Читать книгу Durch die Raumakustik muss ein Ruck gehen - Gerhard Ochsenfeld - Страница 29

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Der tiefere Sinn

Das Gehör hat gleichsam noch einen „tieferen“ Sinn. Mit „Sinn“ meine ich hier: Wahrnehmung.

Nicht nur an diesem Punkt, aber auch an diesem Punkt wird die Betrachtung der tieferen Frequenzen bedeutsam.

Ich komme kaum umhin, bereits an dieser Stelle über tiefe Frequenzen in der Praxis zu sprechen. Denn ich lege bereits einige Fährten aus, die man sämtlich von Beginn an mit gemessener Skepsis begleiten sollte.

Es geht mir nicht darum, zu entkräften, was ich selbst äußere. Sondern ich möchte auf Unsicherheiten hinweisen – und hoffe, dass viele Personen und Stellen bemerken und anerkennen, wie viel Bedarf an Forschung noch besteht, der vielleicht oder vermutlich bisher übersehen wurde und übersehen werden konnte, da man im konventionellen Modell zum Schall offenbar oder vermeintlich weiteren oder auch ganz anders gelagerten Forschungsbedarf nicht (mehr) erkannt haben mag.

Die erste Fährte, die ich selbst sehr hoffnungsgeladen zur Kenntnis genommen hatte, der ich aber nach tiefergehender Auseinandersetzung mit recht großer Ernüchterung und deutlicher Distanz begegne, sind Herren Pham Vu und Lissek mit ihren tieffrequenten Messungen, um das modale Bild eines unregelmäßigen, also nichtkubischen Raumes mit (vergleichsweise) wenigen Messungen abbilden zu können.


Reduzierte Skizze nach Fig. 10 der Publikation von Pham Vu und Lissek, einer Fotografie von dem "windschiefen" Hallraum. (siehe: Pham Vu, T. & Lissek, H., 2020: Low frequency sound field reconstruction in a nonrectangular room using a small number of microphones. Acta Acustica, 4,5)


Modifizierte Skizze nach Fig. 2 nach Pham Vu und Lissek; der windschiefe Hallraum, dessen Schallverhaltnisse a) im Modell berechnet, b) mit Messungen im realen windschiefen Hallraum untermauert wurden. (siehe: Pham Vu, T. & Lissek, H., 2020: Low frequency sound field reconstruction in a nonrectangular room using a small number of microphones. Acta Acustica, 4,5)

Zur Veranschaulichung habe ich selbst Skizzen nach den Abbildungen der Herren Pham Vu und Lissek erstellt.

Die eine Skizze zeigt den Hallraum – nach einer Fotografie. Offenbar ist der Hallraum innen mit einem Raster gekennzeichnet worden, das ich in meiner Skizze (Vorseite) jedoch nur an einigen Rändern andeutend aufgenommen habe, um die Windschiefen zeigen zu können. Möglicherweise zur eigenen Orientierung im Raum hat man ein solches Raster im Hallraum angelegt.

Die andere Skizze veranschaulicht grob die Gestalt des Raumes. Der Raum hat auf der z-Achse eine größte Höhe von 4,6 Metern, auf der oberen x-Achse eine größte Länge von 9,8 Metern, und schließlich schräg verlaufend, also nicht auf der y-Achse, sondern in der xy-Ebene eine größte Raumbreite von 6,6 Metern (jeweils die in meiner unteren Skizze – Vorseite – gestrichelten Linien).

Es ging darum, eine Methode zu entwickeln, um die Raummoden in einem nichtkubischen Raum abzubilden. Ich mag mich täuschen, aber so begeistert ich die Arbeit spontan aufgenommen hatte, so sehr mutet mich das ganze Spektakel an wie eine mit einer gewissen Erleichterung dahingezauberte Aufgabenstellung.

Auf den ersten Blick erschließt sich tatsächlich der Sinn der Aufgabenstellung. Aber wenn ich genauer hinsehe, dann erahne ich hier denselben Mangel, wie in jedem kubischen Raum, wenn man das griffige Sabine‘sche Gesetz anwendet – und „im Zweifelsfall“ (DIN 18041, Ordnungspunkt 4.2.3) lieber mehr als weniger Absorption verabreicht. Gerade so, als sei Absorption ein gern großzügig dosiertes und stets äußerst hilfreiches Breitbandantibiotikum mit multiplem Heilsversprechen.

Leider spricht einiges dafür, dass man für die Arbeit von Pham Vu und Lissek (Low frequency sound field reconstruction in a nonrectangular room using a small number of microphones – École Polytechnique Fédérale de Lausanne, 2020) ein bestimmtes mathematisches Modell entwickelt hat – und die Freude ungebremst war, als sich alles im Hallraum wie erwartet bestätigte.

Das Problem am Hallraum ist hingegen seine Idealisierung und seine (akustische) Neutralisation: Vermutlich noch nicht einmal unerwartet bestätigt der reale (Hall-) Raum die theoretischen Berechnungen.

Ich denke also, es ging weniger darum, eine Methode zu entwickeln, mit der man unter Realbedingungen, sozusagen „draußen“ praktisch messen kann. Sondern ich fürchte, es ging schlicht darum, die mathematisch erschlossene Methode, mit der man im nichtkubischen Raum mit windschiefen Begrenzungsflächen die Raummoden berechnen möchte, auf mögliche (Denk-) Fehler hin zu überprüfen.

Meine Anerkennung somit an den Mathematiker, wenn das gelungen ist. Jedoch, für den praktischen Alltag der Raumakustik erkenne ich – vorläufig – wenig Gewinn.

Ein gewöhnlicher realer Raum bietet andere Bedingungen. Weniger im Hinblick auf seine Dimensionen, als mehr im Hinblick auf die einzelnen Moden. In einem gewöhnlichen realen Raum gibt es Unregelmäßigkeiten, die der Hallraum nicht kennt. Und seiner „Natur“ nach auch nicht kennen soll.

Der Sinn eines Hallraumes ist es ja nicht, Raum schlechthin als Idealraum darzustellen – sondern eine neutrale und stets gleichbleibende Umgebungsbe dingung zu schaffen, um darin andere und unterschiedlichste Dinge so testen zu können, dass übergreifende Vergleichbarkeit entsteht.

Mit solchen Unregelmäßigkeiten, die der Hallraum also nicht kennt, meine ich an dieser Stelle nicht die windschiefen Begrenzungsflächen, durch die der Modellraum von Pham Vu und Lissek beschrieben wird. Sondern damit meine ich Türnischen, Fensternischen, bauliche Vorsprünge und ähnliche Einflüsse, die in einem Raum unregelmäßige modale Verhältnisse hervorbringen. Und natürlich die einen oder anderen Einrichtungsgegenstände, die man etwaig nicht verschieben und anpassen kann, sondern die man als gegeben hinnehmen muss.

Und so bin ich in der Summe skeptisch, was die Möglichkeit betrifft, sich ein modales Abbild von einem Raum zu erzeugen – durch wenige Messungen in den tiefen Frequenzen. Was immer nun „wenig“ sei.

Freundlicherweise hat Herr Dr.-Ing. Heiko Winkler, Mitgeschäftsführer der energum GmbH in Ibbenbüren, mir Messungen der Nachhallzeiten in Waltrop gestiftet.

Seine Messungen haben sehr deutlich aufgezeigt, was unter Fachleuten als Regelfall gilt. Nämlich, dass mittels einer großen Zahl von Messungen Fehler bzw. Abweichungen vermittelt und zu einem aussagekräftigen durchschnittlichen Abbild der Nachhallzeiten vereint werden müssen.

Oder, mit anderen Worten: Unter Realbedingungen fallen enorme Spreizungen in den Messergebnissen auf, je nach Position der Schallquelle bzw. des Mikrofons – umso deutlicher bis drastisch, je tiefer die Frequenzen.

Der Fachmann zuckt da nicht einmal mit der Schulter.

So erlaube ich mir aber die Frage, wie die Herren aus Lausanne in der Praxis mit „weniger Messungen“ ein klares Bild von den Raummoden zuverlässig erstellen möchten.

Schon „wenig“ relativiert sich im Modell bzw. der konkreten Versuchsanordnung: Gemäß Figur 2 der Publikation wurden 61 Messpunkte genutzt.


(nach Fig. 2 in: Pham Vu, T. & Lissek, H., 2020; Low frequency sound fild reconstruction in a nonrectangular room using a small number of microphones. Acta Acustica, 4,5.)

Die Tatsache, dass die Messpunkte zufällig ausgewählt sind und vier von sechs Flächen windschief im (umgebenden, „gedachten“) Raum platziert sind, spricht noch nicht dafür, dass sich mit der entwickelten Methode auch reale, unregelmäßig gestaltete Räume zuverlässig modal berechnen lassen. Die Unregelmäßigkeiten in real existierenden Räumen sind vielgestaltig: Mit Türnischen, Fensternischen, ggf. in älteren Gebäudeentwürfen auch mit Erkern und groß dimensionierten Trägern an der Decke, entstehen modale Bedingungen, die mit einem windschiefen Raumentwurf nicht im entferntesten vergleichbar sind.

Aber noch eine andere, vermutlich gewichtigere Erkenntnis haben jene Messungen der Nachhallzeiten in Waltrop, in dem ersten, von mir ausgestatteten Raum ergeben:

Je nach der akustischen Anregung des Raumes und auch der subjektiven Wahrnehmung (individuelle Unterschiede in der Hörfähigkeit; etwaig auch psychoakustische Aspekte) sind in dem von mir mit C-Cases ausgestatteten Raum die tiefen Frequenzen nicht hinreichend konsequent reguliert worden. Ich muss davon ausgehen, dass die verwendeten Elemente für einen durchschnittlichen Klassenraum dafür zu klein dimensioniert sind.

Unterschiedliche Personen heben in spontaner Begeisterung die gute Sprachverständlichkeit hervor.

Wände und vor allem die Decke sind schallhart verblieben und bieten eine gute Unterstützung im mittleren bis höherfrequenten Bereich. Nun kommen in optimaler Anwinkelung die Reflektoren der C-Cases hinzu.

Kaum der Nachhall, vor allem aber der bloße Lärm ist bewältigt, der aus den Raumkanten in den Raum zurückgeworfen wird:

Man sollte meinen, dass nun durch die Reflektoren auch die mittel- und höherfrequenten Störgeräusche auf unangenehme Weise verstärkt und zum Hörer hin somit konzentriert werden. Tatsächlich aber werden Störgeräusche im Hörbereich nun nicht mehr durch die Raumkanten potenziert – so dass Störgeräusche klarer, aber vor allem nicht undifferenziert und leiser ausfallen.

Und – was extrem auffällt: Die für die Sprachverständlichkeit nützlichen Signale werden durch die Reflektoren sehr bedeutsam verstärkt.

Beim längeren Aufenthalt und konzentrierten Austausch jedoch fiel es mindestens einer der Personen als unangenehm auf, dass es auf Dauer anstrengend gewesen sei, dem Gespräch – gleichsam durch einen Vorhang einer tieffrequenten Störkulisse hindurch – zu folgen.

Das wirft ein aufschlussreiches Licht auf die sehr langen Nachhallzeiten bei den ganz tiefen Frequenzen (50 Hz und 63 Hz): Dieser Frequenzbereich wird im Dialog oder dem monologischen Vortrag nur dann überhaupt angeregt, wenn die Stimme des Sprechers diese Frequenzen auch einbringt. Oder mindestens annähernd einbringt: Siehe die noch genauer zu besprechende Frequenzmodulation der Raumkante.

Wenn im Durchschnitt eine weibliche Stimme dieses Störpotenzial in einem Raum gar nicht erst anregt, dann erscheint ein Raum mit jenen C-Cases als bereits hinreichend bereinigt. Die tiefere männliche Stimme bietet im selben Raum dann aber möglicherweise doch ein Störpotenzial, das individuell als unterschiedlich störend aufgenommen wird, weil nun also diese Variante der C-Cases im tieffrequenten Bereich nicht hinreichend entstört.

Ich gehe später immer mal wieder auf die Bedeutung der tieferen Frequenzen ein. Deshalb soll es hier reichen, das Störpotenzial tieferer Frequenzen im sprachlichen Bereich hervorzuheben: Es kommt auf den Grundton der Sprecherstimme an, inwieweit tiefere Frequenzen in einem Raum tatsächlich Störpotenzial aufbauen – und ist somit sozusagen praktisch nicht linear vorhersagbar.

Darüber hinaus kommt es aber eben nicht nur auf den Grundton der Stimme an, sondern auch darauf, mit welcher Resonanz etwa ein männlicher Brustkorb auf den originär gar nicht so tiefen Grundton der Stimme noch einmal mit tieferen „Untertönen“ antwortet – damit aber auch zusätzlich tieferfrequentes Störpotenzial bietet. Fuchs spricht solche Klangspektren „unterhalb des Grundtons“ an, ohne sie als „Untertöne“ begrifflich zu erfassen (siehe Fuchs, H. V.: Raum-Akustik und Lärm-Minderung; Springer Vieweg 2017 – Seite 195).

Ich gehe in meinem Kapitel „Tiefe Frequenzen – hoch bedeutsam“ auf dieses Thema der tieferen Frequenzen und der „Untertöne“ noch einmal ein.

Auf die potenzielle Störsamkeit tiefer Frequenzen kann man vorbereitet sein und kann ich nun eingehen.

Dank jener Messungen von Herrn Dr. Winkler kann ich diese Störsamkeit in bereits recht klarer Beziehung zu den gemessenen Nachhallzeiten betrachten.

Noch besser verständlich wird nun aber, weshalb es Gegenstimmen so leicht gemacht wird, die Bedeutsamkeit tieferer Frequenzen etwa für Kindertagesstätten und Grundschulen argumentativ pauschal zurückzuweisen.

Ich persönlich vermute allerdings noch einen anderen Grund, weshalb tiefere Frequenzen ein höheres Störpotenzial bieten.

Hierbei geht es dann aber um die Psychoakustik – und ist etwaig überhaupt erst zu erforschen:

Die tieffrequente Störkulisse – insbesondere wenn sie nicht bereits als eher unterschwellig, aber präsent und also bewusst von den Betroffenen in einem Raum klar detektiert werden konnte – stellt für das Gehirn auf subtile Weise eine Bedrohungssituation dar.

Was im mittleren und höherfrequenten Bereich eher nur eine Frage der Lästigkeit ist, weckt im tieffrequenten Bereich ein unterschwelliges Unwohlsein – bietet jedoch den Betroffenen somit ein nicht erklärliches und dominantes Stressmoment.

Dazu nun aber keineswegs im Widerspruch steht, dass man tieffrequente Männerstimmen gern als Erzählerstimmen wählt: Kann der Hörer die Quelle zuordnen und auch bewusst prüfen und als positiv anerkennen, dann entfällt auch die – unterbewusste – Bedrohungslage. Die ruhige, tiefe Stimmlage korreliert widerspruchsfrei mit der Gesamtsituation und auch – wenn man etwaig gar dem Erzähler oder (Vor-) Leser zuschaut – konkret mit dem Tun des Sprechers. Man erwartet keinerlei problematische Überraschungsmomente und findet sich in einer keinerlei Unruhe rechtfertigenden Umgebungssituation wieder.

Durch die Raumakustik muss ein Ruck gehen

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