Читать книгу Im Eifer deines Dieners - Gernot Gottwals - Страница 2
ОглавлениеProlog
Oblast Swerdlowsk, 14. Juli 1921
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die klassischen Ideale der Mutter aller Revolutionen hatten ihre Gültigkeit längst verloren. Und was mit der Bastille in Frankreich begann, setzte sich nun mit den Kirchen und Klöstern im einstigen Zarenreich fort. Denn wo neue Unterdrücker die Massen ausbeuten und in den Hunger treiben, da schafft ihr Eifer auch neue Diener. Diener, die das Plansoll durch Plünderung und Brandschatzung erfüllen und unter den wahren Brüdern, den leiblichen wie den geistlichen, das Misstrauen und die nackte Angst schüren. Gefühle, die in der faktischen Geschichtsschreibung unberücksichtigt bleiben, und die doch zur Nährquelle von Geschichten und Legenden werden, die bis in unsere Tage fortwirken.
Heiß und erbarmungslos brannte die späte Nachmittagssonne auf die trockenen Felder nieder, drohte die letzten Stoppeln zu versengen. Die nackte Angst um die Ernte und das Überleben trieb die Bauern über die Felder, ließ sie in Scharen zur Abendmesse ins nahe Prophet-Elias-Kloster strömen, etwa 120 Kilometer nordwestlich von Jekaterinburg, das später Swerdlowsk heißen sollte. „Gospodi! Poschli doschd na naschu zemlju!“ (Herr, gib unserem Land Regen!) Verzweifelte Bet- und Hilferufe drangen zum Himmel, während die Mönche drinnen die Liturgie vorbereiteten. Es war das dritte Jahr des Russischen Bürgerkrieges, der seinen gnadenlosen Tribut forderte. So kurz vor dem dritten Jahrestag der Ermordung der Zarenfamilie war die Gier nach Orden unersättlich, ließ der Wodka- und Blutrausch Menschen zu Raubtieren werden.
Denn nahe der Stadt, in der die Zarenfamilie den Tod gefunden hatte, gab es noch Rückzugsgebiete gläubiger Christen, die hinter der Mutter Kirche standen und sich den neuen Machthabern verweigerten. Die Mission des Patriarchen Tichon, Kirchengut vor dem Zugriff der Kommunisten zu schützen, war gescheitert. Als sei die Dürre nicht schon schlimm genug, quälten die Ordensgemeinschaft nun weitere Sorgen: Schon seit Wochen gingen Gerüchte um, die marodierende Soldateska der Rotgardisten habe es auf die ländliche Region mit ihren sibirischen Holzklöstern abgesehen. Verzweifelt versuchten die Mönche nun, die Ikonen und vor allem die Vorräte an Lebensmitteln im Kloster des Propheten Elias zu sichern. Denn im einstigen Zarenreich plagte eine erbarmungslose Hungersnot die Menschen. Der Teufelskreis aus Dürre, Krieg und Misswirtschaft zog Millionen von Menschen in seinen grausamen Bann, der geradewegs in den tödlichen Abgrund führte.
Gegen 18 Uhr beschwor Abt Simeon ein letztes Mal die Gottesmutter, während die Gläubigen bereits ungeduldig in die Kirche drängten, wo sie die dargebotenen Heiligenbilder der Nothelferinnen mit ihren huldvollen Küssen überschütteten. Maria, Katharina und Barbara sollten wenigstens den lange ersehnten Regen bringen! Der Goldgrund der mächtigen Ikonostase funkelte im Schein der Kerzen, die die geschnitzten Holzwände des Klosters erleuchteten. Der Duft des Weihrauchs und die schweren erhabenen Klänge der orthodoxen Gesänge lagen in der Luft, als plötzlich die Türen der Kapelle aufgestoßen wurden. „Stojte! Eto swjatoje mesto. Wchod wospreschtschjon!“ (Halt! Das ist ein heiliger Ort! Zutritt verboten!) Die abwehrenden Rufe des Abtes verhallten ohne Wirkung. Erschreckte Schreie und Stoßgebete vermischten sich mit lautstarkem Männerjohlen, der Pulvergestank erster Salven überdeckte den süßlichen Weihrauchduft. Major Jurij Bocharin führte die Garde des Terrors an, die scheinbar wahllos in die Menge schoss, während einzelne Soldaten die Ausgänge abriegelten und die Mönche Richtung Schatz- und Vorratskammern trieben. Bocharin selbst befahl dem Abt, ihm die wertvollsten Ikonen herauszugeben. Doch der gewitzte Gottesmann gedachte keineswegs, zu kapitulieren und die Schätze des Klosters widerstandslos den Gottlosen zu überlassen. Was in dem erbarmungslosen Kampf zwischen ihm und dem Major wirklich geschah, bewegt sich bis heute zwischen Wahrheit und Legende. Am Ende ging das Kloster in einem Meer von Flammen auf, bevor die Bolschewiki in das nahegelegene Dorf stürmten. Das trockene Holz der russischen Blockhäuser brannte wie Zunder, verwandelte sich in eine alles verzehrende Todesfalle. Der Terroreinsatz geriet zum Himmelfahrtskommando – eine Himmelfahrt unter der feurigen Regie des Propheten Elias.
Die menschlichen Schicksale, die sich hinter diesem grausigen Massaker verbergen, blieben im geduldigen Papier der KGB-Akten unerwähnt. In den Dokumenten der Geheimpolizei Tscheka (die später in den KGB überging) fand sich nur ein kurzer Vermerk über die Ereignisse im Prophet-Elias-Kloster: 20 orthodoxe Mönche liquidiert, zahlreiche Lebensmittel und Kirchengüter konfisziert. Geschätzter Wert: mehrere Tausend Rubel. Widerstand gegen eine Sympathisantengruppe der Dorfreaktionäre gebrochen. Ende der Aktennotiz. Kein Wort von dem Zwischenfall mit der strahlenden Jungfrau Barbara, die bei der Operation Elias verlorenging. Oder mit der jemand durch irgendwelche dunklen Kanäle abtauchte. Und kein Wort von den Menschenleben, die diese einmalige Ikone forderte – und noch fordern sollte.
Dabei kursierten im benachbarten Dorf recht bald erste Gerüchte. Besagter Major Bocharin habe nach einer Eingebung aus dem Himmel den für die Menschen wertvollsten Schatz, nämlich das Bildnis der Heiligen Barbara, in letzter Sekunde aus den Flammen gerettet. Die Jungfrau blieb verschollen – um mehr als 80 Jahre später ihre Auferstehung am Main zu feiern, ausgerechnet zwischen jenen Wolkenkratzern, für die Spekulanten und Investoren am liebsten die Heimatkirche vieler Frankfurter Russen mit dem goldenen Kreuz opfern wollten.