieber, und wenn du dich auf den Kopp stellst!«

Dabei war Mama als Jugendliche diverse Male mit dem Rad von Jever nach Oldenburg gefahren, um da ins Theater gehen zu können. Sogar im Krieg! Und ich durfte nicht einmal im Frieden ’ne Radtour nach Jever unternehmen!

Vor Wut wäre ich fast geplatzt, so wie dieser eine Schlagersänger, der für seine Angebetete Blumen gekauft hatte, von seinem letzten Geld, und dann sitzengelassen worden war:

Und weil du nicht bist gekommen,

hab ich sie vor Wut genommen,

ihre Köpfe abgerissen

und sie in den Fluß geschmissen …

Als Erziehungsberechtigte glaubte Mama offenbar, sie dürfe sich jede Freiheit herausnehmen. Auch die, ihren eigenen Kindern zu verbieten, was sie selbst als Heranwachsende gedurft hatte.

Gegen Frankfurt spielte Gladbach nur 1:1 und fiel auf den dritten Tabellenplatz zurück, hinter Braunschweig und Bayern. Aber denen würden die Fohlen schon zeigen, was ’ne Harke ist, in einer Woche beim Schlagerspiel auf dem Bökelberg.

Renate kam nach Meppen, um ihren Flokati abzuholen. Der Fußboden in ihrem Zimmer in Birkelbach sei eisig.

Was sie über ihre Arbeit erzählte, klang schauderbar. Die Maiden würden da zu verschiedenen Ämtern eingeteilt: Fußbodenamt, Anrichteamt, Ordnungsamt, Wäscheamt, Blumenamt und so weiter, und dann gäb’s noch Unterricht in Wirtschaftslehre, Ernährungslehre, Kochen, Haustechnik, Hygiene, Psychologie, Nadelarbeit, Gartenarbeit, Wäsche und Sport. Gekocht werde immer für hundert Personen. Der schwarze Tee schmecke nach nichts, und abends kriegten sie bloß scheußlichen Hagebuttentee. Zweimal die Woche hätten sie abends Ausgang bis zehn, aber an den anderen Tagen dürften sie nicht weg, nicht mal zum Telefonieren.

Einen Bettvorleger aus Heidschnuckenwolle würden sie jetzt weben. Dafür hätten sie die mit Dreck und Kletten verfilzte Wolle aber erst waschen und trocknen und hinterher noch langwierig von Hand mit Bürsten reinigen müssen. »Den Gestank von dem Wollfett hab ich jetzt noch in der Nase«, sagte Renate.

Übrigens habe sie sich inzwischen schlaugemacht, wofür das blöde Wort »Maid« stehe, nämlich für Mut, Ausdauer, Intelligenz und Demut. Das sei doch nun wirklich Kiki.

Nächstes Jahr, wenn sie in Birkelbach fertig wäre, wollte sie sich zur Tontechnikerin ausbilden lassen. Mama kannte irgendwen, der bereit war, Renate beim WDR in Köln eine Stelle als Praktikantin zu vermitteln. Danach würde sie die Schule für Rundfunktechnik in Nürnberg besuchen und anschließend ihre Moneten beim WDR verdienen, aber als Papa davon hörte, belferte er: »Tontechnikerin! Du hast ’n anständiges Abitur, und dann studierst du gefälligst auch!«

In der C-Jugend besaß ich nun zwar einen Stammplatz, aber bloß als linker Verteidiger und nicht als Stürmer oder Mittelfeldregisseur. Die Mittellinie überquerte ich nur, wenn das auch der Spieler tat, den ich zu decken hatte. Für den Anfang der Karriere eines Torjägers war das eher untypisch. Wenn es dabei blieb, würde ich später als Torschütze in der Nationalmannschaft äußerstenfalls mit Berti Vogts konkurrieren können. Der hatte in seinen 65 Länderspielen noch kein einziges Tor geschossen.

Andererseits war ich meistens schon froh, wenn ich einen Zweikampf siegreich bestanden und den Ball ins Aus oder nach vorne geholzt hatte. Es machte mich nervös, wenn ich angespielt wurde, um den Angriff aufzubauen, und ich gab den Ball am liebsten schleunigst wieder ab und konzentrierte mich auf meine Hauptaufgabe, die Manndeckung.

Uli Möller fand anscheinend, daß ich das am besten konnte, aber noch war ja nicht aller Tage Abend.

Renate hatte eine Pizza gebacken, belegt mit Käse und Tomaten und derartig scharf gewürzt, daß einem die Schweißperlen nur so runterliefen.

Miau! Mio! Miau! Mio!

zu Hilf! das Kind brennt lichterloh!

Ich rannte in die Küche, um mir Leitungswasser in den lodernden Schlund zu gießen.

»Ich weiß gar nicht, was du hast«, sagte Renate, als ich wiederkam. Sie habe ganz bewußt mit Gewürzen gegeizt, damit hier niemand einen Rappel kriege. »Olaf und ich gönnen uns die fünffache Menge!«

Wenn das wahr war, hatten Renate und Olaf ’ne Meise. Oder Gaumen aus Elefantenleder.

Nach Birkelbach nahm Renate auch ihr altes Schmetterlingsposter mit.

Um 21 Uhr mußte sie am Sonntagabend wieder dort sein.

In dem Film »Toll trieben es die alten Römer« lief ein furioses Wagenrennen, als im Hausflur Papas Gebell erscholl: »Martin! Das Klapprad steht noch draußen!«

So jagte er einen gern hoch, obwohl er selbst nicht dafür berühmt war, daß er zur flotten Truppe gehörte. Mama drängelte ihn schon seit langem, den VW zu reparieren, damit sie nicht mehr alle Einkäufe zu Fuß erledigen mußte, aber irgendwie kam Papa nie dazu, die Sache ernsthaft in Angriff zu nehmen. Zum Glück gab es ganz in der Nähe einen Supermarkt, Comet, schräg gegenüber vom Hindenburgstadion.

Ich trug das Klapprad in die müffelnde Waschküche, und bei dieser Gelegenheit nahm Wiebke mir meinen Sofasitzplatz weg. Als ich sie davon vertreiben wollte, mischte Mama sich ein: »Müßt ihr euch denn immer und immer kabbeln? Jetzt ist Sense! Raus hier! Ab nach oben, alle beide!«

Mit einem kleinen Bruder hätte ich mich unter Garantie besser verstanden als mit Wiebke, der dummen Sau.

Seit wir in Meppen wohnten, lief so viel schief, daß ich ohne die Briefe von Michael Gerlach nicht mehr viel zu lachen gehabt hätte.

Grüezi!

Scheibe, jetzt kann ich den Brief nochmal schreiben. Harald hat Exemplar Nr. 1 nämlich in die Finger bekommen und zerknüttelt. So’n Dreckskerl.

Gestern war ich mit meiner Mutter im Wambachtal. Mann, da sieht’s ja jetzt stark aus! Alles überwuchert, die ganzen Wege, und an jedem Busch oder Baum hängt was Leckeres dran … dicke Brombeeren, saftige Äpfel und knusprige Nüsse … schade, daß Du das nicht sehen kannst. So ist das da noch nie gewesen. Selbst der Weg nach Simmern ist zu einem Schleichpfad geworden. Jetzt werde ich da wohl öfter runtergehen und schlemmen. Mjamm, mjamm. Das wird lecker! Und dann werde ich in die noch unerforschten Urwälder hinter Hillscheid vagabundieren und versuchen, neue Wege zu finden. Außerdem will Holger dauernd zum Fernsehturm, weil er den ja noch nie so aus der Nähe gesehen hat wie wir. Ach ja, das Leben ist schön … aber vorher muß ich noch abtrocknen und in Deutsch ’ne Inhaltsangabe verzapfen. Ob das Leben dann noch so schön sein wird?

Heute früh hat Harald seinen Führerschein fürs Moped gemacht und fehlerlos bestanden. Das mit dem »fehlerlos« hat er zumindest gesagt. Jetzt darf er endlich auch mit polizeilichem Segen Unfälle bauen. Da macht das ja echt Spaß.

Weißt Du, was ich in einem meiner alten Tagebücher gelesen habe? Wir beiden haben mal ’ne Wette abgeschlossen, wer von uns beiden mit 40 wohl reicher sein wird. Wie die ausgeht, weiß ich heute schon: Du gewinnst als zigarrenrauchender Bonze über einen heruntergekommenen Spieler oder so. Tja, das Leben ist hart.

Ach ja, der lateinische Satz … der heißt auf gut Deutsch: Wir wissen doch alle, daß Du total bekloppt bist. (Du wolltest es ja wissen.)

Tschöken dann.

Mein (und nicht Dein) Michael Gerlachiwitschki – daß Du’s nur weißt!

Wenn der geahnt hätte, wie oft ich seine Briefe las, dann hätte er mich für verrückt erklärt.

Im Europapokal der Landesmeister schlidderte Gladbach denkbar knapp an einer katastrophalen Heimniederlage vorbei: Den Halbzeitstand von 0:1 verteidigte Wacker Innsbruck mit Zähnen und Klauen, bis Gladbach in der 83. Minute einen Foulelfmeter zugesprochen bekam, den Simonsen verwandelte. Uffhufflefuff!

Im Rückspiel würde ein 0:0 nicht reichen, weil bei Punktegleichstand Auswärtstore doppelt zählten. Es mußte also mindestens ein 2:2 her. Oder ein Sieg.

Andere hatten sich günstigere Voraussetzungen geschaffen. Nach dem 0:5 in der Partie Jeunesse Esch – Bayern München mußte das Rückspiel bloß noch pro forma ausgetragen werden, und im Europacup der Pokalsieger hatte sich Eintracht Frankfurt mit dem 5:1 gegen den FC Coleraine ein bequemes Polster besorgt.

Zu meiner Erleichterung zeigte sich Gladbach am nächsten Bundesligaspieltag wieder in Hochform. Mehr als ein Ehrentreffer war für die Bayern nicht drin auf dem Bökelberg, obwohl bei denen mit Sepp Maier, Katsche Schwarzenbeck und Franz Beckenbauer drei Weltmeister mitspielten und bei Gladbach mit Berti Vogts und Rainer Bonhof nur zwei. Gladbach siegte hochverdient mit 4:1 und stand wieder an der Tabellenspitze.

Mama und Papa wollten nach Jever, zum Ehemaligenball ihrer Schule, kamen aber erst viel zu spät los, weil Papa den Autoschlüssel verschlumelt hatte. Schubladen, Manteltaschen, Hosentaschen, Fensterbänke, Bücherregale, Küchenschränke, Kellerborde, jeder Winkel wurde hundertmal hektisch durchsucht, Treppe rauf, Treppe runter. So einen Aufruhr hatte die Welt noch nicht gesehen. Und wo steckte das Mistding? Im Zündschloß!

Was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben.

»Stellt hier bloß keinen Unfug an«, sagte Mama noch. »Schließt die Haustür ab und macht die Jalousien runter! Und bleibt nicht alle auf bis in die Puppen!«

Ja, ja, ja.

Als die Alten endlich abgefahren waren, stürzte Volker sich ins Meppener Nachtleben, und Wiebke kuckte Rudi Carrell. Ich ließ mir Badewasser einlaufen und las in der Wanne zum zwanzigsten oder dreißigsten Mal das beste Buch von Enid Blyton, in dem Barny, Robert, Stubs und Diana den Verbrechern in der verbotenen Höhle die Suppe versalzen.

Wenn das Wasser zu kalt wurde, ließ ich heißes nachlaufen. Zweieinhalb Stunden lang baden, das hätte Mama mir nicht erlaubt, aber nun war ich ja einmal mein eigener Herr.

Im Zweiten fing um kurz nach elf ein Film über eine Gaunerbande an, die plante, den Safe einer Spielbank in Monte Carlo zu knacken. Ein paar von den Dieben mußten außen über einen Sims balancieren, in schwindelnder Höhe, was ich spannend fand, aber Wiebke pennte dabei ein. Als der Film aus war und ich sie weckte und ihr riet, ins Bett zu gehen, reagierte sie so quakig, daß ich sie auf dem Sofa liegenließ. Wenn sie da überwintern wollte – bitte sehr. Ich hatte meine Pflicht und Schuldigkeit getan.

Vom Ehemaligenball war Mama enttäuscht. Kein einziger Lehrer habe sich da blicken lassen und kaum jemand Gleichaltriges, und so seien sie um Mitternacht unter Tante Gretes Regie zum Seglerball ins Dorfgemeinschaftshaus Horumersiel umgezogen, wo sie lauter alte Bekannte getroffen hätten. In Jever seien sie erst um halb fünf Uhr morgens wieder gewesen.

Soso. Die halbe Nacht durchfeiern, aber unsereinen zum frühen Schlafengehen ermahnen! Müßiggang ist aller Laster Anfang. Oder wie war das noch gleich?

Early to bed and early to rise.

Am Montagabend fuhr Mama zur Schulelternversammlung, um sich einmal lautstark über die mangelhafte Unterrichtsversorgung am Kreisgymnasium zu beschweren.

Der helle Wahnsinn – auf ’ner Versammlung mehr Schulstunden zu fordern, und das auch noch zu einer Zeit, in der die Otto-Show lief. Wo die doch sowieso nur alle Jubeljahre kam!

Otto Waalkes spielte Robin Hood, den Rächer der Enterbten und den Beschützer der Witwen und Waisen, der vergessen hatte, was er war. Der Grützkopf der Waisenkinder? Der Becher ohne Henkel? Als Kommissar Kringel telefonierte er mit einem Polizisten, der einen Mord melden wollte, und schlug vor, alle Nichtmörder verhaften zu lassen. »Dann ist der, der frei rumläuft, der Mörder!« Und er veräppelte Michael Holms Schnulze »Tränen lügen nicht« mit dem Liedchen »Dänen lügen nicht«. »Du hast gedacht, du gehörst zu denen, denen Dänen alles durchgehen lassen. Nein, nein, mein Freund …« Das beste war der Gag mit den beiden Gerippen, die nachts auf einem Friedhof aus dem Grab klettern und auf Motorräder steigen wollen. Das eine Gerippe packt seinen Grabstein dazu. »Was soll das?« fragt das andere Gerippe und bekommt zur Antwort: »Ja, glaubst du, ich fahr ohne Papiere?«

Volker ging schon wieder auf Klassenfahrt, nach Wertheim am Main diesmal, worauf er aber nur mittelscharf war. Da sei, wie er sich beim Frühstück ausdrückte, ohne jeden Zweifel der Hund begraben.

»Also so was von Undankbarkeit!« rief Mama und haute mit der flachen Hand auf den Tisch. »Freu dich doch, daß du mal rauskommst aus Meppen und was siehst von der Welt! Statt hier den Blasierten zu spielen! Als ich in deinem zarten Alter gewesen bin, hätte ich mich schon für einen Tagesausflug an die Leine glücklich geschätzt! Und du darfst dich am Mainufer ergehen und rümpfst noch die Nase darüber! Ich gehöre ja nun wirklich nicht zu den Leuten, die behaupten, daß früher alles besser gewesen wäre, aber nach dem Krieg hätten wir jedenfalls keine Jeremiaden vom Stapel gelassen, wenn uns jemand zu ’ner Reise an den Main eingeladen hätte!« Die Jugend von heute wisse gar nicht, wie gut sie’s habe.

Papa warf ein, daß damals im Rhein-Main-Gebiet alles zerbombt gewesen sei, und Volker schwieg stille.

Der Tag, an dem der Küchenhängeschrank von der Wand fiel, hatte angefangen wie jeder andere. Mama war vormittags einkaufen gegangen und hatte danach die Bescherung entdeckt. »Ich geh in die Küche rein und denke an nichts Schlimmes, und dann sieht’s da aus wie Sodom und Gomorrha!«

Der Schrank hatte sich aus der Halterung gelöst, beim Abstürzen die Wandlampe zerdeppert, die offenstehende Spülmaschinenklappe beschädigt und alles Eßgeschirr auf den Kachelfußboden ergossen. Heilgeblieben war nur eine von den zerbrechlichen blauen Teetassen. Ausgerechnet!

Papa bezifferte den Schaden auf fünfhundert Mark. Ein Schweinegeld, das er sich von der Betriebshaftpflichtversicherung der Meppener Firma Schnebeck wiederholen wollte, denn den Hängeschrank hatten zwei Stifte von der an die Wand montiert.

Ein Fidi von Schnebeck kam angedackelt und untersuchte die Unfallstelle. Das kaputte Geschirr hatte Papa in einen Karton gepackt, damit später auch die Versicherungsmenschen die Scherben in Augenschein nehmen könnten. An was Papa alles dachte!

In Konfi wurde darüber diskutiert, weshalb Gott das Böse dulde. Kriege, Sklaverei, Hepatitis, Kinderlähmung und die Unterdrückung der Schwarzen in Südafrika, das hätte Gott ja alles nicht zulassen müssen, wenn er allmächtig war. Oder wenn bei einem Flugzeugabsturz ein ungetauftes Baby draufging: Sollte das dafür büßen, daß Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, irgendwann in der Bronzezeit? Je genauer man nachdachte über den lieben Gott und die von ihm aufgestellten Regeln und Gebote, desto fragwürdiger kam einem der ganze Zinnober vor.

»Gebt dem König, was des Königs ist, und Gott, was Gottes ist«, hatte Jesus gesagt, aber was war des Königs? Und was Gottes? Und sollte man einem höheren Wesen untertänig sein, das jedes Jahr Millionen afrikanischer Babys verhungern ließ?

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser …

Bei meiner Konfirmation wollte ich nicht leer ausgehen, und ich blieb bei der Stange, aber der Käse von Pastor Böker war nicht dazu angetan, meinen Glauben zu befestigen. Das Leben und das Christentum, das waren zwei verschiedene Paar Schuhe.

Volker hatte uns mit einer Ansichtskarte bestückt.

Hallo, Ihr Zurückgebliebenen! Die Fahrt war hinnehmbar, wenn man von den eintausend Staus absieht. Das Bier schmeckt gut. Die Brötchen tun’s auch, und die Flöhe, Wanzen und ähnliches stören kaum. Es grüßt Euch Euer Volker!

»Da hätte er sich ruhig mal was Längeres abbängen können«, sagte Mama und kehrte zurück zu dem stinkenden Weißkohlgericht, das sie am Herd in der Mache hatte.

Hertha BSC – Borussia Mönchengladbach 3:0. Frag nicht nach Sonnenschein.

In der ZDF-Serie Kung Fu wurde David Carradine alias Kwai Chang Caine von chinesischen Kopfgeldjägern gehetzt, nachdem er als Waisenkind im Shaolin-Kloster aufgewachsen war, als Lieblingsschüler eines blinden, aber superschlauen Lehrers, dessen Weisheiten einem leider schon bald auf den Zeiger gingen. Und dann noch das Karategefuchtel, mit Händen und Füßen …

Percy Stuart hatte ich besser gefunden. Die Serie hätten sie mal wiederholen sollen.

Auf Mamas Frage, wie es ihm in Wertheim gefallen habe, erwiderte Volker, daß er am Mainufer zur Inspektion fürchterlich baufälliger Fachwerkhäuser genötigt worden sei.

Lachen mußte Mama über eine Karikatur im Spiegel. Da stand ein einsamer Pauker vor einer Riesenklasse von Schülern und sagte: »Guten Tag, ich bin die Lehrerschwemme! Seid ihr der Pillenknick?«

In Geschi nahmen wir die Goldene Bulle durch, die Magna Charta und den Hundertjährigen Krieg. Fehdebriefe, Kronvasallen, Bogenschützen, Scheiterhaufen. Ein Gemetzel nach dem andern. Der Mongolensturm und dann der Fall Konstantinopels:

Es war ein schrecklicher Anblick, jammervoll anzusehen, wie sie unzählige Gefangene wegführten, vornehme Damen, Jungfrauen und gottgeweihte Nonnen, und wie sie sie an den Haaren aus der Kirche herauszerrten, unter fürchterlichem Jammergeschrei, dazu das Weinen und Heulen der Kinder, die entweihten heiligen Orte – wer könnte all das Grauen beschreiben?

Die Landkarten, die der Wolfert aufhängte, sahen immer buntscheckiger aus. Da hätten nicht einmal die Zeitgenossen durchgeblickt, flüsterte Ulla Kötter mir zu, die neben mir saß. Ganz am Anfang hatten wir witzige Zettelchen zwischen uns hin- und hergeschoben. »Du heißt Kötter, ich heiß Schlosser – wer uns brät, der will uns krosser!« Aber das hatte bald wieder aufgehört, weil die pummelige Ulla Kötter und ich füreinander nicht in Frage kamen.

FC Coleraine – Eintracht Frankfurt 2:6. So war es recht. Daran würde sich hoffentlich auch Gladbach ein Beispiel nehmen.

Papa diktierte Mama einen Brief ans Wehrbereichsgebührnisamt in die Maschine. »Anliegend … übersende ich Ihnen … die Ablichtung … eines sogenannten Beschulungsvertrages Komma … nach dem meine Tochter … für die Zeit vom ersten neunten neunzehnhundertfünfundsiebzig … bis zum einunddreißigsten dritten neunzehnhundertsechsundsiebzig … sich zur Ausbildung … in der Reiffensteiner Schule Komma … Landfrauenschule Wittgenstein Komma … befindet. Punkt. Absatz.«

Mama tippte das in einem Irrsinnstempo, mit drei Durchschlägen. Früher war sie ja mal Sekretärin gewesen, bei Telefunken und beim NDR.

»Nach Abschluß dieser Ausbildung«, sagte Papa, »beabsichtigt meine Tochter Komma … ein Studium aufzunehmen. Punkt. Da ich es … wegen der Numerus-Clausus-Bestimmungen … nicht in der Hand habe Komma … dafür bereits jetzt einen festen Starttermin angeben zu können Komma … muß ich … über den weiteren Fortgang der Ausbildung … Ihnen … zu einem späteren Termin … ergänzend Mitteilung machen Punkt, Absatz. Hochachtungsvoll, Ihr Hans Huckebein.«

Dann regte Papa sich noch über das auf dem Mist verknöcherter Amtsschimmel gewachsene Wort »Beschulungsvertrag« auf.

Ich flehte Mama darum an, den Boxkampf zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier kucken zu dürfen, nachts um Viertel nach drei, aber sie blieb eisern bei ihrem Nein: »Schulkinder gehören nachts ins Bett und nicht vor die Glotze. Basta.« Obwohl doch Herbstferien waren!

Ich mußte es wohl oder übel dabei bewenden lassen, mir abends im Zweiten die Zusammenfassung anzusehen. Anfangs hatte Ali gepunktet, aber in der sechsten Runde einen Treffer von Frazier eingesteckt und sich trotzdem noch so gut geschlagen, daß Frazier mit einem zugeschwollenen Auge in die vierzehnte Runde gegangen war, und dann hatte der Schiedsrichter den Kampf abgebrochen, und Muhammad Ali war Sieger durch technischen K.o.

An Joe Fraziers Stelle hätte ich Muhammad Ali gar nicht erst herausgefordert, so als hutzeliger Gnom gegen den Größten. Das war ja fast so, als ob die Schreiberlinge der Meppener Tagespost sich mit Goethe hätten messen wollen.

In der Tagespost alias Tagespest, wie sie bei uns hieß, erschien jeden Tag auf der zweiten Seite ein Kasten mit Kurznachrichten, und die ersten ein, zwei Wörter waren fettgedruckt. Als Papa da einmal das fettgedruckte Wörtchen »Auch« erblickt hatte, war ihm der Kragen geplatzt: »Auch! Als ob das ’ne Überschrift wäre, der man irgendwas entnehmen könnte! Auch!« Den dafür verantwortlichen Redakteur, sagte Papa, solle man verprügeln.

In den Ferien mußten wir »Das Fräulein von Scuderi« lesen, eine Erzählung über einen französischen Goldschmied, der über Leichen ging, um sich alle seine jemals verkauften Schmuckstücke wiederzubeschaffen, aber es dauerte, bis man dahintergestiegen war, und mir graute schon beim Lesen davor, die ganze Geschichte wochenlang in Deutsch durchkauen zu müssen.

Wacker Innsbrucks Führungstreffer hatte Uli Stielike kurz vor dem Pausenpfiff das 1:1 entgegengesetzt, und in der zweiten Halbzeit war Jupp Heynckes zu großer Form aufgelaufen und hatte Wacker vier Tore reingeballert. Ratschbumm!

Bayern München – Jeunesse Esch 3:1.

Und es kam, was kommen mußte: Michael Gerlachs nächster Brief.

Grüeziwohl!

Hier meldet sich wieder der Dusslige Michael-Gerlach-Sender (DMGS) mit den neuesten Nachrichten. Wir bitten um Verständnis für die etwas verspäteten Mitteilungen, aber in der Jugendherberge in der Freusburg gab es leider keine Möglichkeit zum Schreiben. Tatsache, Holger und ich haben an der Konfirmandenfreizeit teilgenommen, da der Preis verbilligt wurde, um 50 %, man stelle sich vor!

Zunächst zu den Koffern: Meiner war noch größer als Holgers, und wahrscheinlich reizte uns die Größe, so daß wir beide bis obenhin vollpackten. Mann, was wogen die! Und was haben wir uns geschämt, als die anderen auf dem Bahnhof alle nur so kleine Täschchen hatten!

Als wir nach mehrmaligem Umsteigen um 18 Uhr in Kirchen angekommen waren, freuten wir uns aufs Abendessen und auf die Betten, aber da wurde uns ein dicker Strich durch die Rechnung gemacht, denn wir mußten erst zur Freusburg hochlatschen, gut anderthalb Stunden lang in völliger Dunkelheit! Zum Glück hatte ich meine Taschenlampe schon ausgepackt. So um halb acht erreichten wir die Freusburg. Wir hatten gedacht, es würde da Geheimgänge und Zinnen und Türme geben, aber wir Jungs wurden in einem Nebengebäude untergebracht, das beim besten Willen nichts mit einer Burg zu tun hatte. Die Mädchen wohnten in der eigentlichen Burg, doch bei Tageslicht entpuppte sich auch diese Burg als keine Burg. Sie sah von außen, wenn man viel Phantasie aufbrachte, einer Burg etwas ähnlich. Das war aber auch alles.

Dann kam der Befehl zum Abendessenfassen. Mit hängender Zunge rasten wir in den »Burghof«, der ungefähr 200 m von unserem Gebäude entfernt war, und von da in den Speisesaal. Und was war gedeckt? Überhaupt nichts! Wir mußten uns Tassen holen, und dann kriegten wir Tee. Sonst nix.

Durch das Fenster unserer Schlafkammer drang der Geruch einer wohlgefüllten Jauchegrube herein, und die Bettgestelle wiesen an Kopf- und Fußende rasiermesserscharfe Verstrebungen auf.

Der nächste Tag begann um 6 Uhr. Frühstück gab es erst zwei Stunden später. Das Wasser im Waschraum war bitterkalt und der Boden mit Sandkörnern bedeckt, daß es nur so knirschte. Frühstück gab es zwar reichlich, doch es fiel für mich wegen meines verfressenen Tischnachbarn etwas dürftig aus.

Der Tag wurde mit Unterricht, Minigolf und Spielchen ausgefüllt. Es war auch ein heiteres Spiel mit Sätzebilden dabei. Der Unterricht endete um elf, und bis zum Mittagessen um zwölf hatten wir Freizeit, die wir mit Herumstehen vertaten. Ringsum war ein riesiger, toller Wald, der größer aussah als der bei uns rund um den Fernsehturm, aber für eine Stunde? Da wäre man gerade am Waldrand angekommen und hätte schon wieder umkehren müssen. Und als wir einmal fünf Stunden Freizeit hatten, da hat’s geregnet. Überhaupt war es ein Kreuz mit dem Wetter da oben im Siegerland. Dauernd Nebel, und morgens hatte man Eisfüße. Mir hat das Ganze nicht besonders gefallen. Es war zu langweilig, und alles, was ich da gemacht habe, hätte ich hier genausogut machen können, wenn nicht besser.

Der nächste und der übernächste Tag unterschieden sich vom ersten nur im Grad der Langeweile, der sprunghaft anstieg.

Der schönste Tag war der der Heimreise.

Heute abend schlaf ich beim Holger. Warum? In meinem Bett schlängelten sich zwei Silberfischchen. Igittigitt!

Und ich hätte trotzdem lieber mitgelitten auf der Freusburg, als allein in Meppen zu versauern.

Zu Konfi sollten wir Obst mitbringen, zur Besinnung auf das Erntedankfest. Pastor Böker zählte auf, was Gott alles sprießen lasse: Äpfel, Birnen, Erdbeeren, Himbeeren und Johannisbeeren, aber auch Weizen, Gerste, Roggen, Hafer, Zuckerrüben und Weintrauben. Und obendrein den Augenschmaus des Blumenmeeres – Rosen, Anemonen, Tulpen, Lilien und Aurikel …

Und Giersch und Quecke, hätte ich hinzufügen können, aber ich sagte nichts, weil ich mich an eine Stelle in der Bibel erinnerte, wo es hieß, daß Gott, unser Herr, ein eifernder Gott sei, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied. Mit dem lieben Gott war nicht zu spaßen. Er übertrieb’s allerdings ein bißchen, wie ich fand, mit seinem unersättlichen Verlangen nach Dankbarkeit. Es hatte ja kein Mensch darum gebeten, von Gott erschaffen zu werden. Man war gar nicht gefragt worden, ob man existieren wollte, und auf einmal lebte man und sollte auch noch dankbar dafür sein, von Ewigkeit zu Ewigkeit, selbst als Blinder oder Krüppel oder Leprakranker. Oder meinetwegen auch als armes Würstchen, das dazu verdammt war, die binomischen Formeln zu pauken. Wo blieb denn da die Logik?

Im neuen Stern prangten Farbaufnahmen nackter Negerinnen vom Stamm der Nuba im Sudan, mit eingeölten, glänzenden Brüsten und Schenkeln und Arschbacken. Man konnte sehen, wie die Mädchen einen Fruchtbarkeitstanz aufführten, vor den jungen Männern ihres Stamms, die solange reglos dabeisitzen und zu Boden blicken mußten.

Wenn eine der Schönen sich entschieden hat, schwingt sie ein Bein über den Kopf des Auserwählten. Es kann passieren, daß ein Mann während eines Fests gleich ein Dutzend solcher Liebeserklärungen bekommt.

So gut hatten es die Männer bei den Nuba aber nicht immer. Sie mußten auch Leoparden jagen und unter sengender Sonne rituelle Messerkämpfe ausfechten. Den Oberschenkel eines nackten Nubamädchens hätte ich ja auch wohl gern auf meiner Schulter liegen haben mögen, doch die Messerstechereien wären nichts für mich gewesen. Sich den Bauch aufschlitzen lassen oder das Gesicht? Oholefo neinheinlefein!

So wie die Burschenschaftler hier, die sich in sogenannten schlagenden Verbindungen beim Fechten ihre »Schmisse« eingefangen hatten und danach ein Leben lang mit vernarbter Fresse rumliefen. Der Arbeitgeberverbandspräsident Hanns-Martin Schleyer war so einer. Den hatte ich mal in den Nachrichten gesehen mit seiner »Mensur«. Der häßliche Deutsche, wie er im Buche stand.

In meinem Antwortbrief teilte ich Michael mit, daß in Meppen der Glückspilz-Martin-Sender gegründet worden sei und seine Arbeit an der Verbreitung meines Ruhms in aller Welt aufgenommen habe.

Mama zankte sich mit Papa, weil er den VW noch immer nicht wieder fahrtüchtig gemacht hatte. Das Ende vom Lied war, daß Papa brüllte und Mama weinte. Das abschließende Türengeknalle kannte ich schon vom Mallendarer Berg zur Genüge.

Warum hatten die eigentlich geheiratet, wenn sie sich pausenlos in den Haaren lagen? Ein Liebespaar hätte sich anders benommen. Bei uns war es bereits das höchste der Gefühle, wenn zwischen Mama und Papa Waffenstillstand herrschte.

Ob das in anderen Familien auch so vor sich ging?

Von Bayern München kriegte ich das Poster zurück, mit Autogrammen von Sepp Maier, Kaiser Franz, Gerd Müller und fast allen anderen Spielern bis auf Bulle Roth und Rainer Zobel. Vielleicht hatten die gerade geduscht, als ein Vereinsmeier mit meinem Poster in der Kabine herumgelaufen war.

In einem Western räumte Errol Flynn als Marshal von Dodge City mit einer Banditenbande auf, die nicht einmal davor zurückschrak, Kinder über den Haufen zu schießen. Als im Saloon eine Riesenkeilerei ausbrach, ließ Mama einen Stoßseufzer los und sagte, von diesen Wildwestfilmen sei doch wirklich einer primitiver als der andere. »Nix als Raufereien und Geballer! Und mit so was soll man nun seinen Feierabend verquansen!«

Ich wollte schon protestieren, weil ich dachte, sie würde umschalten, doch sie ging raus und ward nicht mehr gesehen.

Das Spitzenduell zwischen Gladbach und Braunschweig endete null zu null. Die Bayern hatten in Kaiserslautern verloren, aber der HSV hatte Frankfurt mit 4:2 geschlagen und war an Gladbach vorbei auf Platz 2 geklettert.

Am Samstagabend kam der beste Krimi, den ich je gesehen hatte, mit James Cagney als Gangster, der in seiner Jugend einmal beim Wegrennen vor der Polente zu langsam gewesen war und dann alle Knäste von innen kennengelernt hatte. Sein etwas fixerer Freund war Priester geworden und mühte sich redlich, die Jugendlichen von der Straße wegzukriegen, aber die himmelten den von James Cagney gespielten Gangster an. Als über den dann das Todesurteil verhängt worden war, bat ihn der Priester darum, vor der Hinrichtung um Gnade zu winseln und sich damit als Idol für die Jugend zu entwerten. Zuerst wollte er das nicht, aus Stolz, aber dann machte er es doch und war wie gewünscht am Kreischen und Jaulen, wie ein Feigling, als ihn die Henkersknechte auf dem elektrischen Stuhl anschnallten.

Der Witz bestand darin, daß Jimmy Cagney seine Feigheit nur vorgetäuscht hatte, damit die Jugendlichen ihn für einen Waschlappen hielten. Aber was heißt Feigheit? Auf dem elektrischen Stuhl hätte ich mir auch ohne Schauspielerei in die Hose geschissen vor Angst, obwohl ich nicht viel zu verlieren gehabt hätte, wenn man’s genau bedachte. Auf dem Mallendarer Berg war’s schöner gewesen als in Meppen, im Wambachtal war’s schöner gewesen als in den Wäldern rings um Meppen, und selbst im Eichendorff-Gymnasium war es schöner gewesen als im Kreisgymnasium. Wiebke hatte hier schon längst ’ne neue Freundin, und Volker gurkte mit ’ner ganzen Clique rum. Und ich?

In den Sommerferien mit Michael Gerlach an der Mosel zelten, das wär’s. Nach Lützel spazieren, zur Straßburger Straße, und mal nachsehen, ob da heute noch die Halbstarken am Hoftor rumhingen und die Kleinkinder drangsalierten. Zum Mittagessen mit dem Bus auf den Mallendarer Berg fahren, dann ’ne Radtour nach Bad Ems und später in Koblenz Eis essen und ins Kino gehen.

Scheiß Meppenkaff.

Ich holte unseren alten Plattenspieler vom Boden und baute das Ding in meinem Zimmer auf. Ob das noch funktionstüchtig war? Um es in Gang zu setzen, brauchte ich einen Doppelstecker.

Probieren geht über Studieren. Als erstes legte ich eine LP von Reinhard Mey auf.

Wie vor Jahr und Tag ist noch immerfort

Das Glück und dein Name dasselbe Wort …

Ging doch! Auf dieser Platte war auch das Lied, in dem Reinhard Mey sich Gedanken übers Sterben und seinen Sargtischler machte:

Wenn der so hastig daran sägt,

Als käm’s auf eine Stunde an …

Wie alte Leute es ertrugen, zu wissen, daß sie höchstens noch einige Jährchen zu leben hatten und jeden Moment abnippeln konnten, ging mir über den Verstand.

Für die Müllabfuhr war der Stern von letzter Woche zu kostbar. Die Ausgabe mit den Negerinnen wollte ich mir noch öfter ansehen, und ich mußte das Heft in Sicherheit bringen. Aber wo? Mein eigenes Zimmer war zu riskant. Da stellte Mama dauernd alles auf den Kopf, und ich hatte keine Lust dazu, die Frage zu beantworten, was ich denn an diesem alten Stern so furchtbar interessant fände, daß ich den bei mir hortete.

Ich entschied mich für Wiebkes Kleiderschrank. Da obendrauf türmte sich soviel unaufgeräumtes Zeugs, daß ein alter Stern nicht weiter auffiel, und ich konnte ihn jederzeit wieder hervorkramen.

Gegen Griechenland ging Deutschland mit 1:0 in Führung, durch ein Tor von Heynckes. Der Bundestrainer Helmut Schön hatte auch Günter Netzer mal wieder aufgestellt, aber der konnte sich nicht so recht profilieren, was ich traurig fand, weil ich mir wünschte, mit Netzer auf dessen alte Tage zusammenspielen zu dürfen. Ein Doppelpaß zwischen Netzer und mir, dann flankt Netzer den Ball Abramczik zu, der ihn per Hackentrick an mich weitergibt, und ich schlenze die Pille aus einem physikalisch unmöglichen Winkel ins obere linke Toreck!

Delikaris hieß der Grieche, der das Ausgleichstor geschossen hatte.

In Geeste verloren wir mit 0:2. Da hatte Didi bei unseren Kontern noch so oft »Flügelwechsel!« schreien können. Der Schiedsrichter war parteiisch gewesen. Der hatte ein brutales Foul an Glübi übersehen, Geeste einen unberechtigten Freistoß zuerkannt und Didi in der zweiten Halbzeit wegen unbotmäßigem Verhalten einen Platzverweis erteilt. Nur weil Didi an der Seitenlinie ausgespuckt hatte.

»Was ist los mit euch?« fragte Uli Möller nach dem Spiel unsere Sturmspitzen. »Habt ihr kein Zielwasser gesoffen heute?«

An den beiden Gegentoren war ich unschuldig. Die hatte der Linksaußen von Geeste geschossen, und zwar aus abseitsverdächtigen Positionen.

Aus dem Radio kriegte man morgens meistens sofort um die Ohren gehauen, wie das Wetter auf dem Kahlen Asten war. Komischer Name für ’n Berg. Im Volksbrockhaus stand er nicht drin, und ich fragte Mama danach.

»Manchmal hab ich den Eindruck, daß du in Heimatkunde nur geschlafen hast«, sagte sie. »Der Kahle Asten ist der zweithöchste Gipfel des Rothaargebirges.«

Also da, wo Renate hauste. Schien wohl doch ’ne eher unwirtliche Gegend zu sein, wenn die Eingeborenen ihren Berggipfeln Namen gaben, bei denen man das rauhe Felsgestein förmlich vor sich sah, inklusive windzerzauster Krähen, die da womöglich nisteten und sich mit jeder Wetterlage abfinden mußten. Teils heiter, teils wolkig.

Ohne jede Vorwarnung hatten jetzt auch die Evangelischen Reli. Der Pauker hieß Böhringer und trug Jeans, was aber noch lange nicht hieß, daß man sich bei dem vorbeibenehmen durfte. Mit Schwätzern machte er kurzen Prozeß: Die kriegten einen Klassenbucheintrag, und im Wiederholungsfall durften sie ihr Verhalten dem Direktor persönlich erläutern, Herrn Berthold, der als graue Eminenz in einem Anbau der Gymnasialkirche sein Amt versah und sich nur selten in den Klassenzimmern blicken ließ.

Die schlimmsten Finger in der 8b waren der Holzmüller, der Harms, der Albers und der Miesowski. Bei denen mußte man darauf gefaßt sein, daß sie einem den Ranzen auskippten und die Hefte zerfetzten oder einem Wasserbomben auf den Kürbis feuerten, wenn man friedlich auf dem Kackstuhl saß. Seit ich einmal mit dem Miesowski gerauft hatte und im Nullkommanichts untergedükert worden war, ging ich handgreiflichen Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg.

Als auch Holger Bohnekamp eine Abreibung bezogen hatte, in der großen Pause, hinter der Turnhalle, munterte ich ihn auf. Er wohnte in Rütenbrock. Das war ein Dörfchen an der holländischen Grenze, dreißig Kilometer von Meppen entfernt, und der Bohnekamp mußte jeden Morgen mit dem Bus die ganze Strecke hergefahren kommen und mittags zurück, genau wie Wolfgang Dralle und Hermann Gerdes, die auch beide in Rütenbrock wohnten. Jott weh deh: janz weit draußen.

Meinen angefangenen Brief an Michael schloß ich mit einer Schimpftirade über den Miesowski ab. Dann lief ich in Papas Arbeitszimmer und kramte in den Schubladen des Schreibtischs nach Briefmarken. Als ich eine gefunden hatte, hielt Mama mich am Arm fest und sagte, es gehe nicht an, daß ich mich hier frech an den Marken bediente. »Die mußt du von deinem Taschengeld bezahlen!« Umsonst sei der Tod.

Fuffzig Pfennig Porto für jeden Brief, das war ein Haufen Schotter.

Irgendwie war der Dampfkochtopf zu heiß geworden, und nun hatte er ’ne Beule am Boden. So gehe alles den Bach hinunter, sagte Papa.

Mama drückte mir einen Zehnmarkschein in die Hand und schickte mich zum Friseurgeschäft in der Herzogstraße. Da waberten die erstickenden Dünste aus der Damenabteilung in die Herrenabteilung rüber. In der Ecke mit den Stühlen, wo man warten mußte, bis man am dransten war, gab es nur Käseblätter zu lesen, mit Tortenrezepten und Gequackel über den Nachwuchs gekrönter Oberhäupter.

Friseur hätte ich nicht werden wollen. Opas auf’m Kopp rumschnibbeln und sich dabei über dit und dat unterhalten, und dann muß man den Besen schwingen und die abgeschnittenen grauen Löckchen zusammenfegen.

Abstoßend waren auch die Fotos von den ondulierten Playboys an den Wänden.

Mit mir unterhielt der Friseur sich nicht, als ich an der Reihe war. Er stach mir mit der Scherenspitze dreimal ins linke Ohr, und ich atmete auf, als ich den engen Kittel nach dem Frisiertwerden wieder abgemacht kriegte.

Das größte Ereignis des Tages hatte ich verpaßt: Wenn man Wiebke glauben durfte, war direkt vor unserm Haus bei einem LKW ein Reifen explodiert.

Im Gestrüpp neben der E-Stelle stolperte ich über ein tolles Ruder, doch was nützte einem das tollste Ruder ohne Ruderboot? Weil ich keine Zulassung als Privatdetektiv besaß, hatte ich auch nichts davon, daß in dem Nachbarstädtchen Haselünne eine Mordtat verübt worden war.

Den SV Hasborn schickte Gladbach im DFB-Pokal mit 3:0 nachhause. Sonst noch jemand ohne Fahrschein?

Als Renate wieder mal angeschlamstert gekommen war, regte sie sich über die faulen Postbeamten in Birkelbach auf. Das Postamt sei da vormittags bloß von Viertel nach neun bis Viertel vor elf geöffnet und nachmittags von drei bis fünf. Und das war auch schon fast die einzige Neuigkeit, die sie mitbrachte. Eine Glasfabrik im Raum Kassel hätten sie neulich besichtigt, das erzählte sie noch, aber damit riß sie niemanden vom Stuhl.

Die Sache mit dem Praktikum hatte sie sich inzwischen anders überlegt. Sie wollte jetzt doch studieren und Grundschullehrerin werden, und das paßte Papa nun auch wieder nicht in den Kram. Kleinen Hosenscheißern das ABC beizubringen, das sei keine Berufsperspektive. Wenn schon Lehrerin, dann besser gleich Studienrätin. Alles andere sei nicht Fisch und nicht Fleisch.

»Ich hab aber keine Lust, mich mit hochnäsigen Gymnasiasten rumzuärgern«, sagte Renate. »Ich will was mit Kindern machen und denen Lesen und Schreiben und Rechnen beibringen! Und mit denen malen und singen!«

»Und wenn du irgendwann die Schnauze voll hast vom Malen und Singen, dann sitzen trotzdem noch alle möglichen Arschlöcher über dir, und du mußt nach deren Pfeife tanzen«, sagte Papa. Im Berufsleben gehe es darum, nach oben zu streben, bis man niemanden mehr über sich habe, der einem Knüppel zwischen die Beine werfe.

So gesehen hätte Papa selbst ja eigentlich Verteidigungsminister werden müssen statt Regierungsbaudirektor. Oder besser noch Bundeskanzler. Oder Bundespräsident.

Als Renate wieder abgeschwirrt war, stellte Volker fest, daß sie im Badezimmer ihre Augenbrauenpinzette vergessen hatte.

Im Europacup machten Heynckes und Simonsen Juventus Turin zur Schnecke. 2:0! Von diesem Schock würden die Itaker sich nicht so bald erholen.

Leider Gottes hatte ein Vereinchen namens Malmö FF den FC Bayern geschlagen, mit 1:0, und Spartak Moskau den 1. FC Köln sogar mit 2:0. Aber dafür war Atletico Madrid Eintracht Frankfurt dank zweier Tore von Bernd Hölzenbein mit 1:2 unterlegen, und die Herthaner hatten Ajax Amsterdam mit 1:0 den Rang abgelaufen. Ha, ho, hee – Hertha BSC! Ajax hätte eben Johan Cruyff nicht verkaufen sollen.

In der Innenstadt gab es ein Fachgeschäft für Turnklamotten, Sport Reinders, und da sollte Uwe Seeler laut Meppener Tagespost eine Autogrammstunde abhalten. War das zu fassen? Uns Uwe in Meppen! Der Mann, der 1970 in Mexiko beim Spiel des Jahrhunderts mitgemischt hatte, an vorderster Front! Sogar mit dem Hinterkopf hatte Seeler mal ein Tor erzielt und viele andere durch Fallrückzieher. Satan Zicke!

Der Andrang war groß, aber jeder kam dran. Ich hielt Uwe Seeler mein Sammelalbum von Sprengel hin, das er mit seinem Friedrich Wilhelm signierte: »Für Martin von Uwe!«

Er konnte nicht ahnen, daß ein künftiger Kapitän der Nationalelf vor ihm stand, und ich trollte mich, obwohl ich Uwe Seeler gern noch nach dem dritten Tor von Wembley gefragt hätte. Wie das nun eigentlich genau gewesen sei.

Die letzten Klassenarbeiten waren nicht so doll ausgefallen (Englisch 3, Mathe 4, Deutsch 3), aber nach dem Zähneputzen durfte ich mir am Samstag noch einen Western ankucken. Da schlich sich John Wayne als Texas-Ranger in eine Rotte von Schmugglern ein, die den Rothäuten Whisky verscherbelten, so daß die bloß noch betrunken herumtorkelten.

»Wenn man ehrlich ist, muß man doch zugeben, daß die Weißen den Indianern ihr Land weggenommen haben«, sagte Mama. »Und hier werden sie jetzt als Besoffskis verhöhnt.«

Das mochte ja sein, aber von Western hatte Mama trotzdem keine Ahnung.

Nachdem Braunschweig und Bayern sich jeweils zwei Punkte gesichert hatten, mußte am Sonntag auch Gladbach punkten, am besten doppelt, und das auch noch auswärts in Karlsruhe. In der 20. Minute brachte Günther Fuchs den KSC in Führung, aber fünf Minuten später glich Jupp Heynckes aus, und gleich darauf brachte derselbe Günther Fuchs seine eigenen Mannen mit einem Eigentor ins Hintertreffen!

Nach der Halbzeitpause stellte der KSC zwar noch einmal Torgleichheit her, aber auch Heynckes und Wimmer trafen ins Schwarze. Endstand 2:4. Zur Statistik: zweimal Gelb für Karlsruhe; zwei Punkte für die Fohlenelf.

Am Montag traf wieder ein Brief von Michael ein.

An den GMS!

Ihre letzten Meldungen waren eine bodenlose Unverschämtheit! Wie kann so ein lächerlich kleiner GMS den großen DMGS vernichten wollen? Das ist eine Beleidigung für den DMGS!

Sag mal, hast Du wirklich Heimweh? Das kann ich aber tatsächlich nicht verstehen! Der Riesenbetonklotz Reha, das Abholzen der Waldbestände … dagegen bei Dir, jedenfalls entnehme ich das Deinen Briefen, unberührte Wildnis, Schulausfälle … aber wahrscheinlich hast Du recht. Wenn ich mal ’ne Zeitlang von hier weg wäre, würde ich vielleicht das gleiche denken. Vorstellen kann ich mir’s aber nicht.

Mensch Meier, am Dienstag muß ich ’ne Physikarbeit schreiben und am Freitag ’ne Englischarbeit. Äff. Englisch geht ja noch, aber Physik … die ganzen Formeln da, Ausdehnungskoeffizient, spezifische Wärmekapazität, alles Quatsch mit Bratkartoffeln. Sowas soll sich ein Mensch merken können!

Eigentlich ist mir jetzt schon der Gesprächsstoff ausgegangen. Aber das Blatt ist ja erst zu einem Viertel voll! Scheiß kleine Schrift. Hoffentlich passiert noch was, was ich schreiben kann.

Über den Brief hier läuft gerade so ’ne kleine Fliege. Mal sehen, über welche Wörter: Bratkartoffeln mit Gesprächsstoff passiert gerade läuft Brief den schon … verdammt, jetzt läuft sie auf den leeren Teil der Seite. Dummes Vieh. Hau ab! Hast nur Stuß gefaselt! Nee, im Ernst, die Fliege ist über die zitierten Wörter gekrabbelt.

Das war für mich schon ein Erlebnis. Kannst Dir ja denken, wie der Rest des Tages dann aussieht.

So, schon zwei Drittel der Seite bewältigt.

Was schreib ich auf das letzte Drittel?

Huch – plötzlich überstürzen sich die Ereignisse: Jakob wird beinahe von einer Katze in Stücke gerissen und verdankt sein Leben allein meinem mutigen Dazwischentreten, mein Vater vergißt die Autoschlüssel, und zu allem Überfluß fliegt dann der halbe Motor in die Luft! Das hat gequalmt wie Helmut Kohl, und einen Knall hat das getan! Zum Glück ist nicht allzuviel kaputtgegangen.

Dein Plan mit den Sommerferien klingt sehr utopisch. Fast wie Science Fiction. Hoffentlich wird was draus!

So, jetzt kommt Kung Fu. Das muß ich sehen.

Tschüß, und Dein Heimweh ist bestimmt unbegründet!

Der hatte gut reden. Der mußte sich ja auch nicht dreimal wöchentlich mit dem Fräulein von Scuderi befassen.

Tante Therese, die nach dem Krieg einen Tommy namens Bob geheiratet hatte und in England Grundschullehrerin geworden war, befand sich auf Deutschlandreise und kam für einen Tag nach Meppen, um unser neues Zuhause zu beäugen. Wie geräumig wir’s hier hätten, rief sie, und wie bezaubernd hübsch doch der Parkettfußboden aussehe!

Beim Tee warf sie die Frage auf, ob Volker nicht auch mal nach England kommen wolle, um seinen Vokabelschatz aufzupolieren. Wieso fragte mich eigentlich keiner?

Im Sommer, erzählte Tante Therese, habe sie mit Bob eine Busrundreise durch Süddeutschland und Österreich gemacht, mit lauter Engländern und Amerikanern und Kanadiern und Australiern, über Bad Kreuznach und Rothenburg ob der Tauber und Villach und Lindau und Innsbruck und Wien, doch am schönsten sei’s in den Bergen gewesen. »Da hätten wir man gerne noch mehr Zeit zum Rumklettern gehabt …«

Die Wetterlage sei immer »sunny« gewesen, nur hätten die Engländer den dünnen Tee nicht gemocht. »In Innsbruck hat uns ein Ober verraten, daß auch die Queen bei ihrer Visite in dem Hotel selber ihren eigenen Tee gekocht hat!«

Dank Tante Therese und Onkel Bob besaßen Renate, Volker, Wiebke und ich mit Kim eine britische Kusine und mit Norman einen britischen Vetter. So etwas hatte auch nicht jeder. Norman, sagte Tante Therese, sei mit seiner Arbeit im Zeichenbüro very happy, und Kim gehe in jüngster Zeit viel mit einem katholischen Italiener namens Roman aus. Der habe auch ohne ordentlichen Schulabschluß eine Stelle gefunden, in einem kleinen Papierwarenladen.

Als beschnattert wurde, wie es um Oma Jevers offenes Bein bestellt sei, machte ich mich mit einer Handvoll Kekse vom Acker.

Für den Abend hatte Mama Frau Lohmann eingeladen, die ja ebenfalls Lehrerin war. Frau Lohmann schenkte Tante Therese einen Stapel deutscher Fibeln, und Mama goß Bier ein. Vor einiger Zeit, sagte Tante Therese, habe sie mit einunddreißig Elternpaaren jeweils zehn Minuten über deren Kinder reden müssen und sei danach so aufgedreht gewesen, daß sie um zwei Uhr nachts noch nicht habe schlafen können, und da habe sie sich mit einem von Normans Bieren die nötige Bettschwere verschafft. »Und seitdem mag ich gerne Bier!«

Während die Weibsen im Wohnzimmer auf die nötige Bettschwere anstießen, kloppte Papa in der Werkstatt krumme Nägel wieder gerade.

Der größte Mist am Emsland war, daß einem das Fahrradfahren keine Laune machte. Man brauchte sein Rad zwar nie bergauf zu schieben, aber dafür ging’s auch nie steil runter. Platt wie ’n Pfannkuchen, die ganze Landschaft.

Einmal kurvte ich an der Hase lang, bis Bokeloh, wo aber noch weniger los war als in Meppen. Da gab’s nur ein paar Bruchbuden mit Jägerzaun und Rhododendron drumherum.

Wo war ich hier bloß gelandet?

Gladbach schlug Bremen mit 3:0. Wenigstens etwas. Die letzten Spiele der Meppener C-Jugend des SV gegen die Mannschaften aus Dalum, Haren, Twist und Haselünne waren weniger hochklassig verlaufen.

Am Samstag chauffierte Mama Tante Therese mit dem Peugeot zur Fähre nach Hoek van Holland, und Papa ging in den Garten, um Erde zu sieben. Ich hoffte schon, mich um das allsonnabendliche Schöveln herumschummeln zu können, aber mitten in der Bundesliga-Konferenzschaltung kriegte Papa mich dann doch am Kanthaken zu fassen.

Wenn die vermaledeite Schövelei der Preis für ein Haus mit Garten war, hätte ich es vorgezogen, eine Hochhauswohnung zu bevölkern. Was hatten wir denn groß von unserm Garten? Schwielen, Frust und dreckige Fingernägel. Und dazu ’n lahmes Kreuz.

Nach dem Schöveln schleppte ich mich ins Wohnzimmer zur Sportschau. Kaiserslautern hatte Braunschweig mit 3:1 plattgemacht, und nun führte Gladbach die Tabelle wieder an. Es gab also noch eine Gerechtigkeit auf Erden, wenn auch nicht in Meppen.

Als ich die Ergebnisse des zwölften Spieltags in die Kladde eintrug, die ich mir zu diesem Zweck vom Munde abgespart hatte, sah ich, daß Volker auf dem Balkon heimlich am Rauchen war. Ich kletterte raus, und Volker gab mir einen von seinen Glimmstengeln ab.

Camel Filter. Eine Zigarettensorte für Naturburschen. Ganz was anderes als Attika oder Stuyvesant.

Vom Rauchen wurde mir flau, und ich hätte die halb abgebrannte Zichte gerne ausgemacht, doch ich wollte den Rest nicht verschwenden und rauchte widerwillig weiter.

Mama müsse inzwischen auf dem Heimweg sein, sagte Volker. Er für sein Teil würde Holland als Verkehrsteilnehmer meiden wie die Pest. Oder höchstens wie Speedy Gonzales auf der Überholspur da durchzischen. Die Holländer könnten alle nicht autofahren. Und was die da sprächen, sei keine Sprache, sondern ’ne Halskrankheit.

In Meppen kam Mama erst um zehn Uhr abends wieder an, und schon ging das Gemecker los: »Seid ihr noch bei Trost? Überall Festbeleuchtung, und die Haustür steht hängend offen!«

Weil ich keine große Meinung mehr vom Radfahren hatte, klimperte ich am Sonntagvormittag auf dem Klavier. Kleine Werke großer Meister. Wenn ich noch ein paar mehr gute Zensuren nachhausegebracht hätte, werde sie mich bei der Musikschule anmelden, sagte Mama beim Tischdecken.

»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast«, betete Papa dann, so wie jeden Mittag, seit ich denken konnte, »und segne, was du uns bescheret hast.«

Nämlich Weißkohl. Gesegnete Mahlzeit.

Von dem Rechtsaußen, auf den Uli Möller mich angesetzt hatte, als wir gegen Sögel spielten, wurde ich schon kurz nach dem Anpfiff getunnelt. Den Ball durch die Beine gekickt zu kriegen, das war so ziemlich das Blödeste, was einem als Abwehrspieler passieren konnte. Im Eifer des Gefechts gelang es mir jedoch noch, einen todsicheren Torschuß per Köpper zur Ecke zu klären, und in der zweiten Halbzeit rief der von mir bewachte Rechtsaußen seinem Trainer zu: »An dem Arsch ist einfach nicht vorbeizukommen!«

Das ging mir runter wie Butter.

Um den Gruselfilm im ersten Programm kucken zu dürfen, mußte ich Mama schwören, am Sonntag ohne Quakerei mein Zimmer aufzuräumen, staubzusaugen und meine Schuhe zu putzen.

In dem Film schwängerte der Teufel eine halb ohnmächtige Frau, die erst zu spät dahinterkam, daß ihr eigener Mann diesem Begattungsakt zugestimmt hatte, um beruflich davon zu profitieren. Die Frau schleppte sich dann hochschwanger durch New York und suchte nach Hilfe, wurde aber von allen abgelinkt und brachte einen Säugling mit Teufelsaugen zur Welt.

»Was das nun wohl gesollt hat«, sagte Mama, als der Abspann lief. »Einem so ’nen Schrecken einzujagen mit dem ganzen Hokuspokus!«

Mama war mehr für normale Krimis, mit ’ner Leiche am Anfang und ’ner Verhaftung am Ende.

Im Rückspiel führte Juventus nach Treffern von Gori und Bettega bis zwanzig Minuten vor Schluß, aber dann sorgten Danner und Simonsen für den Gleichstand, und Gladbach war eine Runde weiter, so wie auch der FC Bayern, der es Malmö mit 2:0 besorgt hatte. Alle anderen deutschen Mannschaften hatten schmählich versagt. Kein gutes Omen für die bevorstehende Europameisterschaft.

Aus Birkelbach war Renates erster maschinegeschriebener Brief angelangt. Daß sie seit Montag das Amt der Hausstütze innehabe und siebenmal am Tag läuten müsse, vormittags und nachmittags, zum Unterrichtsanfang und zum Unterrichtsende, und dann noch zu den Mahlzeiten …

Bei uns bestand die zweitnervigste Arbeit nach Unkrautschöveln im Laubharken. Im Nieselregen mit der Forke zentnerweise abgefallene Birkenblätter zusammenkehren, als Aushilfsgärtner im nassen Anorak, mit festgezurrter Kapuze und einem eingelüllten Kapuzenbandknoten im Maul, das hätte den stärksten Indianer umgeworfen.

Bayer Uerdingen war ein Klub, bei dem man sich fragte, was der überhaupt in der Bundesliga zu suchen hatte. Da gab’s keine Stars, keine Nationalspieler und noch nicht mal ’ne Flutlichtanlage, und den Vereinsnamen hatte ein Chemiekonzern gestiftet. Mieser ging’s überhaupt nicht. Und trotzdem konnte Gladbach in der Uerdinger Grotenburg-Kampfbahn nicht mehr als einen Punkt ergattern, blieb aber Tabellenführer, weil das Torverhältnis ein kleines bißchen besser war als das von Braunschweig. Als Verfolger hatte Gladbach außerdem noch Bayern, den HSV, Schalke 04 und Kaiserslautern im Nacken.

Sonst war nicht viel los. Aber ob in Vallendar mehr los war? Bestimmt nicht soviel wie 1498 in Florenz: Da war der Bußprediger Savonarola auf dem Scheiterhaufen ganz oben an einen hohen Pfahl gefesselt worden, um länger was von seinem Feuertod zu haben. Ketzer totbrutzeln, das war eins der Hobbys der Päpste gewesen. Und nun sollte man den Kunstgeschmack dieser Schweinepriester bewundern und kriegte das als Hausaufgabe auf.

Kennst du Kunstwerke in deiner Heimat, die aus dem Mittelalter oder der Renaissance stammen? In wessen Auftrag könnten sie entstanden sein?

Mittelalterliche Kunstwerke in meiner Heimat? Da kam mir nur die Sporkenburgruine in den Sinn, bei Eitelborn, zu der Michael und ich oft gefahren waren, in der paradiesischen Zeit vor dem Umzug nach Meppen. Zur Sporkenburg hätte ich mal wieder hingewollt. Im Innenhof Nutellabrötchen vertilgen und dann volle Lotte mit dem Rad den steilen Waldweg runterdüsen, so als ob es kein Morgen gäbe.

Mama hatte Marmorkuchen gekauft, Sahne geschlagen und Tee gekocht, für jeden, der welchen wollte, in der Küche, um Punkt fünf, wie bei den Briten. Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken, und die Sonne ging unter.

Das Stövchen schimmerte rötlich. So hatten wir früher auch auf der Horchheimer Höhe zusammengesessen beim Tee, im Spätherbst, mit Blick auf das Wäldchen und meinen Lieblingskletterbaum. Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätten wir da immer wohnenbleiben sollen. Der Garten war nur ein besseres Handtuch gewesen, ohne viel Unkraut, und nach ein paar Schritten bergauf hatte man sich im tiefsten Wald befunden.

Und es hätte auch weniger Schnee zu schaufeln gegeben, dachte ich, als Mama Volker und mich nach dem Teetrinken dazu abkommandierte. Auf der Horchheimer Höhe wäre das nur ein kurzes Stück Bürgersteig gewesen. Hier war’s wie der halbe Nürburgring, und dazu gesellte sich noch der Radweg.

Herbstgewitter über Dächern,

Schneegestöber voller Zorn …

Wenn man das alles nüchtern abwägte, kam unterm Strich heraus, daß wir uns mit jedem Umzug etwas Schlechteres eingehandelt hatten, so à la Hans im Glück, der einen Goldbarren als Lohn erhalten und sich auf dubiose Tauschgeschäfte eingelassen hatte und zuletzt als Habenichts dastand, dem sein Stein in den Brunnen geplumpst war.

Trotz der Klapperkälte hatte ich Dämlack mir morgens keine Handschuhe angezogen. Doof geboren und nix dazugelernt. Und dabei stand mir ’ne Französischarbeit bevor, mit den aberwitzigsten Aufgaben. Ecrivez les questions et les réponses, complétez les phrases, das kannte man ja schon.

Im Fernsehen lief ein Film über Umweltverschmutzung durch die Abgase der Industrie. Da zerfraßen die Schadstoffe den Hausfrauen die Strumpfhosen, und die Leute starben im Smog wie die Fliegen.

Das Drehbuch stammte von Wolfgang Menge, der auch das Ekel Alfred Tetzlaff erfunden hatte.

Oma Schlosser schickte Papa ein Paket mit sechzig Tulpenzwiebeln und einem Kärtchen:

Mögen Dir die Gartenfreuden weiterhin den Ausgleich und die Erholung bringen, die Du neben Deiner Berufstätigkeit nötig hast! Zu spät ist’s ja zum Tulpenstecken noch nicht, und ich hoffe, daß Ihr keine Mäuse habt. In Schirwindt habe ich es sogar einmal noch am 22. Dezember getan und Erfolg damit gehabt.

Zur Tulpenblüte werde sie uns dann besuchen kommen. Und ob ich jetzt wieder Klavierstunden hätte?

Nö. Dafür würde ich im nächsten Frühjahr beim Schöveln aber sicher wieder viele Gartenfreuden erleben, als Ausgleich und zur Erholung, die ich neben meinen Schulstunden nötig hatte.

Für den Heimsieg über Fortuna Düsseldorf genügte Gladbach ein einziges kleines Törchen. Braunschweig hatte in Duisburg verloren, und der Abstand zum Tabellenführer Gladbach war auf zwei Punkte gewachsen.

Unser Kräftemessen mit der C-Jugend aus Rühle endete im Desaster. 0:0 hatte es gestanden, bis zur vorletzten Minute, und dann haute Glübi uns mit einem mißglückten Rückpaß ein Eigentor rein.

In der Schweinskälte waren mir die Finger so krummgefroren, daß ich in der Kabine fast eine halbe Stunde lang warten mußte, bis ich meine Schnürsenkel aufknoten konnte.

Gegen die massive Kritik aus der Mannschaft nahm Uli Möller Glübi in Schutz. Wir alle würden mal Fehler machen. »Und man muß auch was riskieren! Wer kein Risiko eingeht, der hat auf dem Platz nichts verloren! Der soll Schlafwagenschaffner werden! Oder Postbeamter! Ist doch wahr! Jetzt hackt ihr auf Glübi rum, aber wenn ihr selbst mal ’n Fehlpaß spielt, ist eure Großmutter schuld oder was! Haltet bloß den Rand, ihr Saftneger!«

Am 17. 11. war Papa auf Dienstreise in München. Ob er das so eingefädelt hatte, um seinen Geburtstag nicht feiern zu müssen? Das hätte Papa ähnlich gesehen.

Der Glückspilz-Martin-Sender hatte wieder unverschämte Post vom Dussligen Michael-Gerlach-Sender erhalten:

An den GMS, der es niemals schaffen wird, den DMGS zu vernichten!

Ja, was passiert denn so bei uns? Darüber muß ich erst einmal sinnieren, bevor ich’s Dir verklickern kann. Wenn’s überhaupt was zu verklickern gibt! Denn ich brauche Dir ja wohl nicht mehr zu erzählen, daß es hier stinklangweilig ist, und da es sonst nichts gibt, muß ich leider Gottes auf die Schule zurückgreifen.

Zuerst das Unerfreuliche: Mein Englischlehrer hat mir eine Standpauke gehalten wegen meiner kleinen Schrift. Eine Lupe brauche man dafür. Dann soll sich dieser Geizkragen doch eine kaufen!

So, und jetzt das Erfreuliche: gar nichts!

Ich bin sehr auf Deine nächste Anrede für mich gespannt. »Ehrwürdiger, unzerstörbarer DMGS« oder so.

Jetzt hab ich eigentlich schon keinen Grund mehr zum Weiterschreiben. Außer dem, daß das Blatt noch nicht voll ist. Wäre doch eine nicht zu verantwortende Verschwendung von Papier. Aber was soll ich machen? Es gibt nun mal nichts mehr zu schreiben.

Tschö denn, herzlichst, der DMGS!

Das schrie nach Rache.

Mama war auf einer Informationsveranstaltung des Maristengymnasiums gewesen und sagte, mit einem guten Realschulabschluß könne Volker dahin wechseln und in drei Jahren das Abitur machen.

Wenn man das Abi nicht packte, war man gearscht. Dann konnte man, wenn man Glück hatte, irgendwo als Lehrling anheuern und durfte für den Rest des Lebens ganz kleine Brötchen backen. Als Klempner womöglich. Heizkörper installieren und verstopfte Klosettröhren auspumpen.

Am Buß- und Bettag kam Renate angetanzt, für anderthalb Tage. Geranienstecklinge hätten sie geschnitten, erzählte sie. Nur mit dem Klavierspielen sei es in Birkelbach schlecht: Der Flügel für Hauskonzerte sei zwar gerade neu gestimmt worden, aber den dürften sie nicht zum Üben benutzen, und dann gebe es noch einen verstimmten Flügel und in der Turnhalle ein verstimmtes Klavier. Aber sie sei jetzt im Chor drinne. Da würden sie Weihnachtslieder einstudieren, dreistimmig, und sie sei Stimmstütze in der zweiten Stimme. Gloria soli Deo.

Gegen Bulgarien spielte Deutschland ohne Netzer, aber mit Dietz, und wir siegten mit 1:0 durch ein Tor von Heynckes in der 64. Minute. Ob Heynckes der neue Müller war? Und ob Netzer seinem alten Mannschaftskameraden Heynckes nicht noch ein paar mehr gute Flanken zugespielt hätte als Wimmer, Stielike und Danner?

Das fragte sich hoffentlich auch Helmut Schön.

Im Zweiten kam die erste von vier Serienfolgen über einen Bauernjungen, der im Dreißigjährigen Krieg nach einem Überfall auf den Hof in Not geriet und bei einem Einsiedler unterkroch. Der nannte den Jungen Simplex, weil er seinen eigenen Namen nicht wußte und weder schreiben noch lesen konnte. Als der Einsiedler gestorben war, verschlug es Simplex in eine Festung, wo er Essen auftragen sollte, und weil er Angst hatte, dabei versehentlich zu furzen, gab ihm einer, der ihn reinlegen wollte, den Rat, ein Bein zu heben, wenn der Furz im Anmarsch sei, mit voller Kraft zu drücken und heimlich zu flüstern: »Je pète, je pète …« Als Simplex diesen Rat beim Servieren befolgte, ging der Schuß natürlich nach hinten los, und ich kugelte mich vor Lachen.

Diese Szene hatten auch der Gerdes und der Bohnekamp lustig gefunden. Die hopsten am nächsten Tag auf dem Pausenhof auf einem Bein herum und brüllten: »Je pète, je pète!«

Das Versorgungsamt Osnabrück wollte von Papa eine »Lebensbescheinigung« haben, die bis zum 12. Dezember vorzulegen sei. Sonst werde die Zahlung der Versorgungsbezüge eingestellt. Papa sagte, es wundere ihn, daß diese Esel ihm nicht geschrieben hätten: »Wenn die Lebensbescheinigung bis zu diesem Tage hier nicht vorliegt, werden Sie für tot erklärt.«

Dank zweier Tore von Henning Jensen konnte Gladbach im Parkstadion gegen Schalke wenigstens einen Punkt retten. Unentschieden hatte auch Braunschweig gespielt, und die Bayern waren im Waldstadion untergegangen: 6:0 für Eintracht Frankfurt! Da hatte die launische Diva wieder mal hingelangt.

Der Mensch, der mit seiner Familie unser Haus auf dem Mallendarer Berg bewohnte, wollte da wieder ausziehen und hatte den Mietvertrag gekündigt, zu Ende Juni ’76.

Es haben sich von uns nicht in diesem Maß vorausschaubare Veränderungen beruflicher und finanzieller Art eingestellt (u.a. Vertrag mit dem Gesundheitsamt Neuwied über Mütterberatungen etc.), die mich so stark nach Neuwied binden, daß wir trotz größerer Investitionen in Form von Möbeln, Dekoration etc. angehalten sind, dorthin zu ziehen, um rascher erreichbar zu sein.

Sollte er doch! Dann könnten wir da ja wieder einziehen, dachte ich, aber Mama winkte ab. So schnell würden die Preußen nicht schießen. »Stell dich mal lieber darauf ein, daß du dein Abitur in Meppen machst. Und steck dir das Hemd in die Büxe! Wie läufst du hier überhaupt rum!«

An meinem Äußeren wäre Mama, wie immer, noch einiges andere unangenehm aufgefallen, wenn sie nicht gerade ihre Lieblingsserie gekuckt hätte, Task Force Police, mit britischen Kriminalbeamten.

Richtig auf achtzig war Mama dann, als sie Plätzchen backen mußte, weil ich die zu Konfi mitbringen sollte, damit sie in der Innenstadt bei einem Basar zugunsten von »Brot für die Welt« verkauft werden konnten. Was dieser Pastor sich dabei denke, hier die Mütter seiner Konfirmanden auf Trab zu bringen mit seinen verqueren Vorstellungen von Mildtätigkeit. »Der hat doch selbst noch nie am Herd gestanden und ’n Backblech eingefettet!«

Mama war sowieso schon fuchsig, weil die Armleuchter bei Ceka alle Fotos durcheinandergerührt hatten. Da war beim Entwickeln irgendeine Maschine zu Bruch gegangen, und Mama mußte Bildbeschreibungen anfertigen, um an die richtigen Fotos zu kommen. »Als ob man sonst nichts zu erledigen hätte! Und nun soll ich hier noch Plätzchen backen, um der Dritten Welt ’n Gefallen zu tun!«

Nachdem Pastor Böker das Backwerk eingesammelt hatte, zählte er die prägenden Kennzeichen der Vorweihnachtszeit auf, das Warten und das Wartenkönnen. Alle würden warten: Kinder, Heranwachsende und Erwachsene. Wer nicht warten könne, der habe ein Stück des Menschseins verloren. »Aber worauf warten?«

Aufs Christkind?

»Wir warten auf Gott und sein Tun«, sagte Pastor Böker. »Menschen warten darauf, daß andere etwas tun. Wir werden aber auch erwartet. Das ist es, was uns aus der stillen Wartehaltung heraustreibt.« Wir würden von vielen Menschen erwartet, mit unseren Worten und unserem Tun. Und hinter diesen Menschen stehe Gott selbst, der auf uns warte. »Gott wartet auf uns, auch heute. So lieb hat uns alle Gott.«

Und wo erwartete uns Gott? Im Jenseits. Das konnte ich nun wieder erwarten. Mir war das ganze Christentum schon längst nicht mehr so recht geheuer. Hexenverfolgung und Ketzerverbrennung, das konnte es doch wohl nicht sein, was Jesus gewollt hatte bei seiner Verkündigung des Evangeliums der Liebe. Und ob Jesus selbst wirklich jemals am Leben gewesen war und Wundertaten vollbracht hatte? Die Brotvermehrung und die Speisung der Soundsovielen? Ich hatte da meine Zweifel. Auch an der jungfräulichen Empfängnis und der Sache mit der Wiederauferstehung. Als kleiner Junge hatte man noch alles geglaubt und sich einen vom Pferd erzählen lassen, aber über dieses Alter war man hinaus, wenn man auf die 14 zuging.

Mama kam mit aufgedonnerter Frisur aus der Stadt zurück. Wobei, Frisur war untertrieben; das war mehr so ’ne Art Astronautenhaube. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Papa sowas schön fand. Es war fraglich, ob das überhaupt irgendein Mann auf der Welt schön finden konnte. Aber weshalb rannten die Weiber dann alle wie besessen zum Damenfriseur und zahlten auch noch Geld dafür, so abartig verunstaltet herumzulaufen?

Gladbach verpaßte Kickers Offenbach mit einem 2:0 einen Denkzettel und stand damit als Herbstmeister fest, weil Braunschweig in Bochum verloren hatte. Die Herbstmeisterschaft war zwar nur die halbe Miete, aber doch ein Indikator für den weiteren Verlauf der Saison. Davon ging ein gewisser Signalcharakter aus, der auch psychologisch ins Gewicht fiel.

In der Küche spickte Mama unseren alten Adventskranz mit frischem Tannengrün und machte sich dann für den großen »Ball der Ingenieure« fein, der irgendwo im Herzen Meppens steigen sollte. Papa mußte aus Loyalität zu seinem Betrieb daran teilnehmen, und Mama freute sich darauf, mal unter andere Leute zu kommen als unter Volker, Wiebke und mich. »Von euch Jöselpötten hab ich für heute genug!«

Und so konnte ich mir spätabends in aller Seelenruhe einen Western ankucken, mit Schießereien, Banküberfällen und Lynchjustiz, ohne mir Mamas Kommentare dazu anhören zu müssen.

Volker wünschte sich zu Weihnachten, daß Papa sein altes Moped wieder flottmachte, die Victoria. Zwanzig Jahre hatte die auf dem Buckel und war 1962 stillgelegt worden.

Papa verdrehte die Augen. Da müsse er ein neues Getrieberitzel beschaffen, und nach all den Jahren wäre das wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Da wuchs man nun zum jungen Mann heran, aber das Aufstehen fiel einem tausendmal schwerer als damals im Vorschulalter. Wer wollte schon aufstehen, wenn die einzige Verlockung auf dem Weg vom Bett in die Penne und zurück in einem winzigen Adventskalenderschokoladenhäppchen bestand?

Mathe, Franz und Geschi. Johannes Gutenberg: Der hatte die Buchdruckerkunst erfunden und war trotzdem in bitterer Armut gestorben. Wenn der Typ mal ’ne moderne Buchhandlung von innen gesehen hätte, wäre er bestimmt hintenübergekippt.

Die größte in Meppen hieß Meyer. Nah an der Schule, gegenüber vom Rathaus. Bei Meyer streifte ich von Zeit zu Zeit durch die Regalreihen, aber die Bücher und selbst die Taschenbücher waren alle zu teuer für mich.

Einmal trat mir da der Gerdes auf den Fuß: »Du auch hier?«

»Die Welt ist doch ein Dorf!« hätte ich antworten können, wenn ich schlagfertig genug gewesen wäre. Oder auch: »So sieht man sich wieder!«

Der Gerdes erzählte mir, daß sein älterer Bruder in Bielefeld Soziologie studiere und daß die da auch Seminare über Sexualität abhielten. Die nähmen kein Blatt vor den Mund, die Herren Studenten. Da werde alles aufgerollt.

Mama ging schon wieder aus, zu irgendeinem Damenkränzchen. Die wollte es jetzt wohl wissen, schien mir, und ich freute mich auf den nächsten Western ohne Mamas Genöcker, aber dann kam plötzlich Papa mit ’ner Flasche Bier ins Wohnzimmer und pflanzte sich dazu. Das machte er sonst frühestens um elf.

John Wayne verkörperte diesmal einen Bankräuber, der mit zwei Komplizen auf der Flucht war. Längelangs durch die Salzwüste von Arizona, und das mit knochentrockener Kehle. Irgendwann stießen sie auf einen Planwagen und darin auf eine schwangere, von ihrem Mann im Stich gelassene Frau. Der mußten sie beim Gebären helfen, ohne einen Funken Sachverstand, und als sie kurz danach starb, war das Trio erst recht angeschmiert: Was sollten die drei entkräfteten Rowdys in der Wüste mit einem krähenden Säugling anstellen?

Der sterbenden Mutter hatten sie geschworen, das Kind zu retten, und so zogen sie dann, während Papa sich eine neue Bierflasche holte, weiter, einem Stern hinterher, wie die Heiligen Drei Könige, in der Hoffnung, in einer Stadt namens New Jerusalem eine Adoptivstation für das Baby zu finden, obwohl sie wußten, daß sie auf diesem Weg dem Sheriff in die Arme liefen.

Der jüngste und am schwersten verletzte von den Bankräubern brach zusammen, hatte aber noch ’ne Masse zu wimmern, als er da so im Wüstensand lag. Daß der Knabe auf der Abschußliste stand, war jedem, der sich auch nur ein bißchen auskannte mit Western, klar wie Kloßbrühe mit dicker Tinte, und dennoch wollten und wollten die letzten Worte kein Ende nehmen. Immer noch eins und noch eins.

»Mann, nun kratz doch endlich ab«, sagte ich, und Papa rief mich zur Ordnung. Ob ich noch ganz bei Groschen sei, solche Ausdrücke in den Mund zu nehmen? Aber ich fand das eben kitschig, und das sagte ich auch, und darauf erwiderte Papa nichts mehr. Ich war mir sicher, daß er das genauso kitschig gefunden hatte wie ich.

John Wayne gefiel mir trotzdem, auch in diesem Western. Rauhe Schale, weicher Kern. Renate hatte mir mal gesteckt, daß John Wayne ein ulktrakonservativer Fiesling sei, aber wen interessierte denn die politische Einstellung von Schauspielern? Mir wär’s auch egal gewesen, wenn Raimund Harmstorf CDU gewählt hätte. Na ja, so ganz egal vielleicht nicht. Aber für welche amerikanische Partei John Wayne war, das ging mir doch am Arm vorbei. Vielleicht hätte Renate mal selbst in der Salzwüste von Arizona in so ’nem Planwagen liegen sollen, in anderen Umständen, mit höllischem Durst dazu und womöglich noch mit ’ner Schußverletzung. Wenn dann zufällig John Wayne des Wegs gekommen wäre, hätte Renate ja auch nicht erst über die Gleichberechtigung der Frau diskutiert, sondern sich gefreut, daß ihr da ein gestandenes Mannsbild zu Hilfe eilte und nicht der Juso-Chef von Idar-Oberstein, mit Hängeschultern und Kassengestell.

Shall we gather at the river,

where bright angel feet have trod …

Der größte Cowboy von allen war und blieb John Wayne. Daran gab es nichts zu deuteln.

Papa hatte eine Anzeige aufgegeben, daß er einen alten Victoriamotor suche, und jemand aus Hebelermeer rief an. Der besaß so ein Ding. Hebelermeer, das war irgendwo bei Twist, am Arsch der Welt. Mama und Papa fuhren hin, und als sie wiederkamen, trug Papa den betagten Motor in die Werkstatt, und Mama sagte, daß Hebelermeer in einer wahrlich gruseligen Gegend liege. Da sei der Hund verfroren.

Schweinsbrutal ging es in einem Schwarzweißfilm zu, der auf einer Pflanzung in Hinterindien spielte. Da wurde gleich zu Anfang ein Mann von einer Frau mit sechs Kugeln durchsiebt. Die Frau behauptete, der Mann habe sie vergewaltigen wollen, aber wie sich herausstellte, war er ihr Geliebter gewesen, und sie hatte ihn aus Eifersucht umgeballert, und am Ende wurde sie von dessen Witwe abgestochen.

Die Hauptdarstellerin hatte ziemliche Glubschaugen. Bette Davis. Nicht gerade ’ne Schönheit.

Mama ging abermals abends aus, gemeinsam mit Papa in diesem Fall, zu einem »Barbarafest« mit Tanz und Jux und Dollerei. Barbara, so hieß die Schutzheilige der Artillerie. Bei dem Fest gossen sich die E-Stellen-Mitarbeiter und deren Ehefrauen einen auf die Lampe. Von mir aus hätte diese neumodische Ausgeherei ruhig noch extremere Formen annehmen können. Sonst wurde man abends dauernd in die Kellerwerkstatt gerufen, um Bretter oder Nägel anzureichen oder um den Schraubstockhebel festzuhalten, wenn Papa da was zu hämmern hatte, und wehe, man machte irgendwas falsch. Dann fuhr er sofort aus der Haut: »Du stellst dich mal wieder an wie der erste Mensch!« Es ging ihm schwer gegen den Strich, daß es auch Leute mit zwei linken Händen gab.

Was Papa baute, paßte millimetergenau zusammen, aber in der Werkstatt herrschte ein einziges Durcheinander. Wie er sich in dem Gewusel aus Kabeln, Schraubenmuttern, Schmirgelbesen, Zangen, Bürsten, Sägeblättern, Pinseln, Kanistern, Autoschrott und Spülmaschinenschläuchen zurechtfand, kapierte ich nicht.

Den Nikolaustag versüßten mir die Fohlen zusätzlich mit einem Auswärtssieg: 1. FC Köln – Gladbach 0:4. Mehr konnte man nicht verlangen.

Im ZDF kam dann ein Krimi über einen Mörder, der die Tat zwar in Notwehr begangen hatte, aber die Leiche lieber verschwinden ließ, als der Polizei Rede und Antwort zu stehen. Doch das Versteck wurde entdeckt, und von da an zog sich die Schlinge um den Hals des Mörders immer enger zusammen. Vielleicht wäre es cleverer gewesen, wenn er die Leiche in der Badewanne zerteilt und im Hausmüll untergewühlt hätte, vermischt mit Hühnerknochen und anderen Küchenabfällen. Dann hätte doch nie einer was gemerkt. Aber wie hätte man einen Menschenkopf zerstückeln sollen? Mit der Axt? Ijasses! Dann lieber gestehen und als Totschläger zu zwanzig Jahren Alcatraz verknackt werden, hätte ich gesagt.

Der Hauptdarsteller hieß Edward G. Robinson. Dessen Schurkenvisage war mir schon öfter begegnet. Mit so ’nem Gesicht hatte der in Hollywood wohl nie die Chance gehabt, einen von den Guten zu spielen. Oder wenigstens jemanden ohne leichengepflasterten Lebensweg.

Für seinen nächsten Brief hatte Michael sich eine Anrede ausgedacht, die ich ihm heimzuzahlen gedachte.

An Martin, den mausigen Mopshund von Meppen!

Du wirst sicher sauer sein, daß ich erst so spät schreibe, aber ich habe eine Entschuldigung. Erstens mal hab ich schon einen Brief geschrieben, aber den konnte ich mangels 2 DM fürs Portoheftchen und aus Faulheit nicht abschicken, und zweitens … aber das erzähle ich ja jetzt: Ich habe also endlich 2 DM zusammengeknausert und sie auch in ein 2-DM-Stück umgetauscht, gehe zum Apparat, werfe das Geld ein und ziehe – nichts. Ich drücke auf den Knopf mit der sinnigen Aufschrift »Bei Versagen drücken«, aber wieder nichts. Da es ohnehin schon kurz vor 5 ist, warte ich auf den Postbeamten, der den Briefkasten leeren soll. Um Viertel nach 5 stehe ich bei klirrender Kälte immer noch da, und der Briefkasten ist immer noch voll. Also gehe ich nach Hause und muß morgen zur Post nach Vallendar und eine eidesstattliche Erklärung abgeben, daß das auch stimmt mit den 2 DM. Bloß – wie komme ich da runter? Zum Gehen habe ich keine Lust, und fürs Fahrrad ist es zu kalt. Also wirst Du Dich noch ein wenig gedulden müssen, bis Du diesen Brief in die Tatzen kriegst. Denn wo soll ich das Geld für die Briefmarke hernehmen? Na, ich werde mal versuchen, morgen doch zum Postamt zu gehen und mir meine zwei Mark zu holen. Ob ich’s wohl schaffe? So, wie Du mich kennst, sicher nicht.

Heute ist morgen (das da oben habe ich gestern geschrieben). Gerade eben ist wieder was mit Jakob gewesen. Holger und ich kommen von der Schule, unsere Mutter öffnet uns mit verweinten Augen die Tür und erzählt uns, daß der Jakob vor zwei Stunden von ’ner Katze gejagt worden und auf ’nen Baum geflogen ist, und die Katze ist abgehauen (die wollte gar nichts vom Jakob, die hat sogar mit meiner Mutter geschmust). Dann ist der Jakob wieder vom Baum runtergeflogen, und meine Mutter hat gedacht, der sei wieder im Käfig. War er aber nicht. Tja, Holger und ich haben uns gleich auf die Socken gemacht, leider ohne Erfolg. Na, und als wir heimkommen, wer hoppelt da in seinem Käfig? Jakob! Weiß der Teufel, wo der die zwei Stunden war. Jedenfalls isser wieder da. O lucky day!

Sonst hat sich kein Vorkommnis zugetragen, das der brieflichen Erwähnung wert wäre (igitt).

Tchühhühüähhäß – BLBLBL DMGS!

Mein Antwortbrief mußte mit einer Begrüßung beginnen, die der von Michael ebenbürtig war. An Micky, den mickrigen Moppel vom Mallerer Berg oder so.

Für Samstagabend hatten Mama und Papa Heerscharen von Gästen eingeladen, und Mama fing bereits am Mittwoch mit den Vorbereitungen fürs kalte Büfett an. Was fertig war, kam in die Tiefkühltruhe. Eine große Sache stand uns da bevor. Eine regelrechte House-Warming-Party, in Mamas Worten. Es gehe nicht an, daß sie in Meppen ihr isoliertes Leben als Hausfrau fortsetze, ohne Bekanntenkreis und alles, was dazugehöre, wenn man ein normales Leben fristen wolle, sagte sie und hantierte am Küchentisch mit dem Gurkenhobel. Immer nur Einkaufen, Kochen und Saubermachen, das sei ihr in Koblenz lange genug auf den Deckel gegangen. Hier müsse das anders werden. »Und nun tu mir die Liebe und bind dir endlich deine Schuhe richtig zu! Muß ich denn alles dreimal sagen? Und kämm dir mal die Haare! Du siehst wieder aus wie bestellt und nicht abgeholt!«

Den Gangsterboß Al Capone hatte das FBI nur wegen Steuerhinterziehung drangekriegt, obwohl dieser Brutalinski in eine Kette von Mordfällen verwickelt gewesen war. Das sah man alles haarklein in einem Film mit Rod Steiger in der Hauptrolle. Auch noch so ein Name, den man sich merken sollte.

»Nun danket alle Gott, daß wir keine Zustände wie in Amerika haben«, sagte Papa, als der Film zuende war.

Die Mafia besaß in den USA noch immer große Macht, und alle wußten darüber Bescheid. Eigentlich ja kaum zu fassen, daß da eine Meute von Schwerverbrechern Millionen und Milliarden kassierte und die Polizei dagegen praktisch wehrlos war.

Die Fohlen besuchten die Zebras vom MSV Duisburg, semmelten ihnen ein Tor rein und fuhren zurück nach Gladbach. Ätschi! Wieder eine Runde weiter im DFB-Pokal.

Wiebke bepinselte einen Kerzenständer für Tante Therese. Ich mußte mir auch noch was einfallen lassen für meine Paten, Tante Dagmar, Tante Gertrud und Onkel Dietrich, und für Oma Schlosser und Oma und Opa Jever. Und für Mama und Papa und meine lieben Geschwister. Aber mit mehr als dreizehneinhalb Jahren konnte ich mich auch nicht mehr gut hinsetzen und Kerzenständer oder Holzlöffel bunt anmalen. Diese ewigen Kerzenständer und Holzlöffel kotzten die Verwandten höchstwahrscheinlich schon seit langem an, nur daß sich das niemand zu sagen traute.

In den meisten Fällen, fand ich, war ein Briefchen als Geschenk genug, wenn man so wenig Geld besaß wie meiner einer.

Auf dem Hinweg zur Schule war die Bahnschranke unten und auf dem Rückweg die Hubbrücke oben. Als ob da Dämonen am Werk wären, die mich unterbuttern wollten. Und gleich hinter der Hubbrücke knallte mir plötzlich von links ein Auto ins Rad.

Ein Mann half mir hoch, und ein anderer sagte, er habe die Autonummer notiert. Der Fahrer hielt mit seinem Käfer erst ein gutes Stück weiter unten am Straßenrand an und stieg aus und kam angelaufen.

Außer dem Schrecken hatte ich nicht viel abgekriegt. Das Fahrrad dafür um so mehr: Der Vorderreifen war völlig verknautscht, und das Rücklicht und der Ständer waren abgebrochen. Papa würde mir ’ne schöne Szene machen. Oder auch nicht, denn der Käferfahrer hatte mir beim Abbiegen die Vorfahrt genommen. Er fragte mich, ob ich verletzt sei, und der Mann, der mir auf die Beine geholfen hatte, pflaumte ihn an: »Was sind denn Sie für ’n Sonntagsfahrer?« Dieser Mann schrieb mir seine Telefonnummer auf, als Unfallzeuge, für den Fall der Fälle. Ich erhielt auch einen Zettel mit Namen, Adresse und Telefonnummer des Käferfahrers. Er riet mir, das Rad bei Geyer reparieren zu lassen. Das war das Fahrradgeschäft neben dem Kreisgymnasium. Die Kosten würde er mir natürlich erstatten.

Ich war froh, daß ich mir nichts gebrochen hatte, und fast noch froher, als der ringsherum entstandene Menschenauflauf endlich wieder auseinanderging. Nicht daß ich mit diesem Scheiß noch in die Zeitung kam. An ein Lied von Ulrich Roski mußte ich dabei denken:

Eine Hausfrau, die gern kocht, geht vorüber und sinniert,

Ob man Menschenauflauf wohl mit Speckstreifen garniert …

Am frohesten von allen war wohl der Käferfahrer. Schließlich hätte ich auch tot sein können. Oder hirngeschädigt und rollstuhlreif, und der Typ hätte die Kosten für siebzig Jahre Klapsmühle übernehmen müssen.

Um das demolierte Rad nachhause zu befördern, mußte ich es beim Schieben vorne anheben und mich dabei anglotzen lassen.

Und die Bahnschranke war wieder unten.

Mit dem Mittagessen hatten die andern schon angefangen. Kartoffelbrei, Spinat und Spiegeleier. Eins von Mamas sieben Standardgerichten, und nicht das schlechteste, obwohl die sich nicht groß was nahmen. Die übrigen sechs waren Kartoffeln mit Klopsen und Bohnen, Kartoffeln mit Klopsen und Erbsen, Kartoffeln mit Klopsen und Möhren und Kartoffeln mit Gulasch und Blumenkohl sowie Spaghetti mit Spiegeleiern. Gerichte mit Koteletts, Schnitzeln und Hähnchen kredenzte Mama uns nur sonntags. Ente, Gans oder Kaninchen blieben hohen Feiertagen vorbehalten.

Wo ich mich so lang herumgetrieben hätte, wollte Mama wissen. Das Essen werde ja schon kalt!

»Mir ist einer reingefahren«, sagte ich, doch das schien niemanden zu interessieren. Ich hatte geglaubt, das sei die Sensation des Tages, aber bitte, wenn man hier noch nicht einmal als Verkehrsunfallopfer im Mittelpunkt stand, konnte ich auch die Klappe halten. Hätte ich ja nicht gedacht, daß Mama und Papa so gelassen auf die Nachricht reagierten, daß mir einer reingefahren sei. Die quatschten einfach weiter übers Finanzamt und Papas Versorgungsbezüge. Man lernte doch wirklich nie aus.

Zum Nachtisch gab’s Kirschjoghurt. Ich saß als letzter Mann am Tisch. Volker und Papa hatten hinten im Wohnzimmer schon ihre Kaffeetassen leergepichelt, und ich kratzte gerade meinen Joghurtbecher aus, als Papa reinkam, aufgeregt wie ein Handfeger, und mich fragte, was um Himmels willen mit dem Fahrrad los sei. Ich hatte es im Vorgarten an die Teppichstange gelehnt, und da mußte Papa es erblickt haben, auf dem Weg zum Peugeot.

»Hab ich doch gesagt! Da ist mir einer reingefahren!«

»Reingefahren! Und wer ist dir da reingefahren? Etwa ’ne Dampfwalze?«

Jetzt kam auch Mama angeschossen. Ob ich noch klar bei Verstand sei? »Mann Gottes! Du sitzt hier seelenruhig rum und löffelst Joghurt, ohne ein Wort darüber zu verlieren, daß du fast draufgegangen wärst im Straßenverkehr! Junge!«

»Wieso? Ich hab euch doch gesagt, daß mir da einer reingefahren ist!«

»Reingefahren, ja, aber wir haben doch alle angenommen, daß du mit ’m Radfahrer zusammengerasselt wärst! Und nun erklär dich mal!«

Als ich das getan hatte, rief Mama den Käferfahrer an und ließ sich von dem alles bestätigen. »Und du hättest trotzdem besser die Polizei rufen sollen«, sagte sie, als sie aufgelegt hatte. Man könne nie wissen.

Den Nachmittag verbrachte Mama brötchenschmierenderweise in der Küche und den frühen Abend im Elternschlafzimmer vorm Garderobenspiegel, wo sie sich verschiedene Halsketten umhängte, um abzuschätzen, ob die farblich zum Abendkleid paßten. Danach ging sie zu Haarspray und Lippenstift über und machte kauzige Bewegungen mit dem Mund, um den Farbstoff gleichmäßig zu verteilen. Wie Cheetah beim Betteln um ’ne Banane.

Im Spiegel sah Mamas Mund immer irgendwie schief aus.

Dann kamen fünf Ehepaare hereingeschneit, aus Esterfeld, Rühle, Nödike und Twist und eins sogar aus Emmer-Compascuum. Mama hatte massenweise Besäufnisse organisiert für die Gäste, und es gelang mir, eine Flasche Bier für mich selbst abzuzweigen und die in mein Zimmer zu schleusen. Mit einem halben Liter Bier in der Blutbahn würde ich leichter darüber hinwegkommen, daß ich im zweckentfremdeten Wohnzimmer den Western mit Gary Cooper nicht kucken konnte.

Als ich mich schlafen legte, war unten noch Halligalli. Und wie!

Im Keller wurstelte Papa an dem in tausend Einzelteile zerlegten Moped herum. Wie Daniel Düsentrieb, bloß langsamer.

Und wozu das ganze? Damit Volker durch die Wallachei karriolen konnte, ohne Sinn und Verstand, denn es gab ja kein einziges lohnendes Ausflugsziel, sondern überall nur Äcker, Weiden, Gräben, Zäune, Matsche, Moor und Lehm und öde Käffer. Links ’ne Pappel, rechts ’ne Pappel. Auch die Hünengräber, von denen ich mir wer weiß was versprochen hatte, machten den Kohl nicht fett. Die Germanen, die da in grauer Vorzeit irgendwelche Findlingsblöcke aufgetürmt hatten, mußten sich auch schon ziemlich stark gelangweilt haben, denn sonst hätten sie das gelassen.

Nicht mal schlittenfahren konnte man in Meppen, mangels Gefälle. Die höchsten Bodenerhebungen im Umkreis von einhundert Meilen bildeten die Maulwurfshügel am Haseufer. In Koblenz hatte ich mich zwar auch vieles angeödet, der Stinkebus, die Schule und vor allem das Berghochlatschen nach Katche, aber da war wenigstens noch Leben in der Bude gewesen. Neulich hatte sich da sogar mal ’ne Frau aufgehängt, und alle naselang war Hochwasser oder sonst irgendwas.

Michael und Holger schrieb ich, daß sie doch mit ihren Rädern per Bahn nach Meppen kommen könnten, in den Osterferien oder spätestens in den Sommerferien, und dann würden wir zusammen zurück nach Koblenz radeln. Am Dortmund-Ems-Kanal lang und dann durchs Sauerland zum Rhein. Mit ’nem Dreimannzelt, Flickzeug, Proviant und Kilometerzähler. Heidewitzka!

Beim Abendbrot rühmte sich Mama, daß ihre Aufschnittplatten gestern aufs höchste gelobt worden seien von den Besuchern, und da ließ Papa wieder einmal seinen gehässigen Schnalzlaut hören, für den es keine passenden Buchstaben im Alphabet gab. In manchen Büchern sagten die Leute zwar »Ts, ts!« oder »Dz, dz, dz!«, aber Papas Zungenschnalzen klang anders, und es bedeutete ungefähr soviel wie: »Es ist doch wirklich unfaßbar, mit welchen Idioten ich ’s hier zu tun habe.« Er machte es ziemlich oft, und eben auch jetzt, und dann wies er Mama zurecht: »Hätten die etwa sagen sollen, also, das war ja vielleicht ’n widerlicher Schweinefraß, den Sie uns da vorgesetzt haben?«

Ich mußte lachen, aber Mama lief weinend nach oben und schloß sich im Elternschlafzimmer ein. Und Papa verschwand im Keller.

Überschrift: Familienleben.

Am Montagmorgen schleppte ich das kaputte Fahrrad zu Geyer und wurde gleich angeblafft, als ich da vorn durch die Ladentür wollte: »Hier doch nicht! Hintenrum! In die Werkstatt!«

Hätten die Ärsche das nicht draußen dranschreiben können?

In zwei Tagen, hieß es, könne ich das Rad wieder abholen. Solange durfte ich zu Fuß durch Meppen schlurfen.

Mama hatte Weihnachtsgeschenke für die Jeveraner eingepackt: Kalender, Pralinen, Rasierwasser und noch andere Drogeriewaren. Ich sollte meine Zeigefingerspitze auf die Paketschnurschleife pressen, damit Mama einen strammen Knoten binden konnte. Für Onkel Dietrichs eine Tochter, deren Patentante sie war, hatte Mama ein Puppenservice und einen Spielzeugmixer gekauft und für Tante Hanna ein Buch mit Redensarten und Versen in ostpreußischer Mundart.

De Oadeboar, de Oadeboar, de steiht op sinem Nest,

un wöll er sick e Varjneege moake, denn klappert er mit sine Freß.

In das Paket für Tante Therese stopfte Mama ein Marzipanbrot, Wiebkes krummscheibelig bemalten Kerzenständer und eine sogenannte Schwedenkerze, die aber für den Karton eine Nummer zu dick war. Der platzte immer wieder auf, trotz Tesafilm, und Mama kriegte fast zuviel. Zu guter Letzt klebte Papa drei Meter Paketband drumherum, so fest, daß man sich fragte, mit welchen Einbruchswerkzeugen Tante Therese das Paket wieder knacken sollte.

Wiebke wünschte sich zu Weihnachten einen Goldhamster und hatte sogar ein Gedicht deswegen verbrochen, mit bunten Filzern, jede Zeile in einer anderen Farbe:

Ein Goldhamsterchen ist ein reinliches Tier;

ich hätte es gerne zuhause bei mir.

Pepik würde ich es nennen

und mich nie mehr von ihm trennen.

Ich würde ihm ein Häuschen geben

und meinen Pepik gern pflegen.

Aber meine Eltern sind dagegen.

Sie sagen, ich würde ihn nicht pflegen.

Ich für mein Teil hätte lieber einen Hund gehabt. Ein treues Tier, das vor Freude kläffte, wenn ich von der Schule nachhause käme. Vom Mittagstisch hätte ich dem Hundchen Knorpel und Knochen zuschustern und es nachmittags im Fichtendickicht bei der E-Stelle auf die Karnickel hetzen können, und am Abend hätte es in einem Körbchen in meinem Zimmer schlummern dürfen. Es hätte kein Berner Sennenhund sein müssen. Ein Dackel, der mit mir als seinem Herrchen durch dick und dünn gegangen wäre, hätte mir vollauf genügt, oder ein Spaniel, so wie der von dem Vollwaisen Stubs in den Büchern von Enid Blyton.

Im Kleinanzeigenteil gab es eine Rubrik, in der jeden Tag Hundewelpen zum Verkauf angeboten wurden, zu Spottpreisen, aber nein! »Werd du erst mal erwachsen«, sagte Mama, »dann kannst du dir deinen Haushalt so einrichten, daß die Tölen da alles rund um sich zuscheißen. Ich hab genug zu tun, auch ohne so ’ne Flohschleuder im Haus!«

Mit der Quittung für die Fahrradreparatur – neuer Rückstrahler, Räder gerichtet, Gabel befestigt: 10,95 DM – gurkte ich bis ganz nach Teglingen, um die Penunzen von dem Unfallpiloten einzutreiben, aber der war nicht zuhause. Oder er stellte sich tot, der Hallodri. Shampoonierte sich quietschfidel in der Badewanne, während ich vor der zuen Haustür stand.

Im Dritten kam ein Musical mit Fred Astaire. Weshalb Mama sich darauf gespitzt hatte, war mir unbegreiflich. Da wurde nur herumgehüpft und gefeixt und gesteppt, klickedi-klackedi-klack, mit den Schuhabsätzen. Erholen konnte man sich danach im Zweiten bei einem Film, in dem ein Trickbetrüger Stan und Ollie eine Wunderpille zur Herstellung von Benzin andrehte, aber diesen Film fand nun wieder Mama kindisch. Die war, was ihren Filmgeschmack betraf, irgendwie schief gewickelt.

Aus Vallendar waren zwei Briefe für mich eingetroffen, einer von Holger und einer von Michael. Den von Holger nahm ich mir als ersten vor.

Du Primat, Du Geizhals, Dagobert Duck, Blödmann, Depp!

Puuuh, das mußte mal sein. Als Rache dafür, daß Du uns abverlangst, in den Sommerferien zu Dir zu kommen. Warum kommst Du nicht zu uns? Ich dachte, Du vermißt Vallendar! Also, Du kommst in den Sommerferien her, und wenn’s Dir gefällt, bleibst Du für immer hier.

Da ich weiß, daß dies nicht klappen wird, mache ich noch einen anderen Vorschlag, bei dem zu ca. 75 % wahrscheinlich ist, daß er sich verwirklichen läßt: Wir – Volker, Harald, Michael, Du und ich – treffen uns in den großen Ferien auf einem Campingplatz, der in der Mitte zwischen Meppen und Vallendar liegt. Harald und Volker unternehmen was zusammen, und wir drei können ja für uns alleine was machen.

Nun zum Finanziellen: Harald ist in den Herbstferien zur Weinlese gefahren und hat jetzt noch 140.– DM. Davon will er sich ein Dreimannzelt kaufen. Michael und ich haben bis jetzt 25.– DM. Dieses Geld soll der Anfang für die Freßkosten sein (natürlich muß noch viel mehr gespart werden). Für Luftmatratzen und Schlafsäcke ist gesorgt.

Jetzt zu Euch: Soviel ich weiß, besitzt Ihr ein Zelt und einen Spirituskocher. Fehlt nur noch der Ort, wo wir uns treffen. Es gibt, wie ich glaube, viel zu erzählen.

Tschüß, Dein Holger!

Ein Campingplatz in der Mitte zwischen Meppen und Vallendar? Tante Gertrud: Die wohnte in Bielefeld, und wir hätten ja, um Geld zu sparen, vielleicht in deren Garten zelten können …

Als ich Michaels Brief las, fragte ich mich, ob ich in meinem letzten zu stark auf die Tube gedrückt hatte.

Schnüff!

Meine Güte, bist Du ein armes Schwein! Mir sind ja bald die Tränen gekommen, als ich Deinen Brief gelesen habe. Ich werde eine Martin-Schlosser-Stiftung gründen. Da laß ich ganz viel Geld für arme Kinder in Meppen sammeln (mal ganz was Neues) und schicke 3 % davon zu Dir. (Den Rest behalte ich selbst, für die Mühe.)

Deinen Wunsch, wieder nach Vallendar zu ziehen, kann ich beim besten Willen nicht verstehen. Tja, hier hat sich wohl mal ’n Weib erhängt, aber was hat unsereiner davon? Wär die Frau erhängt worden, gegen ihren Willen, dann wäre das schon eher ein Grund gewesen, der für Vallendar spräche. Da hätte ich Detektivarbeit verrichten können, wenn’s nicht so kalt draußen wäre. Aber so? Ich an Deiner Stelle würde mich nicht wundern, wenn Holger und ich eines Tages als Auswanderer vor Deiner Haustür in Meppen stünden.

Meine eigenen Erzählungen sollen Dir mal zeigen, wie langweilig das hier ist. Erstens: Fast jeden Abend räume ich mein Zimmer auf und stelle Bücher in den Schrank, sammele alle möglichen Zettel und ordne sie, schreibe alles mögliche auf usw. Du kannst Dir gar nicht (oder vielleicht doch) vorstellen, wie schaurig das ist! Du gehst so um 9 Uhr ins Zimmer rauf, lernst ’n bißchen was für die Schule, und dann geht’s los. Irgendein innerer Zwang paukt Dir ein, daß der Tisch da in der Ecke nicht schön steht, daß die Bücher viel zu schief liegen und der Schrank zu unordentlich ist, und mit fiebrigen Augen stürzt Du Dich auf den Tisch, die Bücher und den Schrank und schiebst bis 10, 11 Uhr am Tisch und an den Büchern und am Schrank herum, bis Du die Augen nicht mehr offenhalten kannst und ins Bett kippst. Und wovon träumst Du? Vom Tisch und von den Büchern und vom Schrank, und sogar im Traum bist Du noch am Rumrücken und Schieben. Das ist ein Leben!

Zweitens: Ich bin, stell Dir das mal vor, in eine »Band« eingetreten! Ja, ’ne Band, die so allerhand Zeugs spielt, unter anderem auch Musik. Die Band besteht zum größten Teil aus welchen von meiner Klasse, bloß der Klavierspieler ist aus ’ner anderen. Die Zusammensetzung sieht wie folgt aus: 1 Klarinette, 1 Trompete, 1 Banjo, 2 Gitarren, 2 Geigen (eine bin ich) und 1 Klavier. So was hat’s noch nie gegeben. Als wir uns das erste Mal versammelt haben, war das allerdings ein schöner Reinfall. Die Klarinette und die Trompete haben alles andere einfach übertönt, und richtige Noten haben wir auch nicht gehabt, weil’s so ’ne Kombination ja noch nie gegeben hat. Doch der Weg zum Erfolg steht uns offen! Morgen ist das nächste Treffen. Dann wollen wir uns am »Entertainer« versuchen.

Wie Du siehst, ist es hier so langweilig, daß man auf die verrücktesten Ideen kommt.

Ach ja, was ich fragen wollte: Spielst Du eigentlich noch Klavier? Bitte, bitte ja! Das wäre schön. Wenn (wenn, wenn, wenn, wenn!) ich dann mal irgendwann vorbeikommen kann, bring ich die Geige mit, okay? Also, spiel gefälligst noch Klavier! Bitterscheen!

Und such im Atlas mal ’nen Ort, wo ganz dick drübersteht: HIER GIBT ES KEINE LANGEWEILE! Im nächsten Brief dann bitte Längen- und Breitengrad angeben, ich wandere dorthin aus.

In Konfi sollten wir uns in Stichworten darüber äußern, wie wir uns das Reich Gottes vorstellten. Pastor Böker schrieb alles auf: Frieden, Einssein, Seligkeit, Harmonie, Erlösung, Ruhe, Liebe, Lockerlassen, Verbrüderung, Vergebung, Nähe, Glück, Entspannung …

Das hörte sich zwar alles ganz erbaulich an, aber im Jenseits als Engel rumzuflattern, mit ’ner Harfe, und dem lieben Gott ein Ständchen nach dem anderen darzubringen, bis in alle Ewigkeit? Das müßte einem doch, wie Karl Valentin mal geschrieben hatte, irgendwann unbedingt langweilig werden. Und was hätte Gott davon gehabt, sich immerzu von seinen Geschöpfen anhimmeln zu lassen?

Da stimmte doch was nicht.

Von meiner zweiten Tour nach Teglingen brachte ich die 10,95 DM mit nachhause. Der Käferfahrer hatte mir das Geld im Hauseingang auf den Pfennig genau in den Handteller gezählt und sich meine Unterschrift auf einem Wisch ausbedungen, der besagte, daß hiermit alle Forderungen von meiner Seite abgegolten seien, und dann hatte er sich wieder in den Zigarettenmief seiner Wohnung zurückgezogen.

Wenn ich am Unfalltag die Polizei gerufen hätte, wären dem Arsch ein paar Punkte in der Flensburger Verkehrssünderkartei sicher gewesen.

Die Weihnachtsfeier des SV Meppen begann in einem Konferenzraum des Hindenburgstadions mit einem Super-8-Film von der WM ’74. Da sah man noch einmal die entscheidenden Tore von Breitner und Müller im Endspiel. In ein paar Jahren würde auch ich im Dreß der deutschen Nationalmannschaft aufs Spielfeld laufen: Martin Schlosser, gefürchtet in aller Welt, im Feyenoord-Stadion, im Stadio Olimpico, im Parc-des-Princes, im Maracaná und nicht zuletzt im Münchner Olympiastadion.

Unter Uli Möllers Leitung zogen wir in eine Kneipe um, wo Didi einen Stiefel Bier bestellte. Das war ein Bierglas in Stiefelform, und man mußte, wenn man daraus trank, gut aufpassen, daß die Luftblase aus der Stiefelspitze nicht hochpulschte und einem die Fratze bespritzte.

Uli Möller teilte handgeschriebene Zeugnisse aus. In meinem stand:

Training: 1

Spiel: 1

Na bitte! Wer sagt’s denn? Zwei Einsen hatte außer mir nur Didi. Als Prämie erhielten wir jeder einen Schokoladenadventskalender. Meinen fraß ich auf dem Nachhauseweg leer, vom ersten bis zum letzten Türchen. Die Hülle premmste ich in einen Abfallkorb, und dann wischte ich mir mit dem Handrücken den Mund ab.

Beim Nähen hatte Mama seit neuestem ’ne Brille auf. Für diesen Friemelkram seien ihre Augen nicht mehr gut genug. Weitsichtigkeit, die komme mit dem Alter, ob einem das nun passe oder nicht.

Oma Jever war noch schlimmer dran mit ihren Krampfadern. Papas Vater war an Krebs gestorben, Oma Schlosser litt an Gelenkbeschwerden, Tante Gertrud hatte Brustkrebs, Tante Doros Sohn Robert war Diabetiker, und Wiebke schielte. In unserer Sippe war der Wurm drin, keine Frage. Sorgen bereiteten mir selbst vor allem die weißen Flecken auf meinen Fingernägeln. Die Halbmonde unten am Nagelrand hatten die richtige Form, aber woher stammten die Flecken? Kalkmangel? Eisenmangel? Ob Mama uns alle falsch ernährte?

Um zu gesunden, aß ich beim Fernsehen abends sechs geschälte und entkernte Äpfel, während Gregory Peck den Streit zweier Rancher um eine Wasserstelle schlichten wollte, womit er sich aber nur Prügel und Duelle einhandelte. Wenn ich nach meinen Vorlieben bei Westernhelden gefragt worden wäre, hätte ich zuerst John Wayne genannt und dann James Stewart und an dritter Stelle Henry Fonda, der in »Spiel mir das Lied vom Tod« den Bösewicht markiert hatte. Um sich mit denen messen zu können, war Gregory Peck irgendwie zu liebenswürdig. Im richtigen Wilden Westen hätte er mit dieser Masche keine drei Tage überlebt.

Mama nahm mich zu einem Theaterstück mit, das in der Aula des Kreisgymnasiums aufgeführt wurde. Dafür hatte sich auch Frau Lohmann Zeit genommen, und wir saßen in der vierten Reihe. In dem Stück spielte ein ungerecht behandelter Pferdehändler die Hauptrolle, der aus Rache eine wilde Räuberbande gründete. Diese Bande vergewaltigte auch Frauen, und das sah dann so aus, daß eine Schauspielerin dazu gezwungen wurde, die Beine breitzumachen, und ein Bandenmitglied stellte sich demonstrativ dazwischen.

»Also, manches ist da ja nun nicht gerade jugendfrei gewesen«, sagte Mama in der Pause zu Frau Lohmann.

Für das Theaterstück hatte ich auf das Länderspiel gegen die Türken verzichtet. Da war der HSV-Keeper Rudi Kargus getestet worden, und er hatte seinen Kasten saubergehalten. Der Endstand – 0:5 für Deutschland – deutete zwar nicht auf Probleme im Sturm hin, aber wenn ich der DFB-Chef Hermann Neuberger gewesen wäre, hätte ich Gerd Müller trotzdem darum angefleht, die deutsche Equipe bei der Europameisterschaft zu verstärken.

Superspät begann ein Horrorfilm. Da krallte sich der Riesenaffe King Kong im Dschungel auf einer Südseeinsel eine weiße Frau und haute mit der ab. Er wurde dann gejagt und betäubt und nach New York verfrachtet, wo er als achtes Weltwunder ausgestellt werden sollte, aber da riß er sich los und rannte Amok, kletterte am Empire State Building hoch, bis oben, wurde von Flugzeugen aus beschossen, stürzte ab und starb.

Am vierten Advent fing ein ZDF-Vierteiler an, nach Romanen von Jack London. Elam Harnish, der Held, brach zu einer Goldgräberstadt am Klondike River auf. Um dahinzukommen, mußte er Gebirge und Ströme überqueren, und am Wegrand lagen verfaulende Wasserleichen und Pferdekadaver.

Die erste Folge zog sich ziemlich in die Länge.

Bis Weihnachten sei das mit dem Moped nicht mehr zu bewerkstelligen, sagte Papa, als er aus dem Keller heraufkam. Das werde Volker dann eben im Januar zum Geburtstag kriegen.

Für Wiebke und Volker kaufte ich als Weihnachtsgeschenk ein Monopolyspiel. Mama und Papa mußten sich mit Gutscheinen für Staubsaugen und Rasenmähen begnügen und die anderen Verwandten mit schriftlichen Segenswünschen. Ich war nun mal nicht Rockefeller.

Renate hatte Ferien bis zur zweiten Januarwoche und berichtete, daß in der Hildener Kirche das Weihnachtsoratorium gesungen worden sei. Oma Schlosser habe mitgesungen. Die war Chormitglied. Und beim Altmaidentreffen hätten Renate und noch zwei andere auf Blockflöten was von Händel vorgespielt, im Zwölfachteltakt.

Altmaidentreffen! Bei dem Wort lief’s mir kalt den Rücken runter. Rentnerinnen, die mit Hörrohr, Dutt und Zwicker angeradelt kamen, auf ’ner Draisine womöglich, um sich das Flötengetröte in ihrer alten Landfrauenschule anzuhören …

In Birkelbach könne man durchaus einen Internatskoller kriegen, sagte Renate. Neulich habe eine überkandidelte Frau eine Rede geschwungen, um alle Maiden von den Vorzügen eines Mikrowellenherds zu überzeugen. Damit lasse sich im Handumdrehen Gefriergut auftauen, und es fehle, wie Renate meinte, bloß noch ein Roboter, der die Mahlzeiten in zwei Sekunden auffresse.

In Hilchenbach hätten sie ’ne Lederfabrik besichtigt, drei Stunden lang. Das sei zwar ganz interessant gewesen, und hinterher hätten sie »Fallreste« geschenkt gekriegt, aber wie es da gestunken habe! »Zweien war’s danach so schlecht, daß sie am Nachmittag im Bett geblieben sind.«

Tischdeckamt habe sie neulich gehabt. Morgens nach dem Frühstück abräumen, Tischdecken weg, alle 91 Stühle hoch, Fußboden fegen und bohnern, mit ’nem Besen mit unwahrscheinlichem Linksdrall, gegen den kaum anzukommen sei, und dann die Stühle wieder runter, Heizungen ausmachen, staubwischen, Türfensterscheiben mit Terpentin reinigen und die Tische fürs zweite Frühstück decken. Und so gehe das da bis abends weiter.

Wie im Zuchthaus.

Volker und ich fuhren mit Papa los, einen Weihnachtsbaum kaufen, und dann sahen wir auf der Umgehungsstraße einen liegen, auf der Gegenfahrbahn. Der war wohl von irgend ’nem Laster gepurzelt.

An der nächsten Abfahrt machte Papa kehrt. Über das Verbot, auf der Umgehungsstraße anzuhalten, setzten wir uns hinweg. Papa zwängte den Baum in den Kofferraum, und die Sache war erledigt, auch wenn wir im Schrittempo zurückfahren mußten, mit offener Kofferraumklappe. So billig waren wir noch nie zu einem Weihnachtsbaum gekommen. Und wir hatten sogar noch ein gutes Werk getan, denn auf der Umgehungsstraße hatte der herumfliegende Baum ja eine Unfallgefahrenquelle erster Güte gebildet.

In der Kellerwerkstatt spielten Papa und Renate mit dem Goldhamster, den Wiebke kriegen sollte, aber der Hamster spielte nicht mit. Der wollte sich nicht streicheln lassen, sondern immer nur weg. Er beschnüffelte die Lötbrille auf Papas Werkbank, schmiß ein Marmeladenglas mit Nägeln um und versuchte dann, ein Schraubenregal zu erklimmen.

Hamster waren nachtaktive Tiere und pennten am Tag. Die zwei Lebensjahre, die Wiebkes Hamster Pepik bevorstanden, würde er größtenteils in dem Käfig zubringen müssen, den Mama und Papa gekauft hatten, mitsamt Häuschen, Schlafwatte, Laufrad, Trinkröhrchen, Freßnapf und Spreu. Und das alles ohne Weibchen und auch ohne andere Hamsterkumpel. Total allein, mit Wiebke als einziger Spielgefährtin, die ihm nachts nur was vorschnarchen würde, wenn er sich austoben wollte, so wie einst seine Ahnen im syrischen Wüstensand. Jeder Hund hätte es bei mir besser gehabt als Pepik bei Wiebke.

»Die geht morgen sicher gar nicht ins Bett, wenn sie den Hamster hat«, sagte Renate.

Früher hatte ich mir an Heiligabend schon morgens ein Loch in den Bauch gefreut und war den ganzen Tag über von Vorfreude erfüllt gewesen. Jetzt, in Meppen, sollte ich den Weihnachtsbaum festhalten, als Papa die Schrauben in den Ständer zwirbelte. »Halt das Scheißding senkrecht!« belferte Papa, während er unten die Schrauben anzog.

Das Ergebnis mißfiel ihm. »Hast du keine Augen im Kopp? Das soll doch nicht rumhängen wie so ’n Lämmerschwanz! Dreh du jetzt mal die Schrauben wieder raus, und ich kümmer mich um den Baum!«

Die Schrauben hatte Papa so weit reingewürgt, daß ich mir beim Herausdrehen fast die Finger brach. Dann schrie Papa nach Volker, der sich im 90-Grad-Winkel zu Papas Position aufstellen und von da aus kontrollieren sollte, ob der Weihnachtsbaum noch Schlagseite habe.

»Mehr nach links«, sagte Volker, und Papa brachte seinen sattsam bekannten Schnalzlaut zu Gehör. »Mehr nach links von wo aus gesehen?«

»Von mir aus gesehen«, sagte Volker. »Aber nicht ganz so weit! Wieder ’n Stücksken zurück! Stop! Wieder mehr nach links! Stop! Zu weit! Wieder mehr nach rechts! Stop!«

O selige Kinderzeit, als man für solche Aushilfsarbeiten noch zu klein gewesen war.

Mama holte den Karton mit den Christbaumkugeln vom Dachboden. Alle Jahre wieder.

Steht auch dir zur Seite, still und unerkannt,

daß es treu dich leite an der lieben Hand.

Eigentlich ja ganz anheimelnd, die Vorstellung, von einem unsichtbaren Christkind begleitet zu werden, wenn man so einsam wie üblich durchs Leben ging.

In der rappelvollen Gustav-Adolf-Kirche predigte Pastor Böker über Johannes 15,1: Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Rhabarber, rhabarber. Wenn Jesus der Weinstock sei, dann seien wir die ihm vom Gärtner anvertrauten Reben, und wir sollten grüne, frische und gesunde Reben sein!

Einen Hund kriegte ich zwar nicht, aber einen Lederfußball, eine Taschenlampe, Franz Beckenbauers Buch »Einer wie ich«, zehn Mark und ’ne Tafel Schokolade aus Jever, zwanzig Mark von Tante Gertrud, zwanzig Mark von Onkel Dietrich und von Tante Dagmar einen Schokoladenweihnachtsmann und einen Gutschein für ihr altes Fahrrad. Das könnten wir bei unserem nächsten Besuch in Jever abholen.

Wiebke schmuste mit ihrem Goldhamster, der ihr wichtiger war als der Pelikano aus Jever, die Büx und das Strickpüppchen von Tante Therese und Oma Schlossers Federmäppchen mit Knipsverschluß.

Mama hatte der Weihnachtsmann einen neuen Dampfkochtopf und einen neuen Toaster beschert sowie Handtücher, Henkelbecher und Marzipan. Renate hatte von Tante Grete eine Dokumentenmappe und eine Honigkerze abgesahnt, die einen pestilenzialischen Gestank verströmte. Was Volker eingeheimst hatte, erfuhr man nur am Rande. Knete ohne Ende hauptsächlich.

Von Olaf hatte Renate eine Grußkarte mit Snoopy vornedrauf erhalten: »Wenn du am Weihnachtsabend ein Singen und Klingen aus der Luft hörst, dann weißt du, was das bedeutet!« dachte Snoopy, und wenn man die Karte aufklappte, dachte er grinsend: »Du hast zuviel getrunken!« Snoopy hatte immer nur Gedankenblasen.

Für Papa hatte Oma Schlosser eine steinalte Predigt von Opa Schlosser ausgegraben und kopiert, die er 1921 in Altenbochum gehalten hatte, als Synodalvikar, was immer das war. Die Handschrift konnte man nur mit Mühe entziffern.

Wir stehen unter dem schrecklichen Gericht Gottes, unter seiner schweren züchtigenden Hand … Die Zukunft malt sich in vieler Augen wie in todesahnungsvolle Dämmerungen gehüllt … Wenn wir um uns schauen, dann sehen wir noch heute die Götzen triumphieren … Redet nicht Gott wider uns mit Donnerworten?

Weil die Christbaumkerzen nicht genug Licht hergaben, machte ich meine Taschenlampe an und las in dem Buch von Franz Beckenbauer, und da schnauzte Papa mich an: Das sei Stromverschwendung.

Von dem Hamster war Mama schon einigermaßen bedient. Der hatte sich unterm Klavier verschanzt und ließ sich auch mit Vitakraftkörnern nicht wieder hervorlocken.

Am ersten Weihnachtsfeiertag bereitete Mama einen Schweinerollbraten im Römertopf zu. Der leckere Geruch schlingerte bis ins Wohnzimmer, wo Volker, Wiebke und ich Monopoly spielten. Die Regeln mußte man Wiebke leider dauernd neu erklären.

Volker hatte sich in den Besitz der Prinzenstraße und der Schloßstraße gebracht. Ich besaß nur die Elisenstraße, die Chausseestraße und das Wasserwerk, und Wiebke, die außer der Badstraße noch überhaupt nichts ihr eigen nannte, mußte laufend ermahnt werden. »Wiebke! Du bist dranne! Würfel doch mal endlich!«

Wiebke hatte nur für ihren Hamster Augen. Immer, wenn er eingeschlafen war, grabbelte sie ihn aus seinem Häuschen heraus und verpaßte dem armen Vieh neue Streicheleinheiten.

»Vorsicht! Heiß und fettig!« brüllte Volker, als er den Römertopf ins Eßzimmer trug.

Renate erzählte Witze. Zwei Tomaten fliegen nach Cuxhaven. Sagt die eine: »Vorsicht, da kommt ein Hubschraub-schraub-schraub-schraub …«

Der war so ähnlich wie der Witz von dem verliebten Regenwurm, der über die Wiese kriecht und singt: »Chanson d’amou-hu-hur«, und dann kommt der Rasenmäher: »Ra-tatta-tatta …«

Weshalb heißt der Löwe Löwe? Weil er durch die Wüste löwt.

»Kannst du nicht mal mit dem Schmatzen aufhören?« fragte Papa mich. »Da kriegt man ja Zustände, wenn man neben dir sitzt!«

Die Amerikaner, sagte er, fräßen alle rund um sich zu. Das schiere Fett, wenn’s sein müsse. Nur die Juden und die Moslems äßen kein Schweinefleisch. Da wären vielleicht mal Trichinen drin gewesen, und die Leute, die davon gegessen hätten, wären reihenweise gestorben, und dann hätten die Leute daraus die Lehre gezogen, kein Schweinefleisch mehr zu essen, und um dem Volk die neue Vorschrift einzubimsen, hätten sie ein religiöses Gebot daraus gemacht.

Franz Beckenbauer regte sich in seinem Buch darüber auf, daß sein älterer Bruder als Teenager zu nachtschlafender Zeit in Schwabing auf Achse gewesen sei, zwischen Bars und Striplokalen, und daß er Mädchen abgeküßt habe.

Als mein Bruder in sein Bett kroch, wurde ich wieder wach. Es roch nach irgend etwas Bitterem.

»Das stinkt«, nörgelte ich.

»Das ist Bier, du Depp.«

Dann schnarchte er bald.

Ich stellte mir plötzlich vor, daß aus dem gleichen Erdboden eine Blume, aber auch eine Brennessel hervorsprießen kann. Sollte etwa mein Bruder eine Brennessel sein?

Ach du Schande. Der biersaufende Bruder als Brennessel und der unschuldige Franz als Blume? Und sowas schimpfte sich Kaiser! Da hatte ich schon fast keine Böcke mehr zum Weiterlesen, aber ich überwand mich, und das war gut, denn sonst hätte ich nie erfahren, daß Beckenbauer einmal von Pelé getunnelt worden war und daß Jürgen Neumann, Uwe Klimaschweski und Otto Rehhagel nach Beckenbauers Ansicht zu den härtesten Spielern der Bundesliga gehörten. Gerd Müller habe sich einmal darüber beklagt, daß ihm die Schienbeine bereits wehtäten, wenn der Trainer nur diese Namen nenne.

Den neuen Ball probierte ich im Garten aus und kriegte gleich eine gelangt, weil ich ’ne Pflanzenstaude umgeschossen hatte.

Mama erlaubte mir, Michael Gerlach anzurufen, und ich schlug ihm vor, ein Damespiel per Brief zu beginnen. Dann holte ich mir von Wiebkes Kleiderschrank den Stern mit den nackten Negerinnen runter und verhängte das Schlüsselloch der Klotür von innen mit einem Handtuch, zur Sicherheit.

In dem Film »Die Kaktusblüte« spielte Walter Matthau einen Schürzenjäger, der allen möglichen Frauen den Kopf verdrehte. Da lachte sich selbst Papa schief, aber als der Film vorbei war und die Weihnachtsbaumkerzen wieder angezündet werden sollten, hörte der Spaß auf: »Die oberen zuerst, du Rindvieh!«

Mama erinnerte sich noch gut an den Tod von Oma Thoben, Oma Jevers Mutter, die einen Tag vor Heiligabend gestorben war. »Das war vielleicht ’n Weihnachtsfest!« Und bei Opa Thobens Tod sei das Pendel der Uhr auf dem Wohnzimmerbüfett stehengeblieben, wie von einer Gespensterhand angehalten. Und er habe das Uhrwerk noch am Abend davor selber aufgezogen.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag fuhren wir zu sechst im Peugeot nach Jever. Papa wollte Tante Dagmars altes Fahrrad abholen, für mich, und für sich selbst die große alte Eisenbahnplatte, die er mal für Gustav gebaut hatte, als der noch klein gewesen war.

In Papenburg hießen die Querstraßen »Hauptkanal links« und »Hauptkanal rechts«. Die armen Kinder, die da wohnen mußten. Die sehnten sich wahrscheinlich nach ’ner Großstadt wie Meppen.

Eine Weile fuhr ein Opel mit dem Kennzeichen LER vor uns her. Der kam aus Leer.

»Nun kuckt euch mal diesen Ostfriesen an«, sagte Mama. »Kann noch nicht mal den Namen seiner eigenen Stadt richtig schreiben.«

In Aurich ist es schaurig und in Leer noch viel mehr.

Mama wies uns auf die alte Mühle in Bagband hin und trällerte ein Lied übers Jeverland:

Mien Jeverland, wo leev ik di, daar liggt mien Hart, mien Glück!

Daar liggt de ganze Welt vör mi, daar tüschen Warft un Diek.

Daar liggt dat all in’n Sünnenschien, un wat ik seh, is mien, is mien –

daar sün ik tohuus! Daar sün ik tohuus …

Sie kriegte sich überhaupt nicht mehr ein, als sie das sang.

Daar liggt mien Dörp, mien School, mien Kark,

dar kenn ik Boom un Struuk …

Je näher wir dem Ziel kamen, desto mehr freute ich mich auf das Bauchkribbeln, das sich früher jedesmal gemeldet hatte, wenn in der Mühlenstraße Omas und Opas Haus Vorgartenzaun in Sicht gekommen war, aber das Kribbeln blieb aus. Ob das mit dem Erwachsenwerden zusammenhing?

Auf der Haustreppe lief Oma Jever uns mit offenen Armen entgegen. »Oh, ihr Lieben alle! Da seid ihr ja endlich!« Erst durch Omas Entzückensschreie stellte sich bei mir das altvertraute Kribbeln ein.

Im Flur standen Tante Gisela, Tante Dagmar und Gustav Spalier. Opa saß justament auf dem Klo, von wo man ihn husten hören konnte, und im Wohnzimmer hing eine neue Hängelampe von der Decke.

Tante Dagmar zeigte mir ihr Fahrrad. Das war eins mit Tacho und 26er-Reifen. Ich drehte eine Runde durch die Stadt, vorbei am Schloß und an der Brauerei, am Friedhof und am Bahnhof lang und dann durch die Anton-Günther-Straße wieder zurück zur Mühlenstraße. Kilometerstand 1768.

Im Wohnzimmer trug Oma Schalen und Schüsseln mit Rinderbraten, Kartoffeln und grünen Bohnen auf und zum Nachtisch Brombeerpudding mit schaumig gerührtem Brombeersaft. Sie nannte das »Mädchenmund«, weil ein Gast von ihr dazu mal gesagt hatte, daß diese Süßspeise so lieblich schmecke wie ein Mädchenmund.

Die Standuhr gongte. Zwei Uhr nachmittags.

»Elf Personen hast du hier gemästet, Mutti«, sagte Mama, »und nun mach mal halblang! Immer sutje! Und den Abwasch überläßt du bitte deinen vollgefressenen Töchtern!«

In der Mittagsschlafenszeit spielten Gustav, Renate, Volker, Wiebke und ich in der Küche Denkfix. Fragekarten ziehen und die rote Scheibe mit der Lücke zur Bestimmung des Anfangsbuchstabens drehen. Eine Heldengestalt mit U?

»Uwe Seeler!« rief ich, aber das ließen die anderen mir nicht durchgehen. Gustav behauptete sich dagegen mit »Ulysses«.

Ein Wort aus der Bibel, schon wieder mit U.

»Und!« rief ich, aber auch damit konnte ich keine Ehre einlegen. »Das gildet nicht«, sagte Volker, obwohl das Wort »und« in der Bibel wahrscheinlich öfter vorkam als jedes andere.

»Upharsin«, sagte Gustav, unser Bücherwurm. Das stehe so im Alten Testament. »Mene, mene, tekel upharsin.«

Die meisten Fragen, die man da beantworten sollte, waren schwer: Was ist Liebe? Wie soll man sich benehmen? Was wünschest Du Dir? Ein Wort aus der Elektrotechnik, Anfangsbuchstabe P, eine Einrichtung des öffentlichen Lebens, Anfangsbuchstabe X, oder ein Wort, das ein neues ergibt, wenn der letzte Buchstabe wegfällt, so wie in Pappel, und dann sollte man eins finden mit dem Anfangsbuchstaben Ypsilon. Welche Wörter fingen schon mit Ypsilon an, außer Yoga, Yps und Ypern?

Das ganze Spiel war darauf angelegt, Zwietracht zu provozieren, mehr noch als Mensch-ärgere-Dich-nicht oder Mikado, und da ging ich lieber in den Schloßgarten, die Enten füttern und nach Pfauenfedern suchen.

Zum Tee schnitt Oma einen von Gustav gebackenen Klaben auf. Mama schimpfte über die Zugluft in unserem Haus, und Oma erzählte von der überspönigen Frau Apken, die nun schon so lange im Altersheim vor sich hin vegetiere. Die hatte früher auch in der Mühlenstraße 47 gewohnt, aber dann den Verstand verloren. Über Volker und mich habe sie gesagt: »Mensch, die sind aber groß für den Alter!« Immer »für den« und nie »für das«, weil sie’s halt nicht besser gewußt habe. Oma und Opa habe sie mit ihrem mitternächtlichen Gekokel am Gasherd fast noch das Dach über dem Kopf angezündet. Und dann im Morgenmantel nachts auf die Straße gelaufen, auf der Suche nach ihren Kindern: »Die wissen ja nicht, wo ich bin!«

In Meppen hievten Papa und Volker und ich die Eisenbahnplatte in den Keller. Da konnte sie nun vergammeln. Papa hatte zwar einen ganzen Panzerschrank voller Waggons und Loks, aber fahren ließ er die nie. Mama hätte ihm auch was gehustet, wenn er seine Freizeit am Modelleisenbahntrafo verbracht hätte, statt endlich den VW zu reparieren oder was sonst wieder kaputt war.

In einem Western, in dem Steve McQueen als Halbblut Rache für den Mord an seinen Eltern nehmen wollte, erkannte ich einen der Killer an seiner Kartoffelnase wieder. Derselbe Schauspieler war später in den Straßen von San Francisco als Gesetzeshüter aufgetreten: Lieutenant Mike Stone alias Karl Malden.

Den mochte Mama, doch das hielt sie nicht davon ab, mitten im Showdown ins Erste umzuschalten, weil da eine Schmonzette anfing, die sie vor zwanzig Jahren mal im Kino gesehen hatte. Eine saublöde Verwechslungskomödie mit einem Millionär, der einen armen Schlucker mimt, und einem Arbeitslosen, der für einen Millionär gehalten wird, und dann läuft zwischen denen alles drunter und drüber.

Wer wissen wollte, wie der Western ausging, durfte auf die Wiederholung in fünf Jahren warten.

Mit Tante Dagmars Rad machte das Fahren gleich viel mehr Laune als mit dem schittrigen Klapprad, auch wenn es natürlich ein Damenrad war. Wozu die Längsstange zwischen Lenker und Sattel bei Herrenrädern gut sein sollte, hatte ich sowieso nie verstanden.

Ich fuhr in Richtung Rühlermoor. Mal kucken, was es da so gibt, hatte ich mir gedacht, aber da gab es auf weiter Flur nichts anderes als Schietwetter und Gegenwind und klamme Finger.

O Kinderzeit, o Jugendglück,

für kein Geld der Welt kommst du zurück!

Zurück wäre ich lieber mit dem Bus gefahren.

Im Dritten kam der »Seewolf« in einer alten Schwarzweißverfilmung aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Starring: Edward G. Robinson. Das war der, der auch den Kopf der Spielcasinodiebesbande gespielt hatte. Als Kapitän der »Ghost« schurigelte er seine shanghaite Crew nach Strich und Faden, aber Raimund Harmstorf hatte mir trotzdem besser gefallen. 1941 war Edward G. Robinson für die Rolle schon zu alt gewesen, fand ich.

Matrosen mußten sich von Schiffszwieback, Schellfisch und Dörrobst ernähren. Noch ein Grund mehr, das Abi zu bestehen und einen Beruf zu ergreifen, in dem man sein eigener Chef war.

Am Sonntag vor Silvester gab’s Reis mit Paprika und für jeden ein Stielkotelett. Die Knochen durften nicht in den Komposteimer geworfen werden. »Sonst rücken uns die Ratten auf die Pelle«, sagte Papa.

Die Tatsache, daß er seinen Nachtischteller auslöffelte, ohne zu sagen, daß die Quarkspeise wie Zement schmecke, konnte Renate als großen Erfolg verbuchen.

Mit Volker spielte ich wieder Monopoly. Nach ein paar Runden, in denen wir beide im Gefängnis gesessen, aber auch einige Anteile an Straßenzügen erworben hatten, tauschte ich mit Volker sieben Straßenkarten aus, um Häuser und Hotels errichten zu können. Leider verausgabte ich mich dabei finanziell so stark, daß ich die Miete für den Aufenthalt in der Prinzenstraße nicht mehr berappen konnte. Volker war so gnädig, anstelle der Knete den mit einer Hypothek belasteten Westbahnhof zu übernehmen.

Das Lästigste an Monopoly war das Geldzählen. Wenn man die Scheine nicht akkurat stapelte, verlor man sofort den Überblick.

Volker war soeben auf die in meinem Besitz befindliche Schillerstraße getappt, als Renate uns zur Kuchentafel nach unten rief. Papa sagte, daß er seinen Wanst noch voll vom Mittagessen habe, und dann murkste er im Keller rum, bis im Ersten ein Film über Spinnen kam, von dem Tierfilmer Horst Stern. Dafür ließen wir die dritte Folge des ZDF-Vierteilers sausen. Entweder oder. (Bei Monopoly hatte ich aufgegeben.)

Spinnen seien nützliche Insektenjäger, sagte Horst Stern, und manche Spinnenmütter würden den eigenen Körper selbstlos als Nahrung für ihren Nachwuchs opfern. Man konnte sehen, wie eine Spinne ihr Netz spann, in Zeitlupe, und es gab auch rasterelektronenmikroskopische Vergrößerungen. Wie die Spinnen ihre Beute überwältigten, vergifteten und aussaugten und wie eine Spinne der anderen ein eingesponnenes Opfer raubte. Die Schwarze Witwe fraß ihr Männchen nach der Kopulation einfach auf. Raps, haps! Ich hätte kein Männchen einer Schwarzen Spinne sein wollen. Rund fünfzigtausend Spinnspulen saßen am Unterleib eines Spinnenwinzlings, nebst den dazugehörigen Spinndrüsen.

»Mit diesen Viechern kannste mich trotzdem jagen«, sagte Wiebke, und Mama stimmte ihr zu.

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band

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