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Wer tätig ist und handelt, der antizipiert
Оглавление«Wie wir handeln, was wir können» (Volpert, 1992) ist umfassend erforscht sowie beschrieben worden und beeinflusste über viele Jahrzehnte die angewandten Disziplinen, insbesondere die Arbeitspsychologie (Hacker, 1986; Ulich, 2005). Wie immer die verschiedenen handlungstheoretischen Konzepte dargestellt werden, lassen sich die Teilaspekte auf wenige Komponenten reduzieren (s. Abb. 1) und stimmen in Hinblick auf ein zentrales Merkmal menschlichen Handelns – das der Zielantizipation – überein. Die Vorwegnahme eines Ziels charakterisiert letztlich das, wovon jedes Handeln handelt (vgl. Stadler & Wehner, 1983, 1985): Wenn sich individuelle Wünsche entwickeln und psycho-physiologische Bedürfnisse zeigen und selbst dort, wo Ideen ins Bewusstsein gelangen, entsteht parallel dazu auch ein antizipiertes (Wunsch-)Ziel[5].
Abbildung 1: Allgemeines psychologisches Handlungsmodell
Der Antizipationsbegriff ist seit Cicero belegt und bezeichnet, dass Ereignisse, Entwicklungen oder Handlungen vorweggenommen werden. Der Begriff verweist aber auch auf die Fähigkeit aller lernfähigen Lebewesen, aus dem Gelernten – durch Reflexionsprozesse – Konsequenzen für zukünftiges Handeln zu ziehen. Die Frage nach der Antizipation ist damit auch die Frage nach der Quantität und Qualität vorher durchlaufener Handlungs- und Lernprozesse. In seiner früh formulierten und bis heute Evidenz beanspruchenden «Theorie der Persönlichen Konstrukte» formulierte G. A. Kelly (1955, S. 156) wie folgt: «Die psychischen Prozesse einer Person werden durch ihre Art, Ereignisse zu antizipieren, geregelt.»
Für unser Thema des Improvisierens ist in der Abbildung 1 zentral, dass auf eine mögliche Differenz zwischen dem antizipierten Wunschziel und dem real erreichten Ergebnis hingewiesen wird. Selbst in natürlichen, chemischen, evolutionären und erst recht in technisch konstruierten oder programmierten Abläufen realisieren sich nicht nur die angenommenen Anfangs- und Randbedingungen. Nicht selten wirken auch kontingente Bedingungen auf das Geschehen ein: «Zufall und Notwendigkeit» (Monod, 1971) kennzeichnen natürliche, lebendige und technische Prozesse.
Auf das Handeln bezogen zeigen sich in der Differenz zwischen dem antizipierten und dem tatsächlich erreichten Ziel die Auswirkungen von Störungen, Irrtümern, Fehlern, Missverständnissen und unter Umständen sogar von Scheitererfahrungen. Auch dies gilt – so unsere Hervorhebung – wiederum sowohl für rational-geplantes Handeln als auch für andere, adjektivisch gekennzeichnete Handlungsweisen. Mit anderen Worten: Auch das improvisierte Handeln kann scheitern. Es kann sich im Nachhinein als irrtümlich oder fehlerhaft, als gescheitert erweisen. Trifft man diese Annahme nicht, so bewegt man sich auf «überirdischen», zumindest «übersinnlichen» Pfaden.
Die unerwarteten, mitunter sogar unerwünschten Ereignisse führen uns in die psychologische Fehler- und Irrtumsforschung (Wehner et al., 1983; Wehner 1992; Dörner, 1989; Reason, 1990) und – im Hinblick auf den Umgang mit diesem Zustand – zu meist zweierlei Fragen:
I. Wie lässt sich das antizipierte Ziel eventuell dennoch erreichen?
II. Welches Lernpotenzial ergibt sich aus der Reflexion einer Zielverfehlung?
Die Hinwendung zur ersten Frage (I) verweist auf das improvisierende Handeln, während die zweite Frage (II) – gerade im Hinblick auf individuelles und organisationales Lernen – hinreichend beantwortet wurde und in der Praxis auf breite Anwendung gestossen ist (vgl. hierzu die Ausführungen zum single-, double-loop sowie zum deutero-learning; Argyris & Schön, 1996; Bateson, 1972).