Читать книгу Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band - Gerhard Henschel - Страница 7

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Michael und ich spazierten oft an Trebitschs Haus vorbei, aber da gab es nie was zu beobachten, bis wir den Trebitsch einmal fett im Garten stehen und die Rosen wässern sahen. Mit dem Trebitsch unterhielten sich über den Zaun weg zwei alte Opas. Spitzkumpane von dem, die ins Kittchen gehörten, das war uns auf den ersten Blick klar wie Kloßbrühe, und als die Opas gingen, nahmen wir die Verfolgung auf. Die Jahnstraße hinunter. An einem Zigarettenautomaten blieben die Opas stehen.

Um nicht aufzufallen, schlugen wir einen kleinen Umweg ein, aber danach fanden wir Trebitschs Komplizen nicht mehr wieder. Die hatten uns vernatzt und abgehängt.

Die Personenbeschreibung sei wichtig, sagte Michael. Der eine der beiden Opas habe eine Brille mit Goldrand getragen, und der andere sei untersetzt gewesen. Untersetzt. Und er habe Geheimratsecken gehabt. Und graumeliertes Haar.

Was hätte Kalle Blomquist unternommen, um diesen Spießgesellen ihre Suppe zu versalzen? So einfach wollten wir die nicht davonkommen lassen. Wir gingen zu dem Zigarettenautomaten und untersuchten den auf Gaunerzinken. Die Typen waren ja mit allen Wassern gewaschen.

Auf einem Schild stand die Adresse des Automatenbesitzers. Das war ein Vallendarer Tabakhändler, ein gewisser Kleiber, und mir ging ein Kronleuchter auf: Der Tabakfritze steckte auch mit drin. Das war ein Kompagnon von denen. Vorne ganz seriös Pfeifenreiniger und Glimmstengel verkloppen und im Hinterzimmer Falschgeld drucken oder Leichen zersägen. Diesen Kleiber müßte man sich mal vorknöpfen.

Aber wie sollten wir zwei Milchgesichter uns da Zutritt verschaffen? »Wenn wir den fragen, was ihm der Name Trebitsch sagt, lügt er uns ja doch nur das Blaue vom Himmel runter, und dann bringt er uns um die Ecke«, sagte Michael.

Andererseits führte die einzige heiße Spur in den Tabakladen. Eine verzwickte Lage. Da hätte es mal schlaue Bücher drüber geben sollen. Eine Geheimsprache lernen, wie in Kalle Blomquist: »Dod e sos i sos tot dod e ror Tot ä tot e ror«, »das ist der Täter«, oder Fangfragen stellen, so daß der Kleiber sich um Kopf und Kragen redet, und dann schnell die Polizei rufen, bevor er kalte Füße kriegt und abhaut.

Unseren Besuch in dem Tabakladen mußten wir von langer Hand vorbereiten. Nicht daß wir da noch in Schwulitäten kamen.

Wir einigten uns darauf, zu sagen, daß wir Brüder seien, die ihrem Vater zum Geburtstag eine Pfeife schenken wollten. Dann mußte man ja ins Gespräch kommen, und dabei wollten wir dem Kleiber auf den Zahn fühlen.

»Man hat schon Pferde kotzen sehen«, sagte Michael.

Der Laden war leer. Hinterm Tresen stand ein dicker Mann, die Fäuste auf den Ladentisch gestemmt. Der Kleiber persönlich.

»Guten Tag«, sagte ich. »Wir sind Brüder, und wir wollen unserem Vater zum Geburtstag eine Pfeife kaufen.«

Der Kleiber kuckte uns an, als ob wir sie nicht mehr alle hätten. Eigentlich sahen wir ja nicht aus wie Brüder. Michael mit seinem blonden Wuschelkopf und ich mit meinen dunklen Haaren, die eben erst angefangen hatten, über die Ohren zu wachsen.

Welche Art Pfeife unser Vater denn bevorzuge, wollte der Kleiber wissen, aber darauf fiel weder Michael noch mir eine Antwort ein.

»Pfeifen kann man nicht mehr umtauschen, wenn man sie einmal benutzt hat«, sagte der Kleiber, und er trug uns auf, die vorhandenen Pfeifen unseres Vaters einer genauen Inspektion zu unterziehen und dann wiederzukommen.

Wir stahlen uns davon. Wie bei Kalle Blomquist war das ganz und gar nicht gewesen, eher wie im Mainzelmännchen-Minikrimi. Aber irgendwas ging da nicht mit rechten Dingen zu, das sagte mir mein sechster Sinn. Der Kleiber hatte Dreck am Stecken.

Interpol einschalten? Scotland Yard und das FBI? Hallo, hier spricht Spezialdetektiv Martin Schlosser?

Nach Indizien suchte ich überall, auch in den verwaisten Gastarbeiterbaracken oberhalb der Gartenstadt.

Ich stieg durch ein Fensterloch ein. Auf dem Boden lagen ausländische Zeitschriften rum und angegammelte Postkarten. Caro Paolo, tutti noi siamo felice di leggere che stai in buona salute. Wenn der Trebitsch eine internationale Verschwörung angezettelt hatte, konnte jede einzelne Karte wichtig sein. Erpressung oder Diamantenschmuggel. Und die Polizei war am Pennen, wie gewöhnlich.

Leider waren die meisten Postkarten schimmelig. Ich hätte auch nicht gewußt, wohin damit, und wer sollte die übersetzen?

Plötzlich rüttelte jemand an der Türklinke.

Ich hielt den Atem an und stand stocksteif an der Wand.

Es wurde weiter an der Klinke gerüttelt.

Jetzt kommt das dicke Ende, dachte ich, und der Trebitsch macht mich alle, aber als ich lange genug dagestanden hatte, kehrte wieder Ruhe ein, und ich lief nachhause.

Vielleicht hatte der Trebitsch ja auch einfach nur seine Frau gekillt. Einen ganzen Nachmittag lang suchten Michael Gerlach und ich den Friedhof in Vallendar nach Grabsteinen mit dem Familiennamen Trebitsch ab. Das war eine schweißtreibende Angelegenheit. Welcher Idi hatte sich bloß einfallen lassen, den Friedhof am Hang anzulegen, mit einer Milliarde Treppenstufen?

Wir fanden keinen einzigen Trebitsch auf dem ganzen gottverfluchten Friedhof, und als ich aus dem einen Wasserhahn was trinken wollte, schnauzte mich eine Oma an. Als ob ich der ihr Blumenwasser weggesoffen hätte.

Bei Aktenzeichen XY hielt ich Papier und Bleistift bereit. Sachdienliche Hinweise nahmen alle Polizeidienststellen und die Aufnahmestudios entgegen. Für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führten, konnte man mitunter bis zu tausend Mark kassieren. Ich wartete auf ein Phantombild vom Trebitsch. Dann hätte ich sofort Eduard Zimmermann, Werner Vetterli und Teddy Podgorsky informiert.

Es ging aber immer nur um Verbrechen in anderen Städten, um Morde und Einbrüche und raffiniert eingefädelte Betrügereien, begangen von Tätern mit ausgeprägter Stirnwinkelglatze, die eine vermögende Witwe mit der Strumpfhose erdrosselt oder beim Einbruch Tatwerkzeuge hinterlassen hatten, Schraubenzieher oder Vorschlaghämmer oder Fleischmesser, von denen ich nicht wußte, ob sie dem Trebitsch gehörten.

Erste Ergebnisse kamen erst nach zehn Uhr abends, wenn ich nicht mehr aufsein durfte.

Am letzten Herbstferientag wollten Michael und ich wieder zum Fernsehturm wandern. Unten im Wambachtal fanden wir eine Schnecke mit Häuschen. Ich schleuderte sie weit weg, und man hörte es pulschen, als sie genau in den Wambach fiel.

»Du Idiot«, sagte Michael, und da mußte ich ihm leider recht geben.

Der Attila war älter und müder geworden, der kläffte uns nur noch schlapp und der Form halber an.

In Hillscheid stand ein Bagger, aber der sprang nicht an, auch wenn man noch so kräftig an den Kupplungshebeln rüttelte.

Auf dem Rückweg fing es an zu regnen. Scheiße mit Reiße. Michael wollte seinen Vater anrufen, daß der uns mit dem Auto abholen kommt, aber wir fanden keine Telefonzelle in Hillscheid. Es gallerte aus allen Rohren, und wir konnten uns nirgendwo unterstellen.

Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie.

Weil Oma und Opa Jever sich einen Farbfernseher gekauft hatten, holte Papa mit dem Auto deren altes Schwarzweißgerät ab und schloß es bei uns im Hobbyraum an. Der Apparat hatte zwei Klappen zum Zumachen und war altersschwach. Wenn man drei Augenpaare übereinander sah, mußte man ausschalten und abwarten. Je länger man wartete, desto länger blieb das Bild danach klar.

Jetzt konnte man in den Hobbyraum gehen, wenn man in Ruhe den rosaroten Panther kucken wollte. Zu Gast bei Paulchens Trickverwandten. Denn du bist, wir kennen dich, doch nur Farb und Pinselstrich! Am besten gefiel mir die blaue Elise, die auf Ameisen scharf war.

In der Stadtbücherei in Koblenz konnte man sich über Kopfhörer Platten anhören, aber die fünf Kopfhörer waren immer besetzt. Ich lieh mir eine Musiklehre für Jedermann aus und eine Biographie von Mozart.

Romanische Quadratnoten. Dorisch, Phrygisch, Lydisch, Äolisch und Jonisch. Durkreis und Mollkreis. Das Glissando.

Als ich das Buch über Mozart las, war ich erkältet. Ich hatte mich unten im Doppelstockbett hingelegt und preßte das Buch beim Lesen mit den Füßen oben ans Drahtgitter, damit ich die Hände freihatte zum Naseputzen.

Klavier hatte Mozart schon als Kleinkind mit verbundenen Augen spielen können, mit einem Tuch über den Tasten. Da mußte ich mich aber ins Zeug legen, wenn ich Mozart das nachmachen wollte, bevor ich erwachsen war.

Im November standen die Chancen für einen Umzug nach Meppen fifty-fifty. Die getrennte Lebensweise sei doch großer Käse, sagte Mama, trotz Trennungsentschädigung.

Zum Geburtstag kriegte Papa von seinen Kollegen einen Freß- und Saufkorb geschenkt und von Renate ein Pling-Plong, das Happy Birthday spielte, wenn man an der Kurbel drehte.

Im Zweiten kam ein Film über ein Pferd, das beim Stierkampf draufgehen sollte, und der Film war so traurig, daß ich weinen mußte. Auch Michael Gerlach hatte geweint, das gestand er mir morgens im Bus. Da hätte man aber auch ein Herz aus Stein haben müssen, um da nicht bei zu weinen.

Wegen der Ölkrise durften sonntags keine Autos fahren. Am Dienstag kam ein Schneesturm auf, und am Freitag hatten wir rodelfrei. An der Todesbahn traf ich Michael Gerlach, der mich fragte, was mir lieber wäre, ein Jahr lang Keuchhusten haben oder nie wieder Sensationen unter der Zirkuskuppel und Väter der Klamotte kucken dürfen, sondern bloß noch Türkiye mektubu und Jugoslavijo, dobar dan.

Als ich vom Rodeln wiederkam, saß Mama am Eßtisch und spickte den Adventskranz mit Tannengrün. Renate und Wiebke bastelten Strohsterne.

Papa streute Sand auf die Treppe vorm Haus. Bodenfrost, Rauhreif und Glatteis. Auf dem Weg zur Bushaltestelle fror man sich einen Ast, und der Bus kam regelmäßig mit einer Viertelstunde Verspätung.

Unter Lebkuchen, Schokoladenkugeln, Mandarinen und Haselnüssen lag am Nikolaustag ein Fünfmarkstück ganz unten in meinem Stiefel, eins von den neuen, wo der Adler nicht mehr so stachelig aussah. Fünf Mark nur für mich. Fünf Mark!

Dann mußten wir zum Fotografen. Es sollte ein Bild von allen Kindern aufgenommen werden, für die Verwandten zu Weihnachten.

Die Ohren machte Mama mir mit einem Q-Tip sauber. Dann sollte ich das braune Hemd mit den weißen Punkten anziehen, das ich zum Kotzen fand. Ich wollte nicht, und Mama ging die Decke hoch. Fuchsteufelswild würde ich sie machen. »Gleich rutscht mir die Hand aus!« Bockbeinige Kinder könne sie auf den Tod nicht ausstehen. »Du kannst einen wirklich zur Weißglut treiben! Keine Widerrede mehr! Du kommst jetzt mit! Und jedesmal, wenn du später das Bild siehst, sollst du daran denken, wie du heute deine arme alte Mutter gequält hast!«

Wenn ich mal Kinder hätte, würden die mir alles heimzahlen. Darauf freue sie sich schon.

Wiebke schmierte auf der Kellertreppe um und mußte in Koblenz noch eine neue Strumpfhose gekauft kriegen.

Weil ich so dickfellig und obstinat gewesen war, durfte ich am Sonntag Don Blech und der goldene Junker nicht kucken.

Nach dem Essen kam die Bekanntgabe der Hauptgewinner der Deutschen Fernsehlotterie, mit Hellmut Lange, Reinhard Mey, Udo Jürgens und Cindy & Bert. Um Mama versöhnlich zu stimmen, kochte ich Tee in der Küche und brachte die Kanne dann auf dem Tablett ins Wohnzimmer, aber Mama sagte, der Tee sei viel zu dünn. Das sei bestenfalls Engelspipi.

Hauptsache, ich durfte wieder Fernsehen kucken.

Bert von Cindy & Bert konnte man irgendwie nicht ernstnehmen, der hatte so einen dümmlichen Gesichtsausdruck.

Der Vogel richtete zwei Weihnachtsfeiern aus, eine für die Kleinen und eine für die Großen. Ich gehörte noch zu den Kleinen, weil ich eben erst beim Baßschlüssel angelangt war. Im Partykeller turnten da die Kinder mit Gekreisch über die Sitzpolster, und es gab Rhabarbersaft. Das war auch nicht gerade der wahre Jakob.

Renate hatte sich in der Schule beim Basketball einen Bänderriß zugezogen. Im Knie habe es laut geknackst, sagte Renate. Der Arzt stellte fest, daß sich ein Knorpelsplitter gelöst hatte, und Renate kriegte ein Gipsbein, auf das alle was draufschreiben mußten. Hals- und Beinbruch, Petri Heil und so weiter.

Ein Autogramma von Deiner Mamma.

Für Oma und Opa Jever bemalte ich einen Holzteller. Volker bastelte für Onkel Walter einen Pfeifenständer, der drei Pfeifen und einem Stopfer Platz bot.

Maria durch ein Dornwald ging. Das übte Renate auf dem Klavier. Durch ein Dornwald, das mußte doch wehtun. An Marias Stelle wär ich außen rumgegangen um den Dornwald.

Ich half Mama beim Einkaufen. Auf dem neuen Sterntitelbild war ein vergoldeter nackter Mann zu bewundern, der auf einem Globus saß, und als wir auf dem Rückweg Frau Mittendorf begegneten und die den Stern mit dem nackten Mann obenauf in Mamas Einkaufskorb liegen sah, fingen Frau Mittendorf und Mama zu lachen an. Man könne sich das ja nicht aussuchen, sagte Mama, und Frau Mittendorf sagte, ihr sei der Stern generell zu weit links, bei aller Liebe.

Und wenn die fünfte Kerze brennt, dann hast du Weihnachten verpennt.

Dann kam Oma Schlosser zu Besuch. Schlohweißes Haar mit Dutt und immer in schwarzen Strumpfhosen.

Oma Schlosser sagte Plümoh statt Bettdecke, nahm Assugrin statt Zucker und ging schon um acht Uhr abends schlafen. Dann mußten wir still sein. Morgens geisterte sie in aller Herrgottsfrühe durchs Haus und mühte sich mit dem Hochziehen der schweren Rolläden ab.

Oft wollte sie beim Nähen und Stopfen und Flicken helfen, und Mama mußte ihr die entsprechenden Gerätschaften reichen, passendes Garn suchen und einen Stuhl ans Fenster stellen oder die Nähmaschine auf den Eßtisch, und wir wurden vom Fernseher vertrieben, weil Oma sich bei dem Krach nicht auf die Handarbeit konzentrieren konnte. Mitten in der schönsten Fernsehzeit unterwies Oma dann auch Renate in der Bedienung der mitgebrachten Strickmaschine. Das war ein irrer Klapperatismus, der den halben Eßtisch einnahm.

Danach sollte Renate mit einem Instrument, das sich Storchenschnabel nannte, die einzelnen Bestandteile eines Würfelspiels auf Pappe übertragen, bepinseln, lackieren und ausschneiden. Adlerschießen hieß das Spiel. Wenn man einen Pasch würfelte oder eine andere gute Kombination, konnte man dem Pappadler das entsprechend markierte Körperteil abrupfen und die darauf deponierten Süßigkeiten einstreichen.

Deutschlandreise war nicht halb so gut. Da mußte man immer erst Flensburg oder Ulm oder Goslar finden, und Oma schwärzte uns bei Papa an: »Deine Kinder wissen ja nicht mal, wo Schleswig-Holstein ist, die suchen das irgendwo hier unten!«

Im Hobbyraum ließ Oma sich von mir auf dem Klavier was vorspielen. Lodern zum Himmel hatte ich mir ausgesucht, und ich haute in die Tasten, aber Oma verzog keine Miene. Sie setzte sich dann selber hin und spielte aus dem Kopf und ohne Noten irgendwas von Carl Philipp Emanuel Bach, das wahnwitzig schwierig war, und ich mußte eine halbe Stunde lang da stehenbleiben und mir Omas Klavierspiel anhören.

Den Tannenbaum kaufte Papa in Vallendar mit dreißig Pfennig Rabatt bei Renates Freund Olaf am Tannenbaumstand der Jusos.

Beim Geschenkeverpacken sagte Mama, wir sollten nicht so mit dem Tesafilm aasen.

Weil Oma Schlosser nicht so gut zu Fuß war, setzten wir uns zum Gottesdienst vor den Fernseher im Hobbyraum. Wiebke plierte immer nach links und nach rechts, ob wir auch alle die Hande gefaltet hatten.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Der Gottesdienst wurde von Hippies gestört, die dem Pfarrer bei der Predigt ins Wort fielen und Transparente hochhielten. Denen sei auch nichts mehr heilig, sagte Papa.

Das tollste Geschenk war der Farbfernseher. Den hatten Mama und wir alle von Papa gekriegt. Ein ultramodernes Gerät, das auf einem Stiel stand, von Nordmende, mit elektronischen Gleitreglern und Bildwiedergabe durch Diodenelektronik oder so ähnlich und mit Tasten, die man nur antippen mußte, wenn man umschalten wollte.

Meine Geschenke waren außer einem riesigen Spielzeugpanzer zehn Mark von Tante Gertrud, ein Pullunder von Tante Dagmar, eine blaue Pudelmütze, ein grüner Plastikkorb für meine Strümpfe, ein Hemd, eine Hose und zwei Bücher: Spiele auf Spiekeroog und Rätsel um den geheimen Hafen. Nicht gerade umwerfend. Renate schenkte mir eine Halbkugel mit einem Pendel drin, das sich beim Schwingen überkopf in der Halbkugel spiegelte und von Papa als Zehenschoner eingestuft wurde.

Volker kriegte eine grüngelbe Pudelmütze, eine Trompeten-LP und ein Polorad mit Bananensattel und Wiebke ein Puppentheater mit verschiedenen Bühnenbildern, eine rote Skimütze, einen neuen Ranzen, eine weiße Tischlampe in Kugelform mit orangefarbenem Ständer und von Tante Therese einen Morgenrock.

Das meiste Geld hatte Renate abgesahnt, fast hundertdreißig Mark.

Als alles ausgepackt war, holte Papa aus dem Arbeitszimmer noch ein Geschenk für Mama, ein Fondue mit Besteck und allen Schikanen.

»Menschenskinder«, sagte Mama. »Vornehm geht die Welt zugrunde!«

Dazu hatte Papa noch eine Bimmel besorgt, mit der die Familie künftig zum Essen zusammengerufen werden sollte, und für Oma Schlosser eine LP mit dem Oboenkonzert in A-Dur von Bach. Ich selbst hatte für Oma eins der Witzbilder von dem Poster in Papas Arbeitszimmer abgemalt. Da war ein Mann auf einem Zaungitter aufgespießt, und ein anderer Mann zog den Hut und fragte: »Ist Ihnen nicht wohl, mein Herr?«

Oma reichte Papa das Bild stumm hin, und dann saßen sie über mich zu Gericht. Es sei nicht lustig, über tödlich verunglückte Menschen noch Spott auszugießen. Als ich endlich auch mal zu Wort kam und sagte, daß ich das doch nur abgemalt hätte von dem Poster in Papas Arbeitszimmer, hätte ich fast eine gepfeffert gekriegt.

Na toll. Im Herzen wird es warm durch die Weihnachtsgans im Darm, wie schon Ingo Insterburg sagte.

Zu fortgeschrittener Stunde zwängte Papa sich Wiebkes Skimütze über.

Am ersten Weihnachtsfeiertag bimmelte Mama zum Essen, und dann wurde das Fondue eingeweiht. Papa hatte anderthalb Kilo Gulasch gekauft und sich seinen besten Schlips um den Hals gewürgt. Eine dicke bunte Kerze stand auf dem Tisch.

Mama hatte eine Literflasche Rotwein entkorkt und erzählte von früher. Von dem abgehackten Kuheuter in der Badewanne ihrer Zimmerwirtin, als Fressen für deren Hund, und daß Volker bei der Nachricht von meiner Geburt nur gesagt habe: »Bäh, bäh, Kacke.« Und nach der Hochzeit hatte Mama zu Papa gesagt: »Bau du mir erstmal ’n Badezimmer, dann wasch ich mich auch.«

Bis das Öl im Fonduekessel die richtige Temperatur hatte, verging viel Zeit.

Eine lahmarschige Wirtschaft sei das, sagte Papa und ging sich Käsebrote schmieren, und als das Öl heiß war, sagte er, daß er schon bis zum Stehkragen voll sei.

In Rätsel um den geheimen Hafen benutzte Stubs seinem Onkel gegenüber das Wort supertoll und wurde dafür getadelt. Wo er nur immer diese unmöglichen Ausdrücke herhabe. Supertoll? Was war denn daran so schlimm?

Gut war bei Volkers Polorad der Knüppel zum Gängeschalten, aber fahren konnte man nur schlecht mit dem Ding.

An Silvester machte Oma Schlosser Mama in der Küche das Leben schwer. Wiebke pappte Prilblumen auf die Kacheln zwischen den Topflappenhaken, und Renate war zu einer Party weg.

Es gab Krapfen und Bowle. Bei Schimpf vor Zwölf durften wir Papiergirlanden über den Tannenbaum werfen.

Ein musikalischer Silvesterbummel mit Dunja Raiter, Mary Roos, Roberto Blanco, Graham Bonney, Lena Valaitis, Rex Gildo und Karel Gott, und alles schön in Farbe.

Im neuen Jahr wurde Renate der Gips abgenommen. Der Arzt schnitt ihr dabei mit seiner elektrischen Säge ins Bein.

Einmal rund um das eigene Zimmer, ohne den Boden zu berühren. Start auf dem Kleiderschrank, von da auf den Sessel, dann auf der Fensterbank bis zum Tisch balancieren und sich am Fenstergriff festhalten. Vom Tisch auf den Schiebeschrank und aufs Bett. Mit dem Fuß die Zimmertür öffnen, auf jeden Türgriff einen Fuß setzen und an die Tür geklammert zum Kleiderschrank rüberschwingen.

Obendrauf lag ein alter Stern, in dem drinstand, daß Enid Blyton schon 1968 gestorben sei. Mir blieb bald das Herz stehen.

Dann würde es auch nie mehr ein neues Rätselbuch geben. Und ich hatte gedacht, das würde immer so weitergehen.

Zum Geburtstag kriegte Volker die LP Drums Drums Drums. Ich kriegte auch was, einen neuen Füller, weil mein alter hin war. Ein roter Pelikan. »Den mußt du in Ehren halten«, sagte Mama. Sonst werde sie mir die Flötentöne beibringen.

Bei 3 × 9 reparierte der Zauberer Uri Geller eine Uhr nur durch Handauflegen und zerbrach eine Gabel, indem er mit dem Mittelfinger drüberstrich.

Papa sagte, das sei Tinnef. Mit Abrakadabra Besteck zu zerbrechen, das gebe es nicht.

Der Bosch kuckte mich mit dem Arsch nicht mehr an und hatte mich auch nie wieder nach Ehrenbreitstein mitgenommen, aber eine Eins in Musik bekam ich dann doch auf dem Halbjahreszeugnis. Auch in Sport. Zweien hatte ich in Deutsch und Physik und Betragen. Und eine Vier in Mathe.

»Sonderlich mit Ruhm bekleckert hast du dich da nicht«, sagte Mama.

Volkers Zensuren waren besser geworden. Deutsch, Mathe und Französisch 3, Englisch 4, aber dafür Bio 2 und Physik 1. Er kam auch langsam in den Stimmbruch und ließ sich ein Radiergummibärtchen stehen, und abends ging er manchmal mit Renate zur Jusoversammlung oder zum Kegeln.

Im Stern war eine Reportage über Uri Geller. Minutenlang starrte Geller auf die Schalttafel der Hochfellner Seilbahn. Plötzlich hielt die Bahn an.

Papa sagte wieder, das sei fauler Zauber, und wir sollten nicht alles glauben, was in der Zeitung stehe. Das täten nur abergläubische Landpomeranzen.

Bei Volkers Geburtstagsparty spielte Renate den Disc-Jockey. Nach Hansjoachim, Kalli und Michael Gerlachs Bruder Harald kamen noch zwei aufgedonnerte Weiber, die ich nicht kannte. Auf welches von den Weibsen Volker wohl ein Auge geworfen hatte?

Um elf Uhr sprach Papa ein Machtwort und bereitete dem Affentanz im Hobbyraum ein Ende.

Der Kli-Kla-Klawitter-Bus war ein Riesenmist. Wir wollen lachen, lernen, lesen, schreiben, rechnen fast bis zehn, wir wollen Straßen, Städte, Länder, Menschen ganz genau besehn …

Wer war schon so meschugge, freiwillig in einen Bus zu steigen, um dadrin mit Klicker und Klamotte Rechenaufgaben zu lösen?

Aller Wahrscheinlichkeit nach blieben wir nun doch in Koblenz wohnen. Papa baute die Garage zur Werkstatt aus und zimmerte Regale an die Wände.

Wenn Olaf zu Besuch kam, weil er wieder was von Renate wollte, kriegte Papa das gar nicht mit. Und daß Muhammad Ali Joe Frazier nach Punkten besiegt hatte, erfuhr Papa erst von uns.

Es plästerte. Wiebke half Olaf beim Verteilen von SPD-Reklame, mit Südwester auf, und mobilisierte auch ihre Freundin Nicole, die jüngere Schwester von Stephan Mittendorf. Als die dann bei sich selbst was in den Briefkasten stopfte und Frau Mittendorf das mitkriegte, ging es rund, und es hätte nicht viel gefehlt, daß Frau Mittendorf Olaf angezeigt hätte wegen Verführung Minderjähriger.

Das schöne alte rote Sofa aus dem Keller kam auf den Sperrmüll. Aus meinem Zimmerfenster sah ich zu, wie es in die Walze hinten auf dem LKW befördert und zermalmt wurde.

Dafür kam das schwarze Sofa von oben in den Hobbyraum. Fürs Wohnzimmer hatte Mama eine Sitzlandschaft bestellt, mit beliebig kombinierbaren Elementen aus braunem Feincord. Die lose aufliegenden Polster rutschten aber immer runter von ihren Blöcken, wenn man nicht stillsaß.

Da sitze man ja wie der Affe auf dem Schleifstein, sagte Papa, als er die neuen Polstermöbel getestet hatte, und dann war er noch bis in die Puppen mit der Reparatur der Strickmaschine beschäftigt.

Als fällig betrachtete Mama für 1974 auch eine neue Waschmaschine und verkniff sich deswegen die geplante Reise nach Venezuela.

An Weiberfastnacht kam Papa schlechtgelaunt nachhause. Zwei Frauen hätten versucht, ihm auf dem Parkplatz vorm BWB den Schlips abzuschneiden, und als er denen die Autotür vor der Nase zugeschlagen habe, seien sie noch frech geworden und hätten ihm nachgekiffen, daß er wohl keinen Spaß verstehe.

Ich ging Karneval als Pirat. Wiebke ging als Micky Maus, und Renate und Mareike gingen als Rockerbräute. Renate hatte sich breite Litzen dafür an die Hosenbeine genäht. Beim Karnevalszug in Koblenz fiel aber keiner von uns auf.

Volker hatte vor, in den Sommerferien auf einem Frachtkahn zu arbeiten und was von der Welt zu sehen. Mama erkundigte sich bei Verwandten in Hooksiel. Die sagten, das gehe durchaus, aber es sei kein Job für Sensibelchen.

Renate wollte mit den Jusos nach Paris reisen. Alle hatten was vor, nur ich nicht, bis ein Anruf kam von Uwe Strack, ob ich Lust hätte, in einem Jugendzentrum in Pfaffendorf einen Western mit Charles Bronson zu kucken.

Uwe und sein Vater holten mich im Auto ab. An den Oberarmen hatte Uwe Muckis gekriegt, fast wie Popeye, wenn der seine in den Oberarmen gehabt hätte statt in den Unterarmen. Gewachsen war Uwe mehr in die Breite als in die Länge, und er hatte immer noch ein grünes und ein blaues Auge.

Spiel mir das Lied vom Tod hieß der Film. Da wußte man nie, was Rückblenden waren und was nicht, und nach zwei Stunden tat einem der Hintern weh vom Sitzen.

Uwe fand Charles Bronson gut. Ich nicht so. Ich fand auch Uwe Strack nicht mehr so gut wie früher.

»Da mach dir man nichts draus«, sagte Mama, als sie mich wieder nachhause brachte. Das sei der Lauf der Welt.

Zum Klassentreffen in Jever fuhr Mama alleine. Papa wollte nicht durch halb Deutschland zigeunern, bloß um einen Abend lang irgendwo rumzuschwofen.

Ich hatte noch Taschengeld übrig und durfte schon wieder ins Kino, zusammen mit Volker und Renate und vier Typen aus Renates Clique, Olaf und Hopper und Didi und Motz. Im Bus las Renate denen Lehreraussprüche vor, die sie im Unterricht mitgeschrieben hatte. »Als Napoleon gestorben war, beschloß man, daß er Frankreich nie mehr betreten durfte.« Oder: »Die Form der Samenschale ist weißgefärbt.« Oder: »Noch nicht ganz verstanden? Oder fehlt da irgendwo eine Lücke?«

Die Abenteuer des Rabbi Jacob. Da schlidderten welche über eine Rutschbahn in einer Kaugummifabrik in einen Kessel mit flüssiger grüner Kaugummimasse rein, zum Kranklachen.

Ich legte mir wieder ein Tagebuch zu und stellte über Nacht einen Becher in den Garten, um die Niederschläge zu messen und im Tagebuch notieren zu können. Das wollte ich jetzt immer machen. Nächtliche Niederschläge und dreimal am Tag die Außentemperatur. Einkleben konnte ich auch alle von Mamas Einkaufszetteln.

Um neuen Stoff für mein Tagebuch zu kriegen, sah ich mir im Hobbyraum den blauen Bock an. Oben durfte ich das nicht.

Frauen im Dirndl und der dicke Heinz Schenk. Die Becher hießen Bembel, und innendrin war Äppelwoi.

Renate kam rein und schüttelte den Kopf. Ich hätte wohl ’ne Meise unterm Pony. »Sitzt im Keller und kuckt den blauen Bock!«

Den fanden alle doof. Eben deshalb hätte ich ihn gerne gut gefunden, aber das war zuviel verlangt. Nach einer halben Stunde hatte ich genug davon für den Rest des Lebens.

Flitzer waren jetzt in. Rannten nackt rum, bis sie verhaftet wurden, nur auf dem Mallendarer Berg nicht.

Die Osterferien in Jever fingen damit an, daß ich abends den Winnetoufilm im Zweiten nicht kucken durfte. Der Schatz im Silbersee. Mama, Oma und die andern hätten sich auch in der Küche unterhalten können, aber nein, sie mußten im Wohnzimmer sitzen, wo der Fernseher stand.

Weil es viel regnete, spielten Oma und ich oft Malefiz. Es war ein Kinderspiel, sie zu besiegen, weil sie ihre Palisaden planlos in die Gegend setzte und mit den Figuren immer direkt vor den Palisaden stehenblieb, statt zurückzugehen. Dann hätte sie die Palisaden auch mit was anderem als einer Eins weghauen können.

Wenn sie vier oder fünf Spiele nacheinander verloren hatte, kriegte Oma einen Wutanfall, und dann mußte man sie mal gewinnen lassen, was gar nicht so leicht war. Sie übersah die besten Züge und verlegte sich oft selbst mit Palisaden den Weg, aber wenn sie dann den Sieg errungen hatte, jauchzte sie vor Glück, und man konnte sie wieder in die Pfanne hauen.

In die Wohnung oben war eine Familie mit drei Kindern eingezogen. Udo, Ulf und Meike Pohle, alle jünger als ich. Den Namen Meike fand Oma hanebüchen. Mike als Abkürzung für Michael, das lasse sie sich ja noch eingehen, aber Meike? Da hätten die guten Leute ihre Tochter ja gleich auf den Namen Itzenplitz taufen können.

Alle drei Pohlekinder hatten Roller. Wir machten Wettrennen auf dem Gartenweg und waren mal Teilnehmer und mal Schiedsrichter. Udo Pohle besaß eine Stoppuhr, mit der auf die Hundertstelsekunde genau die Zeit genommen werden konnte.

Ich wollte einen Rekord aufstellen, aber in der ersten Rechtskurve kam ich in der Matsche ins Rutschen und schlug mir das Kinn am Lenker auf.

Oma verarztete die Wunde mit Jod.

Mit den Pohlekindern ging ich auch in den Schloßgarten zum Entenfüttern und zu einem Spielplatz, wo es eine Hängekugel gab, in die man sich reinsetzen konnte, aber dann kamen andere Kinder und wollten uns die Kugel abspenstig machen. Die gehöre nur den Kindern, die da wohnten, und sie würden ihre Eltern holen, wenn wir nicht abschwirrten.

Sollten die doch selig werden mit ihrer Scheißhängekugel.

Renate schenkte Opa zum 78. Geburtstag zwei emaillierte Manschettenknöpfe. Den ganzen Vormittag über kamen Leute und gratulierten. In Jever sei Opa bekannt wie ein bunter Hund, sagte Oma. Sie war auch stolz darauf, daß Opa immer noch radfahren konnte. So wie jetzt. Wir standen am Verandafenster. Opa zog das Gartentor zu, schwang sich aufs Fahrrad und fuhr zum LAB-Treffen.

Ich schaukelte, und Gustav harkte Blätter zusammen im Garten und rauchte Marlboro. Er war dick geworden.

»Warum rauchst du eigentlich?«

»Weil’s mir schmeckt.«

Auch ’ne Antwort.

Die Fernsehserie mit Alfred Tetzlaff konnte Oma nicht leiden. Dieser Prolet, wie der schon dasitze, im Unterhemd. »Säuft Bier und rülpst und macht seine Frau zur Minna, sowas will man doch nicht sehen!«

Beim Grand Prix landeten Cindy & Bert auf dem letzten Platz. Gesiegt hatte Abba. Die sähen aus wie eine zum Leben erweckte Buttercremetorte, sagte Gustav, und so würden sie auch singen.

Mit Ulf und Udo tollte ich ums Haus, bis Oma uns durchs Schlafzimmerfenster mit Wasser aus dem Wäschesprenger bespritzte.

Dann stahl ich mich ins Haus und versteckte mich unterm Küchensofa. Oma setzte Wasser auf und führte Selbstgespräche. »Ich hab die doch nur verscheuchen wollen«, sagte sie, und ich fühlte mich Scheiße, wie ich da unterm Sofa lag, während Oma sich ums Essen kümmerte und wegen uns Gewissensbisse hatte.

Kurz vor Ostern kam Mama mit einer abartigen Dauerwelle vom Friseur zurück.

Papa hätte am Ostersonntag lieber Unkraut geschövelt, als sich knipsen zu lassen, aber das Walroß paßte wieder auf, daß das sonntägliche Gartenarbeitsverbot eingehalten wurde.

Mama im weißen Rock und Papa mit graublauem Schlips. »Grau oder blau oder graublau oder blaugrau«, schimpfte Mama. »Nie mal irgendwas Farbiges!«

In der Nachbarschaft fiechelte neuerdings ein Kind auf der Geige. Papa sagte dann, ihm würden gleich die Plomben rausfallen, und ging in den Keller.

Die Mittagessenbimmel. »Na los, na los, wo bleibt ihr denn? Oder muß ich euch erst Beine machen?« Ob wir wieder eine Extrawurst gebraten kriegen wollten, Volker und ich.

Wiebke konnte noch keine Spaghetti aufdrehen, und statt »Serviette« sagte sie »Servierte«.

Nach dem Essen gab es Kaffee mit B&B-Milch. Einmal hatte Volker den Tropfen abgeleckt, der an der Dose runtergelaufen war, und sich einen Anschnauzer eingefangen. Dann war ein Dosenmilchkännchen angeschafft worden, eins aus Glas, zum Umfüllen, mit Schraubverschluß und Schiebeleiste, die aber postwendend verkrustete und klemmte.

Volker wollte jetzt nach Norwegen reisen, als Schiffsjunge auf einem Kahn, auf dem ein Vetter von Mama erster Offizier war, und Papa wollte sich nach England versetzen lassen. Dann hätten wir alle nach England ziehen können.

Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten.

Nach Ostern kamen drei Neue in die Klasse, und wir mußten uns umsetzen. Jetzt saß ich neben Axel Jochimsen, der zu allem und jedem unanständige Kommentare ablieferte. »Willi Dickhut fickt gut.« Oder: »Sport-Erdkunde-Meier leckt sich selbst Eier.« Oder »Pischpenis«, was »Tischtennis« heißen sollte. In seinem Diercke hatte er mit Tinte alles mögliche ins Schweinische abgeändert: Tittengebirge statt Mittelgebirge, Onanier-See statt Onega-See und Penishalbinsel statt Apenninenhalbinsel. Dick umrandet war eine Überschrift auf Seite 100: Das Rote Becken.

Ich lud ihn zu meiner Geburtstagsfeier ein und außerdem Michael und Holger Gerlach, Erhard Schmitz und Jürgen Hartlieb, weil der mich in Mathe immer abschreiben ließ.

Ein Spiel, das Mama sich für uns ausgedacht hatte, ging so, daß man Puderzucker von einem Teller löffeln mußte, ohne daß der Pfennig umfiel, der senkrecht im Zucker steckte, aber Erhard Schmitz und Axel Jochimsen wollten lieber hoch in Renates Zimmer und die neue Otto-Platte hören, mein schönstes Geschenk. Die war zum Totlachen. Mutti, was machen die beiden Hunde da? Ach, weißt du, der eine ist blind, und der andere schiebt ihn über die Straße. Oder: Es ist ’ne Atombombe auf Bayern gefallen, fünfundsechzig Mark Sachschaden.

Wurzel rein, Wurzel raus.

Hinterher hörten wir nochmal die alte Otto-Platte, die ich aber schon in- und auswendig kannte. Er würgte eine Klapperschlang, bis ihre Klapper schlapper klang.

Axel Jochimsen übernachtete auch bei uns. Mainzelmännchen-Kapriolen wollte er nicht kucken, und als er sich den Pulli über den Kopf zog, knisterte es laut.

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit verriet mir Axel vorm Einschlafen ein Geheimnis, das ich niemals, aber auch wirklich niemals ausplaudern dürfe: »Der Kowalewski hat nur ein einziges Ei.«

Wow. Wer hätte das gedacht! Wo der sonst immer so ’ne große Fresse hatte.

Die Straßen von San Francisco. So wie Lieutenant Mike Stone und Inspector Steve Heller vom Morddezernat hätte man dem Trebitsch mal auf die Pelle rücken müssen. Mit einem wippenden Straßenkreuzer vorfahren, hinten am Gürtel Handschellen hängen haben und ein Taschentuch zücken, in das man die Revolver wickelt, die da rumgammeln.

Mama führte ein Telefongespräch mit Tante Gertrud, das fast eine Stunde lang dauerte. Ich mußte lange nachfragen, bis ich erfuhr, worum es gegangen war. Tante Gertrud hatte Krebs.

Ich stieg heulend in die Badewanne und blieb im Wasser liegen, bis ich schon ganz schrumpelige Haut hatte.

Zu Tante Dagmars Geburtstag fabrizierte Renate aus Stoffresten ein Nadelkissen.

Weil mein Rad platt war, mußte ich bei meiner nächsten Tour mit Michael und Holger Gerlach Volkers Polorad nehmen. Bergauf konnte man das nur schieben, und bei den Abfahrten kam man nicht in Schwung. Vor der langen Abfahrt bei Simmern bettelte ich Michael und Holger an, ob wir nicht mal tauschen könnten, aber das wollten sie nicht. Hätte ich auch nicht gewollt an deren Stelle. Ich mußte dann eben mit dem Polorad da runter und kam als letzter angedackelt.

Auf der Konfirmationsurkunde, die gerahmt in seinem Zimmer hing, hatte Harald Gerlach den Körper von Pfarrer Liebisch bis zur Brust mit dem Bild von einem halbnackten Pin-up-Girl überklebt. Das hätte Volker mal wagen sollen, da wäre aber was los gewesen.

Volker hatte einen Kettenbrief gekriegt, den er siebenmal abschreiben und verschicken sollte, sonst werde es ihm dreckig gehen. Ein Empfänger habe mal vergessen, den Brief abzuschreiben, und sei dann fast an Fieberfraß gestorben, aber nach dem Abschreiben sei er Millionär geworden.

Seine Abschriften gab Volker Hansjoachim, Renate, vier Typen aus seiner Klasse und mir, aber ich wollte noch abwarten, ob sich bei Volker der versprochene Reichtum einstellte.

Bei Am laufenden Band mußten zwei Kandidaten beim Schlußduell drei Fragen aus der Tagesschau beantworten. Mama wußte immer alles. Mama wußte sogar, warum sich die Kutschenräder in Wildwestfilmen rückwärts zu drehen schienen und wieso sich die Pferde beim Hinfallen nicht wehtaten und daß es Damensattel hieß, wenn die Frauen beim Reiten quer auf dem Pferd saßen und beide Beine auf derselben Seite runterhängen ließen.

Wiebke duftete nach Fichtennadeln.

Der Sieger durfte alles behalten, an das er sich erinnern konnte, wenn es auf dem Fließband vorbeigekommen war: Dreirad, Stehlampe, Kuckucksuhr, Sombrero, Toaster, Aktentasche, Wippepferd und so weiter. Wir brüllten alle durcheinander, aber der Sieger hatte oft Ladehemmung und vergaß den Würfel mit den Fragezeichen, der immer was Besonderes verhieß.

Mama hätte da mal sitzen sollen, die hätte alles abgeräumt.

In den Pfingstferien übte ich den Türkischen Marsch. Rondo alla turca. Da konnte man kräftig reinhauen, aber wenn Mama reinkam, rief sie: »Drisch nicht so rabiat! Und nimm die Quanten vom Pedal!«

Ich würde das Klavier malträtieren.

Irgendwann klackerte dann immer Renate in Clogs die Treppe runter und wollte den Entertainer üben.

Am Pfingstmontag kam ein Film mit einem Jungen, der ein Baumhaus hatte, und dann wollten welche einen Neger lynchen. Wer die Nachtigall stört. Bei uns gab’s weder Baumhäuser noch Neger, und Nachtigallen hatte ich auch noch keine gesehen. Oder gehört.

Zeichnen hatten wir jetzt bei Herrn Uhde, einem dicken Glatzkopf, der nur im Nacken und über den Ohren noch Haare hatte. Planschbecken mit Spielwiese. Oder Hubschrauberlandeplatz.

Wir mußten Jesusbilder abzeichnen und Bildinhaltsangaben danebenkritzeln. Jesus am Kreuz mit Gasmaske auf.

Der Uhde hatte einen Riechkolben wie Obelix.

Bis der Bus kam, suchte ich in den Rückgabeluken von Münztelefonen und Zigarettenautomaten nach Kleingeld, oder ich ging in die Löhrstraße. Photo Porst und Agfa Photo. Tapeten, Bodenbeläge, Teppiche und Dr. Müllers Sex & Gags.

Poster ankucken im Kaufhof brachte es nicht. Das war immer das gleiche. Motorräder oder der Schimpanse, der auf dem Lokus sitzt und eine Banane frißt, oder der Arm von einem Gorilla, der aus dem Klo kommt und einer Frau die Unterhose runterzieht. Oder Wum auf seinem Sitzkissen, mit Banjo: Ich wünsch mir ’ne kleine Miezekatze.

In der Unterführung am Zentralplatz war eine Zoohandlung. Da sah ich mal, wie ein kleiner Fisch als Futter für die großen Fische ins Aquarium geschmissen wurde. Der kleine Fisch flitzte hinter eine Muschel, aber das nützte ihm nichts, er wurde aufgefressen, ripsraps. In dem Aquarium hatte er nicht die geringste Chance gehabt gegen die anderen.

Teppichhaus Eierstock.

Ich durfte Papas altes Radio in meinem Zimmer aufstellen. Man mußte am Knopf drehen, bis sich die grünen Leisten in dem Sichtfenster berührten, dann war der Empfang okay.

Es wurde eine Reportage über Contergankinder gesendet, über die Mädchen, die jetzt zum erstenmal ihre Periode bekommen hätten. Ihre Monatsblutung. Daß die sich nicht genierten, das im Radio zu erzählen?

Die waren schon in der Pubertät. Ich hätte ja auch ein Contergankind werden können, aber in der Pubertät war ich noch nicht, soweit ich wußte.

Im Radio kam auch Pop-Shop. Aus dem Hause vis-à-vis seh ich jeden Morgen früh die Mary Lou ein Stück die Straße gehn. Wenn mir die Musik gefiel, machte ich das Deckenlicht aus und legte mich auf die Teppichfliesen. Dann leuchtete nur noch die grüne Anzeigenskala.

Einmal platzte Mama rein. »Was ist denn hier für ’ne ägyptische Finsternis?«

Im Garten und im Haus war immer was zu tun. Papa kalkte die Garage, imprägnierte die Giebelvertäfelung und nagelte das Spalier für die Kletterrosen auf der Terrasse zusammen, und Mama jätete Unkraut, gebückt, mit Kopftuch um und rot im Gesicht.

Wenn die Schwalben niedrig fliegen, werden wir bald Regen kriegen.

Ich wollte als Erwachsener lieber doch kein Haus haben, auch kein gekauftes, sondern nur eine Wohnung, so wie Tante Dagmar, da hatte man nicht soviel Arbeit. Jeden Tag Hähnchen und Milchnudeln essen und bis zum Testbild Fernsehen kucken. Das sollte mir dann mal einer zu verbieten versuchen. Den würde ich einfach auslachen.

Die Fußballweltmeisterschaft nahte. In der Rhein-Zeitung stand, daß die Brasilianer, die Holländer und die Italiener gefürchtet seien. Die Deutschen seien nur mittelmäßig und die Uruguayer Pleitegeier.

Ich fand ja, daß die Maskottchen Tip und Tap aussahen wie Volker und ich, aber er sagte dazu nur, daß ich einen Sockenschuß hätte. Volker hatte nur noch Scheißlaune, seit sich seine Frachtkahnpläne zerschlagen hatten.

In der Rhein-Zeitung stand auch, daß bei der WM 1970 das Spiel des Jahrhunderts stattgefunden habe, zwischen Deutschland und Italien, 3:4 nach Verlängerung. Diesmal wollte ich mir nichts entgehen lassen.

Zum achten Geburtstag kriegte Wiebke eine Häkeltasche mit Smiley vornedrauf und war stolz wie Oskar. Als Renate mit Wiebkes Geburtstagsgästen im Garten Federball spielte, wurde in der Nachbarschaft wieder so schauerlich auf der Geige gekratzt, daß Mama trotz der Hitze die Terrassentür verrammelte.

Beim Eröffnungsspiel knallte Paul Breitner den Chilenen ein tolles Tor rein, und Australien besiegten wir mit 3:0, mit Toren von Overath, Cullmann und Müller. Danach mußten wir gegen die DDR antreten, was irgendwie verkehrt war, weil die DDR doch auch zu Deutschland gehörte. Das Spiel war ein Riesenreinfall. Grabowski holzte daneben, Müller traf nur den Pfosten, und als dann auch noch Sparwasser ein Tor für die DDR schoß, hatte ich ein Kotzgefühl, das noch tagelang anhielt, obwohl inzwischen Sommerferien waren und ich zwei Einsen im Zeugnis hatte.

Weltmeister waren wir zuletzt 1954 geworden, acht Jahre vor meiner Geburt, und es war ungerecht, daß wir jetzt, wo ich am Leben war, nur noch Pech haben sollten.

An Helmut Schöns Stelle hätte ich Günter Netzer aber auch nicht erst zwanzig Minuten vor Schluß eingewechselt.

Mama und Papa waren weggefahren, nach Meppen und nach Jever, und auf dem Mallendarer Berg führte Renate den Haushalt. Einmal besprühte sie eine Stubenfliege, die an der Küchengardine saß, mit Insektengift. Die Fliege fiel auf den Boden und blieb da liegen, Beine nach oben. Renate sprühte noch mehr Gift auf die Fliege, und da fing sie an, sich wie irre zu drehen, bis sie nicht mehr konnte.

»Erzähl das bloß nicht Papa«, sagte Renate und beförderte die tote Fliege mit Handfeger und Schippe in den Komposteimer.

Beim Spiel gegen Jugoslawien standen Bonhof, Wimmer, Herzog und Hölzenbein in der Mannschaft, und es klappte wieder. Breitner schoß ein Tor aus 25 Metern Entfernung und Müller eins im Liegen. Jetzt konnten wir doch noch Weltmeister werden.

Gut waren aber auch die Holländer. Die besiegten Argentinien mit 4:0. Das erste Tor hatte Johan Cruyff erzielt, aber wie! An dem herausstürzenden Torwart trieb er den Ball immer weiter nach links vorbei und schob ihn dann ins leere Tor hinein, ganz lässig. Der beste Spieler aller Zeiten sollte ja Pele sein, aber ich hatte noch nie einen so guten wie Cruyff gesehen.

Im Hobbyraum stellte ich den Treffer nach, mit einer Bocciakugel als Fußball, dem Sofa als Tor und den Sofabeinen als Torpfosten. Den argentinischen Torwart mußte ich mir dazu vorstellen. Vorbei und rein!

Mama und Papa waren wieder da, aber das Spiel gegen Schweden mußte ich mir alleine ankucken. 0:1 Edström (26.), 1:1 Overath (50.), 2:1 Bonhof (51.), 2:2 Sandberg (53.), 3:2 Grabowski (78.), 4:2 Hoeneß (90., Foulelfmeter). Donner und Doria. Das war ja wohl mindestens so dramatisch wie das Spiel des Jahrhunderts. Ich drehte fast durch, aber da war ich der einzige in unserer Familie.

Am Montag mußte ich in Koblenz Paßfotos von mir machen lassen für den neuen Wuermeling.

Bloß nicht die Augen zuhaben, wenn der Blitz kommt.

Renates Liebster war jetzt Schütze Arsch im letzten Glied bei der Bundeswehr, in der Deines-Bruchmüller-Kaserne.

Im Zweiten kam ein Wildwestfilm mit Old Surehand, der aus großer Entfernung brennende Lunten ausschießen konnte, sich aber sonst wie ein blöder Lackaffe aufführte. Wie der schon redete: »Ich danke Euch nochmals, Miss!« Und: »Eigenartig, Ihr erinnert mich an jemanden. Sie war hübsch, genau wie Ihr …« Zum Reihern.

Meinen Wuermeling mußte ich selbst unterschreiben, über der Zeile Unterschrift des Inhabers.

Renate fuhr nach Lindau zu Tante Hanna, und abends spielten wir gegen Polen. Dafür mußte erst noch das Regenwasser vom Rasen gewalzt werden, aber der wurde und wurde nicht trocken. Immer blieb der Ball in Pfützen liegen, und bei Spurts rutschten die Spieler aus und fielen auf die Fresse. Das Frankfurter Waldstadion hatte keine gute Drainage.

Die Polen spielten mit Deyna, Lato und Gadocha. Der beste Stürmer, Szarmach, fehlte zum Glück, der war verletzt. Im Tor stand der gefürchtete Elfmetertöter Tomaszweski. Als Hoeneß in der zweiten Halbzeit zum Elfmeter anlief, dachte ich gleich, das geht schief, und tatsächlich, Tomaszewski hielt! Wir hätten ja nur ein 0:0 gebraucht, um ins Endspiel zu kommen, aber es war eine Erlösung, als Gerd Müller eine Viertelstunde vor Schluß ins Schwarze traf. Gerd Müller war doch der Beste von allen. Was der schon für Tore geschossen hatte. Eins phantastischer als das andere.

Um den dritten Platz hätte ich nicht spielen wollen. Polen gegen Brasilien. Eben noch den Weltmeisterschaftstitel vor Augen und dann gegen eine andere Verlierermannschaft antreten müssen. Da ging es nur um die Ehre, und es gab für keinen groß was zu bejubeln, auch in der 75. Minute nicht, als Lato den Siegtreffer schoß.

Abends kam im Ersten Otto, was ich noch im Wohnzimmer kucken durfte, aber für den Gruselfilm zwei Stunden später mußte ich alleine in den Hobbyraum runter. Das Schloß des Schreckens. Da glotzten wandelnde Leichen nachts durch die Fenster rein. Die mittlere Neonröhre britzelte laut, aber ganz im Dunkeln wollte ich auch nicht sitzen. Die Vorhänge hatte ich zugezogen. Alle paar Minuten, wenn das Bild zu flackern anfing, mußte ich aufspringen und den Fernseher kurz ausmachen, damit er sich wieder bekriegte, und wenn ich auch wußte, daß unterm Sofa nur Staubflusen lagen und keine kalte glitschige Totenhand hervorschnellen und mich am Fußgelenk packen konnte, fiel es mir jedesmal schwer, vom Sofa zum Fernseher zu hüpfen und zurück. In dem Film passierten immer schaurigere Sachen. Allein von der Musik drehte sich einem der Magen um. Ich wollte keine Memme sein, aber irgendwann konnte ich es nicht mehr aushalten, und ich rannte, ohne den Fernseher auszumachen, die Treppe hoch und in mein Zimmer und sprang ins Bett, und das Licht ließ ich an.

Am Sonntag stellte Mama vor dem Endspiel Kirschkuchen mit Schlagsahne auf den Tisch. Für meinen Geschmack dauerte die Abschlußzeremonie zu lange.

Papa war auf Dienstreise. Von den Spielen hatte er sich kein einziges angekuckt. Papa hatte sowieso eigenwillige Fernsehgewohnheiten. Ganz selten Dick und Doof oder Charlie Chaplin oder Wickie und die starken Männer, meistens Tagesschau und immer alle Sendungen mit Kulenkampff. Der sah auch so ähnlich aus wie Papa, nur fröhlicher.

Kurz vorm Anpfiff stellte sich raus, daß die Eckfahnen fehlten.

Mama schob sich gerade die Sofakissen hinters Kreuz, als die Holländer schon einen Elfer zugesprochen kriegten, und bevor man überhaupt wußte, was da vor sich gegangen war, schoß Neeskens den Ball ins Tor, und wir waren die Angeschmierten. 0:1 in der ersten Spielminute.

»Ach du dicker Vater«, sagte Mama, die aber nur pro forma für Deutschland war. Ihr gefielen die Brasilianer besser.

Jetzt mußten wir alles nach vorne werfen, sonst waren wir weg vom Fenster. Nicht daß die Holländer uns noch vernaschten. Aber 1954 gegen die Ungarn hatten wir sogar 0:2 zurückgelegen und trotzdem gewonnen.

Der Schiedsrichter war ein Metzger aus Wolverhampton. Wenn er fair war, mußte er irgendwann auch uns einen Elfer geben. Das machte er dann auch, und nach dem Schuß von Breitner stand es 1:1.

Johan Cruyff wurde von Berti Vogts gedeckt, das war gut.

Kurz vor der Halbzeitpause kam Gerd Müller an den Ball, trickste drei Holländer aus und schoß das 2:1, aus der Drehung.

»Nun mach aber mal halblang!« rief Mama, als ich jubelnd durchs Wohnzimmer sprang.

Nach dem Halbzeitpfiff lief ich raus, um zu kucken, ob auch der Mallendarer Berg so leergefegt aussah wie der Rest von Deutschland während des Endspiels. Zumindest die Theodor-Heuss-Straße sah in beiden Richtungen wie leergefegt aus. Die sah aber auch sonst immer wie leergefegt aus.

In der zweiten Halbzeit wurde es brenzlig. Da waren die Holländer am Drücker. Sie hatten Torchancen noch und nöcher, und es standen einem die Haare zu Berge. Sepp Maier hatte alle Hände voll zu tun. Mit Glanzparaden verhinderte er den drohenden Ausgleich.

Als Volker pissen ging, sicherte ich mir seinen Platz mit Lehne. Vorher hatte ich in der Sofamitte zwischen Wiebke und Mama sitzen müssen. Weggegangen, Platz vergangen.

Das Endspiel dauerte und dauerte, aber dann kam der Schlußpfiff, und wir waren Weltmeister, zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder! Weltmeister!

Ich schnappte mir Volkers alten Fußball und lief damit nach draußen, um zu kicken. Die Theodor-Heuss-Straße sah immer noch wie leergefegt aus.

Mama brachte mich nach Hannover, wo ich zehn Tage lang bleiben durfte. Tante Dagmar hatte das Endspiel nicht gesehen. Sie interessierte sich nicht für Fußball. Als ich von ihr wissen wollte, mit wem sie lieber verheiratet wäre, mit Gerd Müller oder mit Johan Cruyff, sagte sie, die würde sie alle beide von der Bettkante stoßen. »Mit Fußballern kannst du mich jagen!«

In Hannover war Schützenfest. Tante Dagmar hatte einen Bekannten, Herrn Löffler, der alles bezahlte und noch lachte dabei. Achterbahn, Riesenrad, Würstchen, Cola, Geisterbahn, Amorbahn, Auto-Scooter und wieder Achterbahn. Allein für mich verpulverte der an dem Abend an die zwanzig Mark.

Den Anordnungen des Personals ist Folge zu leisten.

Wenn in der Achterbahn der Bügel einrastete, kriegte ich Gänsehaut. Dann ging es erst im Schneckentempo nach oben, ratter ratter ratter, aber dann auf einmal mit Lichtgeschwindigkeit in die Tiefe, und wenn die Achterbahn wieder hochfuhr, sackte einem der Magen bis in die Kniekehlen.

An der Losbude gewannen wir nichts. »Pech im Spiel, Glück in der Liebe«, sagte Tante Dagmar. Sie sagte auch Sachen wie Blumenstrunz, Arschbecher, zum Bleistift und alles in Dortmund. Ihren Fotoapparat nannte sie Knipskiste.

Im Funkhaus lief ich wieder auf Händen rum, um der alten Frau Leineweber zu imponieren, und einmal, bei großer Hitze, ging ich ins Freibad am Maschsee. Da wollte ein Mann den Rücken mit Sonnenmilch eingerieben kriegen und zahlte mir fünf Mark dafür, daß ich das machte.

Tante Dagmar verlangte mir danach den feierlichen Schwur ab, nie wieder Geld von fremden Leuten anzunehmen, weder von alten Schwuliberts am Maschsee noch von sonstwem.

Zu schaffen machte mir aber mehr, daß Gerd Müller seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklärt hatte. 68 Tore in 62 Spielen und dann aufhören, das wollte mir nicht in den Kopf. Auf dem einen Foto von der Siegesfeier hatte Gerd Müller noch mopsfidel in die Kamera gelacht, mit Zigarre im Mundwinkel.

Tante Dagmar wohnte in der Marienstraße, in der Nähe von einem großen 4711-Schild, das da an der Ecke hing.

In dem Haus gab es einen Mann, vor dem alle Angst hatten, weil er zwei Meter groß und einen Meter breit war und jeden Tag seine Frau verkloppte. Einmal begegneten wir dem, als Tante Dagmar ihr Rad in den Keller stellte.

Wenn der Typ gewollt hätte, wären wir da nicht mehr lebend rausgekommen.

Gut war Tante Dagmars Plattensammlung. Da gab es fast alles von Reinhard Mey, auch die teure Doppel-LP. Da sang er auch auf französisch. C’etait une bonne année je crois.

Kein Fels ist zu mir gekommen, um mich zu hören kein Meer, aber ich habe dich gewonnen, und was will ich noch mehr?

Am Sonntag wurde im Ersten Ich denke oft an Piroschka wiederholt, aber Tante Dagmar wollte mir die Herrenhäuser Gärten zeigen, und wozu sollte ich noch an Piroschka denken. Lieber vierzehn Jahre Sing Sing als der noch mal begegnen.

Als ich allein mit dem Zug zurückfuhr, blieb ich immer nur so kurz wie möglich auf dem Klo, damit der Schaffner nicht dachte, daß ich mich da als Schwarzfahrer eingeschlossen hätte.

Von Bielefeld bis Dortmund saß ein Mann im Abteil, der sich ungeniert in der Nase bohrte, und wenn er was gefunden hatte, wischte er sich das am Hosenbein ab.

Nach der Fahrkarte mußte ich dem Schaffner noch meinen Wuermeling vorzeigen.

Bei Tante Hanna im Allgäu hatte Renate den Zauberberg gelesen und den Rasen gemäht, aber der Rasenmäher hatte einen Wackelkontakt gehabt und war dauernd ausgegangen.

Sie hatte auch im Bodensee gebadet. Jetzt knüpfte sie einen Teppich mit einer bombastischen Teppichknüpfmaschine, die Oma Schlosser uns gestiftet hatte. Ich wollte auch mal, riß mir aber gleich den Zeigefinger auf.

Mama klebte mir ein Pflaster drüber. Ich ging dann nochmal selbst an den Medizinschrank und klebte den Rest von dem Finger mit Pflastern zu, immer noch eins und noch eins, bis alles dicht war, und als ich die Pflaster morgens abpulte, war die Haut an dem Finger weiß und wabbelig. Jetzt muß er amputiert werden, dachte ich mit Schrecken, aber der Finger erholte sich wieder.

Nach den Sommerferien hatten wir einen neuen Deutschlehrer mit Lockenkopf und getönter Brille. Surges hieß der, fast wie das neue Fruchtbonbon von Suchard, und er sagte uns, welches Reclamheft wir uns kaufen sollten. Das Gold von Caxamalca.

In Mathe mußten wir mit Rechenschieber arbeiten. Verkettet man einen Verschiebungsoperator und seinen Gegenoperator, so erhält man den neutralen Operator Null als Ersatzoperator. Mir war schon die Plastikhülle von dem Ding zuwider.

Der Religionslehrer lispelte. Wir follten mal darüber nachdenken, daff Gott den Menfen erft am Fluffe fuf. »Der Menf ift die Krone der Föpfung.«

Öd war es auch in Geschichte, mit den Langobarden und dem Reich der Franken und Karl dem Großen, und noch öder in Chemie. Schwefeldioxid, Kalkspat und Bromdampf. Der Chemielehrer sah aus wie der Ziegenbock Bobesch aus der Augsburger Puppenkiste und war schätzungsweise hundertachtzig Jahre alt.

Französisch hatten wir beim Schlaumeier. Nicole? Qui est-ce? C’est la sœur de Philippe. Et qui est Philippe? C’est le frère de Nicole? Oui, c’est le frère de Nicole. Davon hatte ich auch bald genug.

In Bio war schon wieder Sexualkunde dran. Die Ovulation, der Vorgang der Befruchtung und die Antibabypille. Hier müsse er dem Volksmund widersprechen, sagte der Engelhardt. Das Wort sei nicht ganz korrekt. Die Bezeichnung Antibefruchtungspille treffe die Sache genauer.

Willi Dickhut fragte allen Ernstes: »Müssen sich der Mann und die Frau dann ganz nackt ausziehen für die Befruchtung?« Bei dem fiel der Groschen in Pfennigstücken.

Aber was war, wenn der Mann beim Ficken mal pinkeln mußte? Das war eine heiß diskutierte Frage auf dem Schulhof. Der einzige, der sie im Unterricht stellte, war wieder der Dickhut: »Ist es schädlich, wenn beim Verkehr zwischen Mann und Frau einige Tröpfchen Harn in die Scheide gelangen?«

Nein, sagte der Engelhardt, das werde alles auf natürlichem Wege wieder ausgeschieden.

Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.

In der Schule war ein Aushang. Da konnte man seinen Friedrich Wilhelm hinschreiben, wenn man in der Schulmannschaft Fußball spielen wollte. Name, Alter, Klasse, Position. Ich paßte einen Moment ab, wo mir keiner zusah, und dann trug ich mich in die Liste ein: Martin Schlosser, 12, 7b, Mittelstürmer. Erst war mir das zu dreist vorgekommen, weil fast alle Mittelstürmer sein wollten und keiner Vorstopper, obwohl es ja auch Vorstopper geben mußte, aber ich wollte nun mal Tore schießen wie am Fließband. Meine Idole waren schließlich Cruyff, Pele und Müller und nicht Schwarzenbeck. Wenn schon, denn schon.

Tagelang wartete ich auf eine Reaktion, und in jeder Pause sah ich mir den Aushang an. Da hatten sich drei Torhüter, vier Liberos, zwei Linksaußen, drei Rechtsaußen und elf andere Mittelstürmer eingetragen. Dann war der Zettel weg, und es hingen bloß noch zwei Ecken davon am Brett, links und rechts unter den Reißbrettstiften.

Über die Schulmannschaft verlor nie wieder irgendwer ein Sterbenswörtchen. Weiß der Geier, ob die Idioten einen anderen Mittelstürmer als mich genommen hatten oder ob denen die Lust an der Sache vergangen war. Die würden sich noch in den Arsch beißen, wenn ich zweimal oder dreimal Weltmeister geworden war als Kapitän der deutschen Elf, zehnmal am Stück Deutscher Meister, Rekordnationalspieler und der größte Torschützenkönig aller Zeiten. Und dann sollte mich mal einer fragen, wie das mit der Schulmannschaft vom Eichendorff gewesen war.

In der Buchhandlung Reuffel blätterte ich in den WM-Büchern von Fritz Walter, Dieter Kürten, Ernst Huberty, Hennes Weisweiler, Uli Hoeneß, Paul Breitner und Udo Lattek. Wie der Haitianer Emanuel Sanon die Weltrekordserie des italienischen Torwarts Dino Zoff beendete, der 1142 Spielminuten lang alles gehalten hatte.

Das WM-Buch von Franz Beckenbauer kriegte man nur bei Eduscho. Für ein anderes gab es in den Schokoladentafeln von Sprengel farbige Sammelbilder von den Weltmeisterschaften 1966, 1970 und 1974. Drei hatte ich schon. Nr. 8: Brülls war verletzt, Haller mußte aus taktischen Gründen zusehen. So kam der Duisburger Krämer als Rechtsaußen zum Zug. Seine Dribbelkünste halfen mit, der deutschen Mannschaft den knappen Erfolg über Spanien zu sichern. Nr. 42: Müllers Siegtor wie aus dem Lehrbuch! Moore hatte den deutschen Torjäger sträflich ungedeckt gelassen, Bonetti sich zu spät von der englischen Torlinie gelöst. Ein klassischer Treffer in klassischer Haltung! Und Nr. 76: In vorbildlicher Schußhaltung jagte Grabowski den Ball an Augustsson (18) vorbei zum 3:2 ins schwedische Tor.

Auf der Straße übte ich, wie man Bällen Drall gibt. Immer gegen die Gartenmauer.

Wiebke kuckte Plumpaquatsch. Die wollte eben nicht Weltmeister werden. Hätte sie ja auch gar nicht gekonnt, oder allenfalls im Damenfußball. Ein Glück, für mich und für Deutschland, daß ich kein Mädchen war!

Im Zweiten kam ein Krimi mit Miss Marple, einer dicken alten Frau, die schlauer war als alle Polizisten. Um einen Mörder zu finden, ließ sie sich bei einer verdächtigen Familie als Hauswirtschafterin einstellen.

Was der Trebitsch wohl für ein Gesicht gemacht hätte, wenn Michael und ich angekommen wären und gesagt hätten, daß wir für ihn Essen kochen und die Fenster putzen wollten. Da hätten wir auch gleich Harakiri begehen können. Erwachsene, selbst alte Omas, hatten es doch bedeutend leichter beim Detektivspielen.

Zum Geburtstag wollte Papa einen Teppich für Mama knüpfen und hatte auch schon fast ein halbes Jahr lang daran rumgedoktert. Zum Schluß mußte Renate mithelfen, dabei hatte sie selbst am nächsten Tag Geburtstag und mußte noch fünfzig Amerikaner backen.

Ich hatte für Renate bunte Schnapsgläser gekauft und stellte sie morgens auf den Gabentisch. Da lagen schon Broschen, Anhänger und ein neuer Bademantel. An einer Kerze lehnte eine LP von Cat Stevens: Mona Bone Jakon.

Abends brachte Olaf Renate eine Rose und einen Ring mit. Aus einem von den Schnapsgläsern, die ich ihr geschenkt hatte, trank Renate Whisky, den sie mitten in der Nacht wieder auskotzte, vom Balkon runter.

Beim Mittagessen stellte sich raus, daß Renate schon nach der zweiten Stunde wieder nachhause gefahren war und sich hingelegt hatte.

Renates Kotze spülte Papa abends mit dem Gartenschlauch von der Hauswand ab.

Von Wiebke, Volker und mir kriegte Mama eine Schachtel After Eight zum Geburtstag, stinkfeine Schokoladentäfelchen mit Pfefferminzgeschmack, jedes Stück in einer extra Papierhülle.

Wenn ich Mama gewesen wäre, hätte ich alles auf einen Satz aufgefressen, aber Mama ließ sich nur ein einziges Exemplar auf der Zunge zergehen und versteckte die angebrochene Schachtel.

Ich suchte überall, aber das Versteck war zu gut.

Mit Michael Gerlach war ich wieder viel im Wambachtal und im Wyoming. So hatte ich den Wald getauft, der hinter der Straße zwischen Vallendar und Hillscheid anfing.

Michael zeigte mir, wie man Autofahrern einen Streich spielen konnte. Wir stellten uns gegenüber an den Straßenseiten hin und taten so, als hielten wir ein über die Fahrbahn gespanntes Seil fest. Wenn die Fahrer dann auf die Bremse latschten, waren sie reingefallen. Einige hupten oder brüllten irgendwas, aber einmal lachte auch einer und schlug sich an die Stirn. Der hatte auch nicht NR-CR auf dem Nummernschild stehen, sondern K wie Köln. Von den Fahrern mit NR-CR als Kennzeichen lachte nie einer. Das waren allesamt Griesgrame und Sauertöpfe.

Im Straßengraben fanden wir ein dunkelgrünes Buch. In Farbe war vornedrauf ein strotzendes Paar Brüste abgebildet. Die Seiten waren zum Teil schon bröselig, aber die meisten konnte man noch gut entziffern.

Wir suchten uns eine stille Stelle im Wyoming, und dann lasen wir uns gegenseitig das Buch vor, immer Michael ein Kapitel und ich eins. Das Buch handelte von einem Mann, der sich vorgenommen hatte, jeden Tag eine andere Frau zu ficken, und jedesmal anders. Von unten, von oben, von vorne, von hinten und in den Mund und ins Arschloch. »Ich bin ja mal neugierig, welche Löcher der jetzt noch finden will«, sagte Michael. Da hatten wir das Buch erst zur Hälfte durch.

Im nächsten Kapitel wurde ein Tittenfick beschrieben. Der Typ saß in einem Hotelzimmer in Paris auf dem Bauch von einer Stewardeß, die er im Flugzeug aufgegabelt hatte, und träufelte ihr Öl auf die Möpse, um sie flutschiger zu machen. Es war schon spät, als wir das Kapitel durchhatten, und ich wollte die erste Folge von Die Gentlemen bitten zur Kasse kucken.

Wir versteckten das Buch in einer Kuhle im Wyoming. Als wir wieder hingingen und weiterlesen wollten, war das Buch nicht mehr da. Wir wühlten die ganze Kuhle durch und ließen keinen Stein auf dem andern, aber das Buch war futschikato. Das hatte sich irgendein Sittenstrolch unter den Nagel gerissen.

Schöne Scheiße. Jetzt würden wir nie erfahren, was der Typ noch alles angestellt hatte.

Bei Gerlachs stand jetzt eine Tischtennisplatte im Keller. Wenn der Ball von der Netzkante aus auf die gegnerische Hälfte purzelte, mußte man »Sorry« sagen. Vorne, hinten und an den Seiten standen Wäscheständer und Vitrinen im Weg und ein zersessenes Sofa, und man mußte permanent auf dem Fußboden rumkriechen und die Bälle suchen, die sich oft auch unter der Bügelmaschine verkeilt hatten, wo man schlecht drankam.

Oder Fußballspielen auf der Straße. Da flog der Ball halt manchmal in die Vorgärten der Nachbarn, und der eine, so ein Arsch mit Ohren, der sich viel auf seine Rosenzucht einbildete, rief mir zu, daß er den Ball, wenn er das nächste Mal in den Rosen lande, persönlich mit dem Küchenmesser in Stücke schneiden werde.

Vorm Haus übte ich Pässe mit einem siebenjährigen Mädchen von gegenüber, das hart schießen konnte und einen Haarschnitt hatte wie Mireille Mathieu. Ob die Eltern das mitkriegten, daß deren Lütte hier mit einem viel älteren Jungen Fußball spielte?

Einmal kam der Ball hoch an, und als ich ihn auffangen wollte, knickte mir der linke Zeigefinger nach hinten um. Mama fuhr mich ins Krankenhaus. Da wurde der Finger geröntgt, und ich kriegte einen Gipsverband, meinen allerersten.

Für den Garten wurden neun Tonnen Sand geliefert und mußten eimerweise verteilt werden. Renate trug 138 Eimer voll, Volker 152 und ich nur 43, weil ich immer noch den Gipsfinger hatte.

Das Handgelenk unterm Gips tat mir weh. Beim Abnehmen zeigte sich, daß er gebrochen war und die Haut eingeklemmt hatte. Die lag wie ein Regenwurm auf dem Gelenk und mußte mit Jod behandelt werden.

»Nun tu nicht so, als ob du hier ermordet wirst«, sagte Mama, als ich aufjaulte. Um mir Mitleid zu verdienen, hätte ich hungern müssen wie Papa im Krieg, bis man die Rippen einzeln zählen konnte.

Einmal rief Tante Dagmar an und wollte Mama sprechen. Das Telefonat dauerte fast eine Stunde. Danach setzte Mama sich ins Wohnzimmer und las den Stern.

Was die wohl zu bekakeln gehabt hatten. Als ich Mama fragte, sagte sie: »Das laß mal meine Sorge sein.«

Vielleicht hatte Tante Dagmar von ihr wissen wollen, ob es was ausmache, wenn beim Geschlechtsverkehr einige Tröpfchen Harn in die Scheide gelangten.

»Aha!« rief ich aus und wollte die Tür hinter mir zuziehen, aber ich wurde zurückgepfiffen.

»Was soll das bitte heißen, dieses Aha?«

»Gar nichts.«

»Dann tu auch nicht so altklug.«

Der Fußballverein bei uns hieß Grün-Weiß Vallendar. Wenn ich da eintreten wollte, brauchte ich Fußballschuhe, aber bevor Mama mir welche kaufte, mußte ich ihr versprechen, mindestens ein Jahr lang durchzuhalten in dem Verein. Hatte die ’ne Ahnung! Aber das war typisch Mama. Hatte einen kommenden Weltmeister leibhaftig vor sich stehen und fing an, über den hohen Preis von Fußballschuhen zu lamentieren.

Ich wollte Schuhe von Puma haben, weil die leichter zu putzen waren als die von Adidas mit den schmalen weißen Längsstreifen. Bei den Pumas waren es nur zwei breite Querstreifen pro Schuh. Da kam Deckweiß drauf, und zum ersten Mal im Leben hatte ich Lust, in der Waschküche zu stehen und meine Schuhe zu bürsten. Lieber als welche mit Gummistollen hätte ich aber welche mit Schraubstollen gehabt.

Irgendwann würden meine Pumas mal in einem Museum stehen. »Mit diesen billigen Galoschen hat der Junge damals seinen ersten Tore geschossen, und dann ist er fünfmal nacheinander Weltmeister geworden!«

Mama rief bei Grün-Weiß Vallendar an, und ich wurde zum Training der C-Jugend bestellt. Da sollten Elfmeter geschossen werden. Mama kam mit. Ich lief an und schoß mit rechts, weil ich dachte, das gehöre sich so, aber mit rechts war bei mir kein Bums dahinter. Der Fußball trudelte in die Arme des Torwarts, und ich wurde der D-Jugend zugeteilt.

Der Trainer hieß Schreiner. Das war ein Opa mit Schiebermütze, der beim Laufen immer seine Trainingshose hochzog, wobei ich einmal seinen blanken Arsch sehen konnte. Unter der Trainingshose hatte der Schreiner keine Unterhose an.

Wir machten Liegestütze und übten Eckstöße.

Ich hätte einen sagenhaft lahmen ersten Schuß abgegeben, sagte Mama abends, und da sei sie nachhause gegangen.

Weiß der Kuckuck, weshalb ich nicht gleich mit links geschossen hatte.

Trainieren und spielen mußten wir auf Schlacke. Es waren nicht immer Tornetze da, und es wurde oft gestritten, ob der Ball innen oder außen am Pfosten vorbeigeflogen war.

In der D-Jugend hatten die meisten keinen blassen Schimmer vom Fußballspielen. Der beste Stürmer war ein Knabe, der im Asozialenhochhaus wohnte, und ich war auf der Hut vor dem. Nachher war das noch ein Vetter vom Ventilmops oder ein Neffe vom Trebitsch.

Kapitän war ein Blondschopf mit Quadratlatschen, der gleich im ersten Spiel ein Eigentor schoß. Wir gewannen mit 2:1, aber ich wußte nicht mal, gegen wen.

Beim Training übte der Schreiner mit uns Ballannahme, Elfmeter, Doppelpaß und weiten Einwurf. Sich freilaufen und wie man eine Mauer baut und die Hände zum Schutz vor die Eier hält.

Auf der Hutablage eines Autos sah ich in Koblenz den neuen Kicker liegen, mit Karl-Heinz Schnellinger auf der Titelseite.

Gustav als größter Fußballfachmann der Sippe hatte in Jever schon eine ganze Sammlung von alten Kickern. Jetzt wollte ich mir auch eine zulegen. Ich hatte noch genug Taschengeld, um mir am Busbahnhofskiosk den Kicker zu kaufen.

In der Galerie der Weltmeister war ein Farbfoto von Sepp Maier. Rausreißen und aufhängen? Oder den Kicker lieber unversehrt sammeln?

Mann des Tages, Elf des Tages. Am Wochenende war Bayern München beim Bundesligastart von Offenbach mit 6:0 geschlagen worden, und ich hatte nichts davon mitgekriegt.

Den Kicker gab es zweimal die Woche, montags dick und bunt und donnerstags dünn und schwarzweiß und ohne Heftklammern, aber mit einer Seite, wo man die neuesten Ergebnisse der Bundesliga eintragen konnte.

Alles über die nächste Runde.

Renate hatte sich Pardon gekauft. Darin war ein Bild von einem kleinen Mann mit einem dicken Pimmel, aus dem vorne die Eichel rauskuckte, und Renate sagte: »Versteh ich nicht, wieso kommt da vorne denn nochmal so ’n kleiner Arsch raus?« Wie Männer untenrum aussahen, wußte Renate wohl doch noch nicht so genau, wie ich gedacht hatte.

Für ihre nachgeholte Geburtstagsparty hatte Renate bei Toom zwölf Liter Apfelwein und zwanzig Würstchen besorgt.

Es kamen die üblichen Typen mit ihren Weibern. Eine sah aus wie die Kröte Kylwalda von Catweazle. Papa war ihnen allen unheimlich, wenn er im Panzeranzug die Kellertreppe hochkam, um zu kucken, wer geklingelt hatte.

»Wieviel Knalltüten kommen denn da bloß noch?« fragte Papa Renate, und dann fing er an, in der Waschküche neue Wäscheleinen zu ziehen, wobei Volker und ich ihm helfen mußten. Knoten aufmachen und den Küchenhocker verrücken.

Einmal blieb Olaf auf dem Weg zum Klo an der offenen Waschküchentür stehen und machte einen Scherz von wegen Spätschicht und Gewerkschaft.

Papa brummte nur.

Im neuen Kicker war Bernard Dietz der Mann des Tages. Der MSV Duisburg hatte Schalke 2:0 geschlagen, und Dietz hatte vom Kicker die Note 1 bekommen.

Beim Spiel gegen die Schweiz mußte Hölzenbein mit Verdacht auf Achillessehnenriß in der Halbzeit ausgewechselt werden, und wenn ich Helmut Schön gewesen wäre, hätte ich Dietz eingewechselt.

Wir gewannen knapp mit 2:1 durch Tore von Cullmann und Geye. Es war Franz Beckenbauers 86. Länderspiel.

Fußballweltmeister zu werden war nicht leicht, aber man brauchte dafür nicht soviel auf dem Kasten zu haben wie die Kandidaten im ZDF beim großen Preis mit Wim Thoelke. Da mußte man sich mit griechischer Mythologie, deutscher Außenpolitik oder französischen Weinen auskennen.

Mama wußte wieder alles. Ehrlich, die hätte da mal mitmachen sollen, aber das wollte sie nicht.

Jeden Samstag saß ich jetzt ab halb vier in meinem Zimmer am Tisch, vor mir ein Ringbuch, Stifte, Radiergummi und das Radio mit der Konferenzschaltung. Wenn ein Tor fiel, konnte ich das gleich eintragen. Gelbe Karten und Rote Karten. Für die Statistik rechnete ich die durchschnittliche Zuschauerzahl für jedes Stadion aus, malte Erfolgsdiagramme für alle Vereine und spielte, wenn das Geld langte, Toto nach Gustavs Rezept: erste Spalte 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 und dann nach Gusto. Die Gewinnquoten für Toto und Lotto standen am Dienstag auf einer Tafel hinter der Glastür in einem Hochhaus neben dem Wienerwald am Busbahnhof in Koblenz.

Die Sportschau und das aktuelle Sport-Studio durfte ich nur im Hobbyraum kucken. Mama war Fußball »Fleutjepiepen«, Renate büffelte fürs Abitur oder wedelte vorm Garderobenspiegel ihre lackierten Fingernägel trocken, weil sie wieder mit Olaf verabredet war, Volker verschwendete seine Zeit lieber in Tanzschuppen, obwohl er früher mal Shellmünzen mit Deutschlands Nationalspielern drauf gesammelt hatte, und Wiebke war noch zu klein für aufregendere Hobbys als Gummitwist und Abzählreime. Und Papa war sowieso immer weg oder wurstelte in der Garage rum.

Im Kicker kriegte Bernhard Dietz nur Einsen, aber ich war Fan von Borussia Mönchengladbach geworden. Nach den Noten aus dem Kicker und meinen eigenen Vorlieben stellte ich meine deutsche Traumelf auf:

Maier

Vogts, Beckenbauer, Dietz, Breitner

Netzer, Overath, Hölzenbein

Del’Haye, Müller, Abramczik

Aber Gerd Müller machte ja nicht mehr mit. Das war ein Jammer. Die hatten doch ’n Stich beim DFB, daß sie weder Kalle Del’Haye noch Rüdiger Abramczik noch Gerd Müller spielen ließen.

Im Europapokal der Pokalsieger schlug Eintracht Frankfurt den AS Monaco 3:0 (0:0). Zwei der drei Tore hatte die Eintracht Bernd Hölzenbein zu verdanken.

An Mamas und Papas zwanzigstem Hochzeitstag war Papa auf Dienstreise in England, und Gladbach unterlag Wacker Innsbruck 1:2 (0:0). Das erfuhr ich aber erst am Donnerstag aus dem Kicker, den ich morgens gekauft hatte. Ich lehnte mich vor der ersten Stunde an die Schulhofmauer, um alles zu lesen, und war zutiefst betrübt.

Gladbach! Hatte verloren! Da hätte man ja auch gleich Fan von Tennis Borussia Berlin oder vom Wuppertaler SV werden können. Erst als ich den Artikel zweimal gelesen hatte, ging mir ein Seifensieder auf: Es gab ein Rückspiel, und Gladbach hatte noch eine Chance! Heynckes-Tor läßt noch hoffen, stand im Kicker, auch wenn die Hoffnung nicht groß war. Doch in der Endabrechnung am 2. Oktober könnte Borussias Auswärtstor, das Heynckes in der 62. Minute erzielte, nachdem der Däne Flindt in der 53. und 55. Minute Innsbruck mit 2:0 in Führung gebracht hatte, sehr wichtig sein.

Na also.

Renate löffelte eine gezuckerte Pampelmuse aus und referierte den Schmonzes, den ihre Lehrer von sich gegeben hatten. »Arbeitsteilung versteht man so, daß einer bäckt und einer jägt.« Und der Mathelehrer sollte gesagt haben: »Das Produkt der Beträge ist gleich dem Betrug der Prodakte.«

Den MSV Duisburg schlug Gladbach mit 4:1, durch Tore von Wimmer, Heynckes (2) und Simonsen.

Neu war, daß Mama einen Malkurs an der Volkshochschule in Koblenz besuchte. Flußlandschaften und Blumensträuße malte sie da. Bei dem einen Fluß stimmte aber die Perspektive nicht. Der sah schief aus neben der Mühle am Ufer.

Am Montag brauchte ich nicht zur Schule, weil ich Schnupfen hatte, und ich gab Renate Geld für den neuen Kicker mit.

Den schmiß sie mir mittags aufs Bett. »Hier, dein schwachsinniges Heft!« Da stehe nur bestußter Käse drin über Fußballer mit gebrochenen Beinen.

Offenbachs Beinbruch-Serie: Fünf Knochenbrüche in dreizehn Monaten.

Bernhard Dietz hatte bloß die Note 2 gekriegt.

Aus England hatte Papa ein Beer-Brewery-Set mitgebracht und versuchte, Bier damit zu brauen. Dabei kam eine Brühe raus, die zum Himmel stank wie faule Eier. Mama riß die Fenster auf, und Papa lief mit dem Pott in den Garten, um das Bier auf den Komposthaufen zu kippen.

Ich mußte jetzt jeden Donnerstag nach Vallendar latschen zum Katechumenunterricht in einem Gebäude hinter der evangelischen Kirche. Da mußte auch Michael Gerlach hin. Der Unterricht wurde uns von Frau Frischke erteilt. Unter deren Fuchtel saß man säuberlich gescheitelt auf dem Stuhl rum, hörte sich Vorträge über Brotvermehrung, Almosen und Nächstenliebe an und versuchte, nicht aufzufallen. Es waren auch vier pummelige Mädchen dabei. Auf den Fensterbänken standen Zimmerpflanzen mit Staub auf den Blättern.

Frau Frischkes Lieblingsausdrücke waren »zünftig« und »diesen da«. »Dann feiern wir ein zünftiges Fest, und anschließend machen wir diesen da!« Dabei tat sie dann so, als ob sie mit einem Besen den Boden fege.

Wir sollten herausfinden, was Jesus uns persönlich zu sagen habe. Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt.

Auf dem Rückweg kam man am Tor der Marienburg vorbei, wo eine Gedenktafel hing mit der Nachricht, daß Goethe da zweimal gepennt hatte.

Dann den Wilgeshohl hoch. Wir versuchten immer zu trampen, aber es klappte nur ein einziges Mal, als eine von Michaels Schwestern zufällig mit ihrem schwarzen Mini-Cooper vorbeikam.

Einmal standen wir schon zwanzig Minuten lang im Regen, und dann kreuzte ein Mädchen mit knallengen kurzen Jeans auf, stellte sich vor uns hin, hielt den Daumen raus und wurde gleich vom ersten Auto mitgenommen.

Ein anderes Mal fuhr Frau Frischke an uns vorbei und ließ uns stehen. Als ob wir Luft für die gewesen wären.

Das war ja wohl der Gipfel. Die sollte uns bloß nochmal was von christlicher Nächstenliebe vorsülzen, und daß Geben seliger sei denn Nehmen. Die hatte doch den Arsch offen.

Als Ersatz für den labberigen Schulranzen kaufte ich mir in Koblenz von meinen Ersparnissen eine Henkeltasche mit Aztekenmuster und Fransen. Mama war davon nicht begeistert.

Bis auf den Diercke paßte aber alles rein. Bücher, Hefte, Rechenschieber, Zirkelkasten, Ratzefummel und Pausenbrot.

Gut war immer, wenn einer mitten in der Stunde einen Flummi warf, der dann wie wild im Klassenzimmer rumsprang.

In Französisch war ich keine Leuchte. Je suis, tu es, il est, nous sommes, vous êtes, ils sont, da stand ich wie der Ochs vorm Berge. Ich schrieb eine Fünf und kriegte Nachhilfestunden von Renate. »Jetzt mußt du bimsen«, sagte Mama. Ich sollte mich auf den Hosenboden setzen und mein Hirnschmalz benutzen. »Du hast genug auf der Pfanne, du Faulpelz! Noch eine Fünf, und ich zieh dir das Fell über die Ohren!«

Mama war als junge Frau mal in Paris gewesen und hatte noch ihre alten Vokabelhefte aus der Zeit. Die wurden mir jetzt vorgezeigt. Ohne Fleiß kein Preis.

Renate mußte mir auf die Sprünge helfen, und dann hörte Mama mich ab. »Das war aber ’ne schwere Geburt«, sagte sie, auch wenn ich fast alle Vokabeln gewußt hatte. »Da mußt du dich nochmal hinterklemmen.« In Fleisch und Blut müsse mir das übergehen.

Übung mache den Meister.

Nach ein paar Stunden hatte ich den Bogen raus. Qu’est-ce qu’il y a au marché? Il y a des fruits. Il y a des bananes, des melons, des oranges et des citrons.

Für die nächste Arbeit kriegte ich eine Zwei, und der Schlaumeier hatte unten druntergeschrieben: »Es geht also auch so!«

Vom Roten Kreuz kam ein Herr Wunderlich in die Klasse und brachte uns was über Erste Hilfe bei. Stabile Seitenlage, Schlagadern und Mund-zu-Mund-Beatmung. Dessen Adamsapfel stand vom Hals ab wie ein Vogelhaus vom Baumstamm. Einmal hatte Herr Wunderlich Erste Hilfe geleistet, als einer Frau von einer Straßenbahn beide Beine abgefahren worden waren, und ein anderes Mal hatte er jemandem das Leben gerettet, der am Nebentisch im Restaurant mit Herzinfarkt vom Stuhl gefallen war.

Überall, wo dieser Herr Wunderlich hinkam, passierten Unfälle, und ich war froh, als er wieder weg war.

In Chemie seierte der Bobesch was über Stickstoffdioxid und osmotischen Druck, und Boris Kowalewski und ich tauschten Zettel mit schweinischen Zeichnungen aus. Dat bringt Kinner, stand unter einer, auf der zu sehen war, wie ein Mann eine Frau von hinten fickt.

Die neuen Zeichnungen zeigte ich im Bus immer Michael Gerlach, aber der wollte irgendwann keine mehr davon sehen. Er sei verdorben genug, da brauche er sich nicht noch Zeichnungen von Pimmeln und Furzwolken und nackten Weibern anzukucken. Anatomisch haue das ja doch alles nicht hin, oder ob ich schon mal ’ne nackte Frau gesehen hätte in natura?

Harry Piel sitzt am Nil, wäscht sein’ Stiel mit Persil.

Damit sie niemand in die Finger kriegte, legte ich die Zettel unter einen Schulbücherstapel im Schiebeschrank.

Rot-Weiß Essen – Gladbach 1:3. Wer sagt’s denn?

Im Wambachtal versuchten Michael und ich, uns durch Imitationen von Vogelrufen zu verständigen, wie Old Surehand und Winnetou.

Als Cowboy hätte ich keine Lust gehabt, wie eine lebende Zielscheibe um eine Wagenburg rumzureiten und mich von Schoschonen abschießen zu lassen.

Die Zunge des weißen Mannes ist gespalten wie die der Schlange.

Renate hatte sich bei C&A einen Rock zurückhängen lassen. Darüber wurde bei uns mehr gequasselt als über Gladbachs 3:0 gegen Wacker Innsbruck.

In der 70. Minute war Del’Haye eingewechselt worden, hatte aber nicht mehr viel ausrichten können.

Am Samstag schlug Gladbach auch Bochum 3:0 und rückte auf den dritten Platz vor, punktgleich mit Frankfurt und Braunschweig. Frankfurt schlug Essen 9:1, mit drei Treffern allein von Hölzenbein. Meine Traumelf hatte ich umgestellt:

Maier

Bonhof, Beckenbauer, Kliemann, Dietz

Wimmer, Overath, Heynckes

Abramczik, Müller, Hölzenbein

Ewig schade, daß das ein Wunschtraum bleiben mußte, weil Gerd Müller nicht mehr mitspielen wollte. Ob Abramczyk als Linksaußen oder als Rechtsaußen gefährlicher war, hätte man halt ausprobieren müssen. Einige von denen würden bei der WM 1982 wahrscheinlich noch mit mir zusammen spielen.

Mein Reserveteam war auch nicht übel:

Kleff

Körbel, Stielike, Kapellmann, Vogts

Beer, Wimmer, Lippens

Pirrung, Fischer, Held

Das ging natürlich nicht, weil Ente Lippens Holländer war. Den hätten sie bei der WM mal aufstellen sollen, dann wären sie Weltmeister geworden, die Käsköppe.

Im Tor waren auch Rudi Kargus und Norbert Nigbur gut.

Grabowski oder Pirrung im Sturm? Oder Hoeneß statt Kapellmann? Und was war mit Haller, Netzer, Schnellinger und Seeler?

Meine Lieblingstrainer waren Hennes Weisweiler (Gladbach), Tschik Cajkovski (Köln) und Kuno Klötzer (HSV). Branco Zebec (Braunschweig) galt als Schleifer.

Drei Tage vor dem Schlagerspiel gegen Bayern München wurde Gladbach von Fortuna Düsseldorf geschlagen, fiel in der Tabelle auf Platz 4 zurück und mußte dann zuhause zwei Punkte an

###Bayern abgeben: 1:0 Wittkamp (36.), 1:1 Wunder (71.), 1:2 Torstensson (73.).

Scheibenkleister.

Volker wollte in den Herbstferien zelten gehen und breitete deshalb auf dem Rasen das alte Zelt aus, in dem Mama und Papa vor dreißig Jahren in den Flitterwochen übernachtet hatten. Da mußten erst die Heringe gezählt werden, ob die noch vollzählig waren.

Auch das Schlauchboot wollte Volker mitnehmen, und er pustete es probeweise auf, mit dem Mund, wie in Spanien.

Mama machte Fotos von Volker beim Pusten, und Papa stand meckernd daneben.

Wenn starker Wind war, liefen Michael Gerlach und ich in das Waldstück hinterm Tennisplatz. Da standen zwei Birken, an denen man leicht bis in die Krone klettern und sich dann an den dünnen Stamm geklammert im Oktobersturm durchschaukeln lassen konnte.

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind. Wenn die Birken sich bogen, schrien wir vor Angst.

Was am schlimmsten wäre: Orkan, Tornado, Taifun oder Hurrikan.

Die Vorbereitungen für Oma Schlossers 75. Geburtstag liefen auf Hochtouren. Jetzt sei Großkampftag, sagte Mama. Sie unterzog das ganze Haus einer Generalreinigung, mistete die Küchenschubladen aus und beseitigte jedes Staubkorn, auch aus den Steckkontakten im Flur. Daß die verstaubt gewesen waren, merkte man erst, wenn man sich den Lappen ankuckte.

Auch Renate und Volker und Wiebke und ich sollten unsere Zimmer aufräumen, aber nicht so schlunzig wie sonst. »Und wehe, ihr spurt nicht!«

Außerdem sollten Renate und ich Klavier üben für die Gäste. Mein Paradestück war immer der Türkische Marsch gewesen, aber nur, bis ich einmal im Fernsehen einen kleinen Jungen gesehen und gehört hatte, wie der den Türkischen Marsch am Flügel spielte, auswendig und rasend schnell und fehlerlos, und dabei war der Knirps viel jünger als ich. Da hatte ich wohl keine Chance mehr, als klavierspielendes Wunderkind entdeckt zu werden und ins Fernsehen zu kommen. Dann brauchte ich auch nicht mehr zu üben.

Papa fuhr mit Renate morgens nach Koblenz, Wein und Torten kaufen.

Schnieke sollten wir aussehen. Hände waschen, Haare kämmen, Nägel bürsten, aber nicht bloß huschifuschi. »Dir schlamstert hinten noch das Hemd aus der Hose!«

Nach dem Kämmen musterte ich mich noch eine ganze Weile im Spiegel neben der Flurgarderobe. Die Haare hätten länger sein können, und ein paar Muckis mehr hätten nicht geschadet, aber alles in allem hätte ich keine schlechten Chancen gehabt bei der Wahl des schönsten Jungen vom Mallendarer Berg.

»Na, gefällst du dir?« fragte Mama. Sie hatte mir zugekuckt, und da hätte ich am liebsten den Spiegel zerschmissen.

Als die ersten Gäste klingelten, Onkel Walter und Tante Mechthild samt Trabanten, thronte Mama auf dem Lokus, und dann klingelte noch das Telefon.

Erst kamen alle zu uns, Onkel Rudi und Tante Hilde mit Franziska, Alexandra und Kirstin, Tante Dorothea und Onkel Jürgen, Onkel Dietrich und Tante Jutta, und als zu guter Letzt Onkel Edgar mit Tante Gertrud, Oma Schlosser und dem zarten Bodo ankutschiert kam, sollte die ganze Sippe wieder in die Autos einsteigen und zum Restaurant Humboldthöhe fahren zum Mittagessen. Da hätten wir uns gleich mit allen Mann versammeln können, aber hinterher ist man immer schlauer.

Ein Großonkel war unter den Gästen, Heinrich Schlosser, mit Haaren wie aus Zuckerwatte. Tante Gertrud war operiert worden.

Ich durfte bei Onkel Dietrich mitfahren.

In dem Restaurant standen Platzkarten auf den Tischen. Oma saß am Kopfende und ich in der Mitte zwischen Mama und Bodo und gegenüber von Renate.

Vom Fenster aus konnte man den Rhein und die Insel Niederwerth sehen, aber ich mußte mit dem Rücken zum Fenster sitzen, und aufstehen und rumrennen durfte ich nicht. Der Tisch war mit Rosengestecken geschmückt.

»Wenn du dich hier mit irgendwem in die Wolle kriegst, setzt’s was«, sagte Mama, als Bodo sich ein Schinkenröllchen von meinem Teller geklaut hatte.

Es gab auch Rinderzunge, was Renate widerlich fand. Da sei jahrelang Rindersabbel drauf rumgelaufen. Wiebke hatte sich den ganzen Teller vollgeladen, aber nach den ersten drei Bissen konnte sie schon nicht mehr. »Da waren wohl die Augen größer als der Magen«, rief Onkel Edgar von hinten.

Onkel Jürgen rechnete im Kopf den Schlankheitsgrad von allen Verwandten aus. Körperlänge geteilt durch Gewicht. Die Ergebnisse krakelte er mit Kugelschreiber auf einen Untersetzer. Wer am fettesten war. »Man zeigt nicht mit dem nackten Finger auf angezogene Leute!«

Papa stand auf und hielt eine Rede über die Vergangenheit der Familie in Schirwindt und Lötzen und Marienwerder, und wir sollten alle das Glas erheben auf Oma, aber meins war schon leer.

Dann ging es bei uns im Wohnzimmer weiter mit Kirschtorte und Erdbeertorte. Papa hatte Metallklemmen für die Tischtücher beschafft.

Onkel Heinrich und Onkel Dietrich rauchten Zigarre. Tante Jutta, die ein feuerrotes Kleid anhatte, paffte Zigaretten.

Für die Stücke, die Renate und ich im Hobbyraum auf dem Klavier vorspielten, wurden wir mit Applaus überschüttet, aber beim Spielen hatten alle gequatscht.

Die beiden unordentlichen Bodenräume wurden beim Rundgang durchs Haus ausgelassen. Aus Renates Zimmer nahm Onkel Jürgen ein Pippi-Langstrumpf-Buch mit und las laut daraus vor: Große Menschen haben niemals etwas Lustiges. Sie haben nur einen Haufen langweilige Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen und Kumminalsteuern.

Mama hatte Schnittenteller und Schüsseln mit Erdnußflips auf den Wohnzimmertisch gestellt, und Papa öffnete die Falttür, damit man auch sein Arbeitszimmer sehen konnte und die Regale mit den gebundenen Jahrgangsbänden der VDI-Zeitschrift.

Neun Leute übernachteten bei uns. Im Hobbyraum hatte Mama für alle Kinder ein Luftmatratzenlager aufgebaut und mußte noch achtmal runterkommen und mit uns schimpfen, bis Ruhe war. Die Großen lärmten oben aber noch viel länger und lauter als wir.

Nach dem Frühstück wurde lebhaft über die besten Fahrtrouten nach Dortmund und Hannover und Bielefeld diskutiert. Volker sollte den Shell-Atlas aus dem Peugeot holen, aber der Shell-Atlas war nicht da. Papa mußte selbst hingehen, und dann fahndeten wir alle fieberhaft nach dem verschwundenen Shell-Atlas. Onkel Edgar hatte auch einen im Auto, aber das war ein ganz oller, noch von 1957, mit dem er keine große Ehre einlegen konnte.

Als alle weg waren, kuckten wir Derrick. Da wurde eine Internatsschülerin von einem Triebtäter kaltgemacht. Doof war, daß es nichts zu raten gab, weil man den Mörder schon von Anfang an kannte.

Wie sich Gladbach in Offenbach gehalten hatte, konnte ich erst dem Kicker entnehmen. 1:0 Hickersberger (2.), 1:1 Allan Simonsen (34.), 1:2 Simonsen (41., Foulelfmeter), 2:2 Ritschel, (47., Foulelfmeter), 2:3 Simonsen (57.), 3:3 Kostedde (70.), 4:3 Schwemmle (78.). Damit war Gladbach auf den zehnten Tabellenplatz zurückgefallen.

Am letzten Herbstferientag jedoch schlug Gladbach Olympique Lyon im UEFA-Cup mit 1:0. Weiter so! In der 74. Minute war Del’Haye für Kulik gekommen.

Im Europapokal der Pokalsieger unterlag Eintracht Frankfurt Dynamo Kiew mit 2:3 (1:1), und im Europapokal der Meister besiegte Bayern München den 1. FC Magdeburg mit 3:2 (0:2). Nach Toren von Hoffmann und Sparwasser hatte Gerd Müller mit einem Tor und einem verwandelten Foulelfmeter den Gleichstand erzielt, und in der 69. Minute hatte einer von den doofen Magdeburgern noch ein Eigentor geschossen. Leider nicht Sparwasser. Das hätte ich dem gegönnt.

Sparwasser, was das schon für ein Name war, verglichen mit Beckenbauer.

Mit dem Surges machten wir einen Klassenausflug zum Schloß Stolzenfels. Erst mit dem Bus und dann zu Fuß den Berg hoch, unter einem Viadukt durch oder was das war. Boris Kowalewski meldete sich mit Magenschmerzen ab und durfte nachhause, dabei war er nur zu faul, die steile Straße raufzugehen. Dann wollte sich auch Erhard Schütz mit Magenschmerzen abmelden, aber weil er eben noch laut gelacht und mit Kastanien geworfen hatte, glaubte ihm der Surges nicht.

Oben von der Brüstung aus konnte man die Horchheimer Höhe sehen. Die anderen wohnten da wahrscheinlich immer noch, Stracks und Kasimirs und alle, nur wir nicht. Kalli mit seiner Lakritzekiste. Auf welche Schule Uwe jetzt wohl ging?

Im Schloß mußte man Pantoffeln anziehen. So ähnlich hatte es wohl auch in der Sporkenburg ausgesehen, als die noch in Schuß gewesen war. Wie die Leute früher gelebt hatten, ohne Heizung und Fernsehen, aber alles voll mit Ritterrüstungen, Schwertern, Wendeltreppen und Gemäldeschinken. Die Ausgießung des Heiligen Geistes an der Wand und im ganzen Schloß kein Klo.

Der Surges hastete immer von einer Ecke in die andere und schwitzte Blut und Wasser vor Angst, daß wir was umschmeißen könnten.

Als Mama mir mittags aufmachte, sah ich sofort, daß sie drauf und dran war, mich einen Kopf kürzer zu machen. Was war denn jetzt schon wieder los?

»Du brauchst mich gar nicht so scheinheilig anzukucken«, sagte sie. »Komm mal mit!« Sie führte mich in die Küche, und da lag das gesamte zeichnerische Werk von Boris Kowalewski und mir, Blatt für Blatt, ein Fickbild neben dem anderen, vom Brotschapp bis zur Heizung.

Dat bringt Kinner.

Ich ließ meine Schultasche fallen, rannte in mein Zimmer und wollte die Tür zuschließen, aber Mama hatte nicht nur meinen Schrank durchwühlt, sie hatte auch den Türschlüssel konfisziert.

Als sie zum Essen klingelte, ging ich nicht hin, auch nach zweimaliger Aufforderung nicht. Meinen Teller kriegte ich später von Renate gebracht. Pichelsteiner Topf.

Mein Zimmer verließ ich erst, als ich mußte. Die Küchentür stand offen, und die Zettel waren weg. Im Wohnzimmer unterhielten sich Renate und Mama. Durch die Tür war nicht viel zu verstehen, nur Genuschel und Klingklang von Löffeln und Kaffeetassen.

Da herrschte wohl noch immer dicke Luft.

Ich beschloß, ein artiger Junge zu werden. So wie Hansjoachim. Gute Zensuren nachhause bringen, viel Klavier üben, freiwillig zum Friseur gehen und immer gehorchen. Nie wieder Wiebke ärgern, Scheiße sagen oder den Staubsaugerstecker am Kabel aus der Steckdose ziehen. Im Fernsehen nur noch ernste Sachen kucken, Gesundheitsmagazin Praxis oder Ehen vor Gericht statt Trickfilmzeit mit Adelheid, und als Belohnung dafür nachts den Boxkampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman.

Lammfromm werden. Die Kinderbibel lesen: Jetzt mußt du einmal gut zuhören. Denn ich werde dir erzählen, wer alles erschaffen hat. Weißt du wohl, woher dein Essen kommt? Das dicke Butterbrot, das du gerade gegessen hast? Nun, die Mutter hat es dir fertiggemacht, aber das Brot hat sie beim Bäcker gekauft. Der hat es aus Mehl gebacken. Das Mehl kam vom Müller. Der hat es aus Korn gemahlen. Wer aber hat das Korn wachsen lassen? Gott. Dein Herr.

Um meinen guten Willen zu zeigen, konnte ich ja damit anfangen, die Spülmaschine auszuräumen, aber als ich sie öffnete, fuhr der heiße Wasserdampf raus, so daß ich vor Schreck schrie und einen Satz nach hinten machte. Da platzte Mama in die Küche und ballerte mir eine. Ich hätte mir für den Rest des Tages genug erlaubt. »Marsch in dein Zimmer!«

Das hatte man davon, wenn man artig sein wollte. Von diesem Spleen war ich geheilt.

Der Exorzist war erst ab 18, sonst wär ich da reingegangen. Manche sollten wahnsinnig geworden sein von dem Film und sich umgebracht haben aus Furcht vorm Teufel.

Fast noch lieber als die Filmplakate sah ich mir nach der Schule das gelbe Rennrad an, das bei dem einen Fahrradhändler in Koblenz im Schaufenster hing. 599 Mark. Damit wäre ich am Ziel meiner Träume gewesen.

In der Bravo hatte mal ein Bericht gestanden über Eddy Merckx. Dessen Rennrad war so leicht, daß er es mit einem Finger hochheben konnte. Vielleicht würde ich als erster Mensch auf Erden sowohl Fußballweltmeister als auch Sieger bei der Tour de France werden. Dann wäre ich so berühmt wie Franz Beckenbauer und Eddy Merckx zusammen.

Vor der ersten Stunde ließ Erhard Schmitz mich auf seinem Rennrad mit Zehngangschaltung auf dem Schulhof rumfahren. Das Rennrad, das ich auf dem Kieker hatte, sah so ähnlich aus. Dagegen war das Rad, mit dem ich sonst so rumfuhr, eine alte Gurke, das hätten auch Mama und Papa einsehen müssen, und wenn ich für die Tour de France trainieren wollte, brauchte ich ein Rennrad, aber ich mußte einen günstigen Moment abwarten. 599 Mark waren kein Pappenstiel.

Gegen Urbar sollte ich im Mittelfeld spielen. Die hatten da einen Schlackeplatz wie wir. Mama fuhr mich hin. Sie hatte den Fotoapparat mitgenommen, für den Fall, daß es ein Tor von mir zu knipsen gab. Als ich mich umziehen wollte, merkte ich, daß ich meine Fußballschuhe vergessen hatte. Ich Trottel! Die lagen noch in der Waschküche beim Schuhputzkasten.

Mama raste mit dem Peugeot zurück zum Mallendarer Berg, die Schuhe holen. Ohrfeigen hätte ich mich können.

Glücklicherweise fand der Schiri seine Pfeife nicht gleich, sonst hätte das Spiel ohne mich begonnen.

Mit meinen Fußballschuhen kam Mama noch haarscharf rechtzeitig angebraust.

Wir gewannen 5:0 (3:0), allerdings ohne ein Tor von mir. Einmal hatte ich zwei Meter weit danebengeschossen und sonst immer nur Pässe weitergespielt, aber nach dem Schlußpfiff nahm mich der Schreiner zur Seite und sagte: »Junge, wenn du immer so spielst wie heute, dann kann mal ein ganz Großer aus dir werden.«

Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. »Junge, wenn du immer so spielst wie heute, dann kann mal ein ganz Großer aus dir werden.« Und ich war bereit, ein ganz Großer zu werden! Wenn nicht als Torjäger, dann eben als Mittelfeldregisseur, so wie Netzer.

Nach einem lahmen 1:1 (0:1) im Heimspiel gegen Hertha BSC putzte Gladbach Olympique Lyon im UEFA-Pokal-Rückspiel auswärts weg: 1:0 Valette (1.), 1:1 Bonhof (23.), 1:2 Simonsen (28.), 1:3 Bonhof (50.), 1:4 Kulik (64.), 2:4 R. Domenech (71.), 2:5 Simonsen (89.). Noch fünf, sechs Jahre, dann würde ich bei Gladbach mit Rainer Bonhof zusammen im Mittelfeld spielen.

Leider schied Eintracht Frankfurt gegen Dynamo Kiew aus, aber dafür schoß Gerd Müller in Magdeburg zwei Tore für Bayern München, und der Anschlußtreffer von Sparwasser nützte nichts mehr.

Gladbachs Auswärtsstärke zeigte sich auch in Stuttgart wieder, da verlor der VfB mit 1:2 (0:1). Nach der Sportschau kuckte ich noch Michel aus Lönneberga, aber das war was für Babys. Hätte einer aus meiner Klasse gewußt, daß ich das kucke, wär ich am Arsch gewesen.

Die Zeit, wo man die Tasten nur kurz anzutippen brauchte, wenn man umschalten wollte, war lang vorbei. Jetzt mußte man sich vorher den Finger anlecken, und auch das half nicht immer.

Auf dem Bökelberg spielte Gladbach gegen Köln nur 1:1 und war damit auf Platz 7, vier Punkte hinter Kickers Offenbach, dem Tabellenführer.

Zum 47. Geburtstag hatte Oma Schlosser Papa ein Buch über die Jagd geschickt, »zur Erinnerung an Rominten«, aber Papa war erkältet, und es wurde nicht groß gefeiert. Es lagen noch zwei Paar Socken und ein Schlips auf dem Geburtstagstisch. Lieber ’ne Mathe-Arbeit schreiben als erwachsen sein und Geburtstag haben.

Beim Länderspiel gegen Griechenland in Piräus stand Bernard Dietz im Aufgebot, aber er wurde nicht eingesetzt, und wir holten mit Hängen und Würgen ein Unentschieden raus. 1:0 Delikaris (13.), 1:1 Cullmann (51.), 2:1 Eleftherakis (70.), 2:2 Wimmer (83.).

Mit Dietz, Abramczik, Del’Haye und mir hätten wir die Griechen eingeseift.

Sigi Held fehlte, weil sein Vater gestorben war.

Dann machte Gladbach den Wuppertaler SV in dessen Stadion naß: 0:1 Kulik (20.), 1:1 Galbierz (54.), 1:2 Heynckes (61.), 1:3 Kulik (73.), 1:4 Simonsen (81.), 1:5 Heynckes (88.). Das reinste Schützenfest!

Mit zwei Treffern gegen Rot-Weiß Essen hatte Gerd Müller in der Torjägerliste aufgeholt: Sandberg, Geye und Simonsen je 9 und Müller 7.

Gladbach gegen Real Saragossa war auch wieder super. 1:0 Simonsen (8., Foulelfmeter), 2:0 Heynckes (24.), 3:0 Simonsen (32.), 4:0 Bonhof (45.), 5:0 Heynckes (76.).

Wenn ich jetzt schon die Wahl gehabt hätte, wäre ich zu Gladbach gegangen, auch wenn mich der HSV oder Bayern München mit Handkuß genommen hätten. Oder der 1. FC Köln oder Werder Bremen. Hauptsache war, daß keine wichtigen Spiele stattfanden, wenn ich bei der Tour de France war oder beim Giro d’Italia. Die Termine müßten eben aus Rücksicht auf mich so festgelegt werden, daß ich überall mitmachen konnte.

Falls ich nicht doch lieber Schauspieler wurde. Im Ersten lief ein Western mit John Wayne. Das wär’s doch, so als Sheriff im Wilden Westen aufzuräumen und aus der Hüfte zu schießen, wenn keiner damit rechnet.

Irgendwann nachts wurde ich wach, da kriegte Renate im Flur ihr Fett weg, weil sie so spät nachhause kam. Mama war schwer am Zetern.

»Winnetou weiß, daß sein Tod nicht mehr fern ist«, sagte Winnetou in Winnetou III im Zweiten. »Der Tag liegt in weiter Ferne, und wir haben noch eine lange, glückliche Zeit vor uns«, erwiderte Old Shatterhand, aber dann starb Winnetou noch im selben Film, und Wiebke fing an zu flennen. Mich konnte das nicht mehr schocken. Mein Winnetou war schon vor Jahren im Klo ersoffen.

Statt nach England sollten wir jetzt doch nach Meppen ziehen, und Mama und Papa fuhren schon mal hin, um unser neues Haus zu besichtigen. Nicht daß das eine heruntergekommene Bruchbude war.

Ich legte mir die Worte zurecht für meine Bitte um das Rennrad, aber die Mühe hätte ich mir sparen können, denn als Mama wieder da war, ließ sie mich gar nicht ausreden. »Ein Rennrad! Du denkst wohl, das kostet nur ’n Appel und ’n Ei!«

Das war Blödsinn. Ich wußte ja, daß das Rennrad 599 Mark kostete, aber als ich das sagte, wurde Mama noch wütender. »599 Mark, soll ich mir die vielleicht aus dem Bein schneiden?« Papa würde auch nicht mit ’nem Rolls-Royce rumfahren, nur um den dicken Max zu markieren. Und es sei auch nicht gut für ein Kind, wenn es jeden Wunsch gleich erfüllt kriege.

»Jeden Wunsch, haha«, sagte ich, »da lachen ja die Hühner!«

»Halt den Rand!« schrie Mama. »Du kriegst kein Rennrad, und wenn du dich auf den Kopp stellst!«

»Dann könnt ihr euch alle andern Geschenke ins Arschloch stecken!« schrie ich zurück und rannte in mein Zimmer.

Als Mama reinwollte, stemmte ich die Füße gegen den Kleiderschrank, Rücken an der Tür.

»Was glaubst du überhaupt, wer du bist, du freches Stück!« rief Mama, und dann, weil sie die Tür nicht aufkriegte: »Na warte, mein Freund! Wir sprechen uns noch!«

Alles in Klump hauen hätte ich können. Das Rennrad war bestimmt nicht halb so teuer wie die Unterwäsche und die Hemden und die Strümpfe immer zu Weihnachten. Das einzige Wäschestück, das mich interessierte, war das gelbe Trikot bei der Tour de France, und dafür mußte ich trainieren, aber wie sollte ich das wohl tun ohne Rennrad?

Ob ich ein Findelkind war? Von Vater und Mutter im Stich gelassen? Sehr viel Ähnlichkeit hatte ich ja eigentlich nicht mit Mama und Papa.

Ich sollte mich entschuldigen, in aller Form, sagte Mama, sonst würde ich kein einziges Geschenk zu Weihnachten kriegen. Da kannst du warten, bis du schwarz wirst, dachte ich, aber als Weihnachten näherrückte, dachte ich anders darüber.

Wenn ich doch bloß die Schnauze gehalten hätte! Oder an den Hut stecken gesagt hätte statt ins Arschloch.

Am 6. Dezember wühlte ich meinen Nikolausstiefel nach einem Fünfmarkstück durch, aber es war keins drin. Nur Wiebke rannte noch aufgeregt hin und her und zeigte allen vor, was ihr der Nikolaus gebracht hatte.

Entschuldigen mußte ich mich noch. Wenn ich das Rennrad nicht bekommen konnte, wollte ich eine Gitarre haben, aber auch dieser Wunsch wurde von Mama als Firlefanz abgetan. Ihre alte Gitarre sei noch gut genug zum Üben. Dabei hatte die einen Sprung hintendrin im Holz und nur noch drei heile Saiten.

Zwei Jahre Ferien, dazu hätte ich jetzt Lust gehabt, wie in dem ZDF-Vierteiler. Mit einem Schoner in See stechen und an einer fremden Küste Schiffbruch erleiden. Oder mit John Wayne zehntausend Rinder nach Missouri treiben, und nachts hört man die Kojoten jaulen.

Im Kicker fing ein Grabowski-Starschnitt an. Von meinem Taschengeld kaufte ich mir auch ein Heft, das 97 Tore hieß. Da wurden alle Tore der WM zeichnerisch analysiert, wer wen vorher angespielt hatte, aber die Zeichnungen stimmten hinten und vorne nicht, das war nackter Betrug.

In Saragossa kam Gladbach wieder eine Runde weiter. 1:0 Violetta (11.), 1:1 Simonsen (18.), 1:2 Heynckes (21.), 2:2 Galdos (63.), 2:3 Stielike (75.), 2:4 Heynckes (90.). Hoffentlich wollten die mich noch haben, wenn die schon ohne mich so gut waren!

Beim Vogel durfte ich an der Weihnachtsfeier für die Großen teilnehmen. Da mußten alle was vorspielen. Ich hatte tagelang den Türkischen Marsch geübt, aber als ich dran war, wurde ich puterrot und konnte die Oktaven nicht mehr greifen. Da war der Wurm drin.

Es gab Kaffee und Lebkuchen, und auf dem Tisch brannten übelriechende Honigwachskerzen.

Gladbach schlug zuhause Bremen 4:2, dann war wieder Länderspiel, gegen Malta. Bernard Dietz durfte spielen, aber der Platz war hart und staubig.

Nigbur im Tor, Kostedde und Pirrung im Sturm. Für den verletzten Schwarzenbeck war Körbel aufgestellt worden. In der zweiten Halbzeit kamen noch zwei weitere Debütanten, Nickel (46.) für Pirrung und Seliger (74.) für Cullmann. Den Siegtreffer hatte Bernd Cullmann in der 44. Minute erzielt.

Kommet, ihr Hirten übte Wiebke auf der Blockflöte, und ich übte O du fröhliche auf dem Klavier. Christ ist erschienen, uns zu versühnen. Was das wohl heißen sollte, versühnen?

Einmal setzte sich auch Papa ans Klavier und spielte was: Tochter Zion, freue dich. Papa am Klavier, das war eine Premiere. Ich hatte nicht mal gewußt, daß Papa Noten lesen konnte.

Gnadenbringende Weihnachtszeit.

Allerneueste Mode waren Gutscheine. Von mir kriegte Wiebke einen für ein Legohaus für ihre Puppe, Mama einen für zweimal Staubsaugen im Hobbyraum und Papa einen für dreimal Unkrautrupfen, und Volker überreichte mir einen für den nächsten geangelten Aal.

Eine andere neue Mode war, daß wir beim Baumschmücken mithelfen durften. Früher hatten wir den Christbaum vor der Bescherung nicht einmal schief ankucken dürfen, und jetzt sollten wir Kerzenhalter anbringen und Lametta über die Äste legen. Die empfindlichen Kugeln durfte aber nur Papa aufhängen.

Den Kirchgang ließen wir sausen.

Papa hatte den Fotoapparat aufs Stativ gesteckt und knipste uns mit Blitz beim Singen in der Tür, aber das Foto konnte man nachher niemandem zeigen. Volker hatte seinen viel zu klein gewordenen Konfirmationsanzug an, bei mir sah man die abstehenden Ohren zwischen den Haaren, und Wiebke, die auf der Blockflöte trötete, machte auch keinen besseren Eindruck mit ihrem rosanen Kleid und der knallgelben Strumpfhose. Nur Mama und Renate sahen halbwegs normal aus.

Im stillen hatte ich gehofft, doch noch das Rennrad oder die Gitarre zu kriegen, aber mein Hauptgeschenk war ein neuer Ranzen aus grünem Leder mit goldener Schnalle. »Behandele den pfleglich«, sagte Mama und kuckte den Ranzen so an, daß man ahnen konnte, wie teuer der gewesen war. Nicht so teuer wie das Rennrad, aber teuer genug, und ich mußte so tun, als ob ich mich wer weiß wie darüber freute, wenn ich mir keinen neuen Ärger einhandeln wollte.

Tante Therese hatte mir einen Slip zugedacht. Beim Befühlen von Tante Dagmars Päckchen hatte ich Angst, daß da auch nur Anziehscheiß drin sei, aber dann war eine blaue Umhängetasche drin mit dem Kicker-Kalender ’75, einem Portemonnaie, zehn Mark, einer Tafel Schokolade und einem Buch von Enid Blyton: Rätsel um das verlassene Haus. Nicht schlecht, Herr Specht!

Volker hatte einen elektronischen Taschenrechner gekriegt und Geld für seinen heiß ersehnten Mopedführerschein. Wenn er den besaß, sollte Papas altes Moped repariert werden, das im Heizungskeller stand.

Renate legte als Gedächtnisstütze eine Liste an, von wem sie was gekriegt hatte. Nußknacker, Kalender, Blitzgerät, Schere, Wollkorb, Tuch, Kerzen, Bleistiftständer, Geld, und dazu die Namen. Der Nußknacker war aus Holz und wie eine dicke Pfeife geformt. Die Nüsse wurden in den Kopf gelegt und dann mit dem Stiel kaputtgeschraubt, aber das ging nur mit Walnüssen. Haselnüsse flutschten immer weg, und Paranüsse waren viel zu robust für den Holznußknacker.

Am ärmsten war wieder Wiebke dran mit Malkasten, Mäppchen, Füller, zwei Rundstricknadeln und dem saudoofen Spiel Reversi. Da mußte man auf einem Brett grüne und rote Plättchen auslegen, was ungefähr so unterhaltsam war wie Mühle.

Von Papa hatte Mama einen Römertopf geschonken gekrochen bekommen, einen neuen Couchtisch als Ersatz für den alten Kurbeltisch, eine Staffelei und ein illustriertes Buch dazu: The Complete Book Of Drawing And Painting. »Mein lieber Scholli«, sagte Mama. Sie hatte für Papa auch ein Buch gekauft: Farbe und Verhalten im Tierreich.

Alle Jahre wieder. Oma Jever hatte einen Christstollen geschickt, mit Anis. Auf meinem bunten Teller lagen eine Toblerone und ein Bounty. Die Toblerone schmeckte gut, aber das Bounty weniger, weil da Kokos drin war. Als Wiebke und ich zufällig mal alleine im Wohnzimmer waren, bot ich ihr mein angebissenes Bounty für ihr unangebissenes Nuts an, und sie ging auf den Tauschhandel ein.

Steht auch dir zur Seite, still und unerkannt, daß es treu dich leite an der lieben Hand.

Aus der Werkstatt kam Papa mit einem Riesenadventskranz hoch, den er da heimlich gebastelt hatte.

Ein Wort mit drei tezett: Atzventzkrantz.

Das Ding war so groß wie ein Elefantenklo und wurde in der Diele aufgehängt, was sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Dann sollte Renate den Kranz mit den vier brennenden Kerzen fotografieren, nach Papas Anweisungen und aus allen möglichen Himmelsrichtungen, von oben, von der Seite, von der Treppe aus, von schräg rechts und von links und von der Garderobe aus. Als Papa sich im Flur auf den Rücken legte, um von unten einen guten Fotografierwinkel zu finden, wurde Mama böse, und es gab einen Krach, der damit endete, daß Papa die Garagentür hinter sich zuknallte und Mama die vom Elternschlafzimmer, aber dann kam Mama nochmal raus und holte das Schulterfleisch aus der Tiefkühltruhe.

Am ersten Weihnachtsfeiertag war der Tisch bereits seit einer Stunde gedeckt, aber das Schulterfleisch war immer noch nicht gar. »Wir haben Hunger, Hunger, Hunger«, sangen Volker und ich und hauten mit dem Besteck auf den Eßtisch, bis Mama rief, daß wir die Backe halten sollten.

Beim Teetrinken glättete und faltete Mama das Geschenkpapier, und Renate strickte an einem Pullover mit Sonnenmotiv für ihren geliebten Olaf. Der Topflappen, den Wiebke in Arbeit hatte, war krumm und schief.

Einmal mußte ich gleichzeitig husten und niesen, und danach hing mir ein Stück Anis irgendwo innen zwischen Rachen und Nase fest, wovon mir das linke Auge tränte.

Rätsel um das verlassene Haus war das erste Buch aus der Rätselserie. Da lernten Robert und Diana und Stubs ihren Freund Barny und sein Äffchen Miranda überhaupt erst kennen, und dann klärten sie prompt ein Verbrechen auf.

Dem Trebitsch war noch immer nichts nachzuweisen. Ich ging da schon gar nicht mehr hin. Michael Gerlach war in den Ferien bei seiner Oma in Ransbach-Baumbach, und alleine machte das Detektivspielen keinen Spaß.

Beim Zähneputzen mußte ich wieder niesen, und da flog das Stück Anis aus meinem linken Nasenloch ins Waschbecken.

Wie ein Schneekönig gefreut hatte ich mich auf Tschitti Tschitti Bäng Bäng im Zweiten, aber das war ein einziger Krampf. Da wurde bis zum Erbrechen getanzt und gesungen. Ich wartete immer auf das Stoßmich-Ziehdich, bis mir aufging, daß das in Doktor Dolittle vorkam und nicht in Tschitti Tschitti Bäng Bäng.

An Silvester wurde abends das Fondue in Betrieb gesetzt. Man mußte aufgespießtes Schweinegulasch im Öl schmurgeln lassen und sich an der Farbe merken, welche Gabel einem gehörte.

Bis zum Neujahrstag 2000 war es noch ein Vierteljahrhundert hin. Ich wäre dann 37 Jahre alt. Wiebke wäre 33, Volker 40, Renate 43, Mama 70 und Papa 72.

»Hör bloß auf«, sagte Mama. »Und lümmel dich nicht so hin!«

Um zehn Uhr zündete Papa die Feuerzangenbowle an, die aus Gläsern mit Bastkörbchen getrunken wurde, damit man sich nicht die Finger verbrannte. Für Wiebke und mich hatte Mama Fanta gekauft, aber ich durfte mal nippen an Mamas Glas.

Zu essen gab es auch noch wieder was, nämlich erstens Berliner, zweitens Xox und drittens Weintrauben und Käse von bunten Spießchen mit spitzem Ende, das einem in die Lippen schnitt, wenn man beim Abfressen nicht aufpaßte.

Im Fernsehen kam Fußballett. Und Vicky Leandros: Steh auf, du faules Murmeltier, bevor ich die Geduld verlier! Dabei sah die selbst wie am Einpennen aus mit ihren Schlafzimmeraugen.

Mama und Papa pichelten, bis sie beide einen in der Krone hatten. Sie fütterten sich gegenseitig mit Erfrischungsstäbchen und schmusten und tanzten sogar. Auch Renate goß sich großzügig Bowle hinter die Binde.

Wie es früher in Moorwarfen gewesen war und dann im Funkhaus Hannover. Zu ihrem Chef sollte eine von Mamas Kolleginnen, als der sich im Nacken gekratzt hatte, gesagt haben: »Waschen, nicht kratzen!«

Um Mitternacht stießen wir mit Rülpswasser an und gingen auf die Terrasse, das Feuerwerk ankucken. Papa ließ vom Komposthaufen aus eine Rakete steigen, die nur einmal kurz jaulte. Das Walroß verböllerte dagegen nach Volkers Schätzung an die dreihundert Tonnen TNT.

»Die haben’s wohl dicke«, sagte Mama, und dann wollte sie raus aus der sibirischen Kälte und zurück ins Haus.

Renate hatte einen intus. Im Wohnzimmer wurde noch ein Foto von ihr gemacht beim Tanzen mit Papiergeschlinge um den Hals. Nach dem neuen Gesetz war Renate seit Mitternacht volljährig, und das wollte sie feiern. Von dem Sekt hatte auch Volker einen im Tee, und Papa hatte einen Hickkopp, der selbst mit kopfüber getrunkenem Wasser und mit Luftanhalten nicht wegging. Noch spätnachts konnte ich Papa zwei Zimmer weiter hicksen hören.

1975 war das Jahr der Frau, aber bei uns war alles wie gehabt. Mama kochte Makkaroni, Wiebke übte Blockflöte, und Renate machte mit Edelstahlputzmittel das Fondue sauber. Dann häkelte sie an ihrer neuen Stola weiter, bei einem Piratenfilm. Der rote Korsar mit Burt Lancaster. Der konnte Flickflack rückwärts. Die Piraten hatten Musketen und Kanonen, aßen mit den Händen und legten die Füße auf den Tisch, aber ich wollte trotzdem lieber Europas Fußballer des Jahres werden als Pirat in der Karibik.

Bevor Onkel Dietrich zu Besuch kam, mit Tante Jutta und allen drei Kindern, mußten Volker und ich in der Waschküche unsere Schuhe putzen. Immer die gleiche Leier. Jahraus, jahrein. In den Erdaldosen lagen bloß noch harte, bröckelige Reste. Damit wir die Bürsten nicht mehr verwechselten, hatte Papa die Stiele beschriftet: Dunkelbraun, Hellbraun, Schwarz. Wenn man jetzt mit der Bürste für schwarze Schuhcreme die hellbraunen Halbschuhe putzte, weil die passende Bürste nicht frei war, konnte man was erleben. »Wie oft soll ich dir das noch einbleuen?«

Bürsten mit weißen Borsten bürsten besser, als Bürsten mit schwarzen Borsten bürsten.

Der Kicker meldete, daß Ernst Cramer neuer Trainer von Bayern München werden sollte. »Der laufende Meter«, so nannte Sepp Maier den. Für Gladbach war es nur von Vorteil, wenn die Bayern so einen kahlköpfigen Winzling als Trainer hatten. Dann war der Titelgewinn geritzt.

Renate brachte Fotos von der Weihnachtsfeier beim Vogel mit. Ich sah unvorstellbar Scheiße aus, wie die Wurst in der Pelle in meinem braungeringelten Pulli, mit gespreizten Spinnenfingern beim Oktavengreifen und mit Schamesröte im Gesicht.

Mama klebte das Foto trotzdem in mein Album: »Später wirst du mir nochmal dankbar sein dafür.«

In Chemie wurden hektographierte DIN-A4-Blätter rumgereicht, mit lilaner Schrift, die nach Putzmittelschrank stanken. Worin unterscheiden sich Elementmoleküle von Verbindungsmolekülen? Wie kann man Bleichlorid in die Elemente Blei und Chlor zerlegen? Was benutzt man als Reagens auf Kohlendioxid?

Farbkreis und Zirkeltraining. Schule war was für Gehirnamputierte.

Für meinen Besuch bei Axel Jochimsen gab Mama mir eine Packung After Eight für Axels Mutter mit, was mir peinlich war. After, lat. Anus, die Öffnung des Mastdarms, stand in Renates Volksbrockhaus, aber Axels Eltern waren fast noch größere Ferkel als Axel und rissen über alles, was man sagte, einen säuischen Witz. Für Deutsch hatten wir ein Gedicht auswendig lernen sollen, und Axel deklamierte das im Wohnzimmer: »So ging es viel Jahre, bis lobesam Herr von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam. Er fühlte sein Ende. ’s war Herbsteszeit«, und weiter kam er nicht, weil sein Vater dazwischenrief: »Er fühlte sein Ende? Wassen das für ’n Schweinigel?«

Auf dem Dachboden schossen wir mit Axels Luftgewehr auf Papierscheiben. Ganz schön schwer, so ein Schießprügel, wenn man den halten mußte.

Von seiner Mutter wurde Axel immer dazu aufgefordert, mir seinen bunten Teller hinzuhalten. »Anbieten, Axel, anbieten!« Axels Eltern unterhielten sich dann über irgendeinen Zuhälter, den sie nicht leiden konnten. »Zuhälter, pah«, sagte Axels Vater, »das einzige, was der zuhält, ist sein Portemonnaie!« Und als wir schlafen gingen, rief er zum Abschied: »Macht’s gut, ihr zwei, aber nicht zu oft!«

Als Brotaufstrich gab es morgens Flora-Soft, und weil Axel und seine Eltern katholisch waren, stand bei denen noch immer das Kreidegeschmier vom Tag der Heiligen Drei Könige an der Tür. 19+M+C+B+74. Das gehörte so zu den Sitten der Katholiken.

Das Geld, das ich von Weihnachten übrig hatte, reichte für eine Single. Freddy Quinn: Michael und Robert. Das waren zwei Legionäre. Doch keiner weiß, wo sie geblieben sind, und über der Wüste, da weht der Wind! Wenn ich meine Singles hören wollte, mußte ich immer erst Renate fragen, weil bei der der Plattenspieler stand.

Zum 16. Geburtstag kriegte Volker von Oma Schlosser ein Taschenbuch über Albert Schweitzer und von Onkel Walter zwanzig Mark: »Was sehen meine entzündeten Augen!«

Bei Quelle kaufte Volker sich einen Expander mit vier gelbroten Strängen, zur Kräftigung der Oberarmmuskulatur. Bizeps und Trizeps.

Die Bedankemichbriefe tippte Volker im Zwei-Finger-Adler-Suchsystem auf Mamas Schreibmaschine.

Aus Jux und Dollerei hatte Mama ein Karnevalslied verfaßt und es der Narrenzunft Gelb-Rot e.V. geschickt und dazugeschrieben, daß sie als Verfasserin nicht genannt zu werden wünsche. Das Lied sollte dann öffentlich gesungen werden, bei einer Prunksitzung in der Rhein-Mosel-Halle. Als Honorar hatte Mama zwei Ehrenkarten gekriegt, und ich durfte mit, weil sonst keiner Lust dazu hatte, auch Papa nicht.

Die Reden und die Schrummtata-Musik fand Mama ziemlich primitiv, aber wir waren nur gekommen, um ihr Lied zu hören, und nach fast zwei Stunden kam es endlich an die Reihe: Am Deutschen Eck herrscht Fröhlichkeit, da wird so gern gelacht, das hat man schon zur Römerzeit gerade so gemacht! Wo kann es so romantisch sein und dennoch so modern? Wo hat man Rhein- und Moselwein in froher Runde gern? In Kowelenz, in Kowelenz, da möcht’ ich immer bleiben, die Stadt, die hat, die hat sowas, das kann man nicht beschreiben! Und allzumal im Karneval kann gar nichts schöner sein – als Kowelenz, als Kowelenz, als Kowelenz am Rhein!

Es gab tosenden Beifall dafür, und Mama hätte sich ruhig zu erkennen geben können als Verfasserin, aber sie wollte nicht, weil sie in Wirklichkeit die Schnauze voll hatte von Koblenz und das Lied von vorne bis hinten gelogen war.

Beim Nachholspiel in Braunschweig siegte Gladbach klar und deutlich. 0:1 Kulik (12., abgefälscht von einem Braunschweiger), 0:2 Jensen (15.), 1:2 Danner (34., Eigentor), 1:3 Merkhoffer (68., Eigentor, ätsch). Jetzt war Gladbach auf dem vierten Platz.

Am Montag stand was über die Prunksitzung in der Rhein-Zeitung: Singe, wem Gesang gegeben, meinen die Gelb-Roten immer. Deshalb sorgen sie nicht nur für viel Geschunkel im Saal. Sie haben auch Hofsänger. Unter der Leitung von Walter Goß hoben sie in diesem Jahr sogar ein neues Koblenzer Karnevalslied aus der Taufe. Es heißt ganz einfach »In Kowelenz«. Wieso der Verfasser nicht genannt werden wollte, wurde nicht gesagt. Die Musik schrieb Walter Goß.

Da hätte auch Mamas Name stehen können.

Beim Nachholspiel gegen Schalke siegte Gladbach durch ein Tor von Heynckes mit 1:0 und wurde Herbstmeister, drei Tage vor dem Beginn der Rückrunde.

Ich wollte auch mal wieder spielen, egal ob auswärts oder zuhause, aber weil es so kalt war, kamen schon immer nur vier oder fünf Mann zum Training, und das reichte nicht. Es wollte auch nie einer Torwart sein.

Grün-Weiß Vallendar war ein Pennerverein. Den Durchbruch würde ich wohl erst beim SV Meppen schaffen.

Ärgerlich wäre es, wenn ich mit dem SV Meppen in die Bundesliga aufstieg und gegen Gladbach spielen mußte, bevor die mich selbst unter Vertrag genommen hatten. Aber vielleicht ließen die ja Talentspäher ausschwärmen, die sich nicht zu schade waren, nach Meppen zu fahren und sich die D-Jugend anzukucken. Oder die C-Jugend.

Auf dem Mallendarer Berg hatte sich noch kein Talentspäher blicken lassen. Da standen nur Opas am Spielfeldrand, die den Ball, wenn er ins Aus gekullert war, so doof zurückschossen, daß man weit hinterherwetzen mußte. Wenn das Talentspäher waren, mußten das Verkleidungskünstler sein wie Fantomas.

Im Halbjahreszeugnis hatte ich Vieren in Geschi und Reli und dafür Zweien in Deutsch, Betragen, Französisch und Sport. Und eine Eins in Mitarbeit. Das waren glatte drei Mark, die ich aus Mama aber regelrecht rausquälen mußte.

Irgendwann würde ich auf dem Boden mal nach Mamas eigenen Zeugnissen suchen. Was die wohl selbst für Noten gehabt hatte.

Früher war es aber auch viel schwerer gewesen in der Schule, nicht so wie heutzutage, wo Renate mit ihrer Klasse zum Skiurlaub nach Innsbruck fahren durfte.

Das Auswärtsspiel gegen den HSV ging unentschieden aus. 0:1 Jensen (55.), 1:1 Nogly (66.). Gladbach war aber noch Erster, punktgleich mit Kickers Offenbach und Hertha BSC.

Erwachsen war man, wenn man bei der Tagesschau Bier trank. Auf meinen Wunsch hin goß Mama mir einmal schon bei der Reklame von Papas Bier einen Schluck in ein eigenes Glas.

Bonduelle ist das famose Zartgemüse aus der Dose.

Als Papa reinkam, nahm er mir das Glas weg. Das sei ja wohl nicht erforderlich, daß hier schon die Säuglinge mit dem Biersaufen anfingen!

Das Bier hatte bitter geschmeckt, aber ich war beleidigt. Immer machte Papa Stunk, und nur unter der Woche, wenn er in Meppen war, konnten wir einigermaßen in Frieden leben.

Unglücklich verlief das Nachholspiel im DFB-Pokal gegen Köln. 1:0 Henyckes (13.), 2:0 Wimmer (30.), 2:1 Flohe (31.), 3:1 Simonsen (34., Foulelfmeter), 3:2 Konopka (35.), 3:3 Flohe (39., Foulelfmeter), 3:4 Neumann (44.), 3:5 Müller (60.).

Nach dieser Pleite mußte Gladbach in der Bundesliga alles geben. Das nächste Spiel ging gegen den Tabellenvierten, Eintracht Frankfurt. Das war weiß Gott keine leichte Aufgabe, und ich saß nägelkauend vorm Radio, aber Gladbach siegte souverän. 1:0 Kulik (24.), 2:0 Simonsen (33.), 3:0 Heynckes (40.). Mama verbat sich mein Jubelgeschrei, aber leises Jubeln war halt noch nicht erfunden, so wenig wie kaltes Kochen.

In Innsbruck war Renate mit Zirbengeist abgefüllt worden und hatte aus der Seilbahn gekotzt, aber das brauchten Mama und Papa nicht zu wissen.

Zum Fernsehturm wollte Michael Gerlach nicht mit. Erstens sei er am Wochenende mit der ganzen Familie zur Bembermühle gewandert, zwotens müsse er noch Geschirr abtrocknen und drittens sehe es nach Regen aus. Dabei sah’s äußerstenfalls nach Nieselregen aus, und wir waren ja nicht aus Zucker.

Ich ging rein und versuchte, Michael zu überreden, aber der wollte und wollte nicht. Zu Mittag hatte es bei denen Sauerkraut gegeben, das roch man noch.

Bis zum Attila könnten wir doch wenigstens wandern und dann neu überlegen, schlug ich vor, aber auch davon wollte Michael nichts wissen. Er verzog sich in sein Zimmer und ließ mich auf der Treppe sitzen.

Bei Gerlachs waren die Pantoffeln sämtlicher Familienmitglieder hinten runtergetreten, weil alle, selbst Michaels Vater, zu faul waren, sich die Pantoffeln ordentlich anzuziehen.

Eine Weile glotzte ich noch die Glasbausteine über dem Heizkörper an. Weiße und gelbe, grüne und blaue. Einer war rot.

Michael kam nicht wieder runter. Ich zog von dannen und drückte die Zunge in die Kuhle zwischen Unterlippe und Gebiß, was mein Geheimrezept gegens Weinen war. Erst zuhause, in meinem Zimmer, flennte ich los.

Nie mehr wollte ich mit dem Mistkerl was zu tun haben. Der konnte mich kreuzweise. Der Fall war für mich erledigt.

Ich würde schon wieder andere Freunde finden, sagte Mama, und es sei noch nicht aller Tage Abend. Aber Michael Gerlach war halt mein bester Freund gewesen, und wenn der schon so Kacke war, wollte ich auch keine anderen mehr haben.

Im Bus hielt er mir morgens wie gewohnt den Platz neben sich frei, aber ich setzte mich woanders hin, und in Koblenz stieg ich schon am Zentralplatz aus. Wenn Michael dachte, daß ich ihm verziehen hätte, war er auf dem falschen Dampfer.

In Katche sabbelte die Frischke über die Dreieinigkeit, und ich mußte mir immer Mühe geben, nicht in Michaels Richtung zu kucken. Wir sollten uns mal einen Hürdenläufer vorstellen, der auch im Weitsprung und im Kugelstoßen gut sei. So ähnlich sei das mit der Dreieinigkeit von Gott, Jesus Christus und dem Heiligen Geist.

Wenn ich nach Katche nicht als erster gehen konnte, schlug ich Umwege ein, weil ich Michael Gerlach auch von hinten nicht mehr sehen wollte.

Dann gab es auch noch in der Schule Ärger. »Bei den Verhandlungen über die Oder-Neiße-Grenze hat sich unsere Regierung ja ganz schön einseifen lassen vom Osten«, sagte Sport-Erdkunde-Meier, und als ich Mama das erzählte, war sie außer sich. Das sei ja wohl die Höhe, Schulkinder politisch aufzuhetzen, und sie rief den Direktor an.

Mama setzte sich immer durch, auch wenn ich einen Western kucken wollte und sie lieber Task Force Police, aber wenn ich jetzt in Erde auf Vier oder auf Fünf absackte, hatte Mama sich das selbst zuzuschreiben.

In der Bundesliga konnte Gladbach wieder einen hohen Auswärtssieg verbuchen, gegen Tennis Borussia. 0:1 Heynckes (27.), 1:1 Stolzenburg (33.), 1:2 Heynckes (50.), 1:3 Bonhof (68.), 1:4 Heynckes (88.).

Im Hobbyraum hatte Papa einen Teil seiner Eisenbahn aufgebaut und ließ die eine Lok mit einer brennenden Zigarette im Schornstein fahren. Auch Mama sollte sich das mal ankucken, aber sie hatte einen Rochus auf die ganze Eisenbahn, weil es noch so viel im Haus und im Garten zu tun gab, daß keine Zeit war für solchen Mumpitz, und dann wurde wieder mit den Türen geknallt, und der Hobbyraum blieb tagelang zugeschlossen, damit wir nichts an der Eisenbahn kaputtmachen konnten.

Volker sammelte jetzt Briefmarken, und Renate hatte in Koblenz auf dem Zentralplatz Genscher gesehen.

In Kaiserslautern hatte Gladbach die Nase vorn: 1:0 H. Toppmöller (59., Eigentor), 2:0 Simonsen (72.), 3:0 Heynckes (90.). In der Woche darauf zog Stielike sich beim Warmlaufen in Duisburg eine Zerrung zu, und Gladbach hatte einen schweren Stand. 0:1 Bonhof (4.), 1:1 Bücker (83.). In der 70. Minute hatte Kleff einen Elfer gehalten.

Es wurde eng an der Tabellenspitze. Hertha BSC hatte den VfB Stuttgart mit 4:0 geschlagen und war jetzt mit 30:14 Punkten bloß noch einen Punkt hinter Gladbach (31:13).

Einmal drehte ich im Bus an der Kurbel hinten und verstellte die Liniennummer, und der Busfahrer sprang fast im Dreieck: »Mit dir fahr isch Schlidden! Schlidden fahr isch mit dir!«

Im UEFA-Pokal-Viertelfinalspiel gegen Banik Ostrau glückte Jupp Heynckes in der 51. Minute ein schönes Kopfballtor. Im großen und ganzen konnte man nicht klagen als Deutscher. Köln – FC Amsterdam 5:1, Bayern München – Ararat Erewan 2:0. Nur Hamburg hatte verschissen: Juventus Turin – HSV 2:0.

Ich sollte was in Renates altes Poesiealbum schreiben, das sie wieder ausgebuddelt hatte. Wiebke hatte schon was reingepinselt: Gibt Gott Häslein, so gibt er auch Gräslein.

In das Poesiealbum einer Klassenkameradin sollte Papa mal den Merksatz geschrieben haben: Lebe, wie du, wenn du stirbst, wünschen wirst, gelebt zu haben. Diese Seite sollte das betreffende Mädchen dann aus dem Album rausgerissen und sie Papa vor die Füße geschmissen haben, mit den Worten: »Wie du, wie die, wenn die! Das ganze Album hast du mir kaputtgemacht!«

Katche fiel aus, weil die Frischke Grippe hatte. Das stand auf einem Zettel, der an der verrammelten Tür vom Gemeindehaus hinter der Kirche hing. Ich war froh, aber ich hätte mir den ganzen Weg nach Vallendar sparen können, wenn die Frischke bei uns angerufen hätte, die dumme Nuß.

Auf dem Heimweg kam mir Michael Gerlach entgegen. Auch das noch. Er ging immer weiter auf mich zu, und es gab keinen Seitenweg mehr zum Ausweichen.

»Katche fällt aus«, sagte ich, als wir uns gegenüberstanden.

Das sei ja fast zu schön, um wahr zu sein, sagte Michael, und wir gingen zusammen durchs Wambachtal zurück. Gerlachs hatten sich einen Wellensittich zugelegt, den ich mir noch ansah. Der pickte immer nach einem kleinen Spiegel in seinem Käfig.

Gegen Rot-Weiß Essen spielte Gladbach nur unentschieden. 1:0 Heynckes (14.), 1:1 Wörmer (25.). In der Torjägerliste lag Heynckes mit 17 Toren gleichauf mit Sandberg. Danach kamen Gerd Müller und Dieter Müller (je 14), Fischer (13), Kostedde und Balte (12) sowie Burgsmüller, Lippens, Simonsen, Ohlicher, Geye, Hölzenbein und Stolzenburg (11).

Wenn Michael eine Stunde mehr hatte, pflanzte ich mich auf dem Schulhof vom Max von Laue auf eine Bank hin und las den Kicker oder kuckte den Idioten zu, die da freiwillig Basketball spielten. Blöder als Basketball waren nur noch die Sportarten Skispringen und Dressurreiten, und am blödesten war, wie sich die Waltons unterhielten, die jetzt sonntags abwechselnd mit Bonanza liefen: »Elizabeth, würdest du mir den Vanille-Extrakt geben?« Wenn das der Wilde Westen war, wollte ich lieber in Koblenz bleiben.

Am ersten Osterferientag übte Renate im Garten ihre Reifenkür fürs Sportabitur und mußte sich vom rasenmähenden Walroßfilius anstarren lassen, der Renate auch was zurief von wegen mal ’n Täßchen Kaffee trinken gehen zusammen, und sie mußte dem verklickern, daß sie bereits in festen Händen sei.

Abends spielte Deutschland gegen England, in London, auf nassem, matschigem Boden, ohne Dietz, und Heynckes wurde erst in der 70. Minute für Kostedde eingewechselt, und das Ergebnis war dann auch danach. 1:0 Bell (26.), 2:0 Macdonald (66.). Nie und nimmer hätte ich vorm eigenen Strafraum so riskant quergepaßt wie Bonhof und Körbel.

Papa brachte Wiebke und mich nach Jever. Auf dem Fernsehgerät stand eine Vase mit Weidenkätzchen, und an der Wand hing ein wertvolles Ölgemälde, das Opa darstellen sollte, von Arthur Eden Sillenstede gemalt, aber das hatte nicht viel Ähnlichkeit mit Opa. Die Augen waren falsch, das Kinn war viel zu dick, und Opas Kopf war nicht so eckig wie auf dem Bild.

Daneben hing ein Wappenteller, den Opa 1974 für seine Verdienste als Ortsbeauftragter der Lebensabendbewegung gekriegt hatte.

Wow. Ein Teller für zum An-die-Wand-Hängen!

In den Schloßgarten ging Gustav nur einmal mit. Er hatte sich in Göttingen als Studiosus eine Wampe angefressen oder angesoffen, und wenn er nicht für sein Jurastudium ochste, saß er vorm Fernseher, mit dem Pfeifenwagen neben der Sessellehne. Drei Dinge braucht der Mann. Gustav rauchte aber lieber Hickory Hill als Stanwell. In Reserve hatte er auch eine Tabaksdose, auf der ein Bobby abgebildet war. Exclusiv de Luxe.

Zum Speien fand Gustav alle Politiker von der SPD und besonders Horst Ehmke. Gustav war für die CDU. In der Bundesliga war er neutral. In Hannover hatte er im Niedersachsenstadion das WM-Spiel Holland gegen Uruguay gesehen, und da waren ihm die holländischen Schlachtenbummler auf den Zeiger gegangen mit ihrem Gebrüll: Oranje went de Wereld-Cup …

Über Fußball wußte Gustav alles, auch über den Bundesligaskandal, wie Tasmania Berlin die Lizenz entzogen worden war, und über das Wembley-Tor, das Deutschland 1966 den Sieg in der Weltmeisterschaft gekostet hatte, obwohl der Ball nur von der Latte auf die Torlinie und dann ins Feld zurückgeprallt war.

Schön war es, in Gustavs vielen Fußballbüchern zu schwelgen. »Die fangen immer bei Adam und Eva an«, sagte er, und das stimmte. Eins begann mit einem Ausspruch des chinesischen Dichters Li Yu (50–136 n. Chr.): Ein runder Ball und ein viereckiges Tor seien Symbole für Yin und Yang. Der Ball gleiche dem vollen Mond, wenn die beiden Seiten sich begegnen.

Die Großen im Tor. Gordon Banks, Gyula Grosics und Lew Jaschin, der Stürmerschreck, von Autogrammjägern umlagert. Heiner Stuhlfauth, nach dem in Nürnberg eine Straße benannt worden war, Toni Turek, der Fußballgott, Hans Tilkowski, der Mann ohne Nerven, und Petar Radenkovic vom TSV 1860 München: An den Armen hängen Hände vom Format mittlerer Bratpfannen.

Sepp Maier, fangsicher im wildesten Schlachtgetümmel.

Fußballkanonen – Fußballasse. Die Großen im Sturm. Ihr Ruhm klingt fort in Palästen und Hütten, er überspannt Ozeane und Kontinente.

Sir Stanley Matthews. Von der englischen Königin zum Ritter geschlagen. Beherrschte als Rechtsaußen alle Tricks der Körpertäuschung und spielte noch als alter Mann, mit vierzig Jahren, für die englische Nationalmannschaft.

Oder Ademir. Oder George Best, der einmal einen Schiedsrichter mit Schlamm beschmissen hatte. Oder Bimbo Binder, der Freistoßspezialist: 1006 Tore!

Vor entscheidenden Spielen hatte sich Bobby Moore nie rasiert, so daß er 1966 unrasiert der englischen Königin gegenübertreten mußte.

Bobby Charlton, 106 Länderkämpfe. Jahreseinkommen über 100000 Mark.

Eusebio von Benfica Lissabon. Acht Geschwister. Hatte mit 15 sein erstes Paar Schuhe bekommen. Torschützenkönig der WM 1966. Der schwarze Panther. Den mußte man auch vergöttern, so wie Just Fontaine, Francisco Gento, Sándor Kocsis und die schwarze Perle Pele. Der sollte seine ersten Fußballschuhe im Tausch für eine Holzeisenbahn bekommen haben und hatte schon mit 17 Jahren bei der WM in Schweden mitgespielt.

Ferenc Puskás, der Major unter den Csárdásfürsten. Enkel des schwäbischen Einwanderers Franz Purzel. Schoß mit links, genau wie ich. Konnte Bällen Effet geben und hätte es 1954 verdient gehabt, als Weltmeister vom Platz zu gehen. Danach hatte Puskás für Real Madrid gespielt und war 1960, 1961, 1963 und 1964 Torschützenkönig geworden. Vier von sieben Toren hatte er allein im Europapokalfinale am 18. Mai 1960 in Glasgow gegen Eintracht Frankfurt geschossen. Die anderen drei Tore für Real Madrid hatte Alfredo di Stefano beigesteuert. Im Garten von di Stefanos Villa stand ein Fußball aus Marmor auf einem Sockel, mit den eingemeißelten Worten: Dir verdanke ich alles.

Aber auch die Deutschen konnten sich sehen lassen. Helmut Rahn, genannt der Boß, oder Morlock, Posipal, Turek, Liebrich und Schäfer. Max Morlock hatte rund 700 Tore für den 1. FC Nürnberg geschossen! Und dann Fritz Walter oder Uwe Seeler erst als Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft. Als Seeler 1965 die Achillessehne gerissen war, hatte man den Knall noch unterm Tribünendach gehört, und bei der WM in Mexiko hatte Seeler ein Tor mit dem Hinterkopf erzielt. Oder Gerd Müller: Der hatte als Sechzehnjähriger für den TSV Nördlingen einmal 197 Tore in einer Saison geschossen, davon 17 in einem einzigen Spiel. Ein Goalgetter mit untrüglichem Torinstinkt.

Die ausländischen Vereine hatten allerdings fast alle elegantere Namen als die deutschen. Arsenal London, Roter Stern Belgrad, Panathinaikos Athen, Slovan Preßburg, Dukla Prag, Tottenham Hotspur oder Olympique Marseille, das hörte sich doch anders an als FC Schweinfurt 05 oder SpVgg Fürth.

Überhaupt die Namen. Matthias Sindelar, Stan Libuda, Josip Skoblar, Sandro Mazzola und Giuseppe Meazza (355 Tore für Inter Mailand und zweimal Weltmeister). Über Luigi Riva hieß es in einem der Bücher, daß er schnelle Autos und die Einsamkeit liebe und jeden Tag zweihundert Liebesbriefe kriege.

Weil Günter Netzer so lange Haare hatte, sollte Alan Ball ihm 1972 beim Viertelfinale in der Europameisterschaft im Wembley-Stadion immer zugerufen haben: »Na komm, deutsches Frollein!« 1971 hatte Gladbach Inter Mailand im Europapokal der Landesmeister mit 7:1 geschlagen, aber das Ergebnis war annulliert worden, weil irgendwer dem Italiener Boninsegna eine Getränkebüchse an den Kopf geworfen hatte, und nach dem Wiederholungsspiel war Gladbach ausgeschieden. Fairplay war was anderes.

Gustav zeigte mir auch sein Autogrammkartenalbum. Billy Mo, Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Peggy March, Otto von Habsburg, Willy Millowitsch, Bruce Low, Wolfgang Overath, Ernst Mosch, Esther und Abi Ofarim, Vico Torriani, Max Greger, Hans-Joachim Kulenkampff, Golda Meir und Hellmut Lange, der Lederstrumpf gespielt hatte. Sogar Johnny Weismüller, Franz Beckenbauer und die Beatles waren da vertreten.

Autogramme sammeln wollte ich jetzt auch. Omas Putzfrau, die ich um ihr Autogramm bat, wunderte sich und fragte dreimal nach, bevor sie den Staubsauger ausstellte und ihren Namen auf das hingelegte Papier schrieb.

Schriftproben konnten auch in Kriminalfällen wichtig sein, wenn Erpresser Briefe geschrieben hatten.

Um sich was leisten zu können, hatte Gustav mal in der Baumschule Meyer gearbeitet, an der man vorbeikam, wenn man nach Jever reinfuhr. Baumschule. Als ob da die Bäume Unterricht kriegten.

In Sesamstraße fand er Oskar, Grobi und das Krümelmonster am besten. Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm.

Den Trick, den Kopf in den Nacken zu legen und so zu tun, als schlucke man ein Messer, das man aber bloß an der anderen Seite vom Hals nach unten schiebt, kannte Oma noch nicht, und als ich ihr den Trick mit dem Brotmesser vormachte, rief sie: »O Junge, tu dir nichts!« Für solche Darbietungen war Oma immer das dankbarste Publikum.

Wenn sie keine Kreislaufprobleme hatte, nahm sie mich zum Einkaufen mit. Beim Schlachter wurde mir Fleischwurst angeboten, die ich aber nicht mochte, weil ich noch immer an die Wurst aus dem Fleischsalat auf der Horchheimer Höhe denken mußte. Die Einkäufe packte Oma in ihren Kartoffelmercedes.

Einmal gingen wir über den Friedhof. In einem Grab lagen Papas Urgroßeltern und Papas Opa. Den Grabstein hatte Papa selbst entworfen. Papas Opa war Sanitätsrat gewesen. Papas Oma hätte da auch im Grab liegen sollen, aber die war auf der Flucht aus Ostpreußen gestorben.

Ich hatte für eine Single gespart, aber Platten konnte man in Jever nur in einem kleinen Elektrogeräteladen kaufen, und wenn man sich die ankucken wollte, wurde man gleich angepupt: »Darf’s was sein, junger Mann?«

Die konnten sich da nicht vorstellen, daß ein Purks wie ich Geld in der Tasche hatte.

Meine Wahl fiel auf eine Single von Tony Christy. Don’t go down to Reno, stay a little bit longer. Auf der B-Seite war der Song Sunday Morning. Ich hörte mir die beiden Seiten auf Gustavs Plattenspieler an und erfuhr erst später von Mama, was es mit dem Song auf der A-Seite auf sich hatte. In Reno konnten sich Ehepaare billig scheiden lassen, und Tony Christy wollte seine Frau dazu auffordern, sich das nochmal zu überlegen.

Im UEFA-Pokal-Rückspiel hatte Banik Ostrau gegen Gladbach das Nachsehen. 1:0 Micka (10., Eigentor), 2:0 Heynckes (46.), 3:0 Vogts (50.), 3:1 Hudecek (67.). Der HSV war nach dem 0:0 gegen Turin leider ausgeschieden. Dafür war Amsterdam gegen Köln mit 2:3 untergegangen, und Ararat Erewan konnte gegen Bayern München nur ein 1:0 rausholen, was nicht reichte. Als das Tor fiel, kam Oma gerade vom Klo zurück und wurde von Gustav angebrüllt: »Geh raus! Du bringst Unglück!«

Die Pohlekinder wollten mich beim Go-Cart-Fahren im Garten als Schiedsrichter haben, aber ich hatte keine Meinung.

Das Spiel Bochum – Gladbach ging 0:0 aus, und nach einem 2:0-Sieg über Wuppertal rückte Hertha bis auf einen Punkt an Gladbach ran. Nur einen Punkt dahinter lagen jetzt der HSV und Kickers Offenbach.

Jetzt kam alles auf Gladbachs Heimspiel gegen Fortuna Düsseldorf an, und das verlief bestens. 1:0 Jensen (11.), 2:0 Heynckes (40.), 3:0 Heynckes (48.), 3:1 Hesse (90.). Und den Verfolger HSV hatte Köln mit 4:0 geschlagen.

Bei Tolksdorff kaufte ich mir Die Johan Cruyff Story von Ulfert Schröder. Da stand drin, daß Cruyff als Junge freiwillig die Schuhe der Spieler von Ajax Amsterdam geputzt hatte.

Und so sah meine Weltelf aus:

Maier

Beckenbauer

Netzer, Overath, Puskas, Bobby Moore

Eusebio, Pele, Cruyff, Müller, Garrincha

Ganz ohne Verteidiger. Auf der Reservebank hätten Sir Stanley Matthews, Fritz Walter und Helmut Rahn gesessen. Oder Schnellinger. Als Gustav mir seinen Uwe-Seeler-Starschnitt aus dem Kicker schenkte, nahm ich Seeler nachträglich rein in die Weltelf und Bobby Moore wieder raus. April, April.

Nach den Osterferien spielte ich auf dem Pausenhof Fußball mit einem Brötchen, das da im Dreck gelegen hatte, aber dann hielt mich einer von den älteren Schülern am Arm fest und rief: »Du hast wohl nicht mehr alle Eier im Sack!«

Ein guter Spruch. Gesagt wurde jetzt auch oft: »Das schockt alles in die Ecke.«

In Sport spielten wir Sitzfußball, und mir gelang ein Torschuß, volley und unhaltbar, den ich abends im Hobbyraum nachspielte. Mehr denn je war es mein Plan, als Kapitän der Nationalelf 1982, 1986, 1990, 1994 und 1998 die Weltmeisterschaft zu gewinnen und in jedem Endspiel einen Hattrick hinzulegen, drei Tore nacheinander in einer Halbzeit.

Michael Gerlach hatte ein Skateboard gefunden. Darauf übten wir auf der abschüssigen Straße vorm Schwimmbad, und einmal fuhr Michael gegen das Geländer, fiel hin und war eine Minute lang ohnmächtig. Danach gingen wir ins Wambachtal und versenkten das Skateboard im Wambach, wo er am tiefsten und am strudeligsten war, damit sich nicht noch irgendein anderes Kind an dem Ding vergriff und womöglich tödlich verunglückte.

In der Bundesliga machte Gladbach Offenbach lang. 1:0 Heynckes (18.), 2:0 Simonsen (19.), 2:1 Kostedde (24.), 3:1 Wittkamp (45.), 3:2 Schmidradner (68.), 4:2 Simonsen (79., Elfmeter), 5:2 Heynckes (87.). Heynckes führte jetzt auch die Torjägerliste an, mit 21 Treffern, Gladbach war seit 16 Spielen ungeschlagen und hatte 37–15 Punkte, und Hertha war von Bremen 4:0 geschlagen worden und folgte in der Tabelle mit schlappen 34–20 Punkten.

Im Europapokal der Landesmeister holte Bayern München im ersten Halbfinalspiel auswärts gegen St. Etienne ein 0:0 raus. Tags darauf empfing der 1. FC Köln Borussia Mönchengladbach zum Hinspiel im UEFA-Pokal-Halbfinale und bekam Gladbachs legendäre Auswärtsstärke zu spüren: 0:1 Simonsen (23.), 0:2 Danner (34.), 1:2 Löhr (52.), 1:3 Simonsen (60.).

In der Rhein-Zeitung stand am Wochenende eine Anzeige, die Mama und Papa aufgegeben hatten:

MODERNES, GROSSZÜGIGES EINFAMILIENHAUS IN VALLENDAR, RUHIGE HÖHEN- U. AUSSICHTSLAGE, ZU VERMIETEN, SPÄTER GGF. ZU VERKAUFEN. WOHNFLÄCHE ÜBER 200 QM, NOCH AUSBAUFÄHIG, 2 BÄDER, 3 WC, HOBBY-RAUM, DOPPELGARAGE, ÖL-ZH, GROSSER GARTEN. ZUSCHRIFTEN UNTER ZK 2087 AN D. RZ, 54 KOBLENZ, POSTFACH 1540.

Das Nachholspiel gegen Gladbach riß Bayern in der letzten Minute noch rum. 0:1 Kulik (80.), 1:1 Müller (90., Foulelfmeter).

Zu meinem Geburtstag wollte ich auch den Jochimsen, den Kowalewski und den Schmitz wieder einladen, aber dann kriegte ich einmal mit, wie die über mich herzogen auf dem Jungsklo im Eichendorff. Die wußten nicht, daß ich da am Kacken war, während sie am Waschbecken mit Wasser rumspritzten und sich Sachen über mich erzählten. »Soll ich mal vormachen, wie der sich die Zähne putzt?« fragte der Jochimsen und gurgelte rum, und dann brüllten alle drei vor Lachen, die Ärsche.

Mittags war der Bus schon am Zentralplatz so voll, daß ich hinten auf den Türstufen hocken mußte. Durch eine Ritze unten war beim Halten vor der Ampel am Max von Laue ein graues, breitgefahrenes Stück Kaugummi zu sehen. Diese grauweißen Sprenkel sah man jedesmal, wenn der Bus anhielt. Alle Straßen waren mit Kaugummis vollgerotzt. Ich wollte mir die Muster einprägen und ab jetzt jeden Tag hinten im Bus vor der Tür sitzen und angesichts der Sprenkelmuster feststellen, wo wir waren. Dann müßte man mir nur irgendeinen Quadratzentimeter der gesamten Busstrecke von Koblenz bis zum Mallendarer Berg zeigen, und ich könnte wie aus der Pistole geschossen sagen: »Das ist eine Stelle sechs Meter vor der Kreuzung in Urbar.« Vom Kucken durch die Ritze wurde mir aber schon in Ehrenbreitstein übel, und ich gab den ganzen Plan wieder auf.

Das Schlagerspiel gegen Gladbach gewann Hertha BSC mit 2:1, vor 91000 Zuschauern, was Bundesligarekord war.

Die Tabellenspitze sah jetzt folgendermaßen aus:

1. Gladbach 38–18
2. Köln 36–20
3. Hertha 36–20
4. Offenbach 35–21
5. HSV 34–22

Sepp Maier war an dem Wochenende zum 300. Mal hintereinander Torhüter in der Bundesliga gewesen, und Renate rechnete aus, daß sie seit genau 700 Tagen mit Olaf zusammen war.

Auf die Anzeige in der Rhein-Zeitung antworteten zwei Ärzte, ein Landforstmeister, ein Oberbergrat, ein Diplomphysiker, ein Rechtsanwalt, ein Ehepaar und diverse Makler: Sehr geehrter Inserent, für das obige von Ihnen inserierte Objekt habe ich verschiedene ernsthafte Interessenten vorgemerkt. In Erwartung Ihrer geschätzten Rückäußerung verbleibe ich mit freundlichen Grüßen.

Im Rückspiel kriegte Köln von Gladbach wieder was aufs Haupt. 1:0 Danner (48.). Dank der Tore von Beckenbauer (2.) und Dürnberger (69.) konnte dann auch St. Etienne einpacken. Ich hätte nicht viel Lust gehabt, woanders als in Deutschland Fußballfan zu sein, außer in Brasilien.

Zum Geburtstag sollte ich eine neue Hose kriegen, und Mama fuhr mit mir nach Koblenz.

Von einem Geschäft ins nächste. In den Kabinen mußte ich mich immer irre beeilen, fast wie Speedy Gonzales.

»Bist du jetzt bald fertig dadrin?«

Wie lange man als Junge brauchte, konnte Mama sich nicht vorstellen, weil sie Röcke trug und Schuhe ohne Schnürsenkel anhatte. Ich mußte immer erst die Senkel aufknoten, die Gürtelschnalle öffnen und die alte Hose ausziehen, bevor ich in die neue steigen konnte, und meistens riß Mama den Vorhang schon zur Seite, wenn ich im Schlüpfer dastand.

Dann sollte ich auch noch dankbar sein für die neue Hose, und weil ich das nicht war, redete Mama auf der ganzen Rückfahrt kein Wort mit mir.

Zuhause war ein Blauer Brief in der Post. Meine Leistungen in Englisch seien unter ausreichend gesunken, und Papa wurde empfohlen, mit dem Englischlehrer Rücksprache zu halten.

»Jetzt wirst du an die Kandare genommen«, sagte Mama, und ich kriegte eine Woche Fernsehverbot.

Gottlob war Netzer wieder aufgestellt worden bei dem wichtigen Länderspiel in Sofia gegen Bulgarien, aber idiotischerweise nicht Dietz, und es wunderte mich kein bißchen, daß nur ein Unentschieden rauskam. 1:0 Kolev (71., Foulelfmeter), 1:1 Ritschel (75., Foulelfmeter). In der 34. Minute war Hölzenbein für den verletzten Heynckes eingewechselt worden.

Dreizehn Jahre hatte ich jetzt auf dem Buckel. Mein letzter Geburtstag in Vallendar. Ich kriegte Geld wie Heu, eine LP von Reinhard Mey, die Bücher Huckleberry Finn und Rätsel um den unterirdischen Gang, eine Unterhose mit blauen Punkten und einen Pulli. Paßte wie angegossen.

Eingeladen hatte ich bloß Michael und Holger Gerlach. Wir spielten Boccia im Garten, aber eine rote und zwei gelbe Kugeln waren leck und rollten nicht mehr gut.

Mama brachte uns ein Backblech raus mit Streuselkuchen.

Einmal klingelte das Telefon, und Volker brüllte mir zu: »Dein Typ wird verlangt!«

Wenn das jetzt Piroschka gewesen wäre. Es war aber nur Tante Dagmar. »Na, wie fühlt man sich denn so als Dreizehnjähriger?«

Von meinem Geburtstagsgeld wollte ich mir in Koblenz Hanteln kaufen, aber zwei waren mir zu teuer, und ich kaufte nur eine. Die war auch schon schwer genug zu schleppen. Mein Ranzen hatte hinterher eine Delle unten, die nicht mehr wieder rausging.

Die Hantel war aus rotem Gummi oder Plastik und mit irgendwas Schwerem gefüllt, mit Blei oder Beton.

Ich trainierte jeden Tag. Im Liegen die Hantel am ausgestreckten Arm vom Boden aufheben und hochstemmen oder im Stehen zwanzigmal nacheinander erst mit links und dann mit rechts vom Oberschenkel bis unters Kinn heben und dann hochstoßen, bis der Arm durchgestreckt war. Die würden sich noch wundern in meiner Klasse, wenn ich da ankäme mit Muskeln wie so ’n Gorilla.

Als Buch war Huckleberry Finn einsame Spitze, aber wieder anders als im Fernsehen. Da hatten Tom und Huck Muff Potter aus dem Gefängnis befreit, und in dem Buch befreiten sie den Nigger Jim. Man wußte nicht, was richtig war, Serie oder Buch. Genau wie bei Robinson Crusoe. Immer kriegte man verschiedene Schlüsse zu lesen.

Im Kicker stand, daß Heynckes möglicherweise wochenlang ausfallen werde wegen der Oberschenkelzerrung im Länderspiel. Ausgerechnet jetzt, wo die Meisterschale zum Greifen nah war, ganz zu schweigen vom UEFA-Pokal!

Von meinem Blauen Brief war nicht mehr soviel die Rede, seit Renate ihre schriftlichen Abiturnoten nachhause gebracht hatte: Deutsch 3, Englisch 2, Mathe 3, Physik 4.

Das sei auch nicht gerade berühmt, sagte Mama.

Die hätte mal den Zylke als Sohn haben sollen. Das war einer aus meiner Klasse, der nichts als Fünfen und Sechsen schrieb. Seine Arbeiten kriegte der Zylke immer als letzter zurück, weil er der letzte im Alphabet war, und dann hatte er auch noch jedesmal die schlechteste Note. Darauf freute sich schon die ganze Klasse. In Erde hatte der Pauker dem Zylke seine Arbeit einmal mit den Worten »Zylke, Kommentar überflüssig!« vom Pult aus quer durchs Klassenzimmer zugeworfen, und dann hatte der Zylke noch unter der Bank seinen Schwanz rumgezeigt.

Gegen den VfB Stuttgart hatte Gladbach leichtes Spiel. 1:0 Jensen (3.), 2:0 Danner (38.), 3:0 Kulik (53.), 4:0 Bonhof (60.), 5:0 Danner (69.), 5:1 Hadewicz (79.).

Neuer Tabellenstand:

1. Mönchengladbach 40–18
2. Hertha 38–20
3. Kickers Offenbach 37–21
4. Köln 36–22

Das war der Spieltag, an dem Uwe Kliemann (genannt »der Funkturm«) den verletzten Hertha-Kapitän Luggi Müller auf den Armen vom Platz trug. Ich schnitt am Montag das Foto davon aus der Rhein-Zeitung aus und klebte es in mein Bundesligaringbuch, sowohl mit Uhu (hintendrauf) als auch mit Tesa (an den Seiten). Doppelt gemoppelt hält besser.

Als Oma Schlosser zu Besuch war, wollte ich ihr das Ringbuch vorführen, aber sie klappte es gleich wieder zu und redete vom Klavierspielen. »Übst du denn auch fleißig?«

Wegen Oma durfte ich am Dienstag Balduin, der Geldschrankknacker nicht kucken, und das erste Endspiel um den UEFA-Pokal zwischen Gladbach und Twente Enschede konnte ich bloß am Radio verfolgen, weil Oma im Wohnzimmer beim Stopfen und Nähen nicht gestört werden wollte durch die ewige Flimmerkiste.

Wenn ich mal Enkelkinder hätte, würde ich lieber mit denen zusammen Fußball kucken als deren Socken stopfen.

Das Spiel endete 0:0. In der 75. Minute war Del’Haye ins Spiel gekommen. Weshalb Helmut Schön den nicht öfter und früher aufstellte, war mir schleierhaft.

Flammendes Inferno lief jetzt im Kino. Sowas hätte ich auch gerne mal gesehen, statt immer nur die Bilder im Schaukasten.

Gegen Köln schlug Gladbach sich im Müngersdorfer Stadion ganz hervorragend. 0:1 Simonsen (3.), 1:1 Löhr (37., fragwürdiger Foulelfmeter), 1:2 Danner (59.). Tabelle: Mönchengladbach 42–18, Hertha 40–20.

Nur bei Grün-Weiß Vallendar war tote Hose. Ich fragte den Trainer, wann wir wieder ein Spiel hätten, aber der kratzte sich nur an der Backe, wo er eine Warze hatte, und ließ uns Ecken und Elfer üben, und als er krank wurde, fiel auch noch das Training aus.

Am Muttertag schickten wir Mama noch vorm Frühstück auf Schnitzeljagd. Das war Renates Idee gewesen.

Aus dem Eierwärmer fiel Mama ein Zettel in die Hand, und sie sagte: »Nanü?« Auf dem Zettel stand, daß unter dem Don Quichotte im Bücherregal eine Überraschung liege. Da lag aber nur der nächste Zettel: Liebe Mama, wirf doch mal im Hobbyraum einen Blick unters Sofa! Da der nächste Zettel: Hallo Mama, oben in Volkers Zimmer wartet was im Mikroskopkoffer! Und da dann: Na, schon müde? Du hast es bald geschafft! Zieh doch mal in der Garage links an der Wand die Schublade mit den Mutterschrauben auf! Und so weiter, Treppe rauf, Treppe runter, bis Mama schon fast keine Lust mehr hatte.

Am Ende stand auf der Fensterbank im Wohnzimmer eine Schachtel Mon Cherié, für die wir alle zusammengeschmissen hatten, das heißt Wiebke nur zwei Pfennig. Mehr hatte sie nicht erübrigen können.

Bei Spargelcremesuppe mußte ich schon vom Geruch fast kotzen.

Komm, Herr Jesus, sei unser Gast.

Und die Rotzglocken hochziehen.

»Reiß dich zusammen! Oder hol dir ’n Taschentuch!«

Im Kicker stand, daß Netzer verletzt war und am Länderspiel gegen Holland nicht teilnehmen konnte. Für Netzer hatte Helmut Schön Dietmar Danner nachnominiert. Bernard Dietz war wieder nicht im Kader. Bei den Holländern fehlten Cruyff und Neeskens, und so war das ganze Spiel ein trübes Gestocher. 1:0 Wimmer (8.), 1:1 van Hanegem (56.). Wenigstens spielte Uwe Kliemann von Anfang bis Ende mit und war der beste Mann auf dem Platz. Hatte ich doch gleich gesagt.

Renate war Pfingsten zelten gewesen, mit Olaf und noch anderen Typen, irgendwo im Westerwald neben einer alten Silbermine. Spießbraten hatten sie da zubereitet, am offenen Feuer, und der Wind hatte sich immer so gedreht, daß sie den Rauch ins Gesicht gekriegt hatten, und dann waren sie noch Eis essen gewesen, für jeden einen Riesenerdbeereisbecher.

Was Renate schon alles durfte. Oma Schlosser hatte kurz vor Pfingsten angerufen und versucht, den Plan mit dem Zeltlager zu vereiteln, aber aus der Entfernung hatte sie nicht mehr dagegen angekonnt.

Beim zweiten Endspiel in Enschede kriegten die Holländer von Gladbach was auf den Deckel. 0:1 Simonsen (3.), 0:2, 0:3, 0:4 Heynckes (9., 50. und 59.), 1:4 Drost (76.), 1:5 Simonsen (87., Foulelfemeter). Das war der UEFA-Pokal-Sieg, der erste einer deutschen Mannschaft, und an diesem Tag hätte ich was darum gegeben, Jupp Heynckes zu sein. Sonst wäre ich am liebsten entweder Pele oder Muhammad Ali gewesen oder Eddy Merckx. Ich selbst zu sein war aber auch okay, bei allem, was ich noch vorhatte. Ich konnte auch damit leben, daß es keine Ritterturniere mehr gab, bei denen man mit der Streitaxt auf Normannen losgehen oder welche mit der Lanze vom Pferd hauen mußte, so wie Ivanhoe, der schwarze Ritter, der in dem Film am Sonntag im Zweiten immer viel zu lange mit seinem auserkorenen Burgfräulein geturtelt und nicht oft genug gekämpft hatte.

Renate war schon wieder Spießbraten essen, in einem Ort namens Rhens. Ob es da einen Fußballverein gab? Grün-Weiß-Vallendar war ja schon dürftig genug, aber VfL Rhens? Oder FC Rhens 07? Wenn man da was zu werden hoffte, hätte man auch gleich in die Steckdose pissen können.

Grandios war dann am Samstag Gladbachs Heimspiel gegen Wuppertal. 1:0 Simonsen (13., Foulelfmeter), 2:0 Simonsen (18.), 2:1 Berghaus (25.), 3:1 Heynckes (41.), 4:1 Heynckes (51.), 5:1 Simonsen (53.), 5:2 G. Jung (65.), 6:2 Heynckes (88.).

Neue Tabelle:

1. Gladbach 77:38 Tore, 44–18 Punkte,
2. Hertha 53:39 Tore, 40–22 Punkte,
3. Eintracht 84:44 Tore, 39–23 Punkte.

Und Jupp Heynckes stand mit 24 Toren an der Spitze der Torjägerliste.

Es lief alles wie am Schnürchen. Allerdings mußte Gladbach am Samstag auswärts gegen Schalke spielen, und Schalke hatte in dieser Saison noch kein Heimspiel verloren. Der Heimnimbus war ein wichtiger psychologischer Faktor. Aber Gladbach war eine der wenigen Mannschaften mit Auswärtsnimbus, und es konnte ja sein, daß sich die beiden Nimbusse gegenseitig neutralisierten, psychologisch gesehen. Für Gladbach würde ein Sieg bereits die Meisterschaft bedeuten, weil Hertha BSC dann wegen des schlechteren Torverhältnisses nach menschlichem Ermessen nicht mehr an Gladbach rankommen konnte.

Am Montag stand im Kicker, Hennes Weisweiler werde zum Saisonende Gladbach verlassen und zum FC Barcelona gehen. Waren die denn wahnsinnig geworden am Bökelberg? Einen besseren Trainer als Weisweiler konnten die doch mit der Lupe suchen!

Ich verstand aber auch Weisweiler selbst nicht. Gladbach hatte Riesenerfolge und nach dem UEFA-Pokal auch schon fast die Meisterschaft im Sack. Was wollte der Weisweiler jetzt auf einmal in Barcelona? Bloß weil in Spanien alles billiger war als bei uns? Konnte das der Grund sein? Der schnöde Mammon?

Ich hatte so gehofft, mit Weisweiler als Trainer für Gladbach stürmen zu dürfen. Wen die da jetzt wohl hinholten an dessen Stelle? Ob ich Lust hätte, mir von dem was sagen zu lassen, mußte sich erst noch rausstellen. Dabei hatte ich immer fest vorgehabt, als Profi der Borussia die Treue zu halten und niemals ins Ausland zu wechseln, auch bei noch so guten Angeboten nicht, weil ich doch Gerd Müllers Torrekord in der Bundesliga brechen wollte.

Beim Endspiel gegen Leeds United um den Europapokal der Landesmeister schoß Gerd Müller auch wieder ein Tor, das 2:0, aus fünf Metern Entfernung, nach einer Flanke von Jupp Kapellmann, und was störte, war nur Renate, die mit ihrem Abiturzeugnis rumwackelte.

Sie wollte Lehrerin werden, aber vor dem Studium noch nach Birkelbach auf die Hausfrauenschule gehen, um Kochen und Backen zu lernen und wie man Hemden bügelt und Silber putzt. Als junge Frau war da auch Oma Schlosser hingegangen.

Die Nachfolge von Hennes Weisweiler sollte Udo Lattek übernehmen. Das war ein schweres Amt, das sowohl Ehre als auch Verpflichtung war. Darüber mußte sich der Lattek im klaren sein.

Renate hatte Olaf und dessen Eltern zu uns eingeladen, damit Mama und Papa die mal kennenlernten. Von dem Marmorkuchen, den Mama dafür gebacken hatte, durfte man nur abbeißen, wenn man dabei die Luft anhielt, sonst flogen einem die Brösel im Hals rum, und man mußte husten.

Weil Papa schon nach zehn Minuten wieder im Keller verschwunden war, gab es am Abend noch einen lautstarken Streit.

Ich stand mit Wiebke oben an der Kellertreppe. Irgendwann wurde die Garagentür zugeknallt, und Mama kam weinend die Stufen hoch.

»Schert euch ins Bett«, sagte sie bloß und stürmte ins Elternschlafzimmer, das sie von innen zuschloß.

Ob das in anderen Familien auch so war? Und wo Papa wohl schlafen ging. Hinten im Peugeot? Oder auf dem Sofa im Hobbyraum?

Im Juni wollte Renate mit Olaf an die Côte d’Azur fahren und nähte schon Gardinen für Olafs gebraucht gekauften VW-Bus.

»Und mit der alten Schindmähre wollt ihr nach Frankreich?« fragte Papa, als er den VW-Bus zum erstenmal bei uns in der Einfahrt stehen sah, aber Renate kümmerte sich nicht groß darum. Die brauchte nicht mehr nach Papas Pfeife zu tanzen und nahm vielleicht sogar schon die Pille.

Beim Spiel gegen Schalke führte Gladbach die Vorentscheidung über die Meisterschaft herbei. 0:1 Simonsen (35., Foulelfmeter), 0:2 Bonhof (40.), 1:2 Lütkebohmert (50.), 1:3 Heynckes (85.). Das war’s! Geschafft! Gladbach war Deutscher Meister! Daran konnte jetzt keiner mehr rütteln. Die beiden restlichen Spiele waren reine Routine.

Schon erstaunlich, daß alle Mannschaften, denen ich die Daumen drückte, sich die Siegestrophäen holten. Erst die Nationalmannschaft bei der WM, dann Gladbach im UEFA-Pokal, dann Bayern im Europapokal und jetzt Gladbach in der Bundesliga. Das konnte man ja wohl kaum noch als Zufall bezeichnen. Als ob ich ein Glücksbringer wäre.

Udo Lattek übernahm da wirklich eine schwere Hypothek als neuer Trainer, wenn er an Weisweilers Siegesserie anknüpfen wollte. Bis ich selbst die Mannschaft verstärken könnte, würde es ja noch das eine oder andere Jährchen dauern.

An ihrem Geburtstag schoß Wiebke wie ein geölter Blitz auf den Tisch mit den Geschenken los. Die hatte noch gar nicht gerafft, daß sie das alles hier vergessen konnte nach dem Umzug, auch ihre kuchenfressenden Freundinnen, mit denen sie am Nachmittag im Garten rumhopste.

Die Zeugnisse gab’s am Freitag, dem 13. Würg. Ich hatte fünf Zweien, eine Drei und vier Vieren, auch in Englisch, wo ich immer noch keine große Nummer war.

Für das Zeugnisgeld bestellte ich mir beim Tauschdienst die Bilder, die mir für mein Sammelalbum von Sprengel noch fehlten. Vier Mark achtzig hatte das Album gekostet, was verhältnismäßig billig war, aber wenn man das Geld für die Schokoladentafeln mit den Bildern dazurechnete, jede für neunzig Pfennig, war das vollgeklebte Album fast fünfundachtzig Mark wert.

Da hätte mal der Stern was drüber schreiben sollen, unter Wucher der Woche.

Am letzten Schultag den Ranzen in die Ecke zu bollern, darauf konnte man sich schon freuen. Michael Gerlach wollte in seinen Ranzen in den Ferien jedesmal reinfurzen, wenn er furzen mußte.

In Bremen schoß Jupp Heynckes zwei Tore und war damit Torschützenkönig. In der ewigen Liste führte aber immer noch Gerd Müller (281 Tore) vor Heynckes (175), Löhr (143) und Seeler (137). Irgendwann würde dann meine Wenigkeit kommen und aufholen. Da würde sich noch manch einer umkucken.

Abgestiegen waren der VfB Stuttgart, Tennis Borussia und der Wuppertaler SV. Wie beschissen sich die Leute jetzt wohl fühlten, die da wohnten.

Für die Nachbarsfrauen gab Mama einen Abschiedskaffee mit aufgetauter Tiefkühltorte auf der Terrasse und verdonnerte Volker und mich dazu, bloß ja keinen Radau zu veranstalten währenddessen.

Als erste kam Frau Rautenberg. Pünktlich wie die Weihnachtsgans. Weil alle Frauen Blumen mitbrachten, kam Mama kaum zur Besinnung vor lauter Gerenne und Vasengesuche.

Volker schoß mit Papas gutem Fotoapparat zwei Fotos, auf denen dann aber hauptsächlich Kniescheiben und Schienbeine zu sehen waren, und Mama hatte beide Male die Augen zu.

Mit Michael Gerlach war ich viel im Wambachtal. Das würde ich so bald nicht wiedersehen, wenn wir in Meppen wohnten.

Die Tür unserer alten Hütte war mit einem Vorhängeschloß abgesperrt, das wir nicht knacken konnten, und im Wyoming suchten wir noch einmal gründlich nach dem schweinischen Buch, aber das war und blieb verschwunden.

Einmal wollten wir den Flug des Phoenix nachspielen, erst die Bruchlandung in der Wüste und dann das Rumschrauben am Wrack und das langsame Verdursten der Crew, aber als wir einen passenden Platz dafür gefunden hatten, fiel Michael ein, daß eine seiner Schwestern Geburtstag hatte.

Irgendwie machte das Rumstromern im Wambachtal und im Wyoming auch weniger Laune als früher. Als kleine Krötze hatten wir da Indianeraufstand am Wounded Knee gespielt und als Rothäute Bleichgesichter umgenietet. Darauf hatten wir keine Böcke mehr. Aber worauf sonst?

Papa war in Meppen, Mama beim Friseur, Renate an der Côte d’Azur, Volker im Schwimmbad und Wiebke nebenan bei Ute Rautenbergs Geburtstagsfeier.

Ich hatte sturmfreie Bude.

Unter Wiebkes Klappbett lagen Märchenpuzzleteile und ein Buch von Enid Blyton. Hanni und Nanni retten die Pferde. Kaum zu fassen, daß die Frau auch solchen Pipimädchenkram geschrieben hatte.

Links neben dem Schrank stand Mamas Nähmaschinenkoffer und rechts die Bügelmaschine. Wiebke war es scheint’s egal, was bei ihr alles untergestellt wurde, dabei hatte sie das kleinste Zimmer von allen.

Auf dem Schrank rotteten zwei ausgetrocknete Filzstifte ohne Kappen rum, der Hase Mumpe, ein Zeichenblock mit welligen Blättern, eine Häkelnadel und ein Hausaufgabenheft: Auf dem Schlitten sitzen, bergab zu flitzen auf singenden Kufen mit Schreien und Rufen im Sonnenschein, das ist fein! Frau Katzer hatte Figuren zum Ausmalen in das Heft gestempelt: Bambi, Strolchi, Micky Maus, Donald Duck und Pinocchio.

An der klemmenden Schreibtischschublade mußte ich lange ruckeln, aber die Mühe lohnte sich nicht. Am interessantesten war noch das Poesiealbum: Dies schrieb Dir Deine Patentarnte, die Dich vor bösen Taten warnte.

Im Elternschlafzimmer holte ich das Fernglas aus Papas Nachtschränkchen und beäugte durch die Gardine das Dach vom Walroß.

Papas Gürtel und Schlipse innen an der einen Schranktür und in Mamas Frisierkommode Triumphstrumpfhosen, Lockenwickler, Wattebäusche und Büstenhalter. Was Frauen so brauchten. Kölnisch Wasser, Nagellack, Haarnetze, Drei-Wetter-Taft, Gliss-Glanz-Tonic und Atrix-Glyzerin-Handcreme. In den Spiegelflügeln sah ich mir meinen Hinterkopf an.

Ihren Schmuck bewahrte Mama in einer Holzschatulle auf. Was die Klunker wohl wert waren. Tausend Mark oder noch mehr.

Im Flur das Putzmittelkabuff. Besen, Mop, Viledatücher und Scotch-Brite-Schwämme, bei denen man nie die scharfe Seite benutzen durfte. Wozu hatten die die überhaupt?

Ajax Glasrein, Rohrfrei, Imi, Tuklar und Dual. Weiter oben war ein Regal mit Glühbirnen. Alle von Osram. Der Typ war bestimmt Multimillionär geworden mit seiner Erfindung.

Im Badezimmer stellte ich mich auf die bespackerte Personenwaage neben dem Lokus. Angezogen wog ich fünfzig Kilo.

Papas Wilkinson-Klingen, dreifachveredelt, und Wiebkes stinkende Blendi-Zahnpasta mit dem Hamster auf der Tube.

Der Medizinschrank. Togal, Doppel-Spalt, Neo-angin, Contac 700, Cebion und Novalgin-Dragees, die außen wie Smarties schmeckten. Vier davon lutschte ich ab, spuckte das bittere Innere ins Glas zurück und ging in die Küche.

An was man als Erwachsener alles denken mußte beim Einkaufen: Pfanni, Palmolive, Coin, Calgonit, Backin, Vanillin und Palmin. Mit Butter würden nur die Großkopfeten braten, hatte Papa mal gesagt. Schon die Namen alle: Mondamin, Mazola, Fissler und Biskin.

Aurora mit dem Sonnenstern.

Ich nahm mir eine Scheibe Kochschinken aus der runden Wurstdose im Kühlschrank, die nie zuging, weil der Deckel so verbogen war.

Schränke aufmachen. Teebeutel, Reis und Tortenguß. Was war nochmal der Unterschied zwischen Rosinen, Sultaninen und Korinthen? Und der Eierschneider. Pling, plang, ploing. Gitarre konnte ich immer noch nicht spielen.

In die eine Kraßelschublade flog alles rein, was zum Wegschmeißen zu schade war. Halbe Kulihülsen, Bleistiftstummel, Gummibänder, Fahrradschlüssel, die stumpfe Küchenschere, ein angesengter Topflappen mit aufgedrucktem Zwiebelsuppenrezept und die kaputte grüne Taschenlampe, aber auch Kleingeld.

Fürs Wohnzimmer hatte Mama erst vor kurzem drei weiße Kugellampenschirme angeschafft. Der mit bunten Kügelchen beklebte Holznapf, der an der Wand hing, war ein Mitbringsel von Mamas Freundin aus Venezuela. Ob die da wirklich ihren Brei aus solchen Näpfen aßen?

Untendrunter der Thermostat. Mit dem unscheinbaren Dings hatte man die Heizungen im ganzen Haus unter Kontrolle. Wie das funktionierte, würde ich nie kapieren. Ein Rätsel war auch, wieso man in den beiden lackierten Muscheln das Meer rauschen hören konnte. Ob das dadrin auch rauschte, wenn man sie nicht ans Ohr hielt?

Auf der Fensterbank stand eine Flasche Slibowitz, die Papa von einem Arbeitskollegen geschenkt gekriegt hatte. An dem Fusel brauchte man nur zu schnuppern, und schon stiegen einem Tränen in die Augen.

Im neuen Stern der Witz der Woche, schon zehnmal gelesen.

Kataloge von Quelle, Neckermann, Bader und Schöpflin und die großformatigen Time-Life-Bücher, die Papa aus Amerika mitgebracht hatte. Über die Planeten, die Dinosaurier und die Ozeane. Die bunten Fotos waren ja noch gut, aber das englische Geschreibsel konnte auch Papa unmöglich alles gelesen haben.

Was wir so für Bücher hatten. Der Spion, der aus der Kälte kam. Käuze, Schelme, Narren. Traumland Südwest: Tiere, Farmen, Diamanten. Peter Bamm und Jochen Klepper. Mümmelmann von Hermann Löns. Der Pate, Homo Faber und Bonjour Tristesse. Zerlesen waren nur die roten Krimis, die oben in der zweiten Reihe standen.

Farbige Wohnfibel. Die sah ich mir spaßeshalber auch mal an. Unter dem Foto von einem kotzig eingerichteten Wohnzimmer stand da: Zur Braun-Skala der in Teak ausgeführten Schrankwand bilden das dunkelgrüne Karomuster des Fensterstoffes und das satte Laubgrün der Sesselbezüge einen natürlichen Gegensatz, der die Atmosphäre des Raumes auf angenehme Weise belebt. Den Mittelpunkt dieser naturnahen Konzeption bildet die geschliffene Kugeloptik der tiefhängenden Pendelleuchte über dem Tisch.

Oje. Wie schwer es war, ein Haus zu bauen, hatte ich ja mitgekriegt, aber daß auch das Möbelreinstellen eine Wissenschaft war, hätte ich mir nicht träumen lassen.

Ein anderes Buch hieß Mutter und Kind. Mit Farbtafeln: Brustdrüsenschwellungen, Schälblasen, Ekzeme, Furunkel, Abszesse, Wanzenstiche und Rachenraumkrankheiten. Die verschiedenen Säuglingsstühle: Frauenmilchstuhl, Flaschenmilchstuhl, Kindspech, Ruhrstuhl, durchfälliger Stuhl und Stuhl bei Milchnährschäden.

Angina, Syphilis und Tripper. Wie eine Milchpumpe angelegt wird. Hohlwarzen und Flachwarzen.

Die Geschlechtsorgane der Frau. Große und kleine Schamlippen, Kitzler und Harnröhre.

Bei Licht betrachtet sah das alles nicht halb so schön aus wie in Mamas Zeichenunterrichtsbuch. Da waren massenhaft nackte Frauen zu sehen, und zwar auf den Seiten 20, 21, 31, 41, 44, 124, 136, 137, 138, 139, 144, 153, 159, 160, 164, 165, 166, 167, 168 und 169. Dann kam Animal Drawing.

Nebenan in Papas Arbeitszimmer sah ich mir im Telefonbuch die Seite mit den Namen der Leute an, die Ficker hießen. Daß die sich nicht schämten: »Hier bei Ficker!« Und was deren Kinder erst zu erdulden hatten: »Hey, Ficker! Wie geht’s, Ficker?« Die Leute, die Fick, Fickel oder Fickelt hießen, hatten’s auch nicht viel besser.

Für Besucher standen hier zwei Sessel, in denen nie jemand saß.

Das Poster mit dem aufgespießten Mann hatte Papa irgendwann eingemottet. Neben einer Ansicht von Königsberg und der Karte von New York hingen die gerahmten Fotos von Papas Eltern an der Wand. Opa Schlosser war Pfarrer gewesen und schon vor meiner Geburt gestorben. Der schwarze Opa. Bei dem hätte ich auch nicht gerne Katche gehabt, so wie der aussah. Ob der jetzt wohl aus dem Himmel auf mich runterkuckte?

Eine hellbraune Tonne mit zusammengerollten Bauzeichnungen, der immer abgeschlossene Panzerschrank mit den schönen Loks und eine Geschoßhülse, die fast so hoch war wie der Schreibtisch und von Papa als Aschenbecher benutzt wurde.

Aktenordner und Prospekte von Kibri, Märklin, Trix und Faller. Varianten des Bausatzes B 271 und Lokschuppen-Tormechanik mit Faller-Motoren.

Agnes Miegel: Die Blume der Götter. Wolfsburg, die Volkswagenstadt. Der redliche Ostpreuße. Arzt und Helfer in Alaska. Synopse der drei ersten Evangelien. Bezaubernde Wildnis. Stuttgarter Jubiläums-Bibel. 1. Mose 38,9: Aber da Onan wußte, daß der Same nicht sein eigen sollte, wenn er einging zu seines Bruders Weib, ließ er’s auf die Erde fallen und verderbte es, auf daß er seinem Bruder nicht Samen gäbe. Untendrunter stand was Kleingedrucktes: Onan beging eine Sünde der Lieblosigkeit gegen seinen verstorbenen Bruder und zugleich einen Frevel gegen die göttliche Ordnung der Ehe. Von Onan hat die widernatürliche Sünde der Selbstbefleckung den Namen »Onanie«, die der Pestilenz gleicht, die im Finstern schleicht, und manches junge Leben schon vor dem Aufblühen vergiftet.

1. Mose 38,10: Da gefiel dem HErrn übel, was er tat, und er tötete ihn auch.

Todesstrafe fürs Wichsen, das waren ja prachtvolle Aussichten.

Auf Papas Schreibtisch lag die Rechnung für den neuen Couchtisch. Kostenpunkt 250 Mark. Einrichtungshaus Wernecke, das Haus der guten Form.

Quittungen und Millimeterpapier. Hinten in einer der Schubladen befand sich ein Beutel mit ausländischen Münzen. Lira, Öre, Dollar und Franken. Gesammelt hatte Papa auch Streichholzschachteln aus Italien, England, Frankreich und Amerika.

Weiter unten waren Papas Schulzeugnisse versteckt. Englisch 5, Lateinisch 5, Lebenskunde 5. Nicht versetzt! Davon hatte man bis dato auch noch nichts gehört. Hatte man also einen Sitzenbleiber als Vater!

Eine besondere Mappe hatte Papa für seine dienstliche Beurteilung angelegt: Faßt schnell und sicher auf. Überblickt schwierige Zusammenhänge bald. Sieht das Wesentliche, ist imstande, rasch Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Denkt beweglich, klar und logisch. Erkennt, worauf es ankommt. Schlosser ist ein sehr befähigter wissenschaftlicher Mitarbeiter, der sich trotz seiner Kriegsbeschädigung für die umfangreichen und komplizierten Aufgaben der Steuerungstechnik nicht nur voll, sondern weit über das normale Maß einsetzt und in ausschlaggebender Weise die vorliegenden Probleme des Referates mit eigener Initiative, persönlichem Einsatz und gutem Erfolg lösen konnte. Seine Leistungen, seine Fähigkeiten, seine Initiative und sein überdurchschnittlicher Fleiß rechtfertigen eine gute Beurteilung.

Bloß alles heil wieder weglegen. Am Ende waren das noch Dienstgeheimnisse.

Unten im Heizkeller drückte ich mich an dem großen Kessel vorbei zum Lichtschacht und machte das Fenster auf. Trick 17. Jetzt konnte ich immer ins Haus, auch wenn mal keiner da war und ich den Schlüssel vergessen hatte. Dann mußte ich zwar zwischen den Spinnen durch, die sich im Lichtschacht tummelten, aber das war eben nicht zu ändern.

An der Leine in der Waschküche hingen zwei von Papas Unterhosen, jede einzelne so groß wie ein Dreimannzelt. Softlan, Perwoll, Pro Dixan und Persil, biologisch aktiv.

Ich holte mir ein Spielzeugauto aus dem Hobbyraum und ließ es in der Garage auf der Werkbank zwischen Kombizangen und Bohrfutterschlüsseln Slalom fahren, bis ich genug davon hatte.

Papas Bierkiste und sein altes Moped. Volker spitzte sich darauf, damit die Straßen unsicher zu machen, aber Papa hatte anderes zu tun, als das alte Moped zu reparieren. Was da allein in der Garage noch alles eingepackt werden mußte vor dem Umzug. Schraubenschränke mit winzigen Schublädchen, Moltofill und Moltoflott und säckeweise Flora-Torf. Ein Buch mit Ölflecken: Jetzt helfe ich mir selbst. Alles über den Peugeot 404. Ob Papa auch die Kotflügel vom ausgeschlachteten Käfer mit nach Meppen schleppen wollte? Mama würde sich bedanken.

Ein staubiges Glas mit Stachelbeeren, eingemacht am Hochzeitstag. Die sollten zur Goldenen Hochzeit verschmaust werden.

An der Wand ein Blechschild: Rauchen und offenes Feuer polizeilich verboten! Papa rauchte da aber trotzdem.

Nach Zigarettenrauch roch es auch oben in Volkers Zimmer, so als ob der da heimlich gepafft hätte, obwohl er dazu auch auf den Balkon hätte gehen können, der Döskopp.

Auf dem Schreibtisch lagen Raketenskizzen und ein Pausbild vom Archaeopteryx, dem ältesten Vogel der Welt.

Der Mikroskopkoffer war mit der Zeit aus dem Leim gegangen. Im Schrank die Zahnspangenschachtel und eine Tüte mit dem Schädel von dem Hasen, den wir mal gegessen hatten.

Karl May: Der Schut. Ein Tauchbuch von Hans Hass und Onkel Toms Hütte, mit dem Bild, wo Abraham Lincoln erschossen wird, im Theater.

Unterm Bett der alte Flitzebogen, aber ohne Schnur, und an der Tür ein altes Plakat:

W A N T E D

FOR BANK ROBBERY, HORSE THIEVING, MURDER AND MOST OTHER MISERABLE ACTS

AGAINST THE PEACE AND DIGNITY

IN THE UNITED STATES:

V O L K E R S C H L O S S E R

DEAD OR ALIVE

REWARD 10000 $

Das hatte Papa Volker mal aus Amerika mitgebracht.

Nebenan in Renates Zimmer gammelte immer noch das Gipsbein im Kleiderschrank rum. Das würde auch noch dran glauben müssen vor dem Umzug nach Meppen.

Für ihr Bett hatte Renate einen orangen Überwurf mit gelber Litze gehäkelt und ein Sonnenblumenposter an die Wand gepinnt.

Neben dem Plattenspieler lag eine Zange zum Verstellen der Geschwindigkeit von LP auf Single. Die Flusen am Saphir mußte man dann und wann runterpusten. Hey Leute, kauft beim Trödler Abraham. Oder Ingo Insterburg: Ich liebte ein Mädchen am Südpol, was selten da geschieht wohl. Ich liebte ein Mädchen in den Niederlanden, unsere Kleider wir niemals wiederfanden! Oder Bernd Clüver: Und der Junge mit der Mundharmonika singt von dem, was einst geschah, in silbernen Träumen von der Barke mit der gläsernen Fracht, die in sternklarer Nacht deiner Traurigkeit ent-ent-ent-ent-ent-ent-ent-ent, da war ein Sprung in der Platte, aber auf die war sowieso geschissen.

Ihre abgeschnittenen Mädchenzöpfe verwahrte Renate in ihrem alten Bastköfferchen.

Ein Reclamheft: La Jalousie. Ein ganzes Buch über ’ne Jalousie zu schreiben! Die spinnen, die Franzosen.

Und der Volksbrockhaus. Geschlecht, Geschlechtskrankheiten, Geschlechtsorgane, Geschlechtsreife, Geschlechtstrieb. Weibl. Beckeneingeweide: a Gebärmutter, b Eierstock, c Eileiter, d Scheide, e kleine Schamlippen, f große Schamlippe. Männl. Beckeneingeweide: a Hoden, b Nebenhoden, c Samenleiter, d Samenbläschen, e Vorsteherdrüse, f Harnröhre, g Schwellkörper der Harnröhre, h Schwellkörper des Penis, i Eichel mit Vorhaut.

Onanie, die, geschlechtl. Befriedigung durch Reizung der äußeren Geschlechtsteile.

Im oberen Bad war das Fenster nicht dicht, da tröpfelte das Regenwasser durch. In der Kloschüssel hing ein stinkendes Stück Duftseife im Plastikgitter.

Polykur Balsamspülung auf dem Wannenrand und 8x4 gegen Achselnässe. Shamtu Shampoo bringt Spannkraft ins Haar.

Auf dem Dachboden stand bald noch mehr Plunder und Gedöns rum als im Keller. Ekelhafte gelbe Schaumstoffstreifen, Koffer mit losen Henkeln, Carrerabahnteile, Ziegel, Bretter, Besenstiele und aller mögliche Schiet und Deubel. Volkers alter Jeep und der Blinkscheinwerfer mit dem Morse-Alphabet hintendrauf, ein Karton mit Weihnachtsschmuck und einer mit Büchern: Der Trotzkopf, Daddy Langbein und Matthias und das Eichhörnchen. Und ein Karton mit Segelflugzeugmodellteilen, die Volker nie zusammengebaut hatte.

In einer Kiste mit Büchern von Opa Schlosser lag eine hebräische Bibel. 1434 Seiten, aber von hinten nach vorne numeriert. So ähnlich wie bei den Chinesen, die schrieben ja von oben nach unten statt von links nach rechts. Oder von unten nach oben?

Alte Sterne. Pompidou gab kein Pardon. Da ging es um zwei Mörder, die in Frankreich mit der Guillotine hingerichtet worden waren. Zack, Kopf ab.

Eine Titelseite mit kleinen Männern, die große Frauenbrüste abstützten.

Playgirl der Woche, Zeus Weinsteins Abenteuer und das goldene Kaufhof-Angebot. Und Dingsbums, die Witzeseite mit dem undressierten Mann. Die hätte ich eigentlich sammeln können, aber bei der Hitze war ich viel zu faul, die Seiten alle rauszureißen.

Ein verkohlter Totenkopf und ein Gebiß: Bormann ist tot. Das war durch Zahnvergleiche bewiesen worden. Schön und gut, aber wer war Bormann?

Siamesische Zwillinge. Die armen Schweine. Oder der Querschnittgelähmte, der sterben wollte: Warum bringt mich keiner um? Hatte einen Köpper in nur siebzig Zentimeter tiefes Wasser gemacht, und jetzt lag er da und konnte bloß noch seinen Kopf bewegen.

Ein Menschengehirn in einem riesengroßen Vortragssaal: Ein Computer, der es dem Gehirn des Menschen gleichtun wollte, müßte größer sein als dieser Saal.

Sterbende und Leichen auf den Straßen von Kalkutta. Da blieb nicht einmal jemand stehen, wenn da einer in der Ecke lag und verhungerte.

In einem anderen Stern stand was über Leute, die in den Anden mit dem Flugzeug abgestürzt waren und die Toten aufgefressen hatten. Erst die Gehirne, die Lungen und die Nieren und dann den Rest.

Zum Fürchten war auch das Foto von dem fünfzehnjährigen Jungen, der sich aus Angst vorm Zeugnis aufgehängt hatte. Da konnte man ja Alpträume von kriegen.

Und dann die Werbung für Patentex oval und Sexanorma und der Schweinkram von Zweitausendeins. Bildgeschichte des Pin Up Girls. Wenn man genau hinkuckte, sah man auf einer klitzekleinen Zeichnung auch nackte Männer mit steifen Schwänzen.

Von unten rief Mama nach mir. Ich sollte ihr die schwere Einkaufstasche in die Küche tragen.

Zum letzten Mal ins Wambachtal mit Michael Gerlach. »Halt’s Maul, du Hund«, das wollten wir im Kanon dem Attila vorsingen, aber der war weg. An Altersschwäche eingegangen. Oder eingeschläfert worden.

Dro Chonoson mot dem Kontroboß. Hoffentlich gab’s auch in Meppen einen anständigen Wald.

In Papas Arbeitszimmer stapelten sich die Umzugskartons, obendrauf und an den Seiten beschriftet: Küche, Wohnzimmer, Eßzimmer.

Zerbrechlich!!!

In Vasen und Gläser knüllte Mama Zeitungspapier. Wozu das wohl gut sein sollte. Sie hatte schon ganz schwarze Finger davon. »Aus dem Weg!«

In unser Haus sollte ein Arzt einziehen mit seiner Familie. Der Mietvertrag war bereits unterschrieben.

Abends fuhr ich noch ein letztes Mal mit dem Rad über den Mallendarer Berg. Alle Wege lang und bis hinten raus, wo das Reha gebaut wurde. Rehabilitationszentrum hieß das offiziell. Da hatten früher wilde Apfelbäume gestanden, und einmal hatten Michael Gerlach und ich da einen Drachen steigen lassen, aber der war gleich beim ersten Flugmanöver abgestürzt und kaputtgebrochen.

Auf dem Fußballplatz versuchte ich, das Rad vorne so hochzureißen, wie Michaels Bruder Harald das konnte, und dann auf dem Hinterrad weiterzufahren.

Im Zug hatte ich ein ganzes Abteil für mich alleine. Erster Klasse. Die Fahrkarte hatte Tante Dagmar spendiert. Die schwamm geradezu in Geld.

»Ich erwarte, daß du dich mustergültig benimmst«, sagte Mama durchs Fenster, als der Schaffner schon pfiff. »Hast du gehört?«

Über die Moselbrücke. Vorne das Deutsche Eck und auf der anderen Rheinseite die Festung Ehrenbreitstein. Sowas gab’s in Meppen nicht, da war alles flach.

Der Zug fuhr auch durch Lützel. Wo wir schon überall gewohnt hatten. Und was wohl aus Angelika Quasdorf geworden war. Die mußte jetzt bald dreizehn sein und einen Busen haben.

Aber dein Scheiden macht, daß mir das Herze lacht.

Am schönsten war’s auf der Horchheimer Höhe gewesen, als ich noch nicht zur Schule gemußt hatte. Niemals Hausaufgaben auf und jeden Tag im Wäldchen.

In Hannover war ich tagsüber Schlüsselkind und durfte machen, was ich wollte. Gewaschen und gezahnputzt und zwanzig Mark Taschengeld im Brustbeutel. So gut hatte ich’s lange nicht gehabt.

Ich sah mir die Plattenabteilung bei Karstadt an, die aber auch nicht anders war als die in Koblenz.

Otto Waalkes hätte mal wieder ’ne neue Platte machen können. Die Doppel-LP von Insterburg & Co. war mir zu teuer. Was man sich alles nicht leisten konnte, das war schon frustrierend.

Im Landesmuseum knarzten die Fußbodenbretter, und die Wärter kuckten immer so argwöhnisch, daß ich mich da nicht lange aufhielt.

Gut gefiel mir im Rathaus die Fahrt im schiefen Fahrstuhl. Das sei der einzige schiefe Fahrstuhlschacht in Europa, sagte der Mensch, der da die Knöpfe drückte. Der Fahrstuhl ratterte und quietschte so, daß man immer dachte: Nun ist’s aus.

Zum Essen ging ich ins Funkhaus. An den ersten beiden Tagen rief der Pförtner noch bei Tante Dagmar an, bevor er mich reinließ, aber dann war ich schon ein alter Bekannter für den.

In der Wohnung sah ich wieder Tante Dagmars Platten durch. Die einzige neue war Besame mucho von Los Paraguayos. Bißchen wenig für ’ne Frau mit soviel Geld.

Auf einem Regal standen Flaschen mit Rum, Gin, Whisky, Kognak und Likör. Uerdinger, davon genehmigte ich mir mal einen Schluck, wovon ich erst husten und dann reihern mußte. Ich schaffte es aber noch bis zum Lokus. Torte, Pizza, Milka, Frühstücksei, alles kam wieder raus, in umgekehrter Reihenfolge.

Puh. Vom Uerdinger würde ich in Zukunft die Finger lassen. Eine halbe Rolle Klopapier ging drauf, bis Deckel, Brille und Becken wieder sauber waren.

Ich setzte mich auf den Wannenrand zum Verschnaufen.

Elidor und Badedas. Odol gibt sympathischen Atem.

Jeden Abend regte Tante Dagmar sich über die Rentnerinnen auf, die erst kurz vor Ladenschluß einkaufen gingen, wenn die berufstätige Bevölkerung Feierabend habe. »Und dann stehen sie am Tresen und können sich nicht entscheiden: Ach, geben Sie mir doch noch hundert Gramm Kalbsleberwurst, oder nein, warten Sie mal, ich nehm doch lieber nur fünfzig Gramm, oder haben Sie Gänseleberpastete im Sonderangebot? Ja, dann davon dreißig Gramm. Oder doch besser vierzig. Oder wissen Sie was, ich seh gerade, Sie haben auch Preßsack, dann geben Sie mir doch davon sechzig Gramm …«

Wenn sie selbst auf ihre alten Tage mal Gesellschaft oder Ansprache brauche, werde sie lieber Radio hören oder die Telefonseelsorge anrufen, als im Supermarkt den Steh-im-Weg zu spielen, sagte Tante Dagmar. »Und falls ich mir das als Rentnerin anders überlege, sollte jemand die Güte besitzen, mich zu entmündigen!«

Tante Gisela brachte uns nach Jever, wo es erst Suppe mit Eierstich und dann Kartoffelpuffer gab. Ich hatte mich darauf gefreut, Oma im Malefiz zu schlagen, aber das war fast unmöglich. Onkel Immo hatte ihr einen selbstgebastelten Elektrowürfel geschenkt mit sechs roten Lämpchen vorne, die auf Knopfdruck aufblinkten und anzeigten, was man gewürfelt hatte. Der Würfel arbeitete nach dem Zufallsprinzip, bloß kamen nie zwei oder drei Sechsen nacheinander oder zwei oder drei Einsen, die bei Malefiz so wichtig waren, wenn man Palisaden weghauen wollte. Mit Würfeln herkömmlicher Bauweise hatte ich mehr Glück gehabt, aber Oma wollte nur noch mit dem Elektrowürfel spielen, erst recht, als sie mich zweimal nacheinander besiegt hatte.

Onkel Immo war Erfinder und hatte auch mal ein Patent angemeldet für eine Waschmaschinenvorrichtung und damit viel Geld verdient. Dagegen gab es ja nichts einzuwenden, aber der Würfel war eine Fehlkonstruktion.

Mit Tante Giselas Auto machten wir einen Ausflug nach Neuharlingersiel und besuchten auch das Buddelschiffmuseum. Hansekoggen, Gaffelschoner, Flöße, Dschunken, Dampfer und phönizische Galeeren, die alle durch die engen Flaschenhälse gepaßt hatten. Das Kontiki-Floß und der Untergang der Titanic. Da schwammen Figürchen von Ersaufenden im Wasser.

Wir düsten noch weiter rum in der Landschaft, und dann wollte Oma einen Spaziergang am FKK-Gelände machen.

Auf dem Deich fuhr ein dicker nackter Radfahrer lang. Als er vorbei war, sagte Tante Gisela: »Das konnt ich mir aber auch nicht verkneifen, da mal ’n Blick drauf zu werfen.« Und Tante Dagmar sagte: »Was hätte der denn machen sollen? Sich das dahinterklemmen?«

Gustav war in Göttingen und studierte, aber er hatte alle seine Platten in Jever gelassen. Die Beatles, die Dubliners und die Wombles. Bin i Radi – bin i König und Magical Mystery Tour. Die Singles mit klassischer Musik steckten in Sichthüllen in einem rotkarierten Album mit Druckverschluß. Beethoven, Romanze Nr. 2 F-Dur für Violine und Orchester. Leider wußten auch Oma und Opa nicht, wie Gustavs Plattenspieler anging.

Bist du Radi, bist du Depp, König ist der Maier Sepp.

An dem Tag, als Wiebke mit dem Zug in Jever ankam, brachte der Paketbote ein Päckchen mit einem Radio, das Opa in einem Preisausschreiben von Lux Filter gewonnen hatte, aber er konnte sich nicht daran erinnern, an dem Preisausschreiben teilgenommen zu haben.

Das Radio kam auf den Eckschrank in der Veranda. Der Empfang war gut. Isch sah das Leben und die Welt, und plötzlisch hab isch festgestellt, wie sehr mir deine Liebe fehlt, o Mamy – isch fühl misch so allein!

Oma und Opa zogen plattdeutsche Sendungen mit Ewald Christophers vor.

Dann kam auch Gustav. Er hatte Semesterferien, wie die Studenten früher in der ZDF-Serie Semesterferien, und er hatte sich einen Schnäuzer wachsen lassen, den Oma zu burschikos fand, aber als sich rausstellte, daß das neue Radio Gustav zu verdanken war, weil er in Opas Namen eine Karte an Lux Filter geschickt hatte, fiel Oma Gustav um den Hals, und das Thema Schnoddenbremse war vom Tisch.

Ich wollte auch was gewinnen, nur hätte man gar nicht meinen sollen, wie wenig Preisausschreiben es gab. Allein in der Hörzu, hatte ich gedacht, stünden die auf jeder zweiten Seite, aber ich mußte lange blättern, bis ich welche fand. Bei Reyno und bei Milka konnte man zehntausend Mark gewinnen und bei Gervais Obstgarten zehntausend Früchte-Sets: Wie muß der Quark sein, damit die Früchte am besten schmecken? Die richtige Antwort – fest, locker-leicht oder trocken – brauchte man bloß anzukreuzen.

Eine andere Preisfrage lautete: Warum brauchen Kinder auch im Sommer Nimm 2? Zu gewinnen gab es da Aufblaskissen und Wasserbälle. Beim Hörzu-Preisrätsel des Monats winkten als Gewinne ein Farbfernseher, fünf Radiorekorder und fünfzig Schallplatten und beim Hörzu-Ferien-Preisausschreiben drei Urlaubskoffer voller Spezialitäten aus Bayern und fünfzig handsignierte Schallplatten: Lach mit Peter Frankenfeld.

Ich legte viel von meinem Taschengeld in Postkarten an und machte überall mit. Das war immer noch gescheiter, als Katjes-Pennys zu sammeln, so wie Wiebke, und sich für hundert Stück davon in grauer Zukunft die Bilderserie Pennys liebste Tiere zu bestellen.

Dumm und dämlich konnte man sich auch mit Witzen verdienen, wenn sie in der Bildzeitung abgedruckt wurden. Da gab’s für jeden einzelnen zwanzig Mark. Ich schickte den mit Lupo und der Briefmarke ein.

Wenn Oma und Opa sich zum Mittagsschlaf hingelegt hatten, ging es den Keksen und den Erdnüssen im Wohnzimmerbüfett an den Kragen. Die Tür knarrte, aber Oma und Opa waren schwerhörig.

Auch die verglaste Tür vom Bücherschrank knarrte. Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung, Hitler von Alan Bullock und die Bibel in unse Moderspraak: Ganz in den Anfang hett Gott Himmel un Eer maakt. Un up de Eer seeg dat wirr un wööst ut, un över dat Water weer dat pickendüster. Aver Gott sien Geist sweev över de Floot.

In der Küchenschublade Omas Notizheft mit den Rommézahlen der letzten zwanzig Jahre.

Ich öffnete auch die Schränke im Keller. Eine uralte Bildzeitung: Kennedy erschossen! Dramatische Fotos vom Attentat, und untendrunter die Meldung: Deutsche Möbelkonferenz tagt hinter verschlossenen Türen. Und eine Anzeige: Kräftige Rentner als Leichenträger gesucht.

Oder Gustavs alte Bravos. Jungens sollten sie lernen: Die Zeichensprache der Liebe. Mädchen berichten: Mein erstes Erlebnis. Das führte ich mir im Kartoffelkeller zu Gemüte. Aktion Anonym.

Nachmittags pflanzte Opa im Garten Gurken und Blumen und kam danach die Kellertreppe mit zwei Flaschen Bier hoch, einer für sich und einer für Gustav, der in seinem Zimmer saß und Gesetzestexte büffelte. »Zum Genuß!« sagte Opa und reichte Gustav die Flasche rein.

Dann machte Opa es sich an seinem Schreibtisch in der Veranda bequem und entnahm seiner Zigarrenkiste wählerisch Zigarren, die er Rauchwaren nannte. An der Wand hing eine eingerahmte Bleistiftzeichnung: Opa mit Helm auf, noch aus dem Ersten Weltkrieg.

Seine zitternde rechte Hand hielt Opa mit der linken fest.

Oma zerkleinerte unterdessen Petersilie in der Küche oder kämpfte mit dem widerspenstigen Waschmaschinenschlauch.

Wiebke lag auf dem Wohnzimmersofa, las Mecki im Schlaraffenland und kaute an ihren Zöpfen.

Einmal kriegte Oma Besuch von zwei anderen Omas. Sie verbrachten fast zwei Stunden damit, alles über ihre Kinder und Enkelkinder durchzuhecheln und sich über Rheuma, Ischias und Gicht zu unterhalten.

»Da kann ich auch ein Lied von singen, Frau Lüttjes!«

Schlafsaft und Eigenblutspritzen.

Opa stellte mir Denksportaufgaben. »Was ist das: getrennt mir heilig, vereint abscheulich?« Da kam ich nicht drauf, auch nach tagelangem Grübeln nicht.

Wenn jemand husten mußte, sagte Opa: »Du hast aber auch schon mal besser gehustet.«

Böse war er dann aber, als ich, ohne was zu sagen, mit dem Rad nach Wilhelmshaven gefahren war und erst abends zurückkam. Da flippte Opa aus und wollte mich verdreschen, und als ich mich im Kellerzimmer unterm Bett versteckte, holte er einen Besen und stieß mit dem Stiel nach mir.

In Wilhelmshaven hatte ich Tante Gisela besuchen wollen, aber die war nicht dagewesen. Dafür hatte ich am Straßenrand eine Polizistenmütze gefunden. Die war mir dämlicherweise vom Kopf gefallen, als Opa mich durchs Haus gehetzt hatte.

Als ob das ein Verbrechen gewesen wäre, eine Radtour zu unternehmen. Und ich hatte noch gedacht, Oma und Opa wären stolz auf mich, daß ich das so flott geschafft hatte.

Jetzt sei Zapfenstreich, hatte Opa gebrüllt und Spucke verloren dabei. Für den würde ich nie eine Karte einwerfen bei irgendeinem Preisausschreiben. Pustekuchen. Wenn dem eine Laus über die Leber gelaufen war, hätte er’s ja nicht an mir auslassen müssen. Dem hatten sie wohl ins Gehirn geschissen. Mir hier einen Besenstiel vors Knie und in den Bauch zu stoßen. Und sowas nannte sich Großvater. Der tickte doch nicht mehr sauber.

Getrennt mir heilig, vereint abscheulich. Sollte der mit seinen Scheißrätselfragen doch Wiebke belemmern.

Am Morgen hatte Opa sich wieder abgeregt und gab Wiebke und mir zusammen fünf Mark fürs Schützenfest. Weit kamen wir damit nicht, aber ich hatte noch zehn Mark von meinem Taschengeld. Dachte ich jedenfalls, als wir losgingen, aber dann fiel mir ein, daß ich den Schein in die linke Potasche von meiner Cordhose gesteckt hatte, die gewaschen werden sollte.

Ich rannte zurück, aber von dem Zehnmarkschein war bloß noch ein zusammengebackener Klumpatsch übrig.

»Da hätt ich viel zu tun, wenn ich immer alle Hosentaschen einzeln untersuchen wollte, ob da noch was drin ist«, sagte Oma. »Nee, mien Jung, auf deine Reichtümer mußt du schon selbst aufpassen!«

Jaja. Und wer hatte die Hose, die noch so gut wie sauber gewesen war, auf Biegen oder Brechen waschen wollen? Ich vielleicht?

In meiner Wut schmiß ich die Wohnungstür mit soviel Schmackes zu, daß eine von den Glasscheiben rausfiel, und zur Strafe schickte Oma mich ins Bett. Sie habe die Faxen jetzt dicke. Ich kriegte kein Abendbrot und durfte weder Zauber der Manege noch Columbo kucken.

Mannomann. So Scheiße war’s in Jever noch nie gewesen. Da freute man sich ja fast, bald wieder abgeholt zu werden.

Mama und Papa brachten Renate und Volker mit und erzählten vom Umzug. Gute Nacht, Marie! Das heulende Elend hätten sie kriegen können. Im neuen Haus der ganze Keller unter Wasser wegen der undichten Fenster, und die Möbelpacker hätten alles lustig in die Pfützen gestellt. Die Tischdecken allesamt jenseits von Gut und Böse, und die Bettwäsche erst. »Du kriegst die Tür nicht zu!« Ein Chaos, nicht zu singen und zu sagen. Kein Karton da, wo er hingehörte, trotz deutlicher Beschriftung. Alles für die Katz.

Warum einfach, wenn’s auch umständlich geht.

Von ihm aus, sagte Papa, könne man den Spediteur unangespitzt in den Boden rammen.

Und dann sei noch ein Karton unten eingerissen dank meiner blödsinnigen Hantel. Die sei mit Donnergepolter die ganze Treppe runtergekugelt und unten in die gute Flurvase gekracht.

Da war ich jetzt also auch noch dran schuld oder was.

Auf den letzten Drücker hätten sie noch gemerkt, daß ein Kellerfenster sperrangelweit offenstand. Da hätte jeder Tunichtgut ohne Probleme einsteigen können.

Den Umzug müsse der Bund bezahlen. Ein Heidengeld. »Die nehmen’s von den Lebendigen und den Toten«, sagte Mama. Am Einzugstag sei sie abends restlos erledigt gewesen. Groggy sei gar kein Ausdruck. Erschossen. Fix und foxi. Wie ein Stein geschlafen und morgens mit verspanntem Nacken aufgewacht, weil es da überall ziehe wie Hechtsuppe.

Und der Garten! Unter aller Sau, das Unkraut meterhoch, kein Bein an den Grund zu kriegen. Offensichtlich hätten die Vormieter nie auch nur einen Handschlag getan. Das werde noch eine Plackerei, das alles auf Zack zu bringen.

Aber dafür sei jetzt die Zeit im Rheinland passé. Es sei ihr nicht schwergefallen, sagte Mama, sich da sang- und klanglos zu verabschieden. Der Dialekt allein: »Herz-Jesu-Kersch«, und dann Frau Strack immer: »Uwe, küste bej misch!« Oder wie damals Frau Quasdorf als Avonberaterin an die Tür gekommen sei, um uns »Fatze Kre-am« zu verkaufen. Eine Klatschbase sondergleichen. Und ich, ich hätte schon gewußt, daß Mama diesem impertinenten Weibsbild nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen sei, und hätte sie einmal im Hofeingang gewarnt, als sie vom Einkaufen gekommen war: »Achtung, Mama, Kassedoff steht bei sein Haus!« Und dann noch Geld unterschlagen und gesoffen wie ’n Loch, auch als sie schwanger war.

Und Papas Ochsentour im BWB. »So ist das eben, wenn man nicht mit ’nem goldenen Löffel im Munde geboren wird!« Fürs Kinderkriegen werde man vom Staat immer nur bestraft, und das Finanzamt kriege den Rachen nicht voll.

Im dritten Schuljahr, sagte Renate, habe sie geglaubt, es heiße Plutimikation und nicht Multiplikation, weil das so in Pippi Langstrumpf gestanden hatte, und dafür sei sie von der Lehrerin mit dem Stock auf die Finger gehauen worden in der Volksschule in Lützel.

»Schwamm drüber«, sagte Mama. Meppen sei zwar auch nur ein Kuhdorf, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten, erzkatholisch noch dazu, aber immerhin Niedersachsen. Ein Unterschied wie Tag und Nacht im Vergleich mit Koblenz und dem verdreckten Rhein und dem Industriesmog da. Und nach Jever sei’s nur ein Katzensprung.

Bilder müßten noch aufgehängt werden im neuen Haus. Er könne sich nicht helfen, sagte Papa, aber in seinen Augen sähen die Blumen von van Gogh wie Tassenbürsten aus.

Und ich, ich sei ein Spargeltarzan. Der Schöne vom Berg, so hätte ich mich mal genannt, hahaha, und daß ich als Kleinkind in Dänemark auf einen an Land zappelnden Fisch gezeigt und gerufen hätte: »Kuck mal, da laufter!«

Alle möglichen Kamellen wurden jetzt wieder aufgewärmt. Manaure, der Wiebke gebissen und dann gesagt hatte: »Ich hab sie nur geklemmt!« Und Kim, als das Loch in Tante Thereses Kleid war: »It was the hamster!« Oder Gustav, der als kleiner Junge Oma darum gebeten hatte, Norman durchs Klo zu spülen. Und wie ich mich in Lützel mit sandigen Socken ins Klo gestellt und die Spülung betätigt hätte, um die Socken sauberzukriegen. Oder wie ich Oma Jever in den Ausschnitt gekuckt und sie gefragt hätte: »Oma, fangen da deine Beine an?«

Meine älteste Erinnerung war die, daß ich beim Ostereiersuchen umgefallen war und geweint hatte.

Papa sagte, daß er in Ostpreußen mal einem Schwein einen Trainingsanzug angezogen habe, und dann sei das Schwein ausgerissen und durch den Grenzfluß, die Scheschuppe, nach Litauen geschwommen. Das Schwein war wieder aufgetaucht, nur unser Modellflugzeug war heute noch unterwegs und umkreiste die Erde.

»Witz, komm raus, du bist umzingelt«, sagte Volker. Er kannte auch einen Haufen neuer Beleidigungen: Blindfisch, Blindsocke, Blindo, Spasti und Tropi (trotz Pille entstanden).

Das neue Haus sei astrein, aber sonst gehe in Meppen nicht unbedingt die Post ab. Meine Furzmulde sei schon aufgestellt.

Mama sagte, wir sollten aufhören, Blech zu reden.

Getrennt mir heilig, vereint abscheulich: Mein Eid und Meineid. Dieses Geheimnis lüftete Opa noch kurz vor Schluß.

Im Grunde wäre ich ja doch lieber auf dem Mallendarer Berg wohnen geblieben. Allerdings hatten die Sommerferien in Niedersachsen eine Woche später angefangen als in Rheinland-Pfalz, und wir konnten noch tagelang faulenzen, wenn die armen Irren in Koblenz schon wieder pauken mußten. Das war auch wieder wahr.

Bei der Fahrt nach Meppen mußte ich wie eh und je neben Wiebke hinten in der Mitte sitzen. Cleverns, Reepsholt, Wiesmoor, Bagband …

Ich wachte erst wieder auf, als Papa den Zündschlüssel abzog.

»Endstation«, rief Volker. »Alles aussteigen!«

Kiefern links und rechts und vor uns in der Dunkelheit ein weißes Garagentor, in dem sich die Autoscheinwerfer spiegelten.

Denn man tau.

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band

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