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Astrid Ann Jabusch: Schreibst du über Katzen?

Zugegeben, mir sagte am Ende des letzten Jahrtausends der Name Thomas R. P. Mielke oder TERRANAUT1, wie er sich im noch jungen Internet zeitweilig nannte, noch nichts. Dabei war er längst für seine fantasiereichen Romane in verschiedenen Genres bekannt. Doch mein bevorzugtes Genre waren damals Fachbücher. Eine Freundin behauptete sogar von seinem »Das Sakriversum«, es habe Saugnäpfe und man könne es nicht eher aus der Hand legen, bis man es ausgelesen hätte.

Dass wir uns überhaupt – im damaligen AOL – kennenlernten, beruht auch auf einem Fehler meinerseits: Weil in seinem Profil neben seinem Vornamen etwas von »Autor« und »Felidae« stand, fragte ich ihn: »Schreibst du über Katzen?« Im selben Moment, in dem ich die Returntaste drückte, fiel mir ein, dass der Autor des Katzenromans, der mir gerade in den Sinn kam, mit Vornamen nicht Thomas hieß. Aber da war es zu spät.

»Nein«, antwortete er, »ich schreibe über Menschen.«

Von dem Zeitpunkt an trafen wir uns täglich im Internet und diskutierten über Gott und die Welt. Und natürlich über seine Bücher. Und so kam es, dass er mich fragte, ob ich Lust hätte seinen »Attila« probezulesen. Der kam dann auch bald per Post in zwei dicken Aktenordnern. Weil ich dazu gleich meine Anmerkungen und Kritik an den Rand schrieb, wurde ich seine Lektorin.


TRPM hatte da gerade für sich entdeckt, dass die Vergangenheit ebenso spannend ist wie die Zukunft. Haben beide doch, abgesehen von der entgegengesetzten Richtung auf der Zeitachse, erstaunlich viele Übereinstimmungen. Schon mit »Gilgamesch« und »Inanna« war TRPM in fantastisch-(prä)historische Welten getaucht, und Karl den Großen hatte er mit dem gleichnamigen Roman aus der Mottenkiste des Schulunterrichts geholt und ihm Leben eingehaucht. Nun folgte bald »Karl Martell«, der Großvater Karls des Großen.

Für diesen Roman hatte er so ausführlich recherchiert, dass für das Schreiben kaum noch Zeit blieb. Da entsann er sich früherer Zeiten, als er seine Heftromane diktiert hatte. Also schickte er mir nun jeden Tag eine Mikrokassette, ich tippte sie ab und brachte gleichzeitig meine Anmerkungen und Kritiken, wie zum Beispiel »Den kannst du nicht umbringen. Der ist schon seit zwanzig Seiten tot!« an. Auch die nächsten Manuskripte (»Colonia«, »Gold für den Kaiser« und »Orlando furioso«) diktierte er. Die Mikrokassette wurde jetzt von Tondateien, die als Mailanhänge versendet wurden, abgelöst.

Das Recherchieren machte ihm schon immer einen Riesenspaß – besonders, wenn er dabei Neues entdecken oder Widersprüche aufdecken kann. Schon beim Attila-Roman hatte er die Historiker bei Fehlern ertappt. Weil er immer alles genau wissen will, reist er zu den Handlungsorten, verbringt viele Stunden in den örtlichen Bibliotheken oder anderen Instituten, wenn er dort Antworten zu dem jeweiligen Thema erhofft.

Sprach- oder andere Barrieren gibt es dabei für ihn selten. Er geht einfach auf die Leute zu, bringt sein Anliegen vor – zur Not mit Händen und Füßen – und ist mit der nötigen Information zurück, bevor ich überhaupt nur die richtigen Vokabeln im Wörterbuch zusammengesucht habe. Dann stürzt er sich in das Getümmel von Fronleichnamsprozessionen oder rennt durch irgendwelche Gassen mit einem Ziel, das nur er kennt. Mehr als einmal hatte ich ihn bei diesen Sprints aus den Augen verloren und wartete dann, bis sein kahler Kopf irgendwann, irgendwo wieder in der Sonne aufblitzte. Hierbei erwiesen sich seine ein Meter sechsundachtzig Körpergröße als echter Vorteil.

Oft verschwindet er in unscheinbaren Hauseingängen, Kirchen, Burgen und Ruinen, weil er dort Antworten auf seine Fragen wittert. Ja, wittern ist das richtige Wort: Wie ein Jagdhund folgt er der Spur seiner Story und gibt nicht auf, ehe er am Ziel ist. TRPMs »Witterung« hat uns schon an die seltsamsten Plätze geführt.

Ein großer Verbündeter von ihm ist zudem der Zufall. Wie oft haben wir uns in der Prä-Navi-Ära verfahren und sind an interessanten Orten gelandet, die wir ansonsten nie kennengelernt hätten!

Minerve in Südfrankreich war so ein Fall: In diesiger Novemberdämmerung entdeckten wir dieses Dorf. Eine Gruppe von Häuschen drängte sich auf dem Hügelkopf zusammen. Nur eine schmale Brücke führte nach Minerve hinein. Im Dorf wurde die Straße immer schmaler und schmaler, bis wir fast mit unserem Leihwagen stecken blieben. Die Dorfbewohner schauten uns kopfschüttelnd aus ihren Fenstern zu. Es war Millimeterarbeit aus dem Gässchen heraus und wieder auf freieres Gelände zu kommen. Wir blieben drei Tage an diesem atemberaubenden Ort, an dem sich einst die Katharer verschanzt hatten.

In dieselbe Kategorie gehören aber auch Züge, die in die falsche Richtung fahren, Autoschlüssel, die wahlweise in der Havel oder im Mittelmeer versenkt werden, verpasste Flieger, weil es doch noch sooo viel Zeit bis zum Abflug ist und man doch gern noch mal eben im Meer baden könnte, vergessene Kameras und die dazugehörigen Irrfahrten, um sie wiederzubekommen mit anschließend leerem Benzintank in einsamen, tankstellenfernen Gegenden bei einbrechender Dunkelheit und ähnliche Sachen. Allein mit diesen Geschichten könnte man Bände füllen. Und dabei habe ich noch nicht mal unsere Besuche bei Thomas’ polnischem Verleger auf der Neidenburg erwähnt.

Spätestens jetzt ahnt man vielleicht: Es ist nie langweilig mit TRPM.


Eine Reise ganz nach seinem Geschmack bekam er zufällig an seinem siebzigsten Geburtstag geschenkt. An diesem Tag lud ihn nämlich das Goethe-Institut in Beirut, das seinen »Gilgamesch« ins Arabische hatte übersetzen lassen, zu einer Lesung ein. Um die Kosten zu minimieren, hängten sich das Goethe-Institut Damaskus, das in Amman und das in Ramallah an. Und um die Sache rundzumachen, kam noch eine Lesung in der evangelischen Gemeinde in Jerusalem dazu. Für uns bedeutete das: vier abenteuerliche Wochen im Orient.

Schon der Libanon überraschte mit einer Deutschen Schule und der Gastfreundschaft der Direktorin. Sie lud uns in ihr Haus in den Bergen ein, von wo man von ihrem Schwimmbad aus eine herrliche Sicht über die Bucht vor Beirut hatte. Wir fühlten uns wie in »tausendundeiner Nacht«!

Syrien kam uns wie eine exotische DDR vor. Ohne zu wissen, dass in wenigen Monaten der Syrienkrieg ausbrechen würde, spürten wir, dass etwas Ungutes in der Luft lag. Anderseits haben wir dort Freundschaften mit wunderbaren Menschen geschlossen, die bis heute anhalten. In Amman sahen wir Polizisten mit urpreußischen Pickelhauben. An der Grenze zum Westjordanland lernten wir zuerst eine israelische Soldatin kennen, der wir beide bekannt waren, weil sie zum einen von Thomas’ Avignon-Romane gelesen hatte und zum anderen ihre Mutter in Spandau – also quasi in unserer Nachbarschaft – lebte, gerieten aber alsbald unter Spionageverdacht, weil ich etwas in ein Notizbuch schrieb, obwohl doch er der Autor war. In Ramallah verpassten wir das Konzert eines Jugendchors aus dem Hochsauerland. (Warum sonst fährt man in den Nahen Osten?) In Jerusalem entführte uns ein Fahrer, jedenfalls hatten wir den Eindruck. Es stellte sich als Scherz heraus, der sich aber verdammt echt anfühlte! Und schließlich gingen wir Anfang November in Tel Aviv schwimmen.

Ich sage doch: Es würde Bände füllen. Und vielleicht tut es das auch noch einmal, denn TRPM spielt noch immer mit dem Gedanken einer Fortsetzung seiner 1980 erschienenen »Grand Orientale 3301«.

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