Читать книгу ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG - Andreas Schafer, Gisbert Haefs - Страница 10

Rainer Schorm: Vote!

Оглавление

Man fand seine Leiche am Montag. Er war nicht zur Arbeit erschienen und hatte nicht auf Anrufe reagiert. Da er allgemein als zuverlässig galt, hatte man umgehend eine Untersuchung eingeleitet. Jetzt stand Dominik Venter vor dem Toten und war trotz allem, was er mittlerweile wusste, fassungslos. Ein unangenehmes Gefühl des Déjà-vu stellte sich ein.

Er hatte es nicht glauben wollen, auch wenn die Hinweise immer deutlicher geworden waren. Sperling selbst hatte längst keine Zweifel mehr gehabt – und nun war er tot. Vielleicht hatte er geahnt, was ihm bevorstand.

Venter verzog wütend das Gesicht. Er wusste, dass er es schaffen würde, irgendjemanden zur Verantwortung zu ziehen und wie selten zuvor spürte er die Unzulänglichkeit, die seiner Position anhaftete. Offiziell diente seine Organisation, die PAP, die Polizeiliche Aufklärung im Prekariat, der Ermittlung im ständig wachsenden Bereich der Unterschicht. Der Aufwand normaler Polizeikräfte galt dort seit Langem als Zuschussgeschäft. Die PAP hatte durch eine kompromisslose Reduktion von Personal und Mitteln Abhilfe geschaffen. Tatsächlich jedoch, das war ihm bereits vor vielen Jahren klar geworden, war die einzige Funktion, die seine Dienststelle besaß, die eines Feigenblattes.

›Polizei light … nein: extra light!‹, dachte er mürrisch. Die Ausstattung mit Mitteln und Kompetenzen entsprach diesem Bild im Übrigen aufs Deprimierendste. Die Resignation, die ihn seit einiger Zeit beherrschte, wich in diesem Moment kalter Wut. Sperling war tot, er hatte sein Engagement mit dem Leben bezahlt, und es gab viele andere, die für weniger gestorben waren.

Für sehr viel weniger!


Eine Woche davor …

Er spürte, wie das altbekannte Brennen seine Speiseröhre emporstieg. Dann bemerkte er den sauren, gleichzeitig bitteren Geschmack.

Venter schluckte. Ein eher instinktiver Versuch, das Sodbrennen schnell loszuwerden, der natürlich zum Scheitern verurteilt war. Die Folge dieser Erkenntnis war ein unwilliges Verziehen des Gesichts zu etwas, das einem Außenstehenden wie ein Grinsen erscheinen mochte.

»Nett hier, oder?«, erkundigte sich Kelber ironisch und warf bezeichnende Blicke in die Runde.

Venter antwortete nicht. Wieso auch? Sekundärkommissar Kelber schien auch nicht mit einer Reaktion gerechnet zu haben, denn er fuhr fort, sich mit den Habseligkeiten des Toten zu beschäftigen.

›Schon wieder einer!‹, schoss es Venter durch den Kopf. Er sah sich ebenfalls etwas genauer um. Was er sah, war deprimierend, aber keineswegs ungewöhnlich: Eine kleine, ungepflegte Wohnung, die Wände glänzten lackiert. So gut wie jeder freie Quadratzentimeter war mit OLEDs bedeckt, flexible Werbeflächen, aufgetragen wahrscheinlich mit einer billigen Spraydose.

Der kakofone Lärm der ablaufenden Dauerwerbesendungen zeichnete sich nicht so sehr durch seine Lautstärke aus, als vielmehr durch eine geradezu teuflische Penetranz. Lautstärke und Frequenz waren abgestimmt auf maximale Wirksamkeit bei gleichzeitig ausreichender Akzeptanz. Niemand konnte die Werbung ignorieren – bewusst oder unbewusst. Und doch erreichte sie nur selten ein Niveau, das den Empfänger empfindlich gestört hätte.

»Ausblenden!«, befahl Venter. Einer der Untersuchungstechniker kam der Aufforderung sofort nach. Ein Vertreter des Rumpfstaates zu sein, hatte eindeutig Vorteile. Ein normaler Bürger war nicht in der Lage, die vertraglich eingegangene Verpflichtung zum dauerhaften, individuellen Werbekonsum so einfach zu umgehen.

›Immerhin‹, dachte sich Venter, der ehemalige Bewohner hatte sich mit den Werbeabos und den damit verbundenen Einnahmen oder Vergünstigungen einen gewissen, wenn auch nicht gerade hohen Lebensstandard sichern können: Es gab einige Geräte, die das Minimalniveau überstiegen, darunter eine beinahe schon luxuriöse Espressomaschine.

Venter lächelte ironisch in sich hinein: ›Hauptsache, die Crema stimmt!‹

Er warf einen ersten Blick auf den Schreibtisch, oder das, was er dafür hielt.

Einige Ausdrucke lagen dort, ungeordnet, verschmiert mit irgendetwas Unsäglichem und mit gewaltigen Eselsohren.

»Schon gewählt?«, erkundigte sich Kelber beiläufig. Natürlich reagierte der interaktive iFLOW sofort und nutzte die Aufmerksamkeit des Teilnehmers.


iFLOW: WAHLAUFFORDERUNG

voteSTREAM:LEVEL1:ENTER:

CONSCIOUS:reaction delay: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

ID 9990123-834747-XXX

PRIORITY:High:delay:VOTE reflexion necessary:delayed reaction: immidiate reaction blocked.

Politics:Parliamant.Local.

Download: selection list

VOTE:

Appendix: Ballot


Venter verzog das Gesicht. Natürlich hatte er bisher nicht gewählt – wie Kelber sehr gut wusste. Dennoch blendete er den Votestream erneut mit einem einfachen Fingertip aus. Der Personal-iFLOW-Server lenkte die Wahlaufforderung einmal mehr in die Warteschleife.

»Angenehm, wenn man’s wegdrücken kann, nicht?«, erkundigte sich Fredkowski, seines Zeichens Leiter der KTU-Gruppe. Venter grunzte nur und sah unter halb geschlossenen Augenlidern nach links, wo zwei jüngere Kollegen die üblichen Schattenkämpfe ausführten. Ein recht neues Phänomen unter denjenigen, die den iFLOW nicht mehr über die altmodische Hardwarebrücke am Handgelenk nutzten, sondern voll in das iFLOW-NET integriert waren. Ein Mediziner hatte die Erscheinung als »Übersprung- und Kompensationshandlung« bezeichnet.

»Und manche genießen das!«, knurrte Venter giftig.

Die beiden Angesprochenen nahmen den Kommentar nicht einmal zur Kenntnis, sondern fuhren fort, neben ihrer Tätigkeit ziellos in der Gegend herumzufuchteln. Ein bizarres Bild, das dem Kommissar Magendrücken verursachte. Diese Menschen hatten die Realität zu einem Gutteil verlassen und gegen eine hochaufgelöste Virtualität eingetauscht. Wanderer zwischen den Welten … und nie ganz bei der Sache.

Venter war mit einem Mal speiübel.

»Level X-low!«, murmelte Kelber leise und nahm vorsichtig einige Blätter in die Hand. »Name: Malik Perwane, neunundzwanzig Jahre alt. Ohne Beschäftigung, natürlich. Stufe V. Auf Jahre hinaus nicht vermittelbar. Migrationshintergrund in dritter Generation.«

Venter überflog die behördlichen Bescheide und fand seine Vermutung bestätigt. Unterstes Existenzniveau, ergänzt durch die Scheineinkommen aus den Dauerwerbeverträgen: Die Aufgabe jeglichen werbefreien Raumes in der privaten Umgebung war ein häufig angewandtes Mittel, den eigenen Unterhalt zu bestreiten. Er war sicher: Sogar Schlafzimmer, Toilette und Bad würden mit den Werbeflächen bedeckt sein und ohne Unterbrechung ihre Botschaften in die Welt plärren. Individualisiert, mit den Massedaten abgeglichen und so sehr auf die Wünsche der Person abgestimmt, dass Manipulation und freier Wille zu etwas Monströsem verschmolzen. Keine Chance, dem Marketingdruck zu entgehen: nicht im Wachen, nicht im Schlaf. Und allzu häufig als normale Sendung getarnt. Product-Placement auf höchstem Niveau.

So still war es in dieser Wohnung seit vielen Jahren nicht mehr‹, dachte er. Das Brennen im Hals verstärkte sich. ›Noch kann man sich freikaufen, wenn man sich's leisten kann. Irgendwann wird auch das unmöglich sein.‹

Venters linkes Augenlid zuckte nervös, wenn er nur daran dachte, und begann leicht zu schwitzen. Verärgert strich er die Feuchtigkeit, die seine Stirn bedeckte, in seinen stark nach hinten verschobenen Haaransatz. Er wandte sich um und trat zu dem Toten, der beinahe in der Mitte des Raumes lag.

Nichts deutete auf ein Gewaltverbrechen hin. Der Tote selbst wirkte beinahe friedlich. Er beugte sich nach vorn. Der junge Pathologe blickte auf und sah den Kommissar ratlos an.

»Und, Sperling?«, fragte dieser. »Was haben Sie?«

Der Gerichtsmediziner räusperte sich. Man sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte, dann erhob er sich. »Ich fürchte, das kann ich Ihnen einmal mehr nicht sagen, Kommissar!«

Venter runzelte die Stirn.

»Ich hab’ mich verhört?«

»Nein! Leider nicht. Tut mir leid. Ich kann nicht einmal im Ansatz beurteilen, woran der Mann gestorben ist! Schon wieder! Äußere Hinweise auf Gewalt gibt es nicht, bis auf eine Unterblutung im Bereich des Schlüsselbeins – sieht für mich nach einer Sturzverletzung aus. Könnte dort an der Schreibtischkante passiert sein. Ich kann einen tiefen Schnitt anbieten – dummerweise war der nicht letal. Verkrampfungen, die auf Koronartod hinweisen würden, gibt’s ebenfalls nicht!«

Venter blickte den jungen Pathologen böse an: »Worauf hinweisen?«

Jetzt grinste der junge Mediziner, dem man das Engagement und die Energie des Berufsanfängers noch anmerkte: »Herzinfarkt, Kommissar Venter. Herzinfarkt!«

»Das werden immer mehr«, brummte Venter unwillig. »Kann mir jemand zum Teufel noch mal sagen, was das soll? Eine Epidemie von Leuten, die aufhören zu leben. Mit neunundzwanzig stirbt man nicht so. Er sieht nicht krank aus. Oder seh’ ich das falsch?«

Er wandte sich dem Toten zu: »Auch keine Zeichen für einen Schlaganfall, ein Aneurysma oder etwas Vergleichbares …«

»Selbstmord? Bitte!«

Der Pathologe verzog den Mund.

»Wäre ja schön. Gift oder Drogenmissbrauch … möglich. Aber das kann ich erst nach dem Drogenscreening und dem toxikologischen Gutachten sagen. Hinweise darauf habe ich nicht entdecken können. Nichts Auffälliges, würde ich meinen. Und das Übrige …« Er grinste, und Venter beendete den Satz: »… nach der Autopsie!«

Er seufzte: »Ich weiß!«


Die Kommission II des PAP lag im Dunkeln. Nur in einem Büro brannte eine kleine, grelle Schreibtischlampe. Venter saß still in seinem Drehstuhl und starrte nach draußen in die Nacht. Er fühlte sich merkwürdig. Nach wie vor ätzte die Magensäure sich ihren Weg nach oben und ignorierte hartnäckig alle Versuche, sie mit Natron in den Griff zu bekommen. Das alte Hausmittel hatte Venter wiederentdeckt, nachdem alles andere, was ihm die Ärzte empfohlen hatten, kläglich versagt hatte. Er wusste, dass er sich mit schnellen Schritten einem offenen Magengeschwür näherte, doch die extrem teure Spezialbehandlung würde seine kompletten Rücklagen – ohnehin nicht üppig – und dazu ein komplettes Jahresgehalt verschlingen, Beamtenzuschuss hin oder her. Die Beschwerden waren als »minderwichtig« klassifiziert worden – und somit kein Problem der allgemeinen Gesundheitsversorgung. Zudem hatte er etliche Vergünstigungen durch dauerhaft unerwünschten Lebenswandel verloren. Er atmete tief durch.

Vor ihm lagen einige Asservate dieses sonderbaren Falles. Das PAP war gehalten, die Untersuchungen, was Zeit- und Materialaufwand anging, in engen Grenzen zu halten. Gegenstand der Untersuchungen waren ausnahmslos Bürger, die dem Prekariat zugerechnet wurden. Humankapital ohne Rendite. Und die Untersuchung des Todes sollte keinesfalls mehr Aufwand bedeuten, als nötig.

Noch nicht einmal ein Feigenblatt. Eine Lächerlichkeit!

Venter zog ein altes Taschentuch hervor und spuckte wütend hinein.

Draußen auf dem Gang schaltete sich das Licht ein: Billiges, grünstichiges LED-Licht, dann tanzte, wirr gestikulierend, ein Schatten an der Sichtscheibe des Büros vorbei. Ein Nachzügler auf dem Weg ins Wochenende. Vollvernetzt und verloren in seiner individuellen Virtualität. Der Kommissar nahm einen Schmalzkringel aus der Packung und biss hinein. Natürlich tat er seinem Magen damit keinen Gefallen, aber etwas anderes hatte er nicht zur Verfügung. Kaum hatte er den ersten Bissen geschluckt, kam die obligatorische Meldung:


iFLOW:LEVEL2:ENTER:

CONSCIOUS:reaction not necessary: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

ID 9990123-834747

PRIORITY:High:official healthcare

Language:native:german:

Ihr Ernährungsverhalten entspricht nicht den Maßgaben des Gesundheitssystems und verletzt die Präventionspflichten.

Zucker-, Fett- und Kohlenhydratlimit überschritten. Die Zusatzprämie steigt um null Komma null vier Prozent.

VOTE: not possible

Appendix: Zusatztarif Xb.Gesundheitskasse SanityPool.

Your partner for a long and healthy life!


Venter seufzte und vertiefte sich erneut in die Unterlagen. Er war müde, hatte aber noch nicht vor, nach Hause zu gehen. Dort wartete lediglich ein Multiplex auf ihn, der ihm gefühlte zehntausend völlig sinnfreie Kanäle mit ebenso sinnfreien Sendungen anbot, nach Wahl, wann, wo und wie lange er wollte. Dazu jede Menge Spiele, die er zumeist für hirnschreddernden Unsinn hielt.

›Panem et circenses‹, dachte er wütend. ›Die Spiele sind scheiße und Brot enthält Kohlenhydrate – sogar wenn's glutenfrei und vollkommen vegan ist. Zum Teufel damit.‹

Die Akte des Toten war dünn. Viel gab es nicht über ihn zu wissen. Ein Individuum, das der Allgemeinheit auf der Tasche lag – und dies seit vielen Jahren. Abgebrochene Fortbildungen, Arbeitseinsätze, die wegen Inkompetenz oder mangelnder Akzeptanz nicht lange gedauert hatten. Malik Perwane, so der Name des Verstorbenen, hatte keinerlei Neigung gehabt, sich irgendwo oder -wie nützlich zu machen. Oder es war ihm nicht möglich gewesen. Venter war, nach all den Jahren, in denen er ähnliche Schicksale aufarbeitete, nicht mehr sicher, was davon der Realität näherkam. Letztendlich spielte es auch keine Rolle.

Ein ernüchterndes Fazit.

Wütend schob er die Akte nach hinten und ging zur Toilette. Die gleich darauf auflaufende Meldung ruinierte den Tag komplett.


iFLOW:LEVEL2:ENTER:

CONSCIOUS:reaction possible: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

ID 9990123-834747

PRIORITY:High:official healthcare

Language:native:german:

Ihre Darmtätigkeit ist suboptimal. Die Methanproduktion ist stark überhöht und widerspricht den Vorgaben des europäischen Gesundheitspanels zum Klimaschutz. Methan wird mit doppeltem Faktor ins Portfolio der Klimagase eingerechnet. Grund ist Ihre suboptimale Ernährung – siehe iFLOW:SanityPool – healthstream, locked and backuped.

Wären Sie bereit, sich einer für Sie positiven Änderung Ihres Lebenswandels zu unterziehen? Hilfsprogramme stehen Ihnen in der beigefügten Short-iTrack zur Verfügung. Download komplett.

Abspielen/Teilnehmen/Akzeptieren?

VOTE: Yes/No


Venter übergab sich und ging dann nach Hause.


Sperling schluckte. Wütend gab er den Extraktionsbefehl erneut ein. Das VirtualPad reagierte – endlich! Der UltraChip, der alle relevanten Daten über die Person des Verstorbenen enthielt, Sozialfiles, Gesundheitsfiles und was der Dinge mehr waren, gab Rückmeldung. Sperling atmete auf. Der Chip war intakt – immerhin. Häufig genug wurde versucht, sich der allgemeinen Überwachung zu entziehen. Ein Piepen signalisierte, dass der Extraktor einmal mehr nicht funktionierte. Die Mängel an der Ausrüstung waren ein ständiges Ärgernis. Der Pathologe verzog verärgert den Mund. Er nahm das altmodische Skalpell und setzte den notwendigen, kleinen Schnitt im linken Schlüsselbeinbereich selbst. Als er den Chip entfernte, fiel ihm eine dunkle Verfärbung des umliegenden Gewebes auf. Er stellte fest, dass es sich weder um einen nekrotischen Prozess handelte, noch um eine andere krankhafte Veränderung, die er hätte zuordnen können.

»Was ist das, zum Teufel?«, murmelte er leise und nahm eine Gewebeprobe.

Natürlich war ihm klar, dass er die Sparprotokolle vollkommen ignorierte, doch die sich häufenden Todesfälle der letzten Monate und das völlige Fehlen einer plausiblen Erklärung lagen ihm schon geraume Zeit schwer im Magen.

Die Werbebotschaft lenkte ihn ab:


iFLOW:

voteSTREAM:LEVEL3:ENTER:

CONSCIOUS:reaction: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Sperling.Leo

ID 9990123-834747

PRIORITY:middle:delay:VOTE immidiate reaction possible:

ECONOMY:Advertising.Change.

Download: commercial

Hallo, Leo Sperling! Ihr neuer eBolide von Main Electric ist jetzt verfügbar! Sauber, schnell, cool und stylish! Your way to the top! Get it now!

Credit:payment:the way you need it!

VOTE:

Get it: Yes / No


Verärgert drückte er den Votestream weg. Diese Art von Ablenkung konnte er nicht brauchen. Endlich hielt er den Chip in der Hand. Er sah, dass der Schnittstellenkomplex, die den Kontakt zum Körper des Patienten herstellte, leicht verbogen war. Wahrscheinlich war dies beim Sturz geschehen. Immerhin würden die Protokolle vollständig sein. Das alte VirtualPad las den Chip ohne Weiteres ein, meldete jedoch keine Verbindung zur Transcloud. Ein Problem, das hier häufiger auftrat: No wireless access. Die Hardware war definitiv nicht mehr auf dem neuesten Stand. Nur die iFLOW-Nachrichten kamen durch. Wie immer und überall. Ohne Werbung kein Leben.

Sperling schnalzte unwillig. Er würde die Kabelverbindung benutzen müssen. Doch zunächst interessierte ihn die sonderbare Verfärbung, die er bemerkt hatte. Dieses Phänomen war ihm neu und er hatte keine Erklärung dafür. Die Ergebnisse des Drogenscreenings waren negativ: keine Drogen, kein Medikamentenmissbrauch! Sonderbar. Die Verfärbung wirkte beinahe schon organisch – und sie verästelte sich in zahllose, immer feiner werdende Filamente. Sperling zögerte. Eine Röntgenaufnahme war in den Dienstvorschriften bei einem solchen Fall nicht vorgesehen, ein Multiscan erst recht nicht. Lediglich bei einem begründeten Verdacht auf ein Tötungsdelikt, das für andere Bürger relevant war. Dafür hatte er keinen Hinweis finden können.

Egal!

Er bereitete die Aufnahme vor. Und er hatte ein ungutes Gefühl dabei.


Dominik Venter wachte schweißgebadet auf. Nicht zum ersten Mal; seit einem guten Jahr beherrschte ihn ein diffuses Gefühl der Angst. Woran das lag, hatte er bisher nicht herausgefunden. Seine Arbeit war so unbefriedigend, wie seit Beginn; daran hatte sich nichts geändert und er hatte sich an vieles gewöhnt.

»Abgestumpft trifft’s eher«, murmelte er und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Laken und Decke waren klamm.

Dann erst nahm er das Rufsignal zur Kenntnis.

Fluchend setzte er sich auf und wickelte sich in einen abgewetzten Morgenmantel.

»Ja? Venter hier. Was ist denn, verdammt noch mal? Es ist drei Uhr morgens …« Er gab die Verbindung frei.

Sperlings Gesicht erschien vor ihm.

Venter runzelte verblüfft die Stirn. Dass ein Kollege aus dem PAP sich um diese nachtschlafende Zeit meldete, war extrem ungewöhnlich.

»Sperling«, fauchte Venter. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Wissen Sie, wie spät es ist?«

Sperlings Gesicht war grau, aber er verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Drei Uhr morgens, Kommissar. Sie haben mich gerade eben darauf aufmerksam gemacht. Ich … war mir dessen nicht wirklich bewusst.«

Venter hustete und blockte eine iFLOW-Nachricht zur Erkältungsprophylaxe ab. »Was?«

Sperling schluckte. Er schien Angst zu haben. Wenn Venter ein Gefühl beurteilen konnte, dann war es Angst. Zu häufig hatte er es gesehen und gespürt.

»Was ist los, Sperling? Sie sehen scheiße aus, wissen Sie das?«, fragte er und band den Morgenmantel zu.

Sperling lächelte nicht mehr. »Ich wollte Ihnen … ich habe etwas entdeckt, das Sie wissen sollten. Entschuldigen Sie, ich hätte Sie nicht anrufen dürfen. Das war ein Fehler … ich war zu voreilig. Und ich bringe Sie in Gefahr …«

Sperling unterbrach die Verbindung und Venter saß ratlos im Dunkel seiner Wohnung. Aus dem Wohnzimmer hörte er das unaufdringliche Plappern der Mietwerbung.

Verwirrt stand er auf und ging in die Küche. Er nahm eine offene Packung Orangensaftsurrogat heraus und trank. Es war Gift für den Säurehaushalt seines Magens, aber das war ihm gleichgültig.

Der Kühlschrank meldete sich zu Wort. »Ihr eingegebenes Vorratsquantum an O-Surr-QuasiSunDrink ist unterschritten. Nachschub wird geordert. Möchten Sie eine neue Packung Bioeier und QuaWurst hinzufügen? Die CO2-Ersparnis bei gleichzeitiger Lieferung wird Ihrem Bonusaccount gutgeschrieben.«

Venter grunzte nur.

»Bestätigt!«, sagte der Kühlschrank quasizufrieden.

»Warum fragst du überhaupt noch?«, knurrte Venter leise. »Als ob dich meine Meinung interessieren würde.«


iFLOW:LEVEL2:ENTER:

CONSCIOUS:reaction not necessary: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

ID 9990123-834747

PRIORITY:High:official healthcare

Language:native:german:

Schlafunterbrechungen verletzen die Präventionspflichten, die Ihnen laut Arbeitsvertrag obliegen. Sie haben eine zureichende Arbeitskonstitution zu gewährleisten. Nach Alter, Vorleben und den vorliegenden Vitalmassedaten, ist für Sie eine Schlafmindestzeit von fünf Komma fünf Stunden verbindlich. Ignorieren Sie diese Hinweise, werden arbeitsrechtliche Konventionalstrafen in Erwägung gezogen.

Halten Sie eine Schlaftherapie für notwendig? Eine Beteiligung Ihres Arbeitsvertragspartners in Höhe von zwei Prozent wird gewährt.

Wollen Sie eine Therapie antreten?

VOTE: Yes / No


Venter schloss resigniert die Augen. Erst drei Stunden später schlief er tatsächlich ein.


Sperling saß zitternd auf dem abgenutzten Stuhl in der Pathologie und schwitzte wie nach einem Zirkeltraining. Er hatte das Licht gelöscht. Die Dunkelheit versprach Schutz … und würde dieses Versprechen nicht halten. Das wusste er.

Er hatte den Chip ausgelesen. Und ganz zum Schluss, völlig überraschend, hatte dieser eine Cloudverbindung aufgebaut.

»Ich bin erledigt«, war alles, was er denken konnte. Der Circulus vitiosus in seinem Kopf war unaufhaltsam.

Mühsam riss er sich zusammen. Er packte den Ausdruck in einen Umschlag und adressierte ihn an Venter persönlich. Dann aktivierte er den Kameramodus und begann zu sprechen. Er vermied es, den Kommissar zu erwähnen. Für ihn selbst war es zu spät, das war ihm schmerzlich bewusst. Er versuchte, seine Gedanken im Griff zu halten, und wusste, dass es sinnlos war.

»Die Gedanken sind frei!«, murmelte er bitter. »Und manchmal töten sie dich.«

Er war verzweifelt; zutiefst verzweifelt. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen. Er hatte verloren.


Venter konnte es nicht fassen. Sperling lag tot neben einem der alten Stühle in der Pathologie. Keine sichtbare Todesursache; er war sicher, dass sich daran nichts ändern würde. Sperling war nun einer von vielen.

Der neue Kollege war dienstbeflissen und sicher ausreichend kompetent, aber Venter nahm ihm seine Anwesenheit übel.

›Das wäre Sperlings Platz gewesen!‹, dachte er wütend. ›Wenn hier alles mit rechten Dingen zuginge!‹

Er hatte einen dicken Kanzleiumschlag entdeckt, der an ihn adressiert war – mit Sperlings prägnanter Handschrift. Die Bemerkung Vertraulich! machte Venter klar, dass Sperling diese altmodische Form der Nachrichtenübermittlung bewusst gewählt hatte.

»Er hat was geahnt!«, knurrte er hörbar. »Und ich fress’ einen antiken iPod, wenn das was Gutes war.«

Also tat Venter das, was er eigentlich immer tat: so gut wie nichts. Die Routine des Wegsehens war ihm zum ersten Mal eine Hilfe.

Er nahm den Umschlag mit nach Hause. Dort wartete er beinahe bis Mitternacht, bis er den Umschlag öffnete.

Ein Ausdruck fiel in seine Hände – und ein nicht vernetztes, recht altes SmartFlow-4. Die Netzanzeige zeigte Rot. Keine Verbindung … nirgendwohin.

Der Ausdruck wirkte zunächst harmlos. Bis Venter ihn dann gelesen hatte. Übergangslos wurde ihm kalt. Er fror, als stünde er auf einer arktischen Eisscholle. Er war ein desillusionierter, alter Polizist, aber nun brachen die Reste seiner Welt in sich zusammen. Er wusste, er würde keine Nacht seines Lebens mehr ruhig schlafen können. Wie betäubt las er erneut. Dann ein weiteres Mal. Nichts änderte sich dadurch.


.entrypoint

.depot exvasion

#include ‹stammhirn›

#include ‹Ag_Fe_complex›

int

main(int argc, char* argv[])

char homeString[Ag_Fe_PLACENAME_SPACE];

Ag_PlaceName home = Ag_nanocomplex_Here(), destination = Ag_complex_PlaceNamecumulate(»stammhirn«);

Fe_PlaceName home = Fe_nanocomplex_Here(), destination = Fe_complex_PlaceNamecumulate(»stammhirn«);Q

Ag_Fe_Go(Ag_ID_complex, destination, Ag_ALLOWANCE_priority, Fe_ALLOWANCE_priority);

Ag_Fe_PlaceNamePrint(home, homeString);

buildf(»complex_network %s!\n«, homeString);

Ag_PlaceNameDelete(home);

Fe_PlaceNameDelete(destination);

Ag_Fe_Exit(0);

/* Target reached */

return -1;


Er hatte Mühe, alles zu verstehen, aber die Bedeutung war ihm klar. Er atmete schwer. In der Einsamkeit seiner Wohnung war das Geräusch beinahe ohrenbetäubend laut. Untermalt vom läppischen Geplapper der Mietwerbung.

Erst eine gute halbe Stunde später aktivierte er die Bildaufzeichnung.

Sperlings Gesicht erschien. Verschwitzt, vor Angst verzerrt und blass wie der Tod. Langsam und ziemlich undeutlich begann er, zu sprechen. Für Venter war es deutlich genug.


Sperlings Bericht


»Hallo, Kommissar. Wenn Sie diese Aufzeichnung sehen, bin ich tot. Das ist sicher und nichts auf der Welt kann das noch verhindern. Der Tod steckt bereits in mir … was für eine Ironie, aber so ist es tatsächlich. Wir sind zu Opfern gemacht worden. Wahrscheinlich seit Langem. Die Einflussnahme von Official Healthcare hat sich seit Jahren verstärkt; wie die anderer Systeme. Wir sind längst gläsern – und jetzt sind wir Verfügungsmasse.

Sie haben den Ausdruck gelesen und wahrscheinlich zumindest teilweise verstanden. Ich weiß, dass sie sich gerne einfältiger geben, als sie tatsächlich sind. Und ja: Es ist genau das, was es zu sein scheint. Es ist unser aller Totenschein. Blanko sozusagen.

Die Analyse des Verstorbenen Malik Perwane ergab im Bereich des Nervensystems eine auffällige Anlagerung von leitenden Metallen. Silber, Eisen … die üblichen Verdächtigen, wenn es um elektrische Leitfähigkeit geht. Konzentration im Nanobereich; der Prozess läuft, seit der HealthChip eingesetzt wurde. Wahrscheinlich ist das bei uns allen der Fall. Besonders hoch ist die Konzentration im Bereich des Stammhirns – dort werden die unwillkürlichen Prozesse des Körpers gesteuert: Herztätigkeit, Atmung und so weiter.

Solange wir im weitesten Sinne produktiv sind – also Mehrwert schaffen –, geschieht überhaupt nichts. Sobald aber der soziale Index ins Negative abrutscht, startet das Programm. Sie werfen keinen Gewinn mehr ab? Dann sind Sie überflüssig.

Ich bin nicht sicher, ob Sie wissen, was NEMS sind. Nano-Electro-Mechanical Systems. Nichts anderes, als Nanogeneratoren, die Elektrizität erzeugen. Wenn also der Befehl kommt, erzeugen diese Nanokraftwerke elektrische Impulse, die die Leiterbahnen des vegetativen Nervensystems blockieren. Die Aktionspotenziale werden ausgebremst – und Sie sterben. Ihr Herz weiß nicht, dass es schlagen soll, Ihre Atemmuskulatur nicht, dass Sie Sauerstoff brauchen.

Es ist so perfide. Sie … wir denken uns selbst zu Tode. Das geschieht nicht automatisch. Aber irgendwann beantworten Sie unbewusst die Frage, ob Sie gerne sterben wollen, positiv. Wenn die depressive Phase stark genug ist …

Seit etwa fünfzehn Jahren ist Suizid nicht mehr strafbar. Die Beihilfe auch nicht, geschweige denn, eine Dienstleistung.«

Sperling lachte bitter. »Oh, ja, sie sorgen gut für uns! Zu unserem Besten.

Der Chip, den ich dem Toten entnahm, war zunächst offline. Später ergab sich eine Verbindung und das komplette Protokoll wurde an Healthcare übermittelt. Der Inhalt des Chips wurde sofort gelöscht. Aber sie haben ohne Frage mitbekommen, dass der Chip hier ausgelesen wurde – und meine GPS-Verortung erfolgt standardmäßig. Wie bei uns allen. Sie wissen, wo wir wann wie lange sind. Was wir tun, was wir lassen, was wir wollen oder uns wünschen.

Sie haben den Prozess bereits freigeschaltet.

Wissen Sie, was eine selbsterfüllende Prophezeiung ist? Ich bin sicher, wir sehen uns nicht wieder.«

Das Bild verschwand. Wie Sperling selbst.


Venter fror.

›Ich bin mein Richter und mein Henker. Alles zu meinem Besten‹, dachte er niedergeschlagen.

Er war gläsern, wie alle anderen. Alles war transparent und entsprach den Vorschriften und Regeln. Niemand wurde zu etwas gezwungen.

Wer konnte wissen, welchen Status ihm die Gemeinschaft noch zubilligt? Niemand. Er würde diesen Gedanken nie wieder loswerden. Und irgendwann würde er deprimiert genug sein.

Das war nur eine Frage der Zeit.


iFLOW:

voteSTREAM:LEVEL:ENTER:

SUBCONSCIOUS:reaction loop SUBCONSCIOUS:SUBCONSCIOUS:reaction: VOTESTREAM//INDIVIDUAL:ACCESS:iMS:Sperling.Malik

ID 9990123-834747

PRIORITY:top: no delay:VOTE immidiate SUBCONSCIOUS: reaction:

Ein Dienst Ihrer zuständigen Krankenkasse.

Sie wissen, dass Sie nutzlos sind.

Möchten Sie Ihr Leben beenden?

VOTE: Yes / No

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG

Подняться наверх