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Rainer Schorm: Hunger

1213 A. D.


Inmitten des großen Platzes, der die Baustelle umgab, blieb der Mann stehen. Bleiches Novemberlicht flutete den festgetretenen Lehmboden, bevor sich der Mond wieder hinter treibenden Wolkenfetzen verbarg. Es war kalt. Der Frost schickte seine ersten Atemzüge in die junge Stadt.

Der Mann warf einen zögernden Blick über die Schulter. Er musterte die Häuser, die dunklen Fenster. Die Stadt schlief, und mit ihr alle ihre Bewohner; bis auf diejenigen, welchen die Sicherheit anvertraut worden war. Vom Norsingertor her war das Horn des Nachtwächters zu hören, dann seine Stimme. Auf die Entfernung klang sie dünn, verwob sich mit dem eisigen Winterwind.

Der Mann ging weiter, um ein schwer beladenes Fuhrwerk herum. Blöcke aus den Steinbrüchen am Lorettoberg. Das fahle Nachtlicht gab dem sanften Rotbraun einen beinahe kränklichen Ton. Die feine Musterung glich Adern in steinigem, altem Fleisch.

Rings um ihn Gestelle, Winden, Wiegebalken. Dinge aus Holz, um Stein zu heben, und der Stein selbst. Zerbrochen und zerschnitten, überall waren die konischen Einschläge für die Wolfskrallen zu sehen.

Vor ihm die neuen Mauern des entstehenden Münsters. Noch war der Großteil des alten, konradinischen Baus zu sehen. Zu klein, um dem Anspruch der jungen aufstrebenden Stadt gerecht zu werden – oder der Bedeutung des Platzes selbst. Der neue Chor und das Querhaus hatten bereits Gestalt angenommen; der Bau an den Vierungspfeilern hatte gerade begonnen – und damit der endgültige Abriss von Konrads Kirche.

Sanft glitt die Hand des Mannes über die Zeugnisse der Vergangenheit. Was hier Gestalt annahm, davon war er überzeugt, das würde Bestand haben.

Ein beinahe entsagungsvolles Lächeln glitt über das Gesicht des Baumeisters. Dann ging er weiter. Durchschritt den Torbogen und wandte sich nach links. Schließlich verschwand er im tiefen Schatten.

Es sah so aus, als habe er sich aufgelöst. Eingeatmet von der kalten Dunkelheit im Innern der wachsenden Mauern.

Und tatsächlich würde ihn kein lebender Mensch je wiedersehen.


2006


Niemand wäre jemals auf die Idee gekommen, Frank Steinert sympathisch zu nennen. Niemand, den ich kenne, zumindest, und ich selbst bin da keine Ausnahme. Er ist ganz einfach ein Kotzbrocken.

Doch diesmal war da etwas in seiner Stimme gewesen, was ich dort niemals vermutet hätte: Verwirrung und … Angst.

Ja. Ängstlich hatte er am Telefon geklungen, und mich dringend zu sich gebeten. Also nahm ich die Straßenbahn zur Innenstadt, ließ Universität und Kaiserstraße zur Linken und bog auf den Münsterplatz ein.

Es war die klassische Vorweihnachtszeit; zum Bersten voll. Die Straßen im Zentrum überlaufen von Weihnachtstouristen, Weihnachtseinkäufern und Weihnachtsmarktbesuchern. Glühweinselig, paketbeladen und sehr, sehr hektisch.

Ich kämpfte mich links am Alten Kaufhaus vorbei, zur Alten Wache hin, versuchte, den Mob zu ignorieren und erreichte schließlich die alte Münsterbauhütte mit dem Münsterladen. Auch dort war alles überlaufen. Emsiges Stoßen und Schieben.

Die Alban-Stolz-Büste schien heute grimmiger dreinzuschauen als üblich – aber wenigstens war die Schoferstraße größtenteils frei.

Wie immer irritierte mich die hier herrschende Asymmetrie. Rechts die sandsteinrote Pracht des erzbischöflichen Ordinariats, links die zurückhaltende Präsenz des Collegium Borromaeum. Am Eingang zur Konviktstraße wehte erneut ein Hauch von Weihnachtshektik zu mir herüber. Im Gegensatz dazu verbreitete der ehemalige Turmhelm einen Hauch von Verlorenheit.

Am Eingang der Münsterbauhütte erwartete mich Gregor Sonder, einer der angestellten Steinmetze, dessen breites Gesicht wie ein Abguss des Engels vor der Tür aussah, der das gespaltene Kreuz der Münsterbauhütte präsentierte. Einschließlich der kalkig fahlen Gesichtsfarbe. Er begrüßte mich, vermied es allerdings, mir in die Augen zu sehen und ging dann voran. Er hielt den Kopf die ganze Zeit über beinahe krampfhaft gesenkt. An einem Gespräch war er definitiv nicht interessiert. Als wir unser Ziel, die Werkstätten, erreicht hatten und die Tür sich öffnete, empfing mich eine seltsame Atmosphäre. Zum einen der mineralische Hauch von Steinmetzarbeiten, aber auch der laute Atem von Männern und Frauen, die offensichtlich Mühe hatten, Ruhe zu bewahren. Sie alle standen um etwas herum, das auf dem Boden lag. Zerbrochen, in rostigroten Brocken.

Aus dem Kreis löste sich Steinerts große, knochige Gestalt und kam auf mich zu. Wie bei allen spürte ich auch bei ihm diese merkwürdig drückende Angst. Dazu ein gehöriges Maß an Ratlosigkeit. Umso unheimlicher, als dieser Mann für alles Mögliche anfällig zu sein pflegte, doch weder für Angst noch für Verwirrung. Steinert verfügte über die Vorzüge eines einfachen Weltbildes.

Einen Moment lang blickte er mich schweigend an, vollführte mit seinen beinahe fleischlosen Händen ein paar merkwürdig rudernde Bewegungen, als wolle er sich gegen etwas wehren, das seine Selbstsicherheit zu unterspülen drohte. Für einen kleinen Augenblick tat mir dieser ansonsten so unsympathische Mensch tatsächlich leid.

»Schön, dass Sie so schnell kommen konnten!«

Ein Satz, bei dem er sich früher wahrscheinlich lieber die Zunge abgebissen hätte. Er, der Meister der Bauhütte, und ich, ein Historiker, der sich lediglich für moderne Geschichte interessiert. Ich nickte ihm zu. Was mochte diesen Mann derart aus dem Rhythmus gebracht haben?

Die Runde öffnete sich, um uns Platz zu machen. Ich erkannte acht weitere der elf Steinmetze und einen der beiden angestellten Bildhauer. Aber kaum hatte ich den Kreis durchschritten, wurde mein Blick beinahe gewaltsam auf den einstmals großen, rostroten Brocken gezogen, der nun, in sieben Teile zerbrochen, auf dem Boden lag.

Noch erschloss sich mir nicht, was die Leute der Münsterbauhütte so verstört haben mochte. Ich warf Steinert einen fragenden Blick zu.

Dieser atmete tief ein und sagte dann mit gepresster Stimme: »Gehen Sie auf die andere Seite! Das lange keilförmige Bruchstück.«

Ich trat näher. Und erstarrte. Sekundenlang war ich weder zu einem Wort noch zu einer Bewegung fähig. Dann drehte ich mich langsam um. Sah meinerseits entsetzte und ratlose Gesichter – wie mein eigenes, vermute ich. Steinerts Stimme klang dumpf, wie durch ein dickes Wolltuch:

»Sieht so aus, als hätten wir ihn gefunden!«


2001


»Also?«

Hier, im Inneren der Burse, schien er aufzublühen. Die kühle Dunkelheit tat ihm gut. Kein Wunder, denn bei seinem chronischen Übergewicht litt er unter der dampfenden Hitze des Freiburger Sommers. Tatsächlich sah Tomas Kovacz in diesem Moment aus wie eine dicke, schwitzende, gerupfte Eule. Vor sich einen dreifachen Espresso, der seine Lebensgeister wieder zu wecken schien.

Dabei hatte ich die ganze Zeit über das merkwürdige Gefühl, als würde er mich fixieren. Ungewöhnlich für jemanden, der ansonsten gerne direkten Blickkontakt vermied.

Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich ihn damals kennengelernt hatte. Während der ersten Vorlesung im Audimax war er der Einzige gewesen, der von einer Aura des »Komm-mir-bloß-nicht-zu-nahe« umgeben zu sein schien. In einem vollen Auditorium den Anschein von völliger Isolation zu verbreiten ist eine Kunst. Eine, die er zur Perfektion gebracht hatte. Es dauerte lange, bis ich Kontakt zu ihm bekam. Aber er war der Einzige im riesigen Saal gewesen, der Aufmerksamkeit verdiente. Sogar der vortragende Strafrechtler konnte dieses Privileg nicht beanspruchen. Das Thema schon gar nicht.

Damals hatte er genauso ausgesehen: eine dicke, zerzauste Eule.

Eine Eule mit schlechter Laune zudem. Der Inhalt der Vorlesung schien ihn nicht einfach nur zu langweilen, sondern die darüber verschwendete Zeit ärgerte ihn. Doch mit der Zeit, die wir während des weiteren Studiums zusammen verbrachten, taute er auf. Es klingt seltsam, aber er war im Laufe der Jahre der einzige »Studienfreund« gewesen, der diesen Namen wirklich verdiente. Auch wenn die juristische Fakultät nur kurz unsere gelangweilte Gegenwart ertragen musste und sich im Folgenden unsere Studienwege trennten: Tomas Kovacz blieb eine Konstante in meinem Leben.

Er riss mich aus meinen Gedanken. Über den Tisch reichte er mir einen Bogen DIN A3, abgegriffen und mit einigen Schweißtropfen bedeckt. Ganz offensichtlich die Vergrößerung eines Fotos, das einen archäologischen Fund zeigte. Eine große Platte, Sandstein vermutlich. Übersät mit allerlei Symbolen.

Ich blickte ihn fragend an. Das war sein Fachgebiet.

»Das«, sagte er, »stammt aus Tarodunum!«

Als ob diese Aussage irgendetwas erklären würde.

Er seufzte. »Ich weiß, dass dich solche Dinge üblicherweise nicht interessieren, aber das hier ist etwas Besonderes. Es wird dir gefallen.«

Ich warf ihm einen zweifelnden Blick zu.

»Entdeckt habe ich das«, er wies auf das Foto, »als ich die alte Keltenfestung untersuchte. Bei Grabungen am nördlichen Rand fand ich diese Platte. Du weißt, dass Tarodunum uralt ist und bereits von Ptolemaios erwähnt wurde – etwa hundertsechzig nach Christus. Schon lange vor den Römern war dies ein Zentrum keltischer Kultur. Die Dreisam leitet sich vom keltischen Trigana oder Trigesima her. Auch die Benennung von fünf Bergen nach ihrem Sonnengott Belenus zeigt dies ganz deutlich. Ein riesiges, natürliches Observatorium. Ein Stonehenge aus Bergen, wenn du so willst!«

»Fünf?«, fragte ich überrascht.

Er nickte: »Der Schwarzwälder Belchen, der Ballon d‘Alsace, der Grand und der Petit Ballon und der Belchenflue.«

»Und Tarodunum?«

»Tarodunum ist ein keltisches Oppidum. Eine Befestigungsanlage bei Zarten. Das Unheimliche dabei ist …«, er beugte sich über den Tisch und flüsterte, »… dass sie nie besiedelt wurde! Die Kelten wohnten lieber anderswo. Als hätte irgendetwas sie von dort ferngehalten oder verjagt. Etwas Unheimliches, oder …«, er zögerte, »etwas Gefährliches!«

Ich ließ mir einen weiteren Kaffee bringen – er selbst bestellte bereits den vierten dreifachen Espresso! Der Lärm aus dem Bursengang drang nur sehr schwach hier hinein. Es war beinahe still.

»Und was hat es mit dieser Tafel auf sich?«, erkundigte ich mich, jetzt doch deutlich interessierter als zuvor.

»Diese Tafel«, meinte Tomas, »könnte so etwas, wie ein keltisch-germanischer Stein von Rosetta sein. Er enthält sowohl keltische Symbole, die wir bisher nicht als Schriftzeichen begriffen haben, sowie eine germanische Übersetzung. Zumindest sehe ich das so.«

VERGANGENE ZUKUNFT

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