Читать книгу ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG - Andreas Schafer, Gisbert Haefs - Страница 8
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Thomas Le Blanc: Hochzeitsvorbereitungen
Silvia war überglücklich. Vor einem halben Jahr hatten sie sich beim alljährlichen Reutlinger Friedensfest kennengelernt, sie hatte sich hoffnungslos in diesen Freigeist verliebt, der es wagte, beim Liebemachen den Ton des Staatsfernsehens leiser zu drehen, damit sie seine Schmuseworte hören konnte. Schon zwei Monate später waren sie zusammengezogen und hatten fortan gemeinsam in seiner Werkswohnung in Mössingen gewohnt, das noch zur Reutlingen-Regio gehörte, wodurch sie alle Vorteile des städtischen Sozialverbunds genoss. Und gestern hatte Roderich tatsächlich die etwas altmodisch gewordene, aber immer noch beglückende Frage gestellt, ob sie ihn heiraten wollte. Sie hatte auf ihr Herz gehört und sofort ja gesagt.
Heute am Morgen beim Aufstehen war sie erfüllt von ihrem Glück, aber dennoch vernünftig genug, um die Hochzeitsvorbereitungen mit dem Gang zum Gesoa, zum Gemeinschaftlichen Sozialamt, zu beginnen. Denn natürlich musste sie wissen, welche Neueinstufungen sich durch die Änderung ihres zivilen Status ergaben und welche Verpflichtungen sie künftig zusammen für ihr Gemeinwesen, die VSE, die Vereinigten Staaten von Europa übernehmen konnten.
Das Gesoa-Gebäude befand sich in Reutlingen in dem neuen Komplex gleich hinter dem Bahnhof; es war ein gigantisches Gebäude, weil es das einzige Amt beherbergte, in dem noch Menschen als Ansprechpartner arbeiteten, denn bei allen anderen kommunizierte man nur noch mit einem elektronischen Terminal. Sie wurde vom Eingang aus zu einem von zahlreichen schmalen Büros im achten Stock geleitet und sah am Türschild, dass ihr Sachbearbeiter Gernot Weber hieß.
Kaum hatte sie sich ihm gegenübergesetzt, da sprudelte sie schon heraus, dass sie zu heiraten beabsichtige und dieses Ereignis zum Anlass nehmen wolle, ihre verschiedenen aktuellen Scores durchzugehen und möglicherweise zu optimieren und außerdem ihren Partnerschaftsscore in einen Ehescore umzubeantragen.
»Das passt recht gut, Frau Silvia Rosenheim, Ident 20620317FF00-EUDE08416048-0059-14335, dass Sie heute bei uns vorsprechen.« Der Sachbearbeiter ließ sich von ihrer quirligen Gemütslage nicht beeindrucken, sondern schaute stoisch auf sein Deskterminal. »Wir müssen Ihnen einige Scoreanpassungen zur Kenntnis geben; Sie können dazu gerne Stellung beziehen, und wir können Ihnen auch Strategien anraten, einzelne Scorewerte zu verbessern.«
Er reichte ihr eine Datenkarte aus stabiler Pappe und erläuterte gleichzeitig: »Ihr Einkaufsscore hat sich auf unter achthundert vermindert, Ihr Sozialscore ist nur deshalb stabil geblieben, weil Sie weiterhin gemeinschaftsfördernd Ihre Mutter pflegen – eigentlich hätte er deswegen ja deutlich steigen müssen, Ihr Politikscore ist auf sechshundertfünfzig geradezu abgestürzt, und wegen Ihres Wohnungsscores haben wir Sie bereits angeschrieben, aber leider keine Reaktion erhalten.« Er sah sie auffordernd an. »Um Ihren Fragen gleich vorab zu begegnen: Alle Veränderungen ins Negative beruhen nicht auf eigenen Handlungen, sondern sind mittelbare Veränderungen, weil wir die Handlungen Ihres Lebenspartners, wenn auch mit Ausgleichsfaktoren gewichtet, auch Ihnen zurechnen müssen.«
»Was soll er denn getan haben?«
»Er soll nicht, er hat aus seiner Etathälfte der für den gemeinsamen Haushalt erworbenen Lebensmittel mehrfach Joghurtsorten mit einem Fettfaktor oberhalb dreieinhalb Prozent und-oder einem Zuckergehalt von über sieben Gramm pro hundert Gramm eingekauft, die – wie sich über die Befüllung der gelben Tonne vor Ihrem Haus nachweisen lässt – von Ihnen gemeinsam auch verzehrt worden sind. Er hat des Weiteren mehrfach blutiges Realfleisch statt Sojaimitationen eingekauft, Tiefkühlpizza ohne Kalorienreduktion, außerdem Vollfettkäse von nicht glücklichen Kühen. Dadurch haben Sie über die Schwächung Ihres Körpers die statistische Volksgesundheit geschädigt. Im Wiederholungsfall wird Ihr Krankenversicherungsbeitrag erhöht, aber durch das Unterschreiten der Marke achthundert beim Einkaufsscore haben Sie schon mal alle Rabattaktionen in den nächsten hundert Tagen verloren. Die schädlichen Einkäufe für die gemeinschaftliche Ernährung sind Ihnen mit einem Scorefaktor von null Komma fünf, ab der dritten Woche allerdings verschärfend mit null Komma sechs zugerechnet worden, weil Sie offenbar nicht mäßigend auf Ihren Partner eingewirkt haben. Bei seinem Einkauf von Süßigkeiten und süßen Limonaden sind wir – freundlicherweise – davon ausgegangen, dass das allein für seinen eigenen Gebrauch bestimmt war, sodass wir Ihnen den Negativwert lediglich mit dem Faktor null Komma zwei zugerechnet haben. Als Maßnahme zur Wiederanhebung Ihres Scores empfehlen wir Ihnen verstärkte Einkäufe bei schwäbischen Biobauern und vielleicht eine komplette neue Sommergarderobe bei einem lokalen Schneider, der Stoffe aus Schafzucht auf Karstböden oder Dritteweltläden verarbeitet.«
Silvia wurde mulmig zumute, als Sachbearbeiter Weber nun den Ton verschärfte.
»Ihr derzeitiger Partner erweist sich zunehmend als Sozialschädling. Uns liegen mehrere Memos von Frau Rettenberger, Alter zweiundsiebzig, und Ehepaar Birkner, fünfundsiebzig und neunundsechzig, aus Ihrem Mietshaus vor, dass Ihr Lebenspartner Roderich Scheuffele keine Angebote unterbreitet hat, ihnen die Einkäufe die Treppen hinauf zu tragen. Er hat sich seit Wochen nicht mehr beim freiwilligen Reparaturtrupp des Kinderspielplatzes des Areals blicken lassen, und er ist mehrfach an auf Parkbänken der Arealerholungswiese herumlungernden unerwünschten Elementen, die dort öffentlich Alkohol konsumierten, vorbeigegangen, ohne sie zu ermahnen oder sie dem Abschnittsbeamten zu melden. Stattdessen wurde er gesehen, wie er sich in zweifelhaften Etablissements herumgetrieben hat.« Jetzt schaute Sachbearbeiter Weber sehr pikiert.
»Was meinen Sie mit ›zweifelhaften Etablissements‹?«
»Eckkneipen, Tränken, Schankwirtschaften, Flaschenbierkioske. Sein Sozialscore liegt gerade noch einen Hauch über vierhundert –, darunter müssten wir für ihn zwangsweise Eintritte in gemeinnützige Vereine organisieren –, weil er immer noch den Sonderbonus aufzehrt, da er im vergangenen Monat im kommunalen Freibad einen Jungen vor dem Ertrinken gerettet hat.«
Sie war bei dieser heroischen Tat dabei gewesen und hatte auch einige Tage später stolz mitbekommen, wie er vom Regiopräsidenten persönlich eine Rettungsurkunde überreicht bekommen hatte plus einem Guthaben von tausend Scorepunkten, die er beliebig auf seine Einstufungen verteilen durfte.
»Tja, und dann sind da noch seine politischen Einstellungen. Wohlgemerkt: Wir leben in einem freien Land, in dem jeder uneingeschränkt sagen darf, was er will, aber gegen unsere Feinde, Freunde behandelt man stets freundlich und mit Hochachtung, und die Chinesen sind seit vielen Jahrzehnten unsere Freunde und Wohltäter. Außerdem ist laut europäischer Verfassung jede politische Äußerung auf die optoakustisch gesicherte Privatwohnung und auf speziell lizenzierte Stammtische beschränkt, deren Gesprächsrunden von einem Blockwart angeleitet werden. Politik auf der Straße und in den Medien wird vom Staat formuliert und zugeteilt. Unerlaubterweise hat er die ihm übersandten und freundlicherweise vorformulierten Leserbriefe abgeändert und sie zudem an Pressemedien geschickt, die ohnehin unter verschärfter Beobachtung stehen und deren verantwortliche Redakteure bereits mehrfach zu Anleitungskursen für aufbauende Berichterstattung nach Nordkorea geschickt wurden. Daraufhin haben wir seinen Zuverlässigkeitsstatus als Bürger infrage gestellt, und er wird in den nächsten Tagen eine Vorladung des Demokratieausschusses zugestellt bekommen, der seine Wahlmündigkeit feststellt. Da wir davon ausgehen müssen, dass das Zusammenleben mit einem solch unzuverlässigen Subjekt sich mindestens unterschwellig auch auf Sie auswirkt, haben wir Ihren Politikscore stark auf sechshundertfünfzig absenken müssen.«
Silvia wurde abwechselnd heiß und kalt. All ihre Euphorie war mittlerweile verflogen. Sie spürte, dass sie in Gefahr geraten konnte, Segnungen des Sozialsystems nur noch eingeschränkt wahrnehmen zu können. Sie musste gegensteuern, um ihren Score wieder zu erhöhen.
Doch bevor sie nach entsprechenden Aktivitäten fragen konnte, empfahl der Sachbearbeiter bereits: »Gehen Sie heute noch zu Ihrem Gewerkschaftssekretär, der kann Ihnen nicht nur Rhetorikkurse zur Argumentationsstärkung gegenüber Sozialschädlingen anbieten, sondern Sie auch als Motivatorin zu den Anonymen Anarchisten vermitteln, wo Sie Ihre Negativerfahrungen als Abschreckung weitergeben können. Gerade andere wieder in die Gesellschaft zurückzuholen, bringt Punkte! Außerdem bietet jede örtliche Volkshochschule Kurse zum Erkennen von Lügen in der Presse an – das brauchen Sie einfach, um jeder politischen Erörterung gewachsen zu sein.«
Das schätzte sie so am Gesoa: Jeder bekam seine Chance, sich für die Gemeinschaft nützlich zu machen und mit einer entsprechenden Scoreaufwertung belohnt zu werden. Keiner blieb auf Dauer außen vor.
»Wir helfen Ihnen sogar, sich elegant von Ihrem aktuellen Partner zu trennen«, kam Sachbearbeiter Weber nun zum entscheidenden Punkt ihres Gesprächs. »Da der Arbeitgeber von Herrn Scheuffele, der Weltkonzern Great Wall Accumulators in Reutlingen, natürlich via Sozialdatenabgleich zeitnah über alle Scoreänderungen informiert wurde, ist sein Tätigkeitsprofil am Arbeitsplatz rigoros angepasst worden, was zwangsläufig Auswirkungen auf die Größe des ihm zustehenden Wohnraums nach sich zieht. Das wurde ihm mitgeteilt, aber er hat die elektronischen Weisungen unterdrückt und nicht darauf reagiert und sogar die Kontrollmeldungen an Sie gelöscht. Sein Heiratsantrag an Sie war nur ein untauglicher Versuch, von Ihren Scorewerten zu profitieren. Denn so wie seine Werte Ihnen anteilig angerechnet werden, ist das umgekehrt genauso: Ein Zusammenleben mit einem sozialverantwortlichen Partner kann – zwar nur in kleinem Umfang – manches ausgleichen oder zumindest temporär überdecken. Aber er wird jetzt lernen, dass seine Strategie nicht aufgeht. Er wird in den Werksferien nicht mit Ihnen in einen Erholungsurlaub in eines unserer Freizeitressorts reisen. Stattdessen ist ihm Aktivurlaub in landwirtschaftlichen Produktionsstätten mit Spargelstechen tagsüber und Seminaren abends zur Auffrischung der Gemeinschaftsmotivation sowie nächtlichen Hypnosebändern verordnet worden. Und danach schickt ihn Great Wall Accumulators drei Jahre zum ehrenvollen Arbeitseinsatz zur Lithiumchloridgewinnung in die chilenischen Salzwüsten, wo er sich um den Abbau der wichtigsten Erzressource für Akkumulatoren verdient machen kann – was ihm durch seinen Körpereinsatz einen hohen Scorewert verspricht. Sie sehen, wir kümmern uns um jeden.«
Silvia fragte nun scheu: »Und was geschieht mit mir?«
Jetzt strahlte der Sachbearbeiter regelrecht. »Sie haben das große Los gezogen. Wir haben Sie bei der Vermittlungsbörse www.LovePartner.cn angemeldet, die die Sozialscores von Männern und Frauen gleichen Alters und regionaler Nähe optimal vernetzt. Sie werden es erfahren: Auch Liebe geht über Punkte.«