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Peter Mathys: Wahltag

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Rob A 1291, ein Hausroboter, stand reglos in seiner Nische neben der Garderobe. Seine Herrschaft, Vincent und Jasmin Schubert, hatten ihr Haus um 19:20:17 Uhr verlassen, nachdem er ihnen das Taxi für 19:15:00 Uhr bestellt hatte. Die Oper, La Traviata, würde genau um 20:00:00 Uhr beginnen. Er hatte die Tickets schon vor zwei Monaten besorgt, nachdem ihm ein kurzer Blick in den Computer des Basler Theaters gezeigt hatte, dass der Abend rasch ausverkauft sein würde. Mit den Plätzen siebzehn und achtzehn im Parkett, zweite Reihe, waren Jasmin und Vincent sehr zufrieden gewesen. Beim Roboter traten an die Stelle von Zufriedenheit der Abschluss einer Aufgabe und dessen Speicherung in seinem Hauptgedächtnis für spätere Verwendung. Der Wert eines Roboters wuchs mit dem Umfang seines gespeicherten Wissens.

A 1291 nutzte die Zeit, um seine Schaltkreise und den Zustand seiner sieben Hyperleichtbatterien zu überprüfen. Eine Platine saß ein wenig locker, was zu einem gelegentlichen Flackern der Impulsübertragung führen konnte. Die Batterien von der Größe eines Zuckerwürfels waren auf eine Lebensdauer von fünfzigtausend Stunden ausgelegt; bis jetzt hatte noch keine ersetzt werden müssen.

Der Theatercomputer meldete Rob A 1291 und allen anderen wartenden Robotern zwanzig Minuten früher, dass das Programm mit Schlussapplaus und Zugabe um 23:06:18 Uhr zu Ende gehe. So konnten die Roboter für ihre Herrschaften Taxis anfordern. A 1291 schaffte es, dass sein Taxi das erste in der zweiten Reihe war; die Wartezeit bis zur Abfahrt würde nur 4:12 Minuten dauern.

Kaum war das Ehepaar Schubert zu Hause, ging ein Gezeter los. Jasmin rief entsetzt: »Aua, ich habe meine Stola im Theater vergessen. Der schöne Silberfuchs. Wenn ihn jemand mitnimmt!«

»Ich hole ihn«, offerierte A 1291. Seine Stimme klang nicht blechern, aber hohl. »Es dauert 13:46 Minuten.«

Jasmin war nicht einverstanden. »Nein, Robby. Du wirst dich wieder irgendwo anschlagen und mit einer Beule im Bauch zurückkommen. Wenn ich nur an die Reparatur denke. Du zwei Tage weg, dann eine Aushilfe von diesen neuen Modellen, die nichts verstehen.«

A 1291 senkte den Kopf um fünfundvierzig Grad. »Gestatten Sie, dass ich einen zweiten Vorschlag unterbreite.«

»Ja«, knurrte Vincent, allmählich ungehalten. »Dafür haben wir dich ja gekauft.«

»Wenn ich jetzt ein Taxi bestelle und dem Garderoberoboter gleichzeitig ein Hologramm der Stola mitsende, ist Ihre Stola in 7:09 Minuten hier. Sollte sie nicht mehr vorhanden sein, so weiß ich das ab jetzt in 1:33 Minuten.«

Vincent nickt. »Gut. Mach schon vorwärts. Ich warte schon viel zu lange auf meinen Gin Tonic.«


Neujahrstag 2083. Die Roboter und die Computer hatten auf sanfte Art die Weltherrschaft übernommen. Die Menschen merkten es nicht. Angefangen hatte es, je nach Zeitrechnung, mit fahrerlosen Autos, den kleinen Robotern zum Rasenmähen, den Drohnen zweiter Generation. Hinzu kam die schlichte Haushaltsarbeit: Reinigung, Aufräumen, Mahlzeiten vorbereiten, Wäsche besorgen, Kinder zur Schule bringen und abholen. Ein Hit war das Internet der Dinge; 3-D-Drucker revolutionierten manchen Klein- und Mittelbetrieb. Aber all dies wurde in den Schatten gestellt durch die künstliche Intelligenz. Die meisten Menschen wussten nicht, was darunter zu verstehen war, wohl aber die Roboter und die großen Unternehmungen. Deren gigantischen Datensammlungen waren so angelegt, dass sie sich selbst weiter programmierten, selbstständig Verknüpfungen herstellten und Probleme lösten, bevor die Geschäftsleitungen sie überhaupt erkannten. Rechtsanwälte entwarfen selbst einfache Verträge nicht mehr selbst, sondern speisten die Eckdaten in ihre Computer ein. Diesen standen die Datenbanken des ganzen Landes und, über elektronische Schaltstellen, auch jene anderer Länder offen. So entstanden innert Stunden Vertragswerke von einer Perfektion, die alle klugen Köpfe zusammengenommen weit übertraf. Über die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die beruflichen Fähigkeiten der Anwälte mochte niemand nachdenken. Dasselbe galt in unterschiedlichem Maß auch für alle anderen Berufe. Die Roboter fingen an, sich wo nötig selbst zu reparieren, anfänglich überwacht durch menschliche Kontrolleure. Später überließ man diese Arbeitsgänge ihrer eigenen Findigkeit, und zuletzt entwickelten sie auch ihre Nachfolgermodelle selbstständig. Den Menschen war es recht; ihre elektronischen Sklaven leisteten perfekte Arbeit, reklamierten nie, brauchten weder Freizeit noch Ferien und wurden nie krank.

Die vorläufig letzte Etappe dieser Entwicklung hatte ihren Abschluss im Herbst 2082 gefunden. In einer amerikanischen Kleinstadt, nahe dem Silicon Valley, hatte eine kleine Gruppe von A-Robotern mit der Zustimmung und dank der Finanzierung ihrer Eigentümer im Jahr 2079 mit dem Bau einer Roboterfabrik begonnen. Bauteile, Platinen, Sensoren, Mikrosender und -empfänger wurden von Robotern völlig lautlos eingebaut. Einzig beim Bau des Gebäudes, der Wände, Böden, Fenster, Decken ging es oft laut zu; die Roboter hatten dafür menschliche Bauarbeiter eingesetzt, die wiederum bedienten sich zum Austausch ihrer Mitteilungen der ungebändigten Kraft ihrer Stimmorgane.

Zur Einweihung der ersten robotereigenen Fabrik wurde eine kleine Feier an Ort und Stelle abgehalten. Damit wurde, beiläufig und unabsichtlich, anerkannt, dass Roboter Eigentum besitzen konnten. Dem Bürgermeister der Stadt wurde der erste in der Fabrik gebaute Prototyp geschenkt; danach hielten er und der Vorarbeiter der Bautruppe kurze Ansprachen. Die Roboter empfanden nichts und hatten nichts zu sagen. Sie standen abseits und warteten, bis sie gebraucht wurden.

Was kein Mensch wusste, war, dass in der Fabrik jedem neuen und jedem zur Reparatur eingelieferten Roboter eine Vorrichtung eingebaut wurde, mit der alle Roboter mit allen anderen lautlos verkehren konnten. Die Vorrichtung bestand aus einem zusätzlichen Pünktchen von einem Viertelmillimeter Durchmesser auf einer Platine; die Kommunikation erfolgte mittels gelenkter Deltastrahlen mit Lichtgeschwindigkeit. Bald wendete man diese Erfindung auch in allen anderen, Menschen gehörenden Roboterfabriken an.

Ein Problem blieb: Die Hausroboter wie unser A 1291 entsprachen in der Größe einem Durchschnittsmenschen. Mit Ausnahme der eher derben Industrieroboter der B-Klasse waren sie mit Aluminium verkleidet. Sie hatten Arme und Beine, Füße, die ihnen schnelles Gehen und Laufen ermöglichten, flexible Hälse und ovale Köpfe mit Augen, Ohren, Nasen und Mündern, aber viele Menschen hatten sich so an ihre dienstbaren Geister gewöhnt, dass sie sich wünschten, diese wären nicht nur menschenähnlich, sondern dem Menschen gleich. Die Roboter in der neuen Fabrik nahmen diesen Wunsch als Befehl auf und arbeiteten mit Hochdruck an seiner Verwirklichung. Sie hatten errechnet, dass sie den ersten menschengleichen Roboter in sieben Monaten würden ausliefern können, sofern keine Verzögerung in der Lieferung wichtiger Bestandteile eintrat.


Am 10. September 2083 fand in der Roboterwelt, unbeachtet von den Menschen, ein Paradigmenwechsel statt. A 1291 nahm Kontakt mit je einem Kollegen aus Deutschland und Japan auf. Folgender Austausch fand statt:

»Vorschlag: Wir gründen einen Roboterrat von sieben Mitgliedern.«

»Warum?«

»Vereinheitlichung und Verbesserung unserer Existenzbedingungen. Auch unserer Kollegen der B- und C-Klassen.«

»Aber die sind nicht wie wir. Die Bler schuften, bis ihr letztes Gelenk ausgeleiert ist. Die Cler mähen Rasen und stutzen Sträucher, bis sie im Swimmingpool landen oder von einem Auto überfahren werden, wenn sie nicht rechtzeitig abdrehen. Zu uns trägt man Sorge, damit wir möglichst lange dienen.«

A 1291 suchte im Fundus seiner Erfahrungen nach der richtigen Antwort. Er sagte: »Stimmt. Aber sie sollen untereinander gleich sein, nach dem relativen Gleichheitsgrundsatz.«

A 733: »Warum sieben Mitglieder?«

»Demokratische Machtverteilung.«

»Macht? Haben wir doch schon.«

»Aber nur faktisch, nicht rechtlich. In der Schweiz besitzen siebenundachtzig Prozent, in Deutschland neunundsiebzig Prozent aller Haushalte einen A- oder C-Roboter. Höchste Zeit, dass wir uns organisieren.«

»Verteilung der sieben?«

»Wird ausgelost. Es gibt keine logisch einwandfreie Methode der Länderauswahl.«

A 733: »Einverstanden.«

A 901: »Einverstanden.«

Dieses Gespräch wird hier zum besseren Verständnis wörtlich wiedergegeben. In Wirklichkeit dauerte es wegen der Übermittlung der einzelnen Äußerungen mit Lichtgeschwindigkeit bloß einige Bruchteile von Mikrosekunden. Und da sich die Antwort auf jede Frage sofort in den Schaltkreisen des Gefragten bildete, vernahm sie der Frager praktisch gleichzeitig mit seiner Frage.

Nach kurzer Verhandlung der drei Gründer über die Wahl der mit der Auswahl zu betrauenden Maschine ergab sich folgende Länderverteilung der sieben Mitglieder des Roboterrates: Deutschland, Schweiz, Frankreich, Japan, Indien, China, Kanada. Als erster Beschluss wurde festgestellt, dass es den Robotern jedes Landes freistehe, einen eigenen Länderrat ins Leben zu rufen. Anschließend ermahnte A 1291 die Robotergemeinschaft:

»Erstens: Die Existenz der Roboterräte, ihre Gespräche, Handlungen und Beschlüsse sind vor allen Menschen geheim zu halten.

Zweitens: Die drei Robotergesetze von Isaac Asimov gelten ohne Einschränkung weiter.«

Die Anweisungen von A 1291 – die Gemeinschaft erkannte ihn mittlerweile allseits als Sprecher an – wurden kommentarlos akzeptiert.


Vincent und Jasmin Schubert feierten ihren fünfundzwanzigsten Hochzeitstag im Restaurant Cheval Blanc, das zum Hotel Les Trois Rois in Basel gehörte. Seine Küche wurde von Michelin, dem wichtigsten Restaurantführer, seit Jahrzehnten mit drei Sternen ausgezeichnet. Von ihrem Fensterplatz aus überblickten sie den Rhein, der träge und novembergrau seine Wassermassen nach Norden wälzte.

Die Kellnerinnen und Kellner waren allesamt A-Roboter mit Spezialausbildung in Gastronomie. Über dem linken Arm trugen sie eine weiße Serviette und auf ihrer Aluminiumbrust ein elegantes Namensschild. Für Vincent und Jasmin waren Angelina und Victor zuständig. Romeo, der Weinkellner, half ihnen bei der Auswahl des Weines.

»Bei Ihrer Reservation haben wir festgestellt, dass Sie an Ihren letzten drei Besuchen beim Champagner Laurent-Perrier und beim Rotwein einmal Brunello di Montalcino und zweimal Barolo gewählt haben.«

»Heute möchten wir einen anderen Roten, nicht, Jasmin?«

»Oh doch, sehr gerne. An was denkst du?«, fragte sie.

Vincent überlegte angestrengt. »Zuerst zwei Gläser Champagner. Dann als Roten etwas Schwereres. Was schlägst du vor, Romeo?«

Der Weinkellner verbeugte sich und ratterte herunter: »Da käme ein Barbera d’Asti Superiore DOCG infrage, vierzehn Komma fünf Volumenprozent. Aus dem Haus Bologna e Figli.«

»Jahrgang?«

»Zweitausendsechsundsiebzig. Ein runder, vollmundiger Wein mit Brombeer- und Zimtgeschmack im Abgang.«

»Gut. Den nehmen wir.«

Jasmin schaute Romeo nach, wie er mit seinem eckigen Gang davonschritt, den Wein zu holen. Zu ihrem Mann sagte sie: »Es nimmt mich wunder, wie lange es noch dauert, bis hier Roboter als Gäste einkehren.«

»Und sich von Menschen bedienen lassen«, antwortete Vincent. »Meinst du das?«

»Ich weiß nicht. Fünfundzwanzig Jahre. Wir waren jung. Jetzt sind wir alt. Und die Welt ist schwierig geworden. Die Computer und die Roboter wissen alles und sagen uns, was wir brauchen. Wie jetzt eben auch Romeo. Selbstfahrende Autos. Ich darf nicht mehr Gas geben, wie es mir passt, auch wenn die Straße leer ist. Und zum Tanken brauche ich eine Steckdose.«

»Nicht mehr lange«, warf Vincent ein. »Bald gibt es die Atomwürfel, die speisen den Motor länger, als das Auto oder wir leben.«

Jasmin seufzte. »Manchmal habe ich Angst vor unserem Robby. Er ist so nett und hilfsbereit, erfüllt uns jeden Wunsch. Aber manchmal, wenn ich in seine starren Augen aus Kunstglas schaue, ist mir, als stecke ein lebendiges Wesen dahinter, als seien wir bloße Werkzeuge für ein verborgenes Ziel, das nur ihm und seinesgleichen nutzt.«

Jetzt lachte Vincent. »Du denkst zu viel, meine liebe Frau. Erfreue dich am Jetzt und Heute. Es geht uns gut, wir sind leidlich gesund für unser Alter. Was scheren uns die wandernden Blechbüchsen!«

»Stell’ dir vor, wir hätten keine Blechbüchse mehr. Was wir dann wieder alles selbst erledigen müssten. Undenkbar!«

Romeo erschien mit dem Champagner und ersparte Vincent die Antwort. Er schenkte ein, und sie schauten schweigend zu, wie die Sauerstoffbläschen in den Gläsern nach oben strebten, eins nach dem anderen, als hätten sie eine geheime Mission zu erfüllen.

Vincent fragte: »Wir haben uns eben über euch Roboter unterhalten. Sag mal, gibt es eigentlich den neuesten Typen schon, den total menschengleichen?«

»Ja. Die Prototypen waren erfolgreich. Seit einem Monat sind die Modelle im Verkauf.«

»Männer und Frauen oder nur ein Modell?«

»Beide Sorten, Herr Schubert.«

»Und die können alles, was wir auch können?«

»Ja.«

»Wirklich alles? Haare? Fingernägel? Weiche Haut?«

»Ja.«

Romeo entfernte sich. Vincent lachte wieder. »Das sind sehr gute Nachrichten.«

»Bist du sicher?«, bemerkte Jasmin. »Wir mit unseren grauen Haaren.«


In der Schweiz wurde sehr rasch ein fünfköpfiger Länderrat mit Sitz in Basel gegründet. Dies erfolgte in Mikrosekundenschnelle, ohne dass die Gründer deswegen ihre üblichen Aufgaben in den Häusern ihrer Herrschaften unterbrechen mussten. Dann klinkte sich Ratsmitglied A 733 in den Zentralcomputer der Bundesverwaltung in Bern ein, um die neuesten Bevölkerungsdaten abzurufen. Folgendes Resultat trat am 20. Oktober 2083 zutage:


9.088.233 Einwohner;

davon 7.002.388 Schweizer Staatsbürger;

davon 5.407.743 stimm- und wahlberechtigt (der Rest Kinder und Jugendliche);

verteilt auf 3.555.279 Haushalte;

davon halten 3.093.092 einen oder mehrere Roboter;

von den 2.085.845 Nichtschweizern halten 10.709 einen Roboter.


Als diese Ergebnisse vorlagen, hielt der Länderrat eine virtuelle Sitzung ab. A 1291 eröffnete die Diskussion.

»Gut die Hälfte der Stimm- und Wahlberechtigten halten sich einen oder mehrere Roboter. Wir, diese Hälfte, verrichten rund achtzig Prozent der in einem Haushalt anfallenden Arbeiten. Die Logik gebietet, dass wir auch am Stimm- und Wahlrecht beteiligt sein sollten. Einverstanden?«

Zwei Mitglieder, A 733 und A 28, stimmten sofort zu; A 239 und A 666 schwiegen.

Nach einigen langen Mikrosekunden äußerte sich A 666: »Was bedeutet es, wenn wir stimm- und wahlberechtigt sind? Im Bundes- und in den Kantonsparlamenten wirken wir bei der Beschlussfassung mit. Das heißt, wir übernehmen Mitverantwortung für das Ergebnis. Verantwortung ist für uns ein sachfremder Faktor, der auf der emotionalen Ebene der Menschen verankert ist. Uns jedoch fehlen die dafür notwendigen psychischen Funktionen.«

»Das heißt?«, wollte A 28 wissen.

»Parlamentsarbeit ist politische Tätigkeit. Sie gestaltet das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen, nicht der Roboter. Wir haben kein Zusammenleben und keine Gefühle. Wir sind auf rationales Denken beschränkt.«

A 733 meldete sich. »Das heißt, wir können rational richtige, aber für die Menschen falsche Entscheide treffen.«

»Ja«, bestätigte A 666. »Im Extremfall.«

Jetzt schaltete sich A 1291 wieder in die Diskussion ein.

»Es gibt Gegenargumente. Weil wir rational denken und keine Gefühle kennen, bringen wir keine sachfremden Überlegungen ein. Korruption kennen und unterstützen wir nicht, weil sie sachfremd ist.«

A 236: »Wenn wir bei einer Beschlussfassung mitwirken, welche die Opposition überstimmt, fügen wir ihr wissentlich Schaden zu. Ihre Mitglieder, nicht wir, sind traurig, verletzt, böse; damit haben wir Robotergesetz Nummer eins verletzt.«

A 1291: »Dieser Artikel eins lässt zwei Fragen unbeantwortet: Was heißt Schaden, und was heißt wissentlich geschädigt? Asimov hat diese Fragen offengelassen, um uns einen gewissen Spielraum einzuräumen. Wir sind den Menschen hundertfach überlegen. Ich denke, unter Schaden sind körperliche Verletzungen oder wirtschaftliche Nachteile zu verstehen. Im Übrigen können wir ihnen großen Nutzen bescheren, weil wir stets sachlich und logisch richtig und nicht emotional abstimmen.«

Roboter A 28 unterstützte den Vorredner. »Denkt an die Arbeit, die wir an den Universitäten verrichten. Wir halten Vorlesungen über Staats- und Verwaltungsrecht, über die Organisation des Bundesstaates, über die gesellschaftlichen Strukturen des Landes, aber bei deren Ausgestaltung dürfen wir nicht mitwirken. Völlig unlogisch!«

Nach kurzer, sophistischer Debatte stimmten erst der Schweizer Länderrat und dann die Gesamtheit der Schweizer Roboter einstimmig dafür, beim Eidgenössischen Departement für Ordnung und Rechtsschutz, kurz EDOR, einen Antrag auf Einräumung des Stimm- und Wahlrechts für die A-Roboter zu stellen. Als Begründung wurde anerkannt, dass den Menschen kein Schaden zugefügt werden durfte. Schaden würde man ihnen indes, wenn objektiv schädliche Beschlüsse der Parlamente nicht verhindert oder nützliche Beschlüsse nicht gefasst würden.

Als Wahltag war von den Behörden gesamtschweizerisch bereits der 13. Oktober 2084 bestimmt worden.


Bei Vincent Schubert überwog die Neugier bei Weitem die Vernunft. Er informierte sich bei der Lieferfirma über alle möglichen Einzelheiten und bestellte schließlich ein Modell Goldstar weiblich, obwohl ihr Robby tadellos funktionierte und keinen Anlass zu Klagen gab. Er war erleichtert, als man ihm darlegte, dass für Gesicht und Kopf verschiedene Varianten zur Verfügung stünden: Gesichtsausdruck ernst oder lächelnd, Wangen breit oder asketisch, Stupsnase oder römische Eleganz, breite oder hohe Stirne, breiter oder schmaler Mund, Glatze oder voller Haarwuchs, schwarz, braun, blond, gewellt oder anliegend.

Vincent entschied sich für blond anliegend, lächelnd, breite Wangen, römische Eleganz, breiter Mund.

Goldstar wurde in einer länglichen Schachtel aus metallverstärkter Pappe geliefert. Vincent öffnete sie selbst, während Jasmin belustigt zuschaute. Der Edelroboter war in einem weißen Overall geliefert worden; außerdem lagen vier Kleider, passend zu verschiedenen Anlässen, in der Schachtel.

A 1291 wusste um die neue Hausbewohnerin, aber niemand hatte ihm befohlen, der Ankunft beizuwohnen. Er blieb reglos in seiner Nische neben der Garderobe stehen und lauschte dem lichtschnellen, lautlosen Verkehr der Kollegen im Länderrat.

Vincent erschrak, als die Roboterfrau von selbst aufstand und aus der Schachtel kletterte; Jasmin dachte unpassend an eine Auferstehungsszene.

»Guten Tag. Ich bin Nelly«, waren die ersten Worte der Neuanschaffung, »aber Sie können mir auch einen anderen Namen geben. Ich empfehle das sogar, denn in der Fabrik werden alle weiblichen Roboter auf Nelly programmiert.«

Vincent musste erst Atem holen, so überwältigt war er. Nellys Stimme floss wie weicher Honig über ihre Kunstlippen. Ihr blondes Haar umschmeichelte ihre kleinen Ohren. Endlich fand er wieder Worte.

»Ich werde dich Miranda nennen. Einverstanden, Jasmin?«

»Einverstanden, es ist dein Spielzeug«, erwiderte sie.

»Zeige mir deinen Arm, Miranda«, fuhr Vincent fort.

Er berührte ihre Finger, die nackte Haut des Arms und staunte. »Das ist unglaublich. Du bist echt, ja echt. Bist du von Kopf bis Fuß so?«

»Ja. Soll ich es Ihnen zeigen?«

Er schaute zu Jasmin, zögerte und sagte: »Nein, nicht nötig. Aber sag’ mir etwas: Wie kann man euch von den Menschen unterscheiden?«

Auf Mirandas Gesicht zeichnete sich ein kleines Lächeln ab. »Schauen Sie in meine Augen. Wimpern sind vorhanden, aber sie bewegen sich nicht, weil unsere Augen keine Flüssigkeit brauchen. Mit anderen Worten, meine Augen und die meiner Kollegen sind ständig offen. Übrigens auch die der A-Klasse.« Sie machte eine Pause, als wenn sie nachdächte. »Aber das merken die wenigsten. Und denen, die es merken, ist es egal.«

»Schön«, sagte Vincent. »Jetzt müssen wir noch einen Platz für dich finden.«


A 1291 und seine Ratskollegen fanden rasch heraus, dass die Teilnahme an öffentlichen Wahlen und Abstimmungen erheblich schwieriger war, als sie sich das vorgestellt hatten. Rationales Denken half nicht weiter, weil ihnen das Basiswissen fehlte.

»Zuerst müssen sie uns das allgemeine Stimm- und Wahlrecht zugestehen«, eröffnete A 1291 die Ratssitzung.

A 28: »Wer ist dafür zuständig?«

»Beim Bund wohl die Abteilung für Bevölkerungsentwicklung innerhalb des EDOR. Die wissen genau, wer welche Roboter besitzt.«

A 28: »Man führt uns nur mit unseren Nummern. Auf die Wahllisten gehören Namen, nicht Zahlen.«

»Sie werden versuchen, uns mit der Begründung abzuweisen, das Stimm- und Wahlrecht stehe nur Schweizer Staatsbürgern zu.«

A 733: »Sind wir keine Schweizer?«

A 1291: »Nein.«

A 733: »Was denn?«

Der Vorsitzende – er mochte nicht Präsident genannt werden – schwieg fast eine ganze Sekunde, ehe er antwortete. »Wir sind keine Menschen, wie ähnlich wir uns auch geben. Es gibt dafür keinen Präzedenzfall. Sie müssen uns am besten zu Schweizern machen und uns danach das Recht verleihen, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen. Dazu brauchen wir menschliche Hilfe, einen Rechtsanwalt mit viel Fantasie.«

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG

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