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Der Tod der Rotkappe

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Das erwähnte Fichtenwäldchen brachte nach einigen Jahren bald nichts mehr als ein paar Ziegenlippen, wohl auch einmal einen Maronenröhrling oder ein Kuhmaul. Der vorgelagerte Brandstreifen, der schnell vergraste, trug bald auch keine Rotkappen mehr. Eine Zeitlang fanden wir dort unter einer Gruppe junger Birken in kurzen Zeitabständen regelmäßig eine Handvoll Orangegelber Rotkappen, die, ihrer Schönheit wegen, auf dem Heimmarsch stets den Ehrenplatz ganz obenauf im Pilzkorb erhielten. Das wiederholte sich so zuverlässig, dass wir gar nicht auf den Gedanken kamen, dieser Quell könne einmal versiegen, und überrascht waren, als dieser Fall eintrat.

Eines Tages in der beginnenden Abenddämmerung nahmen meine Frau und ich wieder einmal Kurs auf die Birkengruppe, um am Ende unseres Streifzuges auch noch »unsere schönen Rotkappen« zu ernten. Da blieb meine Frau, die gerade im Begriff war, auf den Rasenstreifen hinauszutreten, plötzlich stehen. Auch ich war beunruhigt. Irgendetwas war anders als sonst. Bald wurde mir bewusst: Die Birken sind weg!

Meine Frau stand wie angewurzelt, konnte es wohl gar nicht begreifen. Und so stand sie noch lange, was mir sonderbar vorkam, bis ich die Erklärung fand: Drüben im Saum des Fichtenwäldchens verhoffte, ebenso reglos wie meine Frau, eine Bache, unverwandt zu dem Störenfried auf zwei Beinen herüber sichernd. Sie standen sich, nur durch den schmalen Brandstreifen getrennt, so nahe gegenüber, dass sie selbst im Dämmerlicht jede Einzelheit aneinander wahrnehmen und keine Regung voreinander verbergen konnten. Sekunden um Sekunden verstrichen. Die Bache gewann zuerst die Fassung wieder und trat den Rückzug an.

Als sich meine Frau einigermaßen beruhigt hatte, machte ich sie auf die Birken aufmerksam. Man hatte sie abgesägt und liegen lassen. Rotkappen fanden wir nicht und sollten wir dort auch nie wieder zu Gesicht bekommen. Der Pilz war mit seinen Symbiosepartnern auf Gedeih und Verderb verbunden. Ohne die Hilfe der Birken bei der Aufnahme von Nähr- und Aufbaustoffen konnte er nicht weiterleben.

Als wir am Abend die Begebenheit mit der Bache auswerteten, wurden wir an ein früheres Zusammentreffen mit Schwarzkitteln in diesem Fichtengehölz erinnert. Damals waren wir, meine Frau und ich, auf der Pirsch nach Steinpilzen, jeder in seinem Streifen. Sehen konnten wir uns nicht, wohl aber hören: ein Knacken, ein Rascheln … Da wir unsere Beute, wie üblich, an Ort und Stelle säuberten, waren wir beide ziemlich beschäftigt. Das war wohl der Grund dafür, dass eine (sicher belanglose) Frage an meine Frau, die ich ganz in der Nähe wähnte, unbeantwortet blieb. Ich rief nach ihr. Zu meiner Verwunderung kam die Antwort aus einer ganz anderen Richtung und aus einiger Entfernung. Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, überstürzten sich die Ereignisse: Zu meiner Linken preschte in panischer Hast eine Rotte Wildschweine vorbei. Das war ein Stampfen und Brechen, ein Schnauben und Grunzen, dass es einem bange werden konnte. In das Getöse mischte sich ein menschlicher Laut, ein verhaltener und doch vernehmbarer Angstschrei. Kurz darauf trat völlige Stille ein.

Es war, als sei ein Spuk vorübergezogen. Nur der aufgewühlte Waldboden und das frisch gebrochene Gezweig sowie die unverwechselbare herbe Witterung, die im Dickicht hing, bezeugten, was geschehen war.

»Sie hätten mich fast umgerannt«, sagte meine Frau. »Mir kam der Gedanke, auf einen Baum zu klettern. Da war auch schon alles vorbei. Nur meine Knie fingen an zu zittern.«

Seit dieser Begebenheit ist das Fichtenwäldchen für uns »der Schweinewald«.

Ein Pilzfreund erzählt

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