Читать книгу Ein Pilzfreund erzählt - Gerhard Kurenz - Страница 12
Nachtjagd
ОглавлениеWie die erste und die zweite erstreckt sich auch die dritte Jagd über alle vier Jahreszeiten. Und wie das Wild oder den Fisch kann man auch den Pilz in der Dämmerung und sogar zur Nachtzeit jagen. Das ist kein »Jägerlatein«!
Frühaufsteher unter den Pilzfreunden werden bestätigen, dass sie oft schon im Morgengrauen aufbrechen, um auf Beute zu gehen, und ihren vollen Korb schon heim tragen, wenn die Sonne ihre ersten Strahlen sendet. Wenn die Großmutter am Sonntagmorgen Kinder und Enkelkinder sanft aus dem Schlaf entführte und der herrliche Duft von Kakao unsere Lebensgeister anregte, war Großvater oft schon von seiner Jagd zurück. Dann öffnete er stolz das mit taufrischen Rotkappen und Steinpilzen gefüllte graue »Pilzsackl«2, das Großmutter für ihn genäht hatte, und wir durften seinen Fund wieder einmal bestaunen. Doch nie sah ich Großvater in der Abenddämmerung oder gar nach Einbruch der Dunkelheit in den Wald gehen. Wozu auch? Hätte er mit einer Sturmlaterne oder einer Taschenlampe Pilze suchen sollen?
Viele Jahre später, Großvater lebte schon lange nicht mehr, gelang es mir, mit dem Beleuchtungsproblem fertig zu werden. Wir hatten in einer Kiefernheide ausgedehnte Vorkommen von Frostschnecklingen entdeckt. Konkurrenz brauchten wir nicht zu fürchten, denn die wenigsten Pilzfreunde kennen und schätzen diesen Herbst- und Winterpilz. Doch nach getaner Arbeit, wenn wir zur Ernte schreiten konnten, war es schon dunkel. Schon gegen siebzehn Uhr sieht man im November kaum noch die Hand vor den Augen. Da entschloss ich mich zu einem ungewöhnlichen Schritt: Ich lud meinen Jüngsten in den Wagen, fuhr mit ihm bis an den Rand der Fundstelle und manövrierte ein wenig, so dass die Silhouetten der kleinen Hutpilze im Scheinwerferlicht hervortraten. Wir konnten mit der Ernte beginnen. Das Problem war gelöst.
Bald darauf erfuhr ich von einem Pilzfreund, dass wir nicht allein im Kunstlicht Jagd auf Pilze machten. Er hatte während einer Pilzschwemme Maronenröhrlinge mit Autoscheinwerfern aufgespürt. Natürlich ist zu fragen, ob solcher Art Jagd noch als »weidgerecht« gelten kann. Nicht nur, dass wir die Nachtruhe der Waldbewohner stören – das unnatürliche, technokratische Vorgehen nimmt unserer Jagd auch viel von ihrem Reiz.
Mittlerweile kannte ich die dichten Wuchsstellen der Frostschnecklinge so gut, dass ich sie nach natürlichen Orientierungspunkten, Einzelbäumen oder Baumgruppen, eingrenzen konnte. Das verleitete mich, als der erste Schnee gefallen war und die Erde eingekleidet hatte, zu einem Experiment: Ich nahm einen Hofbesen und fuhr hinaus. Vorsichtig fegte ich den Schnee beiseite. Ein paar Hüte rissen ab. Ich musste feinfühliger zu Werke gehen. Mit etwas Mühe gelang es mir, die gefrorenen Frostschnecklinge freizulegen, ohne sie zu zerbrechen.
Als ich mit vollem Korb im Wohngebiet anlangte, wo gerade Schneefegen im Gange war, sah ich die Blicke der fleißigen Leute auf mich gerichtet: staunende, neugierige, belustigte, abschätzige. Ein bisschen verrückt war es ja auch, Schnee im Wald zu fegen statt im Viertel. Ich nahm es gelassen. Wer ein Steckenpferd intensiv betreibt, wird oft als Sonderling belächelt.