Читать книгу Sei eine Stimme, nicht nur ein Echo - Gerrit Winter - Страница 6
ОглавлениеES WAR EINMAL ...
Unsere Atmung gehört zu den am häufigsten ignorierten Körperfunktionen, die wir haben. Wann hast du das letzte Mal mit vollem Bewusstsein auf deine Atmung geachtet? Wahrscheinlich ist dies etwas, das wir alle selten bis gar nicht tun. Es ist jedoch ausgesprochen wichtig, dass wir uns der großen Bedeutung unserer Atmung bewusst sind, denn ohne diese Körperfunktion sind wir nicht lebensfähig. Das Atmen ist ein lebensnotwendiger, automatischer Vorgang, den wir aber auch bewusst steuern und beeinflussen können. Deshalb widme ich ihm auch ein ganzes Kapitel.
Vielen geht im Laufe des Lebens die „richtige“, natürlich und tief fließende Atmung verloren. Wir atmen zwar, aber bei den meisten Menschen sitzt die Atmung zu hoch, das heißt, ein Atemzug endet bereits auf halber Strecke und nimmt nicht mehr den vollständigen Weg in die Tiefe des verfügbaren Atemsystems. Dadurch können wir einen Atemzug auch nicht zu 100 Prozent nutzen, unser Potenzial nicht ausschöpfen und natürlich unseren Körper auch nicht optimal mit Energie versorgen.
Wenn wir auf die Welt kommen, machen wir von ganz alleine noch alles richtig. Wir atmen von Natur aus in den Bauch. Die Bauchatmung beruhigt und entspannt. Mit zunehmendem Alter verlernen wir die so wichtige Bauchatmung. Wir werden kurzatmig, halten den Atem an, atmen zu wenig, zu flach, zu schnell und verlieren die Verbindung zu unserem tiefen und wertvollen Atem. Durch den Stress des Alltags verschiebt sich unsere Atmung weiter nach oben in den Brustkorb. Dort gehört sie aber nicht hin, und statt innezuhalten und dies zu erkennen, wundern wir uns, warum wir immer gestresster werden und sich im wahrsten Sinne des Wortes in Hals und Brustraum ein Druck aufbaut. Die Atmung kann dabei immer höher rutschen, bis sie auch unseren Kehlkopf beeinträchtigt, der so seinen natürlichen Sitz verliert. Unsere Stimmbänder liegen genau dahinter und werden folglich ebenfalls negativ beeinflusst. Nichts ist dann mehr am rechten Platz.
Eine unbewusste und nur noch im Brustraum stattfindende Atmung hat Auswirkungen auf den ganzen Körper. Andauernde Brustatmung geht einher mit dem automatischen Hochziehen der Schultern, dies wiederum verspannt die Nackenmuskulatur und verursacht dann beispielsweise Kopfschmerzen. Doch richtige oder falsche Atmung hat über die physischen und physiologischen Reaktionen hinaus wiederum Auswirkungen auf deinen Körper.
Die Atmung ist die zentrale Steuerung unseres Körpers. Auch gelangt bei der unvollständigen Brustatmung nicht genügend Sauerstoff in unsere Zellen; dieser Mangel kann zu Müdigkeit, Kraftlosigkeit und zu einer schlechteren Gemütsverfassung führen. Sauerstoff ist unser wichtigster Treibstoff und sollte schnell und effizient in unseren Organismus transportiert werden. Über den Atemzug sollte er tief in deine Lungen gelangen, um von dort über den Blutkreislauf deine Zellen zu erreichen, damit diese ihre Arbeit optimal verrichten können.
Eine Korrektur der Atmung löst bei meiner Arbeit oft die ersten festgerosteten Zahnräder und sorgt für mehr Freiheit, Klarheit und Wohlbefinden. Nicht wenige Klienten fangen an zu weinen, weil sie plötzlich intensiv spüren, dass sie wieder durch ihren gesamten Körper atmen können. Über Jahre aufgebauter Druck und Spannung lösen sich, sie können auf einmal wieder durchatmen.
All dies erklärt sicher deutlich, warum ich mit meinen Klienten jede Stunde grundsätzlich mit Übungen zur Atmung beginne. Ohne vollständige gesunde Atmung kein zentrierter Sitz im Bauch, dadurch keine Ruhe und Entspannung, keine gut sitzende und kräftige Stimme, weniger Ausstrahlung und somit eingeschränkte Möglichkeiten, sich auszudrücken.
Dazu noch eine Anekdote meiner lieben Freundin, Erfolgscoach Sabine Asgodom. Vor vielen Jahren hatte sie ein Erlebnis, das sie nutzt, um den Menschen die Wichtigkeit der Atmung bewusst zu machen: Eines Tages stand Sabine wieder einmal auf der Bühne und hielt einen Vortrag. Inhaltlich war sie wie immer ausgesprochen stark, nur ihre Stimme wollte in diesem Moment nicht so richtig mitspielen. Ein aufmerksamer Beobachter sprach sie darauf an und wies sie auf die Wichtigkeit der Bauchatmung hin. Sabine entgegnete, dass sie doch nicht in den Bauch atmen könne, man habe ihr schließlich beigebracht, den Bauch einzuziehen, um schlanker zu wirken. Ein Verhalten, das ich auch bei vielen meiner Kundinnen beobachte. Sabine änderte daraufhin diese Angewohnheit.
Deine Körpermitte ist dein Bauch. Er ist das Zentrum deines Körpers. Wenn man seine Mitte im Leben finden will, muss man den Treibstoff des Lebens, nämlich Sauerstoff, demnach zur Mitte bringen. Den Weg zurück zu dir und deiner Atmung zu finden ist der Grundstein für die Arbeit an deiner Stimme. Dieser Weg ist manchmal kurz und für einige Menschen leicht lösbar, für die meisten aber eher eine Herausforderung, weil sie seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten nur noch in der Brustatmung unterwegs sind. Durch dieses langjährige Eingefahrensein wehrt sich der Körper anfangs, sodass das Überspielen beziehungsweise Neuprogrammieren einige Zeit in Anspruch nimmt und tägliches oder zumindest regelmäßiges Training erfordert. Die gute Nachricht: Eine Minute pro Trainingseinheit reicht! Machbar, oder? Nicht verzagen und so lange üben, bis die Luft wieder da ist, wo sie hingehört: in deinen Bauch. Genauso, wie es mal war, als du klein warst. Wie so oft im Leben: zurück zum Kindsein. Die folgenden Übungen können dir dabei helfen.
BAUCHATMUNG
Ein paar einfache Übungen helfen dir, deine Atmung zu korrigieren und zu deiner Körpermitte zurückzufinden.
Um deine Bauchatmung wieder zum Leben zu erwecken und zu trainieren, möchte ich dir eine Reihe von Atemübungen an die Hand geben, die du so oft wie möglich üben solltest. Sie brauchen nur wenige Sekunden deiner täglichen Aufmerksamkeit, damit sich der Körper schnell wieder an diese angeborene Art der Atmung erinnert. 40-mal sollte man etwas Neues aber schon wiederholen, um es sich zur Gewohnheit werden zu lassen. So kommst du wieder in die so beruhigende und stresserprobte Bauchatmung, die sich besser anfühlt und die Basis für vieles Weitere ist.
ATEMÜBUNG PSCH
Lasse mit der Konsonantenverbindung „PSCH“ die Luft ruckartig so lange aus deinem Mund ausströmen, bis sich keine Luft mehr in deinem Bauch befindet; dein Bauch wird flach oder wölbt sich gar nach innen. Dann versuchst du langsam durch die Nase oder den Mund in den Bauch einzuatmen. Der Bauch sollte sich langsam nach vorne wölben, so weißt du, dass du es richtig machst. Stell dir vor, du hast einen Trichter im Bauch. Zuallererst schiebst du langsam die Luft an die Spitze des Trichters, ungefähr auf die Höhe der Gürtelschnalle. Der andere Teil der langsam einströmenden Luft verteilt sich dann im breiteren Teil des Trichters, also im unteren Bauch, bis hoch zum Rippenbogen. Höher sollte die Luft nicht strömen, denn darüber hinaus würde die Brustatmung beginnen.
Um deine neue Atmung leichter überprüfen zu können, kannst du deine Hand auf deinen Unterbauch legen und versuchen, genau dahin zu atmen, wo deine Hand aufliegt. Nun solltest du mehrere Wiederholungen durchführen, denn es dauert eine Weile, bis der Bauch es zulässt, Luft einströmen zu lassen. Viele Menschen sind verkrampft und die Atemweise ist dann so programmiert, dass es ein wenig Zeit braucht, bis sich diese Verkrampfungen gelöst haben und der Körper sich auf die neue Atmung einlässt.
Verstärken kannst du diese Übung, indem du dabei durch einen Strohhalm – der Umwelt zuliebe aus Papier – einatmest. Er hilft dir, die Luft langsam in den Bauch zu schieben.
Die gleiche Übung, mit oder ohne Strohhalm, kannst du auch durchführen, während du flach auf dem Rücken liegst, aber dabei einen Bücherstapel auf den unteren Bauch legst. Auch so kannst du dich selbst überprüfen: Wenn sich der Stapel beim Einatmen hebt und beim Ausatmen senkt, weißt du, dass du alles richtigmachst.
SAFT UND FLUSS:
KONTROLLIERTE ATMUNG
Diese Übung kann dir dabei helfen, eine kontrollierte Atmung zu trainieren. Sie soll dir zeigen, wie du deinen Atem steuern musst, damit deine Stimmbänder das tun, was du von ihnen verlangst. Die Luft steuert deine Stimmbänder.
Beginne damit, dass du, wie in der ersten Übung beschrieben, in den Bauch einatmest und beim Ausatmen den Buchstaben „f“ des Wortes „Saft“ so lange wie möglich zu halten versuchst. Die Vorderzähne stehen dabei auf der Unterlippe, so entsteht ein „f“.
Dieselbe Übung machst du nun mit dem Wort „Fluss“. Dieses Mal versuchst du, nur den S-Laut so lange es geht zu halten. Wichtig: konstant und so lange wie es geht, auch wenn es schwerfällt.
Wichtig ist, dass dein Bauch immer vorne bleibt. Drücke ihn während der gesamten Übung raus. Diese Haltung nennt man „Stütze“. Die Stütze nicht mit einsinken lassen, während die Luft deinen Körper verlässt. Der entstehende Überdruck nach dem Einatmen kann anfangs etwas gewöhnungsbedürftig sein, aber du wirst sicher schnell damit zurechtkommen. Um dich selbst zu kontrollieren, kannst du die Übung vor dem Spiegel durchführen.
Zu Beginn dieses Trainings hältst du vielleicht 10–20 Sekunden durch, aber schon bald wirst du dich steigern und in Richtung 40 oder gar 60 Sekunden marschieren. Wiederholungen sind der Weg zum Erfolg.
Mein Tipp: Im stressigen Alltag ist es oft der beste Weg, solche Mini-Trainings fest in deinen Tagesablauf zu integrieren. Da du zweimal am Tag die Zähne putzt, ist dieser Moment dafür eine perfekte Gelegenheit. Nachdem du deine Zahnbürste mit Zahncreme vorbereitet hast, lege sie einen Augenblick zur Seite, lege die Hände auf den unteren Teil des Bauchs und dann atme zunächst aus mit „Psch“, danach atme in den Bauch auf Höhe der Gürtelschnalle. Dann lasse das Ausatmen mit der Übung „Saft“ oder „Fluss“ folgen und halte so lange es geht aus. Ganz ruhig, gern mit geschlossenen Augen. Konzentriere dich nur auf dich und auf die ausströmende Luft. Das entspannt und braucht nur ein paar Sekunden. Danach können die Zähne geputzt werden.
Mehr Übungen dazu findest du auf meiner Website
Eine ruhige und vollständige Atmung ist die Basis für eine funktionierende und gesunde Stimme. Sie dient außerdem der Entspannung und bringt dich zurück ins Hier und Jetzt. Fokussiere dich wieder auf die Bauchatmung statt auf die Brustatmung.