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Kapitel 1

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Frankfurt am Main, 3. bis 18. Dezember 2005

Der klassische Ikonenmaler versteht sich vor allem als ein Diener, dem Gott beim Malen die Hand führt.“ Oberkommissar Waldemar Pokroff rätselte immer wieder über die tiefere Bedeutung dieses Satzes, den er in einem Fachbuch für osteuropäische Kirchenkunst gefunden hatte. Als der 46-jährige Kommissar an seinem letzten freien Tag die Friedrich-Ebert-Anlage entlangfuhr, blendete ihn die Sonne fast. Ihr warmes Licht schien den Heiligenschein der Barbara auf dem großen Werbebanner des Museums für Osteuropäische Sakralkunst ebenso zu erleuchten wie das goldglänzende Kreuz der evangelischen Matthäuskirche. Tatsächlich lag das Museum, einst Pokroffs Arbeitsplatz, nun wie ein ruhiger monolithischer Block im Frankfurter Alleenring, auch wenn drinnen die Vorbereitungen für die Ausstellungseröffnung bereits auf Hochtouren liefen. Die Kirchenglocke schlug gerade Mittag, als Pokroff rechts heranfuhr, um sich das rege Treiben aus der Nähe anzusehen. Mit routiniertem Blick auf die Fliegeruhr, die kurz darauf an seinem Handgelenk summte, sprach er dem Küster ein aufrechtes Lob aus: „Gut gewartet, die geht heute ja nur 5,5 Sekunden vor.“ Schnell und routiniert zog Pokroff die Funkarmbanduhr aus der Manteltasche, die just in diesem Moment auf 12 Uhr sprang. Um diese Tageszeit sprach der Kommissar sonst sein stilles Mittagsgebet – vor allem, wenn die überlangen Teambesprechungen oder Präsidiumssitzungen die praktische Ermittlungsarbeit zu sabotieren drohten.

Pokroff strich sich über seine graublonden Schläfen. Der stämmige russlanddeutsche Polizeichefanwärter interessierte sich sonst nicht besonders für religiöse und kunsthistorische Themen. Er ging in seinem Arbeitsalltag logisch und analytisch vor, die Hingabe für kunstvolle Werke hatte darin nur wenig Platz – sieht man einmal von den schicken russischen Militäruhren ab, die an Gagarin erinnerten und ein seltsames Gefühl von Sowjetnostalgie verströmten. Allzugerne wäre Pokroff in die Fußstapfen seines Vaters getreten, der es immerhin bis zum Oberst gebracht hatte. Nach der Übersiedlung und dem nüchternen deutschen Geschichtsunterricht, der die dunklen Kapitel der Wehrmacht und Roten Armee ans Licht brachte, entschied er sich doch lieber für eine Polizeikarriere – auch wenn er zuweilen gerne den rauen Charme eines Generalmajors verströmte.

Die Ausstellung zur Eröffnung des osteuropäischen Sakralmuseums interessierte Pokroff schon deshalb, weil sie die Heimat seiner russischen Vorfahren betraf und sich im imposanten neobarocken Hauptbau des alten Polizeipräsidiums abspielte. „Die prachtvolle Fassade des Präsidiums stellen sie unter Schutz, aber die Kirche würden sie am liebsten verschachern und für ein lukratives Hochhaus abreißen“, grübelte der Kommissar vor sich hin. „Aber was will man machen? Die Russen und die Rumänen zahlen wohl nicht genug Miete, und für die paar Protestanten rund um den Bahnhof lohnt es sich nicht.“ Für den realitätsbewussten Ermittler keine Frage: „Das sind Sachzwänge. Gerade dann, wenn unsere Stadt als Wirtschaftsstandort im Rennen bleiben will.“

Zum vertrauten Bild zwischen Museum und Kirche gehörte inzwischen auch der Porträtmaler Klaus Teschke: Der dunkelhaarige Mittfünfziger mit schwarzgrauem Vollbart war mit seinem mobilen Stand extra aus der Innenstadt in die Friedrich-Ebert-Anlage umgezogen. Hier malte er nun jedem sein Ebenbild, verkaufte aber auch Stadtansichten vom Römer und der Skyline – und seit neuestem auch wahlweise vom Roten Platz in Moskau oder dem Kloster am Ladogasee, einem der ersten Klöster, die Lenin zu einem Gulag, einem Zwangslager, hatte umbauen lassen.

„Schöne Bilder, die Sie da verkaufen“, rief Pokroff dem Maler zu. „Da bekommt man ja richtig Lust auf eine romantische Winterreise zu Mütterchen Russland.“

Teschke lächelte verschmitzt. „Klar doch, man muss den Leuten immer wat bieten. Auch die Ikonen brauchen dat richtije Umfeld. Ick hab hier all die sehnsüchtijen Erinnerungen im Programm, die man drinne so nicht koofen kann.“

„Erinnerungen an Klöster, die zu Internierungslagern umfunktioniert wurden. Na ja. Und woher kennen Sie sich so gut mit russischen Ikonen aus? Sprechen tun sie eher wie ein eigeplackter Berliner, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.“

Teschke musterte sein Gegenüber: Wie ein waschechter Frankfurter sah der prüfende Herr Inspektor mit graublonder Sturmfrisur auch nicht gerade aus. „Aber klar kenn ick mir da aus. Dat mit den Ikonen is allet ordentlich auf Studienreisen jeschult worden. Ick bin nämlich Ost-Berliner, müssen Sie wissen. Da durfte man immer mal rüber zum großen Bruder, um wat auszukundschaften. Und dat Beste kommt noch. Die schönen Kuppelkirchen hier auf meinen Bildern, die ham se damals im Innern abjefackelt, um die Ikonen zu plündern, die sie nun den wissbejierigen Besuchern im Musentempel zeigen.“

Pokroff nickte. Wenn dem wirklich so war, musste der pflichtgetreue Kommissar ein doppelt wachsames Auge und Ohr haben. Zumal die benachbarte evangelische Matthäuskirche schon seit längerer Zeit Gastgeberin für konservative russisch- und rumänisch-orthodoxe Gemeinden war. Die führenden Geistlichen hatten sich in den Tageszeitungen bereits sehr abfällig geäußert – allen voran der russische Priester gleich nebenan. Denn der größte Teil der angekauften Ikonen für das Museum stammte aus der Privatsammlung eines Georgiers, dem man eine verdächtige Nähe zum früheren KGB und zu jenen Archivaren nachsagte, die im Kreml konfiszierte Kirchengüter aus der Ära Lenin und Stalin hüteten. Vor allem die Hauptattraktion, eine Barbara-Ikone aus dem westlichen Sibirien, berührte ein dunkles Kapitel sowjetischer Militärgeschichte und bot Zündstoff für immer neue Medienschlachten. Und das in einer Zeit, da sich Russland und Georgien vor dem Hintergrund kriegerischer Auseinandersetzungen im Kaukasus im kulturellen Leben von Frankfurt zu etablieren suchten. So war Russland erst vor wenigen Jahren zu Gast bei der Buchmesse – und Georgien schickte sich ebenfalls an, in die Fußstapfen des großen Nachbarn zu treten. Diese Medienschlacht um ein paar verdächtige Ikonen konnte da wirklich niemand brauchen.

Kritische russische Medien hatten als Drahtzieher des Ikonenhandels sogar einen Moskauer Unterweltboss vermutet, den man unter dem Spitznamen boewoj kon (Schlachtross) kannte – bis die Zensur solcherlei Berichte untersagte. So oder so: Sein Gespür sagte dem Oberkommissar, dass ihm sein letzter freier Tag kurz vor der Ausstellungseröffnung noch einmal eine letzte Atempause gönnen sollte. Sobald die Türen im Museum aufgingen, würden die Emotionen hochkochen. Ein ehrgeiziger Museumsdirektor und ein eifernder exilrussischer Priester, das konnte sich nicht vertragen. Pokroff selbst war bestenfalls noch an seinem markanten Gesichtsausdruck als Nachkomme eines russischen Vaters und einer russlanddeutschen Mutter zu erkennen. Dass sein in der Schreibung eingedeutschter Familienname auf die wolgadeutsche Stadt Pokrowsk zurückging, die seit der Revolution Engels hieß, war nur noch für osteuropäische Sprach- und Geschichtsexperten zu erschließen. Auch wenn Pokroff stets bemüht war, wie ein nüchterner deutscher Kriminalbeamter zu agieren, der der Kultur seiner russischen Altvorderen wenig Beachtung schenkte, so ging ihm dieses Museum und seine skandalöse Vorgeschichte in seiner Freizeit nur schwer aus dem Kopf. Erst recht nicht, wenn das Handy angeschaltet war.

„Mist, schon wieder vergessen, das Ding auszumachen“, fluchte Pokroff, als er die wohlvertraute Melodie von der dahinplätschernden Moldau hörte. Mit Smetanas romantischer Komposition war der ewige Mobilstress selbst nach Dienstschluss noch einigermaßen zu ertragen.

Wer konnte das nun wieder sein? Hoffentlich nicht der oberste Dienstherr im Präsidium, dachte Pokroff. Dann studierte er die Nummer genauer: Sie lautete zwar so ähnlich wie die von der Polizei, es handelte sich jedoch um seine eigene Festnetznummer.

„Schatz, denkst du bitte daran, dass du noch bei Decor Walther vorbeifahren wolltest, um die Farben für die neue Gardine auszusuchen“, bat Ehefrau Carola Pokroff.

Doch der Kommissar hatte seine Gedanken gerade ganz woanders. Was mussten solche Anrufe auch immer zur falschen Zeit kommen? „Selbstverständlich, meine Liebe, das steht um 14.30 Uhr auf meiner Marschroute zwischen Hauptwache und Paulskirche auf dem Programm“, antwortete er rasch.

„Ach, weißt du, die Silvia hat erzählt, sie war bei Freunden aus Weißrussland eingeladen, die sich eine Villa auf dem Lerchesberg gekauft haben. Schon der Gang zur Toilette war unvergesslich. Überall Wasserhähne und Mischbatterien in der Form goldener Delphine ...

„Oh, das hört sich ja interessant an“, unterbrach Pokroff rasch. In Wirklichkeit dachte er natürlich: „Was interessiert mich die kitschige Kultur irgendwelcher Neureicher?“ Doch Carola hatte das passende Stichwort geliefert, um galant zu einem anderen Thema überzuleiten.

„Wo du gerade von Russen sprichst. Habt ihr in euren kunsthistorischen Seminaren auch mal etwas über russische Ikonenmaler gelernt?“ Wozu hatte Pokroff schließlich eine kluge, universalgelehrte Ehefrau, die gerade ihren 35. Geburtstag gefeiert hatte und deren Wissen für mehrere Universitätsabschlüsse gereicht hätte? Carola verstand sich zwar als Germanistin und arbeitete als Lektorin, doch sie hatte auch ein paar Semester Kunstgeschichte, Romanistik und Anglistik studiert.

„Ist das eine dienstliche oder private Frage?“

„Selbstverständlich dienstlich“, kicherte Pokroff ins Telefon. „Soldaten und Polizisten nutzen ihre Ferien nämlich als Bildungsurlaub in Sachen Kunstgeschichte, um vor ihren schöngeistigen Ehefrauen nicht als Banausen dazustehen. Deshalb interessieren mich die Ikonen in diesem neuen Sakralmuseum in der Friedrich-Ebert-Anlage.“

„Die osteuropäische Kirchenkunst haben wir nur gestreift. Wieso?“

„Ach, weißt du, ich habe gerade so ein Einführungsbuch studiert. Nun beschäftigt mich eine Frage: Warum gibt es eigentlich so wenige bekannte Ikonenmaler?“

„Ein paar bekannte Größen wie Andrej Rubljow gibt es schon. Aber in den früheren Jahrhunderten waren Ikonenmaler oft einfache und sehr begabte Mönche.“

„Aber es ist doch auffällig, dass die meisten dieser Heiligenbilder gar keine Signaturen tragen. Du kennst doch mein Dürer-Bild mit dem Hasen und den auffälligen Initialen A und D. Auf einer Ikone habe ich bislang so etwas noch nicht gesehen.“

„Das hast du richtig beobachtet. Einzelne signierte Ikonen gibt es zwar, aber erst ab dem späten 18. Jahrhundert. Aber weißt du, die frühen Maler, das waren eben immer sehr bescheidene Menschen. Denen ging es um das Gotteslob. Berühmt werden wollten die nicht. Und so etwas wie Urheberrecht gab es damals auch noch nicht“, führte Carola Pokroff aus. „Genauer kann ich dir das jetzt auf die Schnelle auch nicht erklären. Und jetzt verzeih, das Nudelwasser kocht.“

„Das Nudelwasser“, murmelte Pokroff halblaut vor sich hin, während die Leitung klackte. „Immer wenn man was von den Menschen braucht, droht gerade irgendetwas anzubrennen oder überzukochen.“ Pokroff merkte mal wieder, wie wenig er mit Haus- und Küchenarbeit am Hut hatte. Dann blickte der Kommissar noch mal zu seinem früheren Arbeitsplatz, wo jetzt dieses Hochglanzplakat verloren gegangene Schätze anpries. Irgendwie war es schon eine seltsame Ironie der Geschichte. So manchen goldglitzernden Schatz hatte Pokroff im alten Polizeipalast vor dem Umzug in die Miquelallee ebenfalls sicherstellen und untersuchen müssen. Vieles davon wanderte in die Asservatenkammer, um der Öffentlichkeit als Kuriosität im Kriminalmuseum des neuen Hauptgebäudes gezeigt zu werden – was dann jedoch im abgelegenen Keller geschah. Nun aber präsentierte sich ausgerechnet sein gutes altes Präsidium mit der stattlichen Säulenhalle als Tempel für sakrale Kunstgegenstände, die ihrerseits aus fraglichen Asservatenkammern kamen – Kirchenschätze, die im Handgemenge zwischen Klerus und Klassenkampf selbst den Stoff für einen drehbuchreifen Krimi lieferten.

„Irgendwie schon eine seltsame Ironie der Geschichte“, dachte Pokroff. Und schaute noch einmal zur benachbarten Matthäuskirche und dem leuchtenden goldenen Kreuz. Dort öffnete sich gerade die Tür, und ein Geistlicher im Gehrock steuerte mit forschem und energischem Schritt das benachbarte Sakralmuseum an. Genau in diesem Moment verdeckte eine dicke Wolke die Sonne und nahm dem Kreuz seine Strahlkraft. Ein böses Omen? Wie schon gesagt, besonders gläubig und kircheninteressiert war der Kommissar eigentlich nicht. Und doch entfuhr ihm in dieser Situation so etwas wie ein Stoßgebet: „Mein Gott, wenn das mal alles gut geht.“

Im Eifer deines Dieners

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