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„Es ist müßig, die Frage nach der Existenz Gottes zu stellen, weil die Antwort darauf zwangsläufig eine unbefriedigende sein muß. Wer will schon wie beweisen, daß Gott existiert oder aber im Gegenteil, nicht existiert? Die eine Beweisführung ist so wenig möglich wie die andere. Ich habe mein Leben lang derart unsicheres Terrain gemieden und denke, gut daran getan zu haben.“

Don Remigio lachte mich pausbäckig mit blinzelnden Augen an und hob der frühen Stunde zum Trotz, es war noch nicht elf Uhr am Vormittag, das Weinglas an die Lippen. Nachdem er getrunken hatte, wischte er sich mit dem Ärmel seiner Jacke über den Mund, brummte zufrieden, und fuhr fort:

„Es mag Sie, meu amic, aus dem protestantistischen Norden, wohl erstaunen, diese Worte aus dem Munde eines katholischen Geistlichen zu hören, zumal noch in Spanien, dem Mutterland der Heiligen Inquisition. Nun denn, ich muß gestehen, es gibt nicht viele Menschen auf dieser Erde, in deren Gegenwart ich sie wiederholen würde. Ich fühle mich weder zum Helden noch zum Märtyrer berufen und auch wenn unsere Mutter Kirche Ketzer oder solche, die sie dazu erklärt, in diesen modernen Zeiten anders als zuvor behandelt, mir sind Scheiterhaufen, wie immer sie daherkommen mögen, schlicht zu heiß.

Ihr alemany kennt immer nur den geraden Weg, schwarz oder weiß, rechts oder links, oben oder unten, nichts dazwischen. Wenn eine Kurve unvermeidlich ist, muß sie lange vorher angekündigt sein und zwar ordnungsgemäß. Glauben Sie mir, meu amic, da denken wir hier pragmatischer.“

Der pare strich sich über den Bauch und grinste mich an.

„Extra ecclesiam nulla salus est, es gibt kein Heil außerhalb der Kirche. Dieser Satz ist die Grundlage für ein sorgenfreies Leben, glauben Sie mir. Intra ecclesiam können Sie fast alles machen, Diskretion vorausgesetzt, wenn Sie keine goldenen Löffel vom Tisch des bisbe stehlen. Und selbst wenn, unter gewissen Umständen wird Ihnen auch dann verziehen, denn der bisbe hat die Löffel zumeist ja auch gestohlen. Es kommt eben immer drauf an.

Will damit sagen: dieweil ich also meine Ansichten, zum Beispiel die Existenz oder Nichtexistenz Gottes betreffend, während der Prozession zu Sant Antoni nicht bäuchlings plakatiert vor mir hertrage, interessieren sie keinen. Sie sind Privatsache und werden von den Klugen nicht zur Kenntnis genommen. Solange ich meine Arbeit verrichte, ist es den meisten Leuten egal, ob ich dahinter stehe oder nicht. Der Schmied wird auch nicht gefragt, ob er den Amboß liebt, den er täglich mit dem Hammer traktiert.

Natürlich gibt es auch die Eiferer, die Frömmler, die den Buchstaben wörtlich nehmen und sich für die Hüter von Moral und Gesetz halten. Bei denen gilt es aufzupassen, sie können unter Umständen gefährlich werden. Aber ansonsten funktioniert das System ganz ausgezeichnet. Bigott aber praktikabel. Oder meinen Sie wirklich, der Heilige Vater glaubt an alles, was er predigt? Wozu auch, er ist doch durch die Unfehlbarkeit doppelt und dreifach abgesichert. Das färbt natürlich auch auf die kleinen Lichter unserer Mutter Kirche, so wie ich eines bin, ab. Jedenfalls hier in meinem begrenzten Wirkungskreis.

Zum Glück, und jetzt verrate ich Ihnen ein offenes Geheimnis, denkt und handelt Don Basilio ähnlich. Wir nehmen uns übrigens auch gegenseitig die Beichte ab inklusive Absolution und Bußgebet. Man weiß ja nie, vielleicht ist doch was dran an dem ganzen Hokuspokus.

Perdó, den letzten Satz nehme ich zurück, möchte ich besser nicht gesagt haben, er ist mißverständlich oder auch nicht. Je nachdem wie man es sieht. Ich bitte Sie, legen Sie nicht alles auf die Goldwaage, was ich so daherrede, der Wein, Sie verstehen, der Wein ist ein schwatzhafter Geselle.“

Es war mir durchaus nicht klar, warum Don Remigio mir dies alles erzählte. Weder hatte ich ihn dazu aufgefordert, noch hat es sich aus dem Gespräch heraus so ergeben. Er wußte natürlich aus früheren Begegnungen von meiner eher kritischen Einstellung allen klerikalen Dingen gegenüber. Doch haben wir dies, genauso wenig wie seine professiò, zu keiner Zeit zum Gegenstand eines Gesprächs gemacht. Dazu war unser gegenseitiger Respekt, unsere Achtung füreinander zu groß, daß wir sie durch Lächerlichkeiten wie einen ideologischen Streit, zu gefährden dachten.

Wie wir am gestrigen Tag meiner Ankunft in der Bar El Ultim verabredet hatten, fand ich mich heute Morgen kurz nach 10 Uhr in den neben der Pfarrkirche gelegenen Privaträumen Don Remigios ein, um mir von ihm die genaueren Umstände meines Erbes erklären zu lassen.

Als ich in sein Arbeitszimmer kam, saß er am Schreibtisch über einige Papiere gebeugt, die er bei meinem Eintritt hastig zusammenschob. Auf einem Beistelltisch stand ein halbvolles Glas Wein, von dem ich annahm, es war nicht das erste, das der pare am heutigen Morgen getrunken hatte. Seine Augen leuchteten, Nase und Wangen glänzten rot durchädert. Kaum, daß ich über meinen Gruß hinauskam, wies mir Don Remigio mit einladender Geste einen Sessel zu und begann sofort ungefragt mit seiner Beichte, von der ich nicht wußte, was ich von ihr halten sollte.

Nachdem er den Rebensaft einen schwatzhaften Gesellen genannt hatte, bot er mir von eben diesem an, ich lehnte allerdings mit Hinweis auf die frühe Stunde ab und bat ihn, mir vom Ableben Dona Marias und dem Haus zu erzählen, das ich dank ihrer Güte nun mein Eigen nennen durfte.

„Dem zum Genuß Befähigten, meu amic, schlägt bekanntlich keine Stunde“, erging sich Don Remigio in Allgemeinplätzen und erklärte die frühe Stunde zum Weintrinken so gut wie die späte oder überhaupt eine, kramte ein Glas hervor und goß mir ungeachtet meines Widerspruchs ein.

„Was interessiert es den Wein, ob die Sonne am Himmel steht oder der Mond, wenn man die Flasche, die ihn umhüllt, öffnet? Das trifft übrigens auf alle anderen Dinge genauso zu. Die Sünde ist nicht auf die Dunkelheit der Nacht beschränkt und die gute Tat nicht auf das helle Licht des Tages. Nebenbei bemerkt kann man tagsüber fast noch besser schlafen als zu der als solcher deklarierten Nachtzeit. Ich jedenfalls.“

Er rülpste vernehmlich und kicherte daraufhin verlegen wie ein Kind, das beim Naschen erwischt worden ist. Ich war mir nunmehr ganz sicher, daß der pare vor dem aktuellen schon etliche andere Weingläser geleert haben mußte. Überhaupt kam mir seine so augenfällig zur Schau gestellte Fröhlichkeit recht aufgesetzt vor. Don Remigio, der zwar einem guten Tropfen nie abgeneigt, deswegen aber keineswegs dem Trunk verfallen war, benahm sich so ganz anders als wenige Stunden zuvor noch in der Bar El Ultim. Etwas mußte in der Zwischenzeit geschehen sein, das er hinter einer Fassade trunkener Sorglosigkeit vor mir zu verbergen suchte. Ich erinnerte ihn vorsichtig an den Grund meines Besuches.

„Ja, ja, die gute Dona Maria Marrasca, eine treue Tochter unserer Mutter Kirche und nie kleinlich, ganz gewiß nicht. Aber das merken Sie selbst ja derzeit am eigenen Leib. Ihr Mann, Don Xavier, war eine stattliche Erscheinung, ich habe ihn noch kennengelernt. Sein Tod ist jetzt auch schon gute dreißig Jahre her. Hier nannten ihn alle nur el corb, weil er stets schwarze Kleidung und einen gelben Hut trug und obendrein noch klug und listig wie ein Rabe war. Sie kennen doch sicher die guten Eigenschaften, die man den Raben nachsagt. Er war hochgeachtet, nicht nur in Artà, sondern in der ganzen Gegend, von Capdepera im Norden bis Manacor im Süden. Fragen Sie Don Basilio, der hat ihn besser gekannt als ich selbst.

Allerdings hat es auch einige Merkwürdigkeiten und, nun, sagen wir mal, Besonderheiten gegeben. Als Mann der Kirche habe ich mich damit natürlich nicht beschäftigt. Aber Sie wissen ja wie das ist mit dem Unerklärlichen, es hängt wie kalter Rauch in der Gardine, die Gerüchte darüber wird man nicht los.“

Er kramte in dem Papierstapel auf seinem Schreibtisch und zog dann einen Umschlag daraus hervor, den er einen Moment wie abwägend in Händen hielt und schließlich an mich weiterreichte.

„Das hier ist eine dieser Merkwürdigkeiten. Der Umschlag ist für Sie. Er enthält ein Schreiben von Don Xavier an Sie und die deutsche Übersetzung, ich habe sie in Palma ausfertigen und von einem notari beglaubigen lassen.“

Ich fuhr aus dem Sessel hoch und hätte dadurch beinahe das Weinglas umgestoßen.

„Ein Schreiben von Senyor Marrasca an mich? Unmöglich, als ich Artà zum ersten Mal betrat, war er schon weit mehr als zwanzig Jahre tot, er kann mich weder gekannt, noch überhaupt von meiner Existenz gewußt haben.“

Der pare schaute nun etwas verlegen auf seinen Schreibtisch. Er war von einem auf den anderen Augenblick stocknüchtern.

„Ich sagte ja bereits, es gibt da einige Merkwürdigkeiten, die ich nicht kommentieren kann. Das Beste wird es wohl sein, Sie nehmen es einfach so hin, wie es ist, und denken nicht weiter über unlösbare Lösungen nach.“

„Entschuldigen Sie, Don Remigio, das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Mir schreibt ein Mann einen Brief, den ich über dreißig Jahre nach seinem Tod von Ihnen erhalte, ein Mann, der mich selbstverständlich nicht gekannt haben kann, zum Zeitpunkt seines Todes war ich noch ein kleiner Säugling im fernen Deutschland, ich wußte damals noch nicht einmal, daß es ein Land namens Spanien gibt, von Mallorca einmal ganz zu schweigen. Und ich soll das einfach so hinnehmen und nicht weiter darüber nachdenken? Das meinen Sie nicht so, wie Sie es gesagt haben. Wie ist er überhaupt gestorben, der gute Senyor Marrasca?“

Don Remigio räusperte sich und schob die Papiere auf dem Schreibtisch von der einen zur anderen Seite. Er schaute mir nicht in die Augen.

„Er ist ertrunken. Eines Nachmittags ist er bei Canyamel mit dem Boot aufs Meer hinaus gefahren, plötzlich kam Sturm auf, am nächsten Morgen haben Fischer die Reste seines Bootes zerschlagen vom Strand aufgesammelt. Seine Leiche hat man nie gefunden, das Meer hat Xavier Marrasca behalten. Ein Rabe kann eben nicht schwimmen.“

„Wenn ich Sie recht verstehe, Don Remigio, hat niemand den Leichnam von Senyor Marrasca gesehen, man vermutet lediglich aufgrund der Umstände, daß er tot ist. Genau wissen tut das aber keiner. Liege ich richtig?“

„So gesehen haben Sie natürlich recht, aber man kann zu 99% davon ausgehen, daß Don Xavier im Meer ertrunken ist. Er fuhr öfter mit seinem Boot hinaus, um zu fischen, das war nichts Besonderes. Nur der Sturm, der an diesem Nachmittag so plötzlich aufkam, war völlig ungewöhnlich, er hat sich durch nichts angekündigt, es konnte keiner ahnen. So ist es, unser mediterrani, es macht, was es will und vor allen Dingen, wann es will.

Außerdem, was sollte es für einen Sinn machen, den eigenen Tod vorzutäuschen? El corb war beliebt im Ort, er hatte keine Feinde, im Gegenteil, er war eine Autorität, dessen Rat man suchte und beachtete. Es hat ihn danach auch niemand mehr gesehen auf der Insel. Nein, nein, glauben Sie mir Senyor, Don Xavier ist ganz sicher ertrunken an diesem schrecklichen Nachmittag.

Allerdings, wenn ich es recht bedenke, seine Witwe, Dona Maria, verhielt sich nicht gerade so, wie sich eine Frau verhält, deren Mann im Meer geblieben ist. Nicht, daß sie nicht getrauert hätte, das war es nicht. Wie soll ich mich ausdrücken, es war eben nicht die Trauer, die man von einer plötzlich zur Witwe gewordenen Frau erwartet. Eine Frau, die zwar mittlerweile schon am Rande ihrer sogenannten besten Jahre angekommen war, aber immer noch in Saft und Kraft stand, wenn ich das einmal so sagen darf. Vielleicht ist es auch nur ein Gefühl von mir, nicht mehr. Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen anderes erzählen soll…“

Ich ignorierte seine Hilflosigkeit und bohrte weiter.

„Wie sind Sie zu dem Schreiben gekommen, Don Remigio? Als ich die Insel vor einigen Jahren zum ersten Mal besuchte und wir uns kennenlernten, haben Sie nichts in dieser Richtung verlauten lassen.“

„Damals wußte ich auch noch nichts von der Existenz des Schreibens. Und Sie können mir glauben, es wäre mir heute sehr viel wohler zumute, wenn ich nie von dem Brief erfahren hätte. Aber es kam leider anders.

Der Sachverhalt selbst stellt sich ganz einfach dar. Als Dona Maria ihr Ende kommen spürte, ließ sie mich rufen, damit ich ihr die Sterbesakramente erteile. Sie war bei völlig klarem Verstand und setzte mich davon in Kenntnis, daß bei advocat Jaramago ein beglaubigtes Testament hinterlegt ist, das Sie, Senyor, zum Erben ihres ganzen weltlichen Besitzes machte.

Nebenbei nuschelte sie noch, ihr verstorbener Gatte Don Xavier, hätte dies so festgelegt. Ich glaubte zuerst, mich verhört zu haben und fragte nochmals nach. Dona Maria aber bestätigte das Gesagte. Zwar habe ich mich gewundert, das Ganze aber als Schrulligkeit einer sterbenden Frau abgetan und nicht weiter beachtet, bis sie mich bat, der Nachttischlade einen Umschlag zu entnehmen und an Sie weiterzuleiten. Dieser Umschlag enthalte ein Schreiben ihres Gatten für Sie. Dona Maria händigte mir des weiteren eine großzügig bemessene Summe aus, für die ich in Palma eine beglaubigte Übersetzung des Briefes in Auftrag geben sollte, der Rest des Geldes sei für den Opferstock der Kirche bestimmt. Dann verstarb sie, wie mir schien, glücklich und zufrieden, als sei sie von einer drückenden Last befreit worden.

Ich tat, wie die Verstorbene mich geheißen, fuhr nach Palma und leitete die notwendigen Schritte in die Wege. Deshalb kenne ich auch den Inhalt des Schreibens von Don Xavier an Sie, Senyor, es ließ sich unter diesen Umständen nicht vermeiden. Aber Sie können unbesorgt sein, ich behandle das Wissen darum wie ein Beichtgeheimnis, es ist gut bei mir aufgehoben.“

Don Remigio nahm nun einen reichlichen Schluck aus seinem Weinglas, wischte sich erneut mit dem Ärmel den Mund ab und schaute mich endlich mit Augen an, von denen ich mir nicht sicher war, ob sie Traurigkeit oder Mitgefühl ausdrückten. Dann deutete er auf den Umschlag in meinen Händen und sagte:

„Als ich wegen der Übersetzung in Palma war, habe ich gleichzeitig das Papier und die Tinte untersuchen lassen. Ich ging davon aus, und tue dies noch immer, es wäre in Ihrem ureigensten Interesse. Beides, Papier wie Tinte, wurde ohne Zweifel vor dreißig bis vierzig Jahren hergestellt und vertrieben. Allerdings sagt diese Feststellung noch nicht allzuviel aus, denn zumindest theoretisch ist es möglich, daß sowohl vom Papier als auch von der Tinte auf irgendeinem verstaubten Dachboden Restkontingente schlummerten, die zu neuen Aktivitäten erweckt wurden.

Wie auch immer, ich denke, ich lasse Sie jetzt eine Weile alleine und höre in einer der vierzehn Kapellen meiner Kirche, die ich zur Auswahl habe, ein wenig in mich hinein, vielleicht nutzt es der Wahrheitsfindung, man soll ja die Hoffnung nie aufgeben.

Gießen Sie sich das Glas voll und lesen Sie in aller Ruhe das Schreiben von Don Xavier. Einmal, zweimal, so oft Sie wollen, ich werde Sie nicht stören, meu amic. Wenn Sie es wünschen, stehe ich Ihnen anschließend gerne zur Verfügung. Gemeinsam werden wir versuchen, das Problem in den Griff zu bekommen.“

Ich bedankte mich bei Don Remigio, versicherte ihm, wenn nötig, auf sein Angebot der Hilfestellung zurückzukommen, bedeutete ihm aber gleichzeitig, das Schreiben lieber in meinem neuen Heim, dem vormaligen des Absenders, zu lesen.

Er akzeptierte meine Entscheidung ohne die Spur eines Widerspruchs und wir verabredeten uns für den Abend zum Nachtmahl in der Bar El Ultim. Ich verabschiedete mich und war schon an der Tür, als mich der pare nochmals ansprach:

„Verzeihen Sie mir meine Bemerkung von vorhin, Don Diego, Sie mögen nicht über unlösbare Lösungen nachdenken. Das war natürlich Quatsch, im Überschwang dahergeplappert. Bitte entschuldigen Sie meine dumme Schwatzhaftigkeit. Und noch etwas, vergessen Sie nicht, Gut und Böse, Gott oder Teufel, der eine ist nicht ohne den anderen zu haben.“

Es war das erste Mal heute Morgen, daß mich Don Remigio mit der spanischen Version meines Namens Jakob anredete.

Dann verabschiedete ich mich und ging in Gedanken verzögerten Schrittes nach Hause. Als ich bergab aus der Carrer Sant Salvador hinter dem ayuntament auf die Placa d’ Espanya einbog, sah ich dort immer noch das Automobil stehen, in dem ich hergekommen war. Also mußte mein nächtlicher Logiergast, der Chauffeur, auch noch in der Stadt sein und ich vermutete, nicht zu Unrecht, wie sich im Verlauf des Tages herausstellte, ihm noch eine weitere Nacht Gastfreundschaft gewähren zu dürfen (aus dieser Nacht wurden dann einige Wochen, ich habe sie nicht gezählt, das konnte ich jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen). Aber es war mir im Moment sowieso gleichgültig, meine Gedanken waren verständlicherweise mit anderen Dingen beschäftigt.

Von der Placa d’ Espanya bog ich nach links in die Carrer Rafael Blanes in deren Verlängerung ich die Marxando durchschritt, um dann nach rechts in die Carrer Major einzuschwenken und nach wenigen Metern mein neues Heim zu erreichen.

Natürlich war es reine Einbildung, aber als ich das Haus betrat, hatte ich das Gefühl es roch ungewohnt und strahlte überhaupt eine andere Atmosphäre aus als noch am heutigen Morgen.

Ich ging sofort auf mein Zimmer, schloß die Fensterläden, zog die Vorhänge bis auf einen kleinen Spalt zu, so daß nur noch dämmriges Zwielicht den Raum in Verschwommenheit tauchte und entzündete auf dem kleinen Tischchen neben meinem Sessel eine Kerze. Warum auch immer hielt ich Kerzenlicht für die angemessene Beleuchtung des Bevorstehenden, obwohl es mittlerweile Mittag war und die Sonne kraftvoll das Städtchen bestrahlte. Um diese Zeit war es still auf den Straßen, wer sich nicht aus irgendwelchen Gründen im Freien aufhalten mußte, blieb in seinem Haus, in dem es angenehm kühl war.

Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, holte ich den Umschlag hervor, den mir Don Remigio übergeben hatte. Er enthielt mehrere Bögen Papier, einige davon neueren Datums mit dem Kopf eines Notariats in Palma, das die korrekte Übersetzung des Schreibens in die deutsche Sprache bestätigte. Dann folgte ein längerer Text, mit einer Schreibmaschine geschrieben, deren einzelne Typen keine gleichmäßige Ausrichtung mehr hatten und munter auf den Zeilen tanzten. Unter der letzten Zeile befand sich eine schwungvoll ausladende Unterschrift mit vielen Kreisen und Kringeln versehen und unter dieser ein Stempel des Übersetzungsbüros in Palma, der Auskunft darüber gab, wer das Dokument transkribiert hatte.

Es folgten einige Blätter eines deutlich erkennbaren älteren Papiers, die am linken Rand mittels einer dünnen Kordel zusammengefaßt waren. Die Ränder der Seiten wiesen Spuren der Vergilbung auf und waren leicht gewellt. Der Text selbst war in einer gleichmäßig kräftigen Handschrift mit stahlblauer, fast schwarzer Tinte in katalanischer Sprache geschrieben.

Ich wollte versuchen, ihn im Original zu lesen und nur für den Fall auf die beglaubigte Übersetzung zurückgreifen, wenn meine eigenen Sprachkenntnisse sich als nicht ausreichend erweisen sollten.

Die Atmosphäre war ein wenig unheimlich. Im Haus herrschte absolute Stille und die flackernde Kerze warf Schatten und Schemen auf Möbel und Wände. Als ich das alte Papier zur Hand nahm, meinte ich, das Haus seufzen zu hören, aber auch das war natürlich meiner Einbildung geschuldet.

Dann ließ es sich nicht weiter hinauszögern und ich las den Brief eines vor mehr als dreißig Jahren verstorbenen Mallorquiners an mich, obwohl der Briefeschreiber nach allen Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die die Natur uns vorgibt, mich überhaupt nicht kennen konnte.

Hochverehrter und geschätzter Don Diego,

wahrscheinlich werden Sie in nicht geringes Erstaunen fallen, wenn Sie diese Zeilen lesen. Ich kann Ihnen jedoch bei meiner Ehre versichern, daß nichts Übersinnliches oder gar Okkultes daran Schuld trägt, sondern andere, höchst profane Umstände. Die Dinge verlaufen oft nicht geradlinig, sie drehen Kreise und schießen Purzelbäume, wie man es sich vorzustellen nicht immer in der Lage ist. Dennoch findet sich in den meisten Fällen eine natürliche Erklärung für vermeintlich übernatürliche Erscheinungen. In den meisten Fällen, wohl gemerkt, wenn auch nicht in allen.

Unsere Sinne und die Erklärungswut der Wissenschaft stoßen hin und wieder noch an Grenzen, die sie nicht überwinden können. Dafür sei dem Schöpfer aller Dinge, wie immer Sie diese Kraft auch benennen wollen, gedankt, halten sie die Menschheit doch davon ab, dem Größenwahn der Allmächtigkeit zu verfallen. Auch der Wurm vergißt nur allzu schnell, daß er ein Wurm ist, sobald er von einem Baum auf die Erde schaut.

Sowohl meine esposa, Dona Maria, als auch ich selbst dürfen uns bei Ihnen bedanken, denn Sie haben unser Angebot, das Haus meiner Väter nach unserem Ableben weiterzuführen, großzügig angenommen. Die wenigen Auflagen, die damit verbunden sind, werden Sie ohne Einschränkung Ihrer persönlichen Lebensumstände erfüllen können. Näheres teilt Ihnen der notari mit, bei dem Dona Maria alle notwendigen Dokumente hinterlegt hat.

Eine der Bedingungen besagt allerdings, daß das Haus mindestens sechs Monate im Jahr, und zwar während der Winterzeit, von Ihnen selbst bewohnt sein muß. Es wäre in meinem Sinne und dem meiner esposa, Sie entschlössen sich, Ihren Lebensmittelpunkt fest und für immer nach Artà zu verlegen, also das zu werden, was Ihnen durch Ihre Geburt bislang verwehrt blieb: Mallorquiner.

Damit Sie mich an dieser Stelle nicht falsch verstehen, darf ich Ihnen versichern, daß ich weder abträglich über Ihr Geburtsland denke, noch der Meinung bin, wir Mallorquiner wären über andere Völker oder Volksgruppen erhaben. Allerdings erfordern die künftigen Aufgaben, die Sie erwarten, nicht nur eine gewisse Kenntnis der mallorquinischen Tradition, sondern auch das Verstehen der Mentalität, aus der heraus sie entstanden ist. Und beides ist von außen nur schwer oder gar nicht möglich. Hinzu kommen Umstände, die Sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht kennen können. Vertrauen Sie mir, einem Menschen, dessen Bekanntschaft Sie nie machen konnten, der aber dennoch immer für Sie da war und bis an Ihr Lebensende für Sie da sein wird. Uns beide, Sie und mich, verbindet mehr, als Sie sich im Moment noch vorstellen können. Die Zeit wird Ihnen Erkenntnis bringen.

Um Ihnen die Entscheidung leichter zu machen, habe ich bei der Caixa de Balears, eine ausreichend bemessene Summe hinterlegt, die in vierteljährlichen Tranchen an Sie zu Auszahlung kommt. Mit den in den vergangenen Jahrzehnten angefallenen Zinsen dürfte sich in der Zwischenzeit eine nicht unbedeutende Summe angehäuft haben, die es Ihnen ermöglicht, bis an Ihr Lebensende auch mit überdurchschnittlichen Ansprüchen frei jeglicher finanzieller Sorgen auszukommen.

Was die von mir im vorherigen Absatz angesprochenen Aufgaben betrifft, brauchen Sie keine Sorgen zu haben. Auch wenn ich diese hier nicht benennen werde (aus gutem Grund, denn sie sind nicht für die Augen Dritter bestimmt), werden Sie nach und nach selbst darauf kommen und eine Notwendigkeit, vielmehr noch, ein Bedürfnis verspüren, ihnen Abhilfe zu tun, denn alles baut aufeinander auf.

Die Dachsparren können erst gesetzt werden, wenn die Mauern hochgezogen sind und diese sind erst möglich, sowie der Keller gemauert, das Fundament gelegt ist.

Diese Herausforderungen sind nicht ohne Schwierigkeiten, Sie werden es schnell herausfinden. Sollten Sie Beistand zur Überwindung etwaiger Widerstände benötigen, anempfehle ich Ihnen Don Remigio, gemeinsam mit ihm werden Sie einen, nein, nicht einen, Sie werden ganz sicher den richtigen Weg finden.

Leben Sie einfach in und mit unserem nunmehr gemeinsamen (Sie gestatten mir diese Formulierung) Haus, betrachten Sie es als Grundlage und Ausgangspunkt, als Schutz und Refugium, nicht als Notwendigkeit, dann werden Sie nach und nach seine Geheimnisse entdecken und mehr über das erfahren, was ich aus Gründen, die Sie bald verstehen werden, hier nur andeuten kann.

Damit ist alles gesagt, was ich zu diesem Zeitpunkt und von dieser Stelle aus zu sagen in der Lage bin. Vieles werden Sie unverständlich, vielleicht sogar absurd finden. Geben Sie sich Zeit, denn mit ihr, der Zeit, werden Sie lernen, zu verstehen.

Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, da Sie mein Werk und das meiner Väter weiterführen werden. Seien Sie versichert, daß Sie zu keiner Zeit ohne Schutz und Hilfe dastehen. Etwas wird immer in Ihrer Nähe sein.

Es grüßt Sie aus anderen Gegebenheiten und Zusammenhängen

Ihr ergebener Xavier Marrasca,

den man El Corb, den Raben, nennt.

Zu Papier gebracht in Artà auf der Insel Mallorca

im Jahre des Herrn 1899 zur Mitte des Monats April,

670 Jahre nachdem König Jaume die Insel

von der Herrschaft der Mauren befreite.

p.s. Ehe ich es im Überschwang der Gefühle vergesse: Sie werden sich neben vielen anderen natürlich auch die Frage stellen: Warum gerade ich, ein Alemany, warum kein Mallorquiner, warum nicht zumindest ein Spanier vom Festland?

Nun, das, mein Freund war eine Frage der Abwägung. Wie ich schon andeutete, spielen für mich weder die Nationalität noch die Herkunft des Menschen eine Rolle, entscheidend sind andere Kriterien und Voraussetzungen. Ich will es Ihnen nicht zu einfach machen, denn für einen intelligenten Menschen wird alles Einfache schnell langweilig. Nichts aber geschieht ohne Grund, auch der Zufall nicht.

Also kommen Sie selbst drauf, Sie werden es lösen, das vermeintlich Geheimnisvolle, auch wenn es Ihnen im Augenblick, verständlicherweise, noch als Wirrnis erscheinen muß.

X.M.

p.p.s. Wie ich sicherlich zu recht vermute, sitzen Sie in meinem Ohrensessel, während Sie dieses Schreiben lesen. Sie müssen wissen, daß das Zimmer, das Ihnen Dona Maria vermietete, einst das meine gewesen ist. Ich nutzte es vornehmlich zum Nachdenken und habe viele ertragreiche Stunden in ihm verbracht, aber Sie werden das Besondere des Raumes schon noch bemerken. Es würde mich freuen, wenn auch Sie das Zimmer zu dem Ihren bestimmen würden, so daß sozusagen die Tradition gewahrt bleibt. Falls Sie, Ihren Zeiten angepaßt, beim Interieur entsprechende Veränderungen vornehmen, erteile ich Ihnen hierdurch, im Vorgriff quasi, die Absolution. Nur eine Bitte darf ich in aller Bescheidenheit an Sie richten, halten Sie den Sessel in Ehren, er hat schon meinem Schwiegervater und dessen Vater als Stätte der Ruhe und des Nachdenkens gedient. Ich bin davon überzeugt, er wird auch Ihnen gute Dienste leisten. So, dies nun war mein letztes Anliegen, und wenn es auch schwer fällt Abschied zu nehmen, beende ich hiermit meine Zeilen.

X.M.

Marrascas Erbe

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