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Sabine Frambach: Herr Lauffers Stunde

Für R. P. Mielke, der mich auf Fehlersuche schickte.

Wir haben alle Zeit der Welt.


Erst vor einigen Tagen war er angekommen in diesem Dorf, nicht weit von seiner Heimat Nürnberg entfernt. Neben seiner Schlafstelle benötigte Herr Lauffer einen Tisch, eine Feuerstelle und das Licht des hellen Tages. Nicht weit entfernt stand die Kirche, für die er die Predigtuhr schaffen sollte.

Herr Lauffer, einst als Glasbläser tätig, hatte sein Gewerbe um die Fertigung der neuen Sanduhren erweitert. Für die Prüfung hatte er eine Uhr mit vier Gläsern erstellt, gefüllt mit weißem Sand, davon das erste Glas die Viertel, das zweite die halbe, das dritte drei Viertel, und das vierte die ganze Stunde zeigte. Seither führte er den Titel geprüfter Sanduhrenmacher, und kurz danach erhielt er Aufträge.

Dieser Auftrag umfasste eine große Predigtuhr, die an der Kanzel arretiert werden sollte. Herr Lauffer hatte zwei große Glaskolben in seiner Werkstatt geblasen, sie in Stroh verpackt und mitgebracht. Achtsam holte er sie hervor. Offenbar war der Transport geglückt.

Die zweite wichtige Zutat für eine feine Sanduhr war das Sandgemisch.

In Herrn Lauffers geheime Rezeptur kamen drei Teile fein gemahlene Eierschalen, ein Teil Marmorstaub, zwei Teile Bleisand und eine Zutat, die er niemandem verriet. Die Mischung siebte er, bis sie fein rieselte, kochte sie nochmals ab, um sie zu säubern, und trocknete sie.

Während der Herr Lauffer prüfend eine Prise der Mischung zwischen seinen Fingerspitzen zerrieb, öffnete sich die Tür zu seiner provisorischen Werkstatt; ein Mädchen steckte den Kopf herein, schob sodann den Rest des Körpers durch den Spalt und starrte ihn mit großen Augen an.

»Seid Ihr der, der die Zeit bestimmt?«

Lächelnd blickte Herr Lauffer auf. Das Mädchen war reizend, und sie stellte die Frage, die er ständig hörte, seitdem er sich der Sanduhrmacherei widmete. »Nein, Kind, ich bestimme nicht. Die Zeit läuft, auch wenn keine Uhr in der Nähe ist.«

»Aber Ihr bestimmt, wie lange der Sand durch das Glas rieselt. Ist es nicht so?«

Lächelnd nickte Herr Lauffer dem Mädchen zu.

»Könnt Ihr sie bitte kürzen?«

»Was?«

»Bitte, mein Herr, ich benötige Hilfe! Jeden Tag, so besteht die Mutter darauf, habe ich drei Gebetszeiten, knie in meinem Zimmer mit dem Blick zur Wand, sie zündet eine Kerze an, und ich muss dort bleiben. Stets öffnen sich meine Augen, obwohl ich sie fest zudrücke, nur um zu sehen, wie die Flamme leuchtet. An einer Kerze kann ich nichts ausrichten. Sie leuchtet eine Stunde. Je mehr ich hoffe, es möge bald vorbei sein, desto langsamer brennt sie nieder. Wenn ich aber solch eine Sanduhr hätte, könnte ich dem Rauschen der Zeit lauschen. Bitte! Wäre es doch nur ein Löffelchen weniger Sand, eine Prise nur!«

Unwillkürlich fühlte Herr Lauffer Mitleid mit dem Mädchen, das so höflich und zugleich so verzweifelt um Hilfe bat. Achtsam zog er eine kleine Sanduhr hervor, löste am Feuer das Wachs und ließ ein Löffelchen hinauslaufen.

»Es dürfen auch zwei Löffelchen sein!«

Mit ernstem Gesicht blickte Herr Lauffer auf, legte einen Finger an den Mund und raunte: »Mehr aber nicht, es darf nicht auffallen und muss unser Geheimnis bleiben.«

Das Mädchen nickte mit glühenden Wangen, nahm die Sanduhr entgegen und bedankte sich vielmals, beteuerte, das Geheimnis niemals zu verraten, und verschwand.


Kurze Zeit später, Herr Lauffer prüfte die Glaskolben, klopfte es an der Tür. Der Pfarrer trat ein, schüttelte umständlich Herrn Lauffers Hand und betrachtete mit aufgerissenen Augen die großen Glaskolben. »Prächtig«, murmelte er. »Prächtig. Da passt eine Menge Sand hinein, oder?«

Herr Lauffer nickte. »Aber sie soll eine Stunde laufen, nicht wahr? So steht es in meinem Auftrag.«

»Ja, eine Stunde«, murmelte der Pfarrer, die Hände auf dem Rücken gefaltet, den Kopf vorgebeugt, den Blick weiterhin auf die Glaskolben gerichtet. »Die Morgenpredigt wie auch alle Predigten sollen durchaus nur eine Stunde dauern.« Nun schaute er auf, und sein Blick bekam einen bettelnden Glanz. »Nur eine Stunde! Wie schnell diese vergeht! Könnte sie doch ein wenig länger sein! Was gäbe ich darum! Die Bauern, sie schlafen, während ich predige, und bekommen kaum etwas mit!«

Schmunzelnd entgegnete Herr Lauffer: »Seid Ihr sicher, dass eine längere Predigt die Zuhörer aufwecken und nicht einschläfern würde?«

Nun richtete der Pfarrer sich auf. »Ich bin sicher. Ein wenig mehr Zeit, um nicht nur über einen Hügel zu sprechen, sondern ganze Berge zu versetzen! Ein wenig mehr Zeit. Wisst Ihr, ich habe mich gefragt, ob es nicht möglich wäre. Wenn ein klein wenig mehr Sand in dieser Uhr wäre … versteht Ihr?«

Ganz steif wurde Herr Lauffer, sein Gesicht warf Falten, und er knabberte an der unteren Lippe. »Tut mir leid, aber ich kann nichts für Euch tun. Eine Stunde sollte eine Stunde bleiben!«

Mit schlechtem Gewissen dachte er an das Mädchen, dem er ein wenig Zeit geschenkt hatte. Hoffentlich verriet sie ihn nicht.


Kaum war der Pfarrer verschwunden, klopfte es erneut an der Tür.

»Ja?«, rief Herr Lauffer, der hoffte, die verbleibende Zeit nicht nur für Gespräche, sondern auch für die Arbeit an der Sanduhr nutzen zu können.

Ein Mann trat ein, das Gesicht gerötet, die Hosen speckig. Rasch zog er die Mütze ab und hielt sie mit beiden Händen fest. »Seid Ihr der, der über die Zeit bestimmt?«

Ungeduldig seufzte Herr Lauffer, schob sein Sandgemisch zur Seite und schnaubte. »Warum? Wollt Ihr die Stunde kürzen, um nicht allzu lange der Predigt lauschen zu müssen?«

»Nein«, flüsterte der Bauer, »gewiss nicht. Wir haben darüber geredet. Könnt Ihr die Stunde länger machen? Ja, länger wäre gut.«

»Warum?«

Die Finger voll Schwielen drehten den Hut hin und her. »Die Arbeit ist schwer, der Gutsherr ist streng. Kaum liegen wir, beginnt ein neuer Tag. Nur während der Predigt dürfen wir sitzen und ruhen. Wie schön es wäre, wenn die Predigt ein klein wenig länger dauern würde.«

Tief seufzte Herr Lauffer, fühlte er doch wieder Mitleid, und doch wusste er, dass er die Zeit der Predigtuhr nicht verändern sollte. Es war ein offizieller Auftrag, und wenn einer eines Tages die Zeit nachprüfte, sollte die Sanduhr eine Stunde laufen. »Das ist nicht möglich«, antwortete Herr Lauffer. »Eine Stunde sollte eine Stunde bleiben.«


Rasch arbeitete Herr Lauffer weiter, richtete die Glaskolben aus und begann, die richtige Menge des Sandgemisches abzumessen; er bewegte seine Hände so eilig, als fürchte er, bald erneut unterbrochen zu werden.

Tatsächlich klopfte es kurze Zeit später, und der Gutsbesitzer trat ein. Einen Mantel trug er und einen Hut, er reichte Herrn Lauffer die Hand, sodass dieser erneut die Arbeit unterbrechen musste, und hieß ihn willkommen. »Ihr seid der, der die Zeit bestimmt«, sagte er und schüttelte Herrn Lauffers Hand.

Gerade wollte Herr Lauffer etwas erwidern, da sprach der Gutsbesitzer bereits weiter. »Für mich ist es sehr erfreulich, dass wir eine dieser neuen Predigtuhren bekommen. Der Pfarrer hört sich wahrlich gerne selber reden! Und während er redet, schlafen die Bauern. Und Bauern, die schlafen, arbeiten nicht.«

Ganz nah trat nun der Gutsbesitzer und musterte Herrn Lauffer. »Ich denke, wenn etwas weniger Sand in der Uhr wäre, könnten die Bauern ein wenig mehr arbeiten. Versteht Ihr?«

»Ich verstehe«, knurrte Herr Lauffer.

»Ihr würdet mir einen großen Dienst erweisen, und ich würde diesen Dienst reichlich vergüten.«

Einen Augenblick dachte Herr Lauffer nach. Dann lächelte er, so plötzlich, dass die Falten auf seinem Gesicht darüber erschraken.

»Mein Herr, ich werde sehen, was ich tun kann. Allerdings werde ich stundenweise bezahlt, in Gläsern, und ich werde für die zusätzliche Arbeit für jede weitere Stunde eine weitere Münze nehmen. Gold, versteht sich. Zahlbar morgen in aller Frühe, bevor ich die Sanduhr an der Kanzel arretiere. Seid Ihr einverstanden?«

Der Gutsbesitzer schlug ein, und so geschah es, dass Herr Lauffer eines seiner Stundengläser nahm, es öffnete, ein wenig Sand herausrieseln ließ, ein Löffelchen nur, vielleicht auch zwei. Sodann drehte er das Glas um, vermerkte mit einem Strich eine Drehung und arbeitete weiter an der Predigtuhr, bis die Nacht schwand. Vor ihm stand die fertige Sanduhr. Wie abgemacht kam ein Bote des Gutsbesitzers, ließ sich den Zettel mit den Strichen zeigen und zahlte pro Strich eine goldene Münze.


Herr Lauffer steckte die Münzen ein, kicherte und trug die Sanduhr in die Kirche, befestigte sie an der Kanzel und erhielt den Lohn für seine Arbeit. Kurz danach verschwand er, ohne dem folgenden Gottesdienst beizuwohnen. Überlieferungen zufolge läuft die Predigtuhr der kleinen Gemeinde seither, das Sandgemisch rauscht im Glas, die Bauern schlafen, und der Pfarrer redet, bis exakt eine Stunde vergangen ist. Eine Stunde. Vielleicht ein klein wenig mehr.

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