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E wie EVOLUTION
ОглавлениеOder: Ein anderes Wort für Evangelium
In sechs Tagen schuf Gott die Welt – das erste Kapitel der Bibel sagt in wenigen bildhaften Worten, wofür Charles Darwin 377 Seiten brauchte, nämlich dass unsere Welt in Epochen und Perioden entstand und dass der evolutive Aufstieg dieser Welt im Grunde der darwinschen Lehre gleicht. Fernab von Sozialdarwinismus und Kreationismus richtet Ägidius Zsifkovics den Zeigestab auf den Stammbaum der Arten und entdeckt dabei – hoppala! – das lang gesuchte „missing link“.
In der wissenschaftlichen Diskussion wird heute glücklicherweise wieder sehr genau unterschieden zwischen der Evolutionstheorie als wissenschaftlicher Hypothese innerhalb eines bestimmten Forschungsgebietes – z. B. in der Physik oder der Biologie – und dem Evolutionismus, also dem Versuch einer Gesamterklärung der Wirklichkeit, wie es der Darwinismus des 19. Jahrhunderts war. Ein solcher Evolutionismus ist heute nicht mehr State-of-the-art. Die gegenwärtige wissenschaftliche Vernunft ist nicht mehr der Meinung, dass die Evolutionstheorie über die naturwissenschaftlichen Fragen hinaus auch alle metaphysischen und religiösen Fragen beantworten kann. Und selbst wenn es so wäre, bliebe immer noch die Frage nach der Herkunft der Evolutionsgesetze. Der Physiker Paul Davies sagt zu Recht, dass Gesetze erst einmal da sein müssen, damit das Universum entstehen kann. Diese „Begegnung mit dem Wunderbaren“ bleibt der Naturwissenschaft also nicht erspart. Führende Physiker des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich zu diesem Transzendenzbezug bekannt: Niels Bohr, Albert Einstein, Werner Heisenberg, Arthur Eddington, Wolfgang Pauli, Max Planck, Erwin Schrödinger, Carl Friedrich von Weizsäcker, Hans-Peter Dürr und viele andere. Ähnliche Zeugnisse gibt es von renommierten Biologen wie etwa dem Genetiker Carsten Bresch.
Der christliche Glaube darf trotz dieser „Begegnung mit dem Wunderbaren“ seinerseits nicht den Anspruch stellen, Gott wissenschaftlich erklären zu wollen. Damit würde er nur das Wesen des Glaubens als existentielles Grundvertrauen in größere Zusammenhänge beschädigen und den beschränkten menschlichen Verstand zum Götzen erheben. Was der christliche Glaube jedoch zu leisten vermag, ist eine Weltdeutung, die nicht in beleidigendem Widerspruch zu wissenschaftlicher Erkenntnis steht. Eine Weltdeutung, die eine Weltgestaltung ermöglicht und ebenso kompatibel mit dem Schöpfungsbericht des Buches Genesis ist wie mit dem Urknall, der Evolutionstheorie, dem Elektronenmikroskop oder dem Teilchenbeschleuniger. Es ist immerhin ein und derselbe Hirnapparat, der in der Evolution des Menschen die wissenschaftliche Forschung ebenso hervorgebracht hat wie den religiösen Glauben oder die Fähigkeit künstlerischen Schaffens. Warum also nicht allen diesen großartigen menschlichen Erkenntnisweisen ihr Recht lassen?
Der Fingerzeig einer Evolution, deren Strukturgesetz die Einswerdung ist, die Atome durch Vereinigung zu Molekülen werden lässt, Moleküle durch Vereinigung zu Zellen und zu Leben, Lebewesen zu Menschen und Menschen zur Menschheit, findet aus christlicher Sicht ihren Brennpunkt in der Person des Jesus von Nazareth. Systematische, breit angelegte Gedanken über Nächstenliebe finden sich zwar schon bei den vorchristlichen Stoikern, so etwas wie Mitleid oder Empathie dürfte es bereits bei den ersten Menschen in Ansätzen gegeben haben. Doch erst in Jesus von Nazareth blicken wir in das Antlitz einer Menschheit, die sich ihrer Personalität voll bewusst geworden ist und das Gesetz der Liebe als das Entwicklungs- und Überlebensgesetz der Evolution erkannt hat. In einer solchen Menschheit wachsen ab nun der Sinn und das Verlangen für das Irreversible, für die zunehmende Einzigartigkeit, Unersetzlichkeit und Unzerstörbarkeit der Elemente des Universums je nach Höhe der Entwicklungsstufe. Es ist, theologisch ausgedrückt, der Moment der Menschwerdung Gottes in der Evolution, und er findet programmatischen Ausdruck im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Aus diesem Gleichnis, das ins kollektive Gedächtnis der Menschheit, in ihre edelsten Kunstwerke eingegangen ist, lassen sich drei Leitsätze herauslesen:
Der erste Leitsatz: Nicht fertige Antworten, sondern weiterführende Fragen!
Jesus antwortet im Evangelium nicht sofort auf die Frage des Gesetzeslehrers: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Jesus fragt zurück und lässt den Gesetzeslehrer erklären, woran er selbst sich bisher orientiert hat. Erst nach der zweiten Frage des Gesetzeslehrers, „Und wer ist mein Nächster?“, erzählt Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter und will am Ende wissen, ob sein Gegenüber eine neue Erkenntnis daraus gewonnen hat. Jesus hilft damit dem Fragesteller, seine eigene Antwort zu finden.
So verstehe ich das Christsein und die gelingende Evolution des Menschen: Ich darf meinen eigenen Glaubensweg gehen. Jesus führt dabei auch mich durch seine Worte und Geschichten zu einer persönlichen Antwort auf die Frage: Wie gewinne ich ewiges Leben? – oder anders ausgedrückt: Wie bekommt mein Leben einen Sinn? Wie kann es gelingen und vor Gott bestehen? Und so stelle ich mir auch eine Kirche vor, die an Jesus Maß nimmt: Sie weiß nicht alles schon im Voraus, sie wiederholt nicht nur vorgegebene Antworten, die früher vielleicht einmal richtig waren, sondern sie lässt sich durch das Evangelium immer wieder neu anfragen und herausfordern. Sie regt uns alle zur beständigen Suche nach der Wahrheit an und ermutigt zu einem originellen Leben im Sinne Jesu. Nicht fertige Antworten, sondern weiterführende Fragen helfen dem Homo sapiens, das Christsein anzunehmen und es zu leben.
Der zweite Leitsatz: Nicht starre Gesetze, sondern situationsgerechte Entscheidungen!
Jesus sieht – wie auch der Gesetzeslehrer – im Liebesgebot den Schlüssel zu allen anderen Geboten und Verboten des jüdischen Gesetzes. Die Vorschriften haben nur dann einen Sinn, wenn sie der Liebe zum Durchbruch verhelfen; wenn sie Leben fördern und nicht einschränken; wenn sie die Freiheit des Einzelnen schützen und nicht behindern. Durch die Beispielsgeschichte will Jesus dem Gesetzeslehrer deutlich machen: Wer der Nächste ist, lässt sich nicht gesetzlich regeln. Wer in Not ist und wer mich braucht, wird mir zum Nächsten. Die erste Frage ist daher nicht: Was verlangt das Gesetz von mir? Was darf ich und was darf ich nicht?, sondern: Was ist hier und jetzt notwendig und notwendend?
So verstehe ich das Christsein und die gelingende Evolution des Menschen: Ich muss die Welt nicht durch die Brille vieler Vorschriften und Verbote betrachten, sondern ich darf in jedem Augenblick fragen: Was entspricht jetzt, in diesem konkreten Augenblick, dem Gebot der Liebe? Wie kann ich jetzt dazu beitragen, dass Leben sich entfaltet, Menschen Hilfe erfahren und befreit aufatmen können? Und so stelle ich mir auch eine Kirche vor, die an Jesus Maß nimmt: Sie presst das dynamische und sich ständig verändernde Leben nicht in ewig gültige Normen, sondern traut mir zu, mich in den verschiedenen Herausforderungen meines Lebens für das zu entscheiden, was im Sinn Jesu das jeweils Gute und Richtige ist. Nicht starre Gesetze, sondern situationsgerechte Entscheidungen helfen der Kirche, den Geist der Freiheit zu wahren und mutigen und vorausdenkenden Christen in ihr einen Platz zu geben.
Der dritte Leitsatz: Nicht fromme Sprüche, sondern menschliche Gesten!
Jesus nimmt in seiner Erzählung das Wort „Gott“ nicht ein einziges Mal in den Mund. Jesus erzählt eine Alltagsgeschichte, in die sich seine Zuhörer gut hineindenken können. Und doch ist die Nähe Gottes überall zu spüren: in der Art, wie Jesus dem Gesetzeslehrer eine neue Perspektive eröffnet; im Mitleid des Samariters; in seiner konkreten Hilfe für den Überfallenen. Jesus will den Gesetzeslehrer zur Tat bewegen, indem er ihn auffordert: „Dann geh und handle genauso!“ Nicht durch fromme Worte, sondern durch menschliche Gesten also wird Gott hörbar, erlebbar und spürbar.
So verstehe ich das Christsein und die gelingende Evolution des Menschen: Ich muss nicht viel von Gott reden. So wie ich lebe, wie ich zuhöre, wie ich auf andere zugehe, kann Gott zum Vorschein kommen. „Rede von Gott nur, wenn du gefragt wirst! Aber lebe so, dass man dich fragt!“, lautet die Devise. Und so stelle ich mir auch eine Kirche vor, die an Jesus Maß nimmt: Sie redet nicht vollmundig und wissend von Gott, sondern fördert in ihren Gemeinden und Gemeinschaften eine offene, gastfreundliche Atmosphäre, in der man die Menschenfreundlichkeit Gottes ahnen und erfahren kann. Wenn uns jemand auffordert: „Zeig uns deinen Gott!“, dann müssten wir antworten: „Sieh unseren Gottesdienst und unser Leben, wie wir uns um unsere Mitmenschen mühen, wie wir mit Konflikten umgehen, mit eigener und fremder Schuld, wie wir Frieden zu stiften versuchen und uns versöhnen – dann weißt du, wer unser Gott ist!“ Nicht fromme Sprüche also, sondern menschliche Gesten helfen mir, etwas von der Liebe Gottes zu spüren und weiterzugeben.
Die Erzählung vom barmherzigen Samariter ist nicht nur eine schöne Geschichte aus dem Mund Jesu, sondern sie ist ein Programm: für unser eigenes Christsein, für das Leben unserer Kirche, für die Entwicklung der ganzen Menschheit. Dieses Programm der Liebe wird darüber entscheiden, ob wir Heutigen – die wir selbst das lang gesuchte „missing link“ zwischen unseren stammhirngetriebenen menschenähnlichen Vorfahren und dem heute erst in Grundzügen entwickelten friedliebenden und triebbefreiten Menschen der Zukunft sind! – es schaffen werden, den Brückenschlag der Evolution fortzuführen.