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Vorwort

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Das Titelbild dieses Buches lässt an Wenn die Gondeln Trauer tragen denken, einen Film nach Daphne du Mauriers Kurzgeschichte Dreh dich nicht um. Das ist keine schlechte Assoziation, so ist es gemeint.

Oft sind die Täter und Mittäter keine Venezianer, ja nicht einmal unbedingt Italiener. Natürlich gibt es in Italien eine umfangreiche Kriminalstatistik – zahlreiche spektakuläre Morde in allen Regionen, die zum guten Teil auf die Konten der ’Ndrangheta, der Mafia, der Cosa Nostra, der Camorra gehen.

Aber auch Eifersuchtsmorde sind zu verzeichnen, und eben immer wieder Taten, die von Ausländern begangen werden. Das trifft ganz besonders auf Venedig zu.

Auf diesen Seiten werden sich etliche Mordfälle finden, in denen Venezianer keine Rolle spielen. Die Mörder kamen immer wieder von außerhalb, aus Rom, aus Russland.

Die permanente Fluktuation von Fremden, seit Jahrhunderten, hat ihre Folgen.

Selbst ein Mordfall im gar nicht so nahen San Stino di Livenza, immerhin sechzig Kilometer von der Lagune entfernt, firmiert unter »in der Nähe von Venedig« oder »in einem Straßengraben bei Venedig«. Dort fand man die Leiche von Carmen Wieser, einer Osttirolerin, die von dem LKW-Fahrer Frank Thäder aus Sachsen-Anhalt vergewaltigt und ermordet worden war.

Oder der Fall der Cesarina Boscaro, sie kam 1908 in Vicenza zur Welt, aber ihr Schicksal vollzog sich in Venedig. Sie hatte 1929 einen Sohn zur Welt gebracht, ohne verheiratet zu sein. Das war damals noch ein gewaltiger Skandal. So übersiedelte sie nach Padua, arbeitete in einem Hotel und verdiente genug für sich und ihr Kind. Da lernte sie einen Handelsreisenden aus Prato kennen – der sich als verheiratet erwies. Schließlich verliebte sie sich in einen städtischen Beamten aus Venedig, lebte mit ihm zusammen und war endlich einmal glücklich. Das Paar plante den Hochzeitstermin, wieder einmal, sie hatten ihn schon zweimal verschoben. Da hörte Cesarina von den Nachbarn, dass ihr Bräutigam offenbar eine zweite Braut hatte. Nach einer heftigen Aussprache trennte er sich von Braut 1 und wandte sich endgültig Braut 2 zu, kurz danach heiratete er sie, ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen.

Cesarina war schon seit Monaten vor Eifersucht krank und nun endgültig verzweifelt und tatsächlich halb irr. Sie hoffte immer noch und drängte den Untreuen zu immer neuen Aussprachen – und bei solch einer Gelegenheit nahm sie eine Pistole mit. Im Teatro Goldoni hatten sie ihre Verabredung, der frühere Bräutigam wollte nichts von ihr wissen und verschwand in der Menschenmenge.

Cesarina Boscaro schoss – und traf seine Ehefrau, tödlich. Das Gericht anerkannte die Umstände und die offen ausgebrochene Geisteskrankheit der Angeklagten, und so wurde sie 1952 nur zu achtzehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Solche Geschichten findet man bei genauer Lektüre der Zeitungen, des Gazzettino und der Gazzetta di Venezia. Manche Fälle aber sind so geheimnisvoll, dass sie eher ins Reich der Sagen und Märchen gehören.

Dieses Reich der Sagen wurde durch eine unüberschaubare Zahl von fantasievollen Autoren erweitert. In Venedig lässt man einfach gern morden – da kommen andere, nicht minder geheimnisvolle Städte nicht mit, wie Prag im 19. Jahrhundert, Paris und Rom im späten Mittelalter, das London von Sherlock Holmes und Jack the Ripper, das mafiafrohe Palermo.

Das Angebot an tatsächlichen Untaten ist zwar an allen diesen Orten groß, doch dem Venedig der Fantasie kommt nichts gleich, da drängen sich Nicolas Remin, Richard Dübell, Daphne du Maurier, Juan Manuel de Prada, natürlich in der ersten Reihe Donna Leon – und viele andere.

Dieses Ineinander, Miteinander von Fantasie und manchmal Realität hat seine Vorfahren in den Bocche di Leone, den steinernen Aufforderungen zu anonymen Anzeigen. Man steckte sein Brieflein einem dieser Löwenköpfe ins Maul, dahinter lauerte schon ein Agent. Hatte der Angezeigte Pech, so wurde dieser anonymen Meldung mehr geglaubt als der eigenen Aussage. Das konnte im Venedig des Rats der Zehn schwere Folgen haben. Man landete im Gefängnis, ohne Anklage, ohne Möglichkeit der Verteidigung, ohne Anwalt, ohne einen Horizont in der Zukunft.

Und hatte man ganz besonderes Pech, so erlebte man seine letzten Lebensmomente zwischen den Säulen auf der Piazzetta, zwischen San Marco und San Teodoro, in Venexian San Todaro. Denn hier wurde hingerichtet, der Delinquent hatte den Molo im Rücken und den Uhrturm vor Augen. So machte man ihm seine letzten Minuten noch mehr bewusst, und so lebt noch heute die venezianische Redensart »Varda che te fasso veder che ora che xe« – flott übersetzt aus dem Venezianischen – ich werde dir schon zeigen, wie viel es geschlagen hat!

Der geborene wie der gelernte Venezianer geht um die beiden Säulen herum, niemals zwischen ihnen durch – denn da droht Gefahr. War ein Delinquent schon fast dem Blick zur Torre dell’Orologio ausgesetzt, so hatte er noch eine allerletzte Chance: um eine ganz bestimmte Säule des Dogenpalastes herumgehen, mit Blick zur Säule hin, aber nur auf der schmalen Basis – gelang das, so war man gerettet. Es ist niemals gelungen.

Wenn jemandem die beiden einzigen Säulen im ersten Stock des Palazzo Ducale aus rötlichem Stein auffallen, ist er auf den Spuren der Justiz – von hier wurden die Todesurteile verkündet.

Ein Bereich, in dem es um viele Mordtaten gehen könnte, wird auf den folgenden Seiten keine Erwähnung finden. Er passt nicht zwischen frivole Polizeiakten und Sagen, er ist zu real und zu tragisch. Das Ghetto erlebte eine jahrhundertelange Geschichte, es gilt als das älteste der Welt. Zwar hatten die venezianischen Juden auch immer wieder unter Repressalien zu leiden, aber gerade in den Jahren des Faschismus und Mussolinis war das nur wenig der Fall. Doch 1943 änderte sich die politische Lage mit der Republik von Salò, die deutsche Armee übernahm das Kommando, die Menschen waren nun schweren Lebensbedingungen ausgesetzt. Die Bewohner des Ghettos von Venedig wurden deportiert, wurden ermordet.

Unaufgeklärt sind immer wieder Bluttaten auch der jüngeren Vergangenheit, zum Beispiel der Kochtopf-Mord, der hier bald folgt.

Ich bin überhaupt durch einen merkwürdigen, nicht geklärten Fall auf dieses Buchthema gekommen. Ich wohnte einige Zeit am Campo Santa Maria Formosa, gegenüber der Kirche. Der Wirt der kleinen Bar an der Ecke zum Campo hatte einmal im Leben etwas Atemraubendes erlebt. Davon berichtete er immer wieder, noch mehr als dreißig Jahre nach diesem Vorfall.

Mehrere junge Mädchen, Studentinnen, pflegten bei ihm ihren Kaffee nach der Vorlesung zu trinken, zu lesen, Neuigkeiten austauschen, zu Beginn des Jahres 1944. Der Wirt war noch kein Wirt, war noch ein Schankbursche, sehr jung, und so gelang es ihm nicht, eines dieser Mädchen, von ihm ganz besonders verehrt, auf sich aufmerksam zu machen. Wäre er schon älter gewesen, hätte er sie gar nicht kennengelernt, denn dann wäre er wohl schon in einem deutschen Kriegsgefangenenlager gesessen, erklärte er stets.

An einem dieser Tage hatte er Norma noch lange verliebt nachgeblickt, als sie sich mit einer Freundin die Calle Santa Maria Formosa entlang von seinem Lokal heimbewegte. Er sah sie nicht mehr, Minuten später hörte man einen Schuss. Er lief, mit Schürze und Kochhaube, die Gasse entlang, den beiden Mädchen nach.

Norma war an der Schläfe getroffen worden, sie lag aus einer Kopfwunde blutend am Boden, die Freundin kniete neben ihr, aus den Häusern liefen die Menschen herbei. Das Mädchen starb nur Minuten später.

Der Fall wurde niemals geklärt. Eifersucht, eine Verwechslung? Das vergilbte Blatt des Gazzettino vom 1. März 1944, in einem Rahmen an der Wand des Lokals, kann auch keine andere Auskunft geben.

Reiche Unterstützung fand ich in meinem Freund Ruggero Tinacci, im Hauptberuf Schneidermeister und Hausbesitzer, daneben besessener Sammler lokalhistorischer Besonderheiten. Ihm gilt mein besonderer Dank.

Er war mein erster Hausherr. Damals lebten noch an die 100.000 Menschen im Centro storico, dem Teil der Comune, den man tatsächlich als Venedig begreift, im Gegensatz zu Mestre. Es gab noch zahlreiche Handwerker, Friseure, Milchfrauen, Gesprächspartner. Er schrieb auf, was man ihm erzählte, füllte damit mehrere dicke Schulhefte und ließ mich lesen.

Einige Schritte von dieser meiner ersten Wohnung am Campo Santa Maria Formosa entfernt steht der Palazzo Querini Stampalia mit seiner hinreißend schönen Sammlung von Bildern zu lokalen Themen, vor allem von Pietro Longhi und von Gabriele Bella. Hier danke ich sehr herzlich der Bibliothek und ihren Mitarbeitern, auch wegen der Öffnungszeiten – an fünf Tagen der Woche von 10 bis 24 Uhr!

Eine Anregung verdanke ich dem österreichischen Schriftsteller und Dichter Alexander Lernet-Holenia (1897–1976), der sich für Venedig und seine intrigenreiche Geschichte ganz besonders interessierte.

Mitten in diesen Intrigen, geheimen Verabredungen, Mordvorbereitungen standen die Dogen. Sie selbst waren immer wieder das Ziel derartiger Aktivitäten. Doch auch die mutigen oder aus Verzweiflung handelnden potenziellen Dogenmörder fanden ihren Platz in der Liste der Hinrichtungen. Dafür gab es auch ein ganz besonderes Zeremoniell.

1430, der Patrizier Andrea Contarini hatte sich zum Ziel gesetzt, Kommandeur der Marine am Golfo di Venezia zu werden, am nördlichsten Teil der Adria. Doch mehrere Senatoren, auch seine Verwandten, meinten, der Doge, Francesco Foscari, sei strikt dagegen, da gebe es keine Chance. Das brachte den Contarini derartig über alle Maßen auf, dass er sich entschloss, den Dogen zu ermorden. Er lauerte ihm im Dogenpalast auf, hatte ihm schon einen Dolch an den Hals gesetzt, da schlug ihm ein gerade dazugekommener sienesischer Gesandter die Waffe aus der Hand, die den Dogen nur ganz leicht an der Wange verletzte.

Man packte den Attentäter, warf ihn ins Gefängnis, er machte einen verwirrten Eindruck. Die rechte Hand wurde ihm abgehauen, dann henkte man ihn. Der Leichnam wurde aus den Fenstern des Palastes auf die Piazzetta geworfen und dann verscharrt.

Wenn die eine oder andere folgende Seite zu blutrünstig erscheint, dann helfen zwei Sätze: Das italienische Sprichwort »Se non è vero, è ben trovato« und die tröstenden Worte eines Geistlichen an die weinenden Zuhörer nach seiner Predigt über ein Märtyrerleben: »Das ist doch alles so lang her, und wer weiß, ob es wahr ist.«

Manche dieser Geschichten sind mittlerweile venezianisches Gemeingut und erscheinen deshalb nicht in diesem Buch, sind sie doch längst anderswo zu finden. Andere aber kenne ich nur aus den Erzählungen meines verstorbenen Freundes Ruggero. Ihm habe ich dieses Buch gewidmet.

Mörderisches Venedig

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