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Kapitel 4

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Pokroff verständigte sofort sämtliche verfügbaren Einsatzkräfte und schrieb den russischen Priester zur Großfahndung aus. Mit zwei weiteren Beamten fuhr er dann zu Gregoriews Dienstwohnung, die schräg gegenüber von der Matthäuskirche im angrenzenden Westend lag. Doch dort war er nicht. Derweil suchte Zorbas mit den übrigen Beamten die Kirche und das gesamte Gelände zwischen Sakralmuseum und Hauptbahnhof ab.

Es war eine typische frühe, wenn auch zu milde Winternacht im östlichen Gallus, unweit des Bahnhofs. Hier und da verließen ein paar späte Kneipengänger ihre Stammlokale und verloren sich im Dunkeln der wenig einladenden Straßen: hier und da mal ein neues, aber steriles Hotel, ansonsten vernachlässigte, zum Teil mit Graffiti beschmierte Fassaden alter Klinkerbauten, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten.

Sofern man dort ein paar fremdsprachige Äußerungen aufschnappen konnte, waren es meist Äußerungen in italienischen Dialekten. Sie stammten von Gastarbeitern der ersten Generation, die seit Jahrzehnten in Frankfurt lebten und kaum noch einen Bezug zur Dichtersprache von Petrarca oder Boccaccio hatten. Zwar war es auch für italienische Verhältnisse bereits ziemlich ungemütlich, doch die Afrikaner, die meist aus Äthiopien und Eritrea kamen und diese Gegend in den Sommermonaten oft in Scharen bevölkerten, waren außerhalb ihrer Stammlokale so gut wie gar nicht mehr zu sehen.

Pokroff ordnete an, zwei Zivilfahrzeuge zur Beobachtung in der Friedrich-Ebert-Anlage zwischen Sakralmuseum und Matthäuskirche aufzustellen. Und zwar so, dass die Polizisten in Zivil die Dienstwohnung im Westend ebenso einsehen konnten wie das Eingangstor zwischen Museum und Kirche. Er selbst stellte seinen Wagen in der Ludwigstraße ab, damit er mit seinem jungen griechischen Kollegen auch das evangelische Gemeindehaus und den dortigen Eingang zur Kirche überblicken konnte. Doch zunächst stieg Pokroff aus und ging unruhig die Mainzer Landstraße auf und ab. Mittlerweile war Zorbas zurückgekommen und erklärte sich nur widerwillig bereit, sich die Nacht zusammen mit seinem Chef um die Ohren zu schlagen. „Für waschechte Südländer ist es immer noch kalt genug, und die Afrikaner frieren sich selbst bei fünf Grad womöglich ihr Hinterteil ab“, murrte er unwillig vor sich hin.

„Aber wenigstens so ein Russe müsste doch abgehärtet genug sein, um irgendwo in der Stadt sein Gemüt abzukühlen“, ermutigte ihn Pokroff. „Er wird hier bestimmt bald irgendwo erscheinen. Dann können wir ihn festnehmen. Den Täter zieht es immer an den Tatort zurück. Kein Geistlicher dieser Welt verzieht sich nach einer solchen Tat einfach in sein Kämmerlein und betet still vor sich hin.“ Plötzlich tauchte ein dunkelhaariger Mann mit Bart an der Straßenecke auf. Instinktiv spannte Pokroff seine Muskeln an, wollte schon die Kollegen in der Friedrich-Ebert-Anlage herbeirufen. Auch von der Bundespolizei am Hauptbahnhof konnte man zur Not schnell Verstärkung einfordern. Doch dann kam der Mann näher, so dass eine Straßenlaterne sein Gesicht für einen Moment anleuchten konnte. Das Haar war eher dunkelbraun als schwarz und er hatte bestenfalls einen Dreitagebart. So übermächtig auch Pokroffs Wille nach einem schnellen Zugriff war, hier würde er ganz sicher einen Unschuldigen erwischen.

Pokroff versuchte sich zu beruhigen und zu seinem Auto zurückzugehen. Allerdings sehr langsam und nachdenklich. Dann dachte er nochmals über den Abend und den ganzen Vorfall nach. Er hatte also Recht behalten. Iwan Gregoriew und Werner Klotzhofer, das konnte sich auf Dauer nicht vertragen. Wie sehr wünschte sich Pokroff nun jenen letzten freien Tag zurück, an dem er bei strahlendem Sonnenschein am Museum für Osteuropäische Sakralkunst vorbeigefahren war. Jenen Moment, als er versuchte, diese letzte Ruhe vor dem Sturm noch einmal zum Auftanken zu nutzen. Nun merkte er erst, wie sehr er diesen letzten freien Tag wirklich gebraucht hatte.

„Verdammt, nichts zu sehen von unserem verrückten Priester“, brummte Zorbas. „Wer weiß, ob der sich nicht längst mit dem Nachtzug nach Moskau abgesetzt hat.“

„Bestimmt nicht. Dann hätte ihn die Bundespolizei im Hauptbahnhof längst geschnappt“, versicherte Pokroff. „Der hat sich noch schnell und unauffällig Richtung Innenstadt verdrückt, bevor hier unser Großaufgebot angerückt ist. Aber spätestens zur Frühmesse muss er zurückkommen und hofft sicher, dass wir dann nicht mehr da sind. Und dann schlagen wir zu.“

„Und bis dahin?“

„Bis dahin, mein Lieber, sind wir beide zur Nachtwache eingeteilt. Selbst nach 0 Uhr kann der Feind noch von allen Seiten angreifen. Du setzt dich ans Steuer. Ich hoffe, du hast dir einen spannenden Krimi mitgebracht. Denn jetzt bin ich erst mal mit dem Ausruhen dran.“

„Habe schon verstanden. Aber Sie hatten immerhin Urlaub“, konterte Zorbas schlagfertig.

„Von wegen. Ich hatte Bildungsurlaub, den ich auch noch nutzen musste, um Bad und Küche generalstabsmäßig einzurichten.“

„Noch so’n kalter Joke, und ich spuck Eiswürfel“, frotzelte Zorbas unwillig zurück. „Und das mitten in dieser lausigen Dezembernacht.“ Die coolen Jugendsprüche der 80er Jahre hatte Zorbas noch ganz gut drauf, auch wenn er damals gerade erst nach Deutschland gekommen war.

Die beiden Polizisten schlugen die Autotüren zu, harrten mit zurückgeklapptem Sitz missmutig der Dinge, die da kommen mochten. Stunden später wurde Pokroff von seinem vertrauten Surren alarmiert. Der Oberkommissar drückte die Krone seines Armbandweckers hinein, blickte auf den matten Schein der Leuchtziffern und schaltete die Beleuchtung seiner Funkuhr ein, die griffbereit auf dem Armaturenbrett lag. Hier wie da war es genau 6 Uhr. Pokroff drehte an der Lünette seiner Poljot-Weltzeituhr, bis die Markierung der mitteleuropäischen Zeit richtig stand. Sechs Uhr in Frankfurt und 9 Uhr in Moskau, und nichts rührte sich weit und breit. Pokroff schaute zum Haus mit der Dienstwohnung von Gregoriew. Doch alles blieb dunkel, auch wenn auf der Straße allmählich der Berufsverkehr startete.

Die Armband-Weckeruhr der ruhmreichen Kosmonauten bildete für Pokroff eine kulturelle Brücke nach Russland. Das Emblem, das ein stilisiertes Aeroflot-Wappen mit angedeuteten Tragflächen zeigte, war des Kommissars ganzer Stolz. Zuhause hatte er noch eine zweite Uhr mit Zwiebeltürmen auf dem Zifferblatt. Nein, Pokroff war nicht der Typ, der mit Uhren, Schmuck oder teuren Autos angeben wollte. Deshalb trug er am Handgelenk nur eine billige Funkuhr. Doch die Ästhetik der Mechanik mit ihrem sanften Ticken, die hatte es ihm angetan.

Unwillkürlich drehte sich Pokroff noch einmal zur Seite. Als er die Augen erneut aufschlug, blinzelte er der Sonne entgegen, die sich zwischen einer ansonsten fast dichten Wolkendecke zeigte. „So ein Mist“, brummelte er. „Hoffentlich haben wir ihn jetzt nicht verpasst!“ Pokroff schob seine Decke beiseite, in die er sich notdürftig eingewickelt hatte. Eine kleine Pause mit halb geschlossenen Augen konnte man einem Hauptkommissar im Dienst gerade noch durchgehen lassen. Pokroff sprach dann immer von Augenpausen. Aber die Augen mussten sich auch beizeiten wieder öffnen. Sonst könnte es brenzlig werden. Was auch für Zorbas galt, der inzwischen ebenfalls aufgewacht war und unwillig vor sich hin gähnte.

„Mann, warum hast du mich nicht geweckt?“ Pokroff stieß seinen Kollegen in die Seite. „Auf seine Offiziere muss man sich verlassen können. Die Pflicht ruft! So ein Kerl wie du, der kann jetzt schon ganze Bäume ausreißen.“

„Das sagt gerade der Richtige“, entgegnete Zorbas unwillig und startete den Motor.

Vor der Kirche herrschte Totenstille. Nirgendwo war ein brennendes Licht zu sehen, nicht einmal im Gemeindehaus. „Nein, hier kann er nicht hereingekommen sein. Das hätten wir oder wenigstens die Kollegen bemerkt“, sprach sich Pokroff Mut zu. Deshalb steuerte Zorbas anschließend Gregoriews Dienstwohnung an. Doch dort tat sich auch nichts. Also funkte der Hauptkommissar zunächst seine Kollegin Kommissarin Christiane Bechstein an, um sich nach dem Stand ihrer Ermittlungen im Museum zu erkundigen. Doch er bekam keinen Kontakt, als befände er sich im Funkloch. Dann fuhr er mit dem Wagen hinüber zur Kirche und suchte einen Parkplatz in der Hohenstaufenstraße. Noch einmal verständigte er sicherheitshalber die Funkstreife. Dann machte er sich für seinen Zugriff bereit.

Derweil klingelte das Handy. Es war Christiane Bechstein. „Hallo Christiane, wie sieht‘s aus?“, wollte Pokroff wissen. „Ich konnte dich gerade nicht erreichen. Seid ihr schon im Museum? Und habt ihr einige Leute befragen können?“

„Entschuldigung, es gab da wohl eine Störung. Ja, der Kurator Friedrich, die Sekretärin und einer der beiden Pförtner sind vor Ort. Alle haben Gregoriews Auftritt im Museum miterlebt und seine Drohung gehört, dass er wiederkommen und abrechnen will. Die Sekretärin hat sogar vorsorglich einen späten Gesprächstermin in Klotzhofers Terminkalender eingetragen. Friedrich und die Sekretärin haben das Museum dann gemeinsam verlassen, wie der Tagespförtner bestätigt. Der Nachtpförtner hat selbstverständlich frei. Den muss ich später noch besuchen. Dabei wollte ich bis zum Nachmittag noch ein paar Überstunden abbauen. Aber wenn ich ihn zuhause antreffe, bringe ich ihn euch selbstverständlich zum Protokoll vorbei.“

„Danke, gut so. Das sieht wirklich schlecht für Gregoriew aus, nachdem ihn die Zeugin auch beschrieben und sogar seinen Namen gehört hat. Okay, dann schau ich jetzt mal, ob ich ihn endlich in der Kirche finden kann.“

Iwan Gregoriew stand vor dem Altar im großen Saal der Matthäuskirche und blickte ergeben in das Antlitz des Heilands und Retters, das von der Figur des erhabenen Wandreliefs auf ihn herabstrahlte. Überwältigt von der Aura des Gesichts und des Nimbus fiel er auf die Knie, bekreuzigte sich, senkte den Kopf zum Boden und bat den Herrn inbrünstig um Vergebung und um Kraft für den schweren Weg, den er nun zu gehen habe.

Im oberen Kirchsaal der Hoffnungsgemeinde, den die Russen und Rumänen für ihre großen Messen nutzten, fühlte sich der Priester ebenso zuhause wie in der Unterkirche, in der er seine Gemeinden für kleinere Gottesdienste versammelte. Wann immer er sich bedrängt fühlte und meditative Ruhe für ein inniges Gebet in schwerer Stunde suchte, zog er sich gerne hierher zurück. Weit nach Mitternacht war er von der Hohenstaufenstraße in den hinteren Teil des Gemeindehauses gekommen, wo ihm auch ein kleiner Ruheraum zur Verfügung stand. Da sich der umtriebige Gottesmann auch für ein russisches Theaterprojekt in der benachbarten Falkschule engagierte, konnte er mit dem Schlüssel durch das hintere Tor des Schulhofes zur Kirche gelangen – offenbar unbemerkt, wie es schien.

Gregoriew hatte noch spät in der Nacht das Gespräch mit einem befreundeten Amtsbruder der russischen Kirche Sankt Nikolaus am Fischstein gesucht. Er brauchte geistigen Rat und Zuspruch, da er nicht wusste, wie er mit seiner jetzigen schwierigen Situation leben sollte. Nun hörte er, wie sich von hinten die Tür öffnete und eine vertraute gute Seele den Kirchsaal betrat.

„Gospodin, mein Gott, Vater Gregoriew, was machen Sie denn hier so ganz alleine? Es wird doch Zeit, dass wir die Unterkirche für die Frühmesse vorbereiten!“ Es war Anna Tschernowa, die Gemeindesekretärin, die schon am frühen Morgen nach dem Rechten sah – auch wenn ihr Dienst eigentlich erst zwei Stunden später begann. Sie erschrak, als sie den Priester so tief versunken vor dem Altar erblickte, und beschloss, die schlimme Nachricht noch einen Moment für sich zu behalten.

Gregoriew erhob sich, blickte im Kirchsaal umher, sichtlich bemüht, sich und seinen Geist wieder zurück ins Diesseits zu katapultieren.

„Ich komme gleich ... Ja, ich komme gleich. Einen Moment noch. Sagen Sie bitte unten Bescheid.“

Vorsichtig zog die Sekretärin nun die Tageszeitung aus der Handtasche, näherte sich dem Geistlichen und ließ die Finger über die Schreckensmeldung auf der Titelseite gleiten. „Schauen Sie doch, Vater Gregoriew! Direktor Klotzhofer – es, es ist etwas ganz Furchtbares passiert!“

Gregoriew zuckte zusammen, hielt sich die Hand ans Herz, blickte der mächtigen Heilandsfigur ins Antlitz. „Oh, Herr, nun hat er seine Strafe erhalten. Aber das wollte ich wirklich nicht, Anna, das müssen Sie mir glauben, das wollte ich nicht.“ Noch bevor die gute Seele irgendwie reagieren konnte, schob er sofort nach: „Und nun gehen Sie nach unten, bitte! Ich komme sofort nach.“

Anna Tschernowa tat, wie ihr geheißen, denn sie war es nicht gewohnt, die Anweisung eines Gottesmannes zu hinterfragen. Gregoriew erhob sich und versuchte dabei noch einmal seine Gedanken zu sammeln. Keine Frage, er hatte sich für seinen Glauben und seine Überzeugung aus der Reserve locken lassen, hatte oft viel zu laut, emotional und impulsiv reagiert. Nun war es zum Äußersten gekommen. Auch außerhalb des stillen Gebetes musste Gregoriew die Selbstbeherrschung und Kontrolle über seine körperlichen Regungen zurückgewinnen. Sonst würde er die kommenden Tage nicht überleben. Gregoriew blickte auf seine Hände, die sich nur allzu gerne zu Fäusten ballten, und befahl sich noch einmal Ruhe und innere Gelassenheit – mit der Hilfe des Herrn, versteht sich. Bedächtig schritt Gregoriew die violette Marmortreppe hinab und betrat die Unterkirche. Er legte sich gerade sein Priestergewand an und versuchte, sich auf die Morgenmesse vorzubereiten, als Pokroff die Eingangstür öffnete. Im Hintergrund brannten einige Wachskerzen, die eine strenge Ikone der Gottesmutter ausleuchteten. Aus dem rechten Seitentrakt erklangen die mystischen Gesänge der kirchenslawischen Liturgie, die ein kleiner Frauenchor immer wieder probte. Pokroff erkannte sofort die inbrünstige, immer wiederkehrende Litanei, die ihm noch aus russischen Gottesdiensten seiner Kindheit geläufig war: „Gospodin, Gospodin, Gospodin ... Amen.“ Noch inbrünstiger konnte man den Namen des Herrn nicht besingen. Auch wenn die russisch-orthodoxe Gemeinde oft nur den bescheidenen Versammlungsraum in der Unterkirche nutzen konnte, so wirkte dieser Raum doch wie ein kleiner Tempel. Der Duft von Weihrauch und Kerzenwachs waberte in der Luft wie der mystische Atem des Allmächtigen. Und der mehrstimmige Refrain der gottesfürchtigen Frauen zog den nüchternen Kommissar für einen Moment in seinen Bann, ließ ihn den schrecklichen Grund seines unangekündigten Besuchs fast vergessen. Konnte er es überhaupt wagen, die heiligen Handlungen in diesem orthodoxen Gemeindesaal zu stören? Keine Frage: Auf solche Emotionen konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er musste sich wieder auf seinen Auftrag und auf seine Dienstpflicht besinnen, und den dringend tatverdächtigen Priester unverzüglich mit aufs Polizeipräsidium nehmen.

„Guten Morgen, Kommissar Pokroff vom K 11. Und neben mir, das ist mein Kollege Zorbas. Sind sie Priester Iwan Gregoriew?“

„Ja, der bin ich.“

„Verzeihen Sie, dass ich einfach hier hereinkomme und Sie bei Ihren Vorbereitungen störe. Doch die Sache duldet keinen Aufschub. Wo waren Sie gestern Abend zwischen 19 und 20 Uhr? Und wo die ganze Nacht? Von Ihrer Dienstwohnung aus sind Sie jedenfalls nicht in die Kirche gekommen.“

„Du lieber Gott, Sie kommen wegen Klotzhofer, wie schrecklich, ich habe es in der Zeitung gelesen. Aber, aber ... ich wollte das nicht, nein wirklich nicht! Und ich war den ganzen Abend und die Nacht überhaupt nicht hier.“

„Lassen Sie gefälligst das Theater, Sie wurden gesehen!“, herrschte Pokroff den Priester an. „Also wann genau waren Sie am Museum und was ist dort passiert? Ich fürchte, Hochwürden, Sie kommen in große Schwierigkeiten, wenn Sie mir die Sache nicht umgehend schlüssig erklären können.“

„Nein, nein. Ich war nicht am Museum. Ich, ich war am frühen Abend in einem Bistro nahe der Galluswarte, um mich mit einer jungen Dame in Not zu treffen. Übernachtet habe ich drüben, in einem Seitenraum in der Kirche. Das tue ich manchmal, wenn ich morgens schon sehr früh hier sein muss.“

Pokroff schluckte. „Menschenskind, Herr Pfarrer, also bei allem Respekt vor Ihnen und Ihrem geistigen Amt, was soll diese verrückte Geschichte? Sie waren zur besagten Zeit am Tatort, dafür gibt es Zeugen. Von welchem Mädchen und welchem Bistro reden Sie überhaupt? Und wo sind sie nur die ganze Nacht gewesen? Wir haben sie überall in der Kirche und in Ihrer Dienstwohnung gesucht.“

„Ich war noch bei einem Diakon in der Sankt-Nikolaus-Kirche. Ich hatte einen sehr schweren Tag hinter mir, dann noch das schwere Treffen mit der jungen Dame, da brauchte ich das Gespräch mit einem lieben Amtsbruder. Erst am frühen Morgen bin ich zurück in die Kirche gekommen.“

„Verdammter Mist“, dachte Pokroff. Offenbar hatte er den verdächtigen Priester übersehen, wenn nicht gar verschlafen. „Wann waren Sie bei diesem Diakon in Sankt Nikolaus?“, hakte er nach. Gregoriew überlegte. „Das muss so gegen 23 Uhr gewesen sein.“

„Also deutlich nach der Tatzeit. Wie auch immer, gegen 20 Uhr wurden Sie von einer Zeugin erst beim Museumseingang und dann im Hinterhof des Museums in der Ludwigstraße gesehen.“ Pokroff funkte kurz seine beiden Kollegen von der Funkstreife an, die sicherheitshalber draußen warteten. „Ich muss Sie leider auffordern, unverzüglich mit uns aufs Polizeipräsidium zu kommen.“ Gregoriew riss die Arme nach oben, ging demonstrativ in die Abwehrhaltung. „Aber das ist völlig unmöglich. Ich muss gleich die Morgenmesse vorbereiten. Nach der Messe muss ich die Beiche abnehmen. Und dann habe ich ein dienstliches Gespräch.“

„Ich fürchte, Herr Gregoriew, das muss warten. Ich weiß, dass Sie mir nicht die Wahrheit sagen. Sie belügen mich, weil Sie genau wissen, was da gestern vor dem Museum für Orthodoxe Sakralkunst Furchtbares passiert ist. Und am Nachmittag zuvor hatten mehrere Zeugen gehört, wie sie mit Klotzhofer heftig wegen einer Ikone stritten, ihn beschimpften und drohten, dass Sie abends wiederkommen wollten.“

„Nein, ich war gestern Abend in diesem Bistro bei der Galluswarte. Und zwar um 20 Uhr“, insistierte Gegroriew. Er holte kurz Luft.

„Klotzhofer hat Schlimmes getan, und dafür wollte ich ihn gehörig zur Rede stellen. Aber ich wollte ihn doch niemals töten. Ja, die Kommunisten haben sich diese Ikonen durch brutale Plünderungen angeeignet, sie sind Beutekunst. Vor allem die Heilige Barbara, die nur durch ein Wunder aus dem ehrwürdigen sibirischen Kloster gerettet wurde, das diese Barbaren in Brand steckten. Ein schrecklicher Skandal! Solche Ikonen kann man doch nicht obszön zur Schau stellen, um damit Geld einzunehmen. Man muss sie der Russischen Kirche zurückgeben. Das wollte ich Klotzhofer sagen. Aber ich konnte nicht, weil mich dann dieses russische Mädchen angerufen und um Hilfe gebeten hat.“

„Wie heißt dieses Mädchen, und in welchem Café haben Sie sie getroffen? Und wo können wir sie jetzt finden?“ Pokroff konnte nicht glauben, was ihm der Priester da auftischte. Aber er handelte nach Dienstvorschrift und fragte routiniert weiter.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das Mädchen hat Angst und mich um Schutz und Diskretion gebeten. Vielleicht hat sie mir selbst nicht mal ihren richtigen Namen gesagt.“

„Aber das Mädchen ist im Moment Ihre einzige Entlastungszeugin, wenn Sie nicht am Tatort waren. Dann hätten Sie wenigstens ein Alibi, das wir überprüfen können. Also mit wem haben Sie da über was geredet?“

„Ich kann Ihnen den Namen nicht sagen“, insistierte Gregoriew mit eiserner Miene.

„Und wie hieß das Bistro, in dem Sie sie trafen?“

„Das weiß ich auch nicht mehr. Das Mädchen hat das Bistro ausgesucht. Irgendeine asiatische Bar an der Galluswarte mit vielen Spielautomaten. Ich kenne mich hier mit den Bars nicht so gut aus.“

„Tut mir leid, aber dann müssen Sie unverzüglich mitkommen.“ Inzwischen näherten sich die beiden von Pokroff verständigten Kollegen, die Handschellen hatten sie bereits griffparat. „Herr Gregoriew, leisten Sie bitte keinen Widerstand. Es ist zwecklos“, mahnte Pokroff.

Gregoriew dachte für einen Moment an den Heiligen Leonhard, wie er mit seinen mächtigen Ketten die Außenfassade der gleichnamigen Kirche in der Alten Mainzer Gasse ziert. Würde man ihm wenigstens diese Schmach ersparen? Pokroff schien ein Einsehen zu haben. Da sich Gregoriew nun dazu zwang, sich stoisch in sein Schicksal zu fügen, blieben ihm wenigstens die Handschellen erspart.

Im Eifer deines Dieners

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