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DIE KRAFT DES GEGENMITTELS
ОглавлениеEs ist diese dritte Kraft, die dann tatsächlich, wenn sie mit tiefem Bedauern verbunden ist, die Auswirkungen unserer negativen Handlungen reinigen wird. Im allgemeinen gibt es sechs Arten von Handlungen, die als Gegenmittel gegen Nichttugend angewandt werden, und es ist nichts Magisches an ihnen. Sie sind nur wirksam, wenn sie auf der starken Grundlage des Bedauerns beruhen und mit dem aufrichtigen Wunsch verbunden sind, unsere Negativität zu reinigen. Diese sechs traditionellen Methoden beinhalten: (1) die Namen der Buddhas rezitieren, (2) Mantras rezitieren, (3) die Dharma-Schriften der Buddhas rezitieren, (4) über die tiefgründige Sicht der Wirklichkeit (Leerheit) meditieren, (5) Darbringungen machen und (6) Abbildungen von Buddhas Körper, Rede und Geist herstellen, anmalen oder reparieren.
Wenn wir Nichttugend reinigen wollen, kann jede positive Handlung als Gegenmittel genutzt werden. Selbst das Fegen eines Tempelraumes kann zum kraftvollen Gegenmittel werden, wenn es mit auf richtigem Bedauern und dem starken Wunsch getan wird, Nichttugend zu reinigen. Um dies zu illustrieren, soll hier die berühmte Geschichte des Mönches Lam Chung erzählt werden, der zur Zeit Buddha Shakyamunis lebte. Lange bevor er Mönch wurde, hatte er bereits den wenig beneidenswerten Ruf von großer Dummheit und Unbelehrbarkeit erworben. Er ging zur Schule, wurde aber schon bald wieder fortgeschickt, weil seine Lehrer sagten, er sei nicht fähig, irgend etwas vom Unterricht zu behalten. Später schickten ihn seine Eltern zu einem Brahmanen, damit er vielleicht die vedischen Schriften lernen könne. Abermals war er nicht fähig, irgend etwas von dem zu behalten oder zu verstehen, was ihm beigebracht wurde. Wieder wurde er fortgeschickt.
Seine Eltern dachten, daß ihm ein Klosterleben eher liegen könnte und schickten ihn zu seinem älteren Bruder, dem Arya Lam Chen, der ihn als Mönch ordinierte. Lam Chen übernahm die Verantwortung für die Ausbildung seines jüngeren Bruders und begann damit, daß er ihn einen Dharma-Vers lehrte. Lam Chung studierte diesen Vers während drei Monaten, aber er lernte ihn nicht! Wenn er ihn am Morgen gelernt hatte, hatte er ihn bis zum Abend vergessen, und wenn er sich in der Nacht an ihn erinnerte, hatte er ihn bis zum folgenden Morgen vergessen. In der Hoffnung, daß es seinem Geist helfen würde, versuchte er, im Freien zu studieren, aber auch das nützte nichts. Er wiederholte diesen Vers so oft, während er sich in den Hügeln aufhielt, daß selbst die Schafhirten, die ihre Herden hüteten, ihn behielten und verstanden. Aber der arme Lam Chung beherrschte ihn noch immer nicht. Selbst die Schafhirten versuchten, ihm den Vers beizubringen, aber immer noch war Lam Chung unfähig, ihn zu behalten. Als Ergebnis dieser wiederholten Fehlschläge sah sich selbst sein älterer Bruder Lam Chen gezwungen, ihn wegzuschicken.
Lam Chung war völlig trostlos. Er fühlte sich zutiefst deprimiert und weinte, als er langsam die Straße entlang ging. Er dachte bei sich: «Jetzt bin ich weder ein Mönch noch ein Laie, wie elend ich doch bin!» Durch die Kraft seiner Hellsicht sah Buddha alles, was mit Lam Chung geschehen war, und ging selbst zu ihm. Er fragte ihn, warum er weine, und Lam Chung antwortete: «Ich bin so dumm, daß ich nicht einmal einen einzigen Vers der Schriften auswendig lernen kann. Jetzt hat mich selbst mein eigener Bruder aufgegeben.»
Buddha sagte ihm, daß er sich keine Sorgen machen solle. Als Methode, um seinen Geist von vergangenen negativen Handlungen zu reinigen, lehrte er ihn lediglich zwei-Worte des Dharmas und ernannte ihn zum Ausfeger des Tempels. Lam Chung war sehr glücklich mit dieser neuen Stellung und fegte den Tempel mit großer Hingabe, während er die zwei Worte wiederholte, die Buddha ihn gelehrt hatte.
Er fegte und fegte eine lange Zeit. Aber immer dann, wenn Lam Chung die rechte Seite des Tempels fegte, erschien durch die Kraft Buddhas mehr Staub auf der linken Seite. Und wenn er dorthin ging und die linke Seite des Tempels fegte, erschien wieder Staub auf der rechten Seite. Unermüdlich fuhr er mit dem Fegen und Reinigen fort, so wie Buddha ihn angewiesen hatte. So blieb die Situation für eine lange Zeit die gleiche, bis Lam Chung plötzlich von der Erkenntnis getroffen wurde, daß der Staub, den er dauernd fegte, ohne wirkliche unabhängige Existenz war. Dies war eine tiefgründige Realisation, und dadurch erlangte er ein direktes Verständnis der Leerheit, der endgültigen Natur der Wirklichkeit. Durch beständige Meditation über diese Leerheit war er bald fähig, völlige Befreiung von allen Leiden zu erlangen. Er war ein glorreicher Arhat geworden.
Buddha Shakyamuni sah, daß die Reinigungstechniken, die er Lam Chung gegeben hatte, äußerst erfolgreich waren und entschied, Lam Chungs neue Qualitäten öffentlich bekannt zu machen. Er wies seinen Schüler Ananda an, eine bestimmte Gemeinschaft von Nonnen darüber zu informieren, daß von nun an Lam Chung ihr Spiritueller Meister sein würde. Die Nonnen waren sehr aufgebracht und dachten: «Wie können wir einen Mönch als unseren Abt annehmen, der so dumm ist, daß er nach vielen Monaten noch nicht einmal einen einzigen Vers der Unterweisungen behalten kann?» Sie entschieden, daß sie ihn nicht als ihren Leiter akzeptieren müßten, wenn sie seine Unzulänglichkeit öffentlich zur Schau stellten. So verbreiteten sie in einer nahegelegenen Stadt die Nachricht, daß bald ein Mönch, der so weise sei wie Buddha selbst, kommen würde, um Unterweisungen zu geben, und daß alle, die teilnehmen würden, sicherlich große Realisationen erlangen könnten. Um seine erwartete Demütigung noch zu vergrößern, errichteten die Nonnen einen großen, prachtvollen Thron, an dem sie allerdings absichtlich die Stufen vergaßen, durch die der erhöhte Sitz hätte erreicht werden können.
Als der Tag der angekündigten Unterweisungen kam, machte sich Lam Chung auf den Weg zu der Nonnengemeinschaft, wo sich über einhunderttausend Menschen eingefunden hatten. Einige wollten zuhören und andere wollten seine Blamage erleben. Als er den großen Thron ohne Stufen sah, erkannte er, daß dieser absichtlich so gebaut worden war, um ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Ohne zu zögern streckte er seine Hand aus, so daß sie wie ein riesiger Elefantenrüssel aussah, und mit ihr verkleinerte er den Thron, bis er nur noch ein kleiner Punkt war. Dann verwandelte er den Thron zu seiner alten Größe zurück, und zum wachsenden Erstaunen der Zuschauer flog er auf den Sitz hinauf. Nach einer kurzen Phase der Meditation flog er wieder in die Luft und umkreiste die Zuschauer, bevor er zum Thron zurückkehrte. Als er wieder saß, sprach er: «Hört aufmerksam zu. Ich werde jetzt einen einwöchigen Vortrag über die Bedeutung eines Dharma-Verses geben. Es ist der gleiche Vers, den ich in der Vergangenheit auch nach dreimonatigen Versuchen nicht auswendig lernen oder verstehen konnte.»
Als die sieben Tage der Unterweisungen vorbei waren, hatten viele Tausende im Publikum ein direktes Verständnis der Wirklichkeit erlangt, während andere die erhabenen Zustände eines In-den-Strom-Eintretenden, eines Einmal-Wiederkehrenden, eines Niemals-Wiederkehrenden und volle Arhatschaft erlangten. Andere, die anwesend waren, konnten den kostbaren Bodhichitta entwickeln und diejenigen, die gekommen waren, um ihn zu prüfen, vergrößerten ihr Vertrauen in die Drei Juwelen. Danach verkündete Buddha, daß unter all seinen Schülern Lam Chung das größte Geschick hätte, den Geist anderer Lebewesen zu zähmen. Auch heute können wir noch Bilder von Lam Chung sehen, der einer der sechzehn Arhats ist, die in der buddhistischen Kunst oft dargestellt werden.
Diese Geschichte macht deutlich, daß selbst eine unkonventionelle Praxis als ein Gegenmittel gegen unsere Nichttugend dienen kann, wenn sie aufrichtig und mit der richtigen Motivation ausgeübt wird. Keine noch so wirksame Arznei kann uns aber heilen, wenn wir sie nicht einnehmen; dazu werden wir jedoch nur motiviert sein, wenn wir erkennen, wie nötig wir eine Heilung haben.
Ein schwerkranker Mensch, der denkt, daß er nicht mehr lange zu leben hat, wird ärztlichen Rat annehmen, weil er sich vor dem Tod fürchtet. [54] Wenn es bereits nötig ist, dem Rat eines Doktors zu folgen, wenn wir eine gewöhnliche Krankheit fürchten, muß dann überhaupt noch erwähnt werden, wieviel nötiger es ist, dem spirituellen Rat des geschicktesten Arztes, des mitfühlenden Buddhas, zuzuhören und ihn zu befolgen? Sein kraftvolles Dharma-Heilmittel kann die Krankheiten heilen, die uns seit anfangsloser Zeit plagen: die giftigen Verblendungen von Anhaftung, Wut und Unwissenheit.
Es bedarf nicht vieler Ursachen, um in einem Höllenbereich wiedergeboren zu werden. Wenn wir uns auch nur einen Augenblick der Wut gegen einen Bodhisattva leisten und dies nicht reinigen, werden wir uns schon bald in einer Hölle wiederfinden. So stark ist die Kraft dieser Krankheit der Wut! [55] Weder diese noch die anderen zerstörerischen geistigen Krankheiten - Anhaftung, Neid, Stolz und dergleichen - können von einem gewöhnlichen Doktor oder seiner Arznei kuriert werden. Nur der große Arzt Buddha und sein Dharma-Heilmittel kann diese Krankheiten überwinden. [56] Wenn wir die uns angebotene Arznei nicht einnehmen, wo sonst finden wir Hilfe? Es ist außergewöhnlich dumm und zeugt von Unwissenheit, sich einerseits zu wünschen, Samsara zu überwinden, aber andererseits das Ausüben einer spirituellen Praxis als einzig wirksamen Weg zur ersehnten Befreiung abzulehnen.
[57] Wenn man schon am Rande einer Klippe vorsichtig sein muß, muß man da noch über die Vorsicht sprechen, die man am Rande eines Abgrundes benötigt, der bis zur Hölle hinabreicht? Dieser ist wie eine tausend Kilometer tiefe Grube, und wir stürzen aufgrund unserer Nichttugend für eine extrem lange Zeit in sie hinein.
Deshalb müssen wir uns schnell von aller Nichttugend reinigen. [58] Es ist unklug zu denken, daß wir den heutigen Tag genießen können in der Überzeugung, daß wir jetzt nicht sterben werden. Niemand hat die Macht, mit Überzeugung sagen zu können: «Der Tod wird heute nicht zu mir kommen.» Unausweichlich kommt die Zeit, in der wir zu nichts werden. Dann werden andere über uns reden, so wie wir jetzt über diejenigen sprechen, die bereits verstorben sind.
Shantideva schließt diesen Abschnitt über die Kraft des Gegenmittels mit der Frage:
Wer kann mir sagen: «Du hast Nichttugend begangen, aber ich werde dich beschützen?» Niemand kann dies. Wenn ich daran denke, daß der Tod sicher und der Zeitpunkt des Todes so unsicher ist, wie kann ich mich von dieser großen Angst befreien? Wenn es unvermeidlich ist, daß die Zeit kommen wird, wo ich zu nichts werde, wie kann ich mich dann entspannen und damit fortfahren, mich so wie jetzt zu amüsieren? [59]
Die letzte Zeile des obigen Abschnittes bedeutet nicht, daß wir uns niemals entspannen und vergnügen dürfen. Wir sollten jedoch erkennen, daß wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine kostbare menschliche Wiedergeburt gefunden haben. Unsere ganze Zeit nur mit den Belangen dieses Lebens zu verschwenden und aufgrund unserer Achtlosigkeit nichttugendhafte Handlungen zu begehen, bedeutet ein Leben zu führen, das sich nicht von dem eines stumpfsinnigen Tieres unterscheidet. Wenn wir dieser kostbaren menschlichen Wiedergeburt einen echten Sinn geben wollen, dann sollten wir unsere zukünftigen Leben dadurch beschützen, daß wir jetzt Dharma entsprechend unserer Fähigkeit praktizieren und dadurch diese seltene Gelegenheit ausnutzen. Die Auswirkungen von Nichttugend zu reinigen, indem die richtigen Gegenmittel angewendet werden, ist eine der wichtigsten Vorgehensweisen.