Читать книгу ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG - Andreas Schafer, Gisbert Haefs - Страница 16

Ruben Wickenhäuser: Der Fliegende Holländer

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Das Donnern der Bordkanonen rollte durch den Raum, dass die Wände bebten. Der Angriff hatte begonnen.

Silver legte die Arme auf die Stuhllehnen. So fühlte sich reine, eiskalte Macht an. Macht über Millionen. Low Orbit Ion Cannon 14.2 feuerte mit einer Effizienz, die selbst Silver überraschte. Zahlenkolonnen rasten über den Bildschirm, so schnell, dass man ihnen mit den Augen nicht mehr folgen konnte.

Erstaunlich, dachte er, sie werden immer schneller.

Hektisch flackerten die kleinen Mündungen der Kanonen, die die Aktivität der Speichermedien anzeigten, und die Kontrolllampe der Terraverbindung oben im Krähennest des Piratenschiffmodells zeigte nur noch ein durchgehendes Leuchten. Überall auf der Welt begannen Datoren, ausgesuchte Ziele mit sinnlosen Anfragen zu bombardieren. Eine weitere Kanonensalve verkündete das Auslösen der verschlüsselten Datensprengköpfe.

Auf dem kalten Blau der Zielliste neben der wie irrsinnig tanzenden Zahlenreihe grellten Namen rot auf und erloschen dann. Die ersten Ziele waren unter dem Angriff zusammengebrochen.

Silver streckte einen Arm aus und legte den Finger auf eine Taste. Nummer drei war tot. Nummer vier. Fünf und sechs. Sieben glomm dunkelrot, Silver gab ihr zehn Sekunden; acht bis zwölf schimmerten warngelb. Nur die dreizehn glomm in unbekümmertem Grasgrün, als wolle sie ihrer Nummer Ehre machen.

Ein grässlich krächzender Warnton erklang. Neben der Abbildung einer schwebenden Ionenkanone begann ein Warnsignal, zu blinken. Der Sicherheitszeitraum wurde überschritten. Aber Silver drückte nicht auf die Unterbrechertaste. Noch glommen mehrere Ziele dunkelrot. Die musste er auch noch haben. Obwohl er wusste, dass jede Sekunde gefährlicher Leichtsinn war.

Er drehte den Kopf zu dem Plüschpapagei, der auf seiner Schulter saß, und krächzte wie ein Bauchredner: »Jetzt wird’s Zeit!«

»Ach, wirklich?«, fragte er die Puppe in seiner normalen Stimme.

»Allerdings, Käpten.«

»Sechs Ziele reichen noch nicht.« Von der Dachschräge starrte ihn ein riesiges Porträt von Käpten Sparrow vor der Rauchsäule einer brennenden Galeone an, den zum Stoß erhobenen Säbel in der Rechten. Der Protagonist eines uralten Streifens, Relikt aus einer lang vergangenen Zeit, und für Silver doch immer wieder ein Genuss, ja, mehr als das: Sparrow war seine Identifikationsfigur. Der Filmkapitän schien ihm aufmunternd zuzublinzeln.

»Feiglinge werden keine Piratenkapitäne«, fügte er hinzu.

»Dummkopf«, krächzte er sich selbst an.

Als drei weitere Zielanzeigen vergangen waren, drückte Silver endlich auf die Taste. Sofort erstarb der Warnton, die Zahlenreihe gefror und es machte für einen Augenblick den Eindruck, als wäre die Zeit stehen geblieben. Low Orbit Ion Cannon, dramatischer Name für ein von ihm selbst weiterentwickeltes Angriffsprogramm, hatte ihr Bombardement vollendet.

»Zufrieden?«, raunzte er seinen Papagei an.

Eine Reihe von digitalen Sprengköpfen würde in Kürze detonieren, aber das war mehr als Fangschuss gedacht. Neun von dreizehn Zielen waren erledigt, drei weitere schwer beschädigt. Silver ließ die Knöchel knacken und schüttelte die Aufschläge seiner Piratenjacke zurecht.


Als es an der Tür klingelte, fand sich in seinen Datoren keine Spur mehr von dem Angriff. Was gerade noch die Brücke seiner digitalen Angriffsfregatte gewesen war, war nun der pseudoreligiöse Tanz aus Kurven verschiedener Börsenkurse. Währungslisten hatten die Zieladressen ersetzt. Und da war jetzt der Überrest eines trojanischen Pferdes, der seine Rechner als Teil der Zigtausend heimlich gekaperten Angriffsbasen auswies: Opfer war er also, nicht Täter.

»Na dann«, sagte er zu seinem Plüschpapagei. Den Sitz seines Dreispitzes prüfte er vor dem Öffnen, so viel Zeit musste sein. Als er in den Spiegel an der Tür sah, war ihm, als sehe er auf dem Hauptbildschirm immer noch das grüne Leuchten der Nummer dreizehn. Nummer dreizehn beschäftigte ihn viel mehr als alle Sondereinsatzkommandos und Staatsschützer.


Silver hatte die Polizei mühelos davon überzeugen können, dass er nur zu den Abertausenden Opfern gehörte, deren Datoren durch ein unsichtbares Schadprogramm versklavt worden waren. Sein Äußeres machte die Polizisten nicht argwöhnisch, im Gegenteil: Es wies ihn als Anhänger des verbreiteten Modekults der Zweitausender aus. Leute, die sich wie damals in dem Jahrzehnt kleideten, das vor vierundachtzig Jahren mit dem neuen Millennium begonnen hatte – entweder wurde dabei der »Straßenlook«, wie es damals geheißen hatte, imitiert, oder aber die Garderobe der großen Filmhelden. Und da war Silvers Look unverkennbar, denn der dazugehörige Film erlebte gerade wieder eine Renaissance. Ein Film, der ganz ohne 3-D-VR auskam, ja den man ganz altmodisch auf eine Leinwand projiziert sehen musste, um ihn richtig würdigen zu können. Oder zumindest auf einem dieser LED-Bildschirmdinosaurier.

Zudem war seine Wohnung mit allerlei altmodischem Krempel ausgestattet, von richtigen Flachbildschirmen bis hin zu den umständlichen, sprachaktivierten Lautsprecherdosen, über die man Pizza bestellen oder das Licht dimmen konnte. Seine Datoren, die er wie in den Zweitausendern liebevoll »Computer« nannte, waren ebenfalls in den jener Zeit nachempfundenen klobigen Kästen untergebracht. Der Begriff »Internet« hatte sich hingegen behaupten können.

Die Ermittler hatten nur die Nase gerümpft und ihm einen Vortrag über die Sicherung von Heimdatoren und die Vorzüge der Einbettung in das Schwarmnetz gehalten, der Auslagerung von Rechenoperationen und sämtlichen persönlichen Daten ins Internet.


Für mehrere Wochen beherrschte der Angriff die Medienflüsse mit Nachrichtenbilletts und Explikationen über die Milliarden an Schäden oder Hacker aus China, dann verebbte die Aufmerksamkeit. Das Thema Internet aber blieb aktuell. Wechselweise wurden die Argumente Terrorismus, Urheberrecht oder Kinderpornografie als Grund genutzt, um im Schatten des Fußball-Elitecups ein Gesetz durchzuwinken, das alle Internetanbieter zur Aktivierung von noch aggressiverer selbstlernender Sperrsoftware verpflichtete.

Die Politik war ebenso zufrieden wie die Industrie, nur das Internet wurde immer eintöniger – was die Entscheider wenig kümmerte, da sie das Netz ohnehin überwiegend nur durch ihre Politurabteilungen und als einfaches Kauf-mit-einem-Blinzeln-Bestellmedium kannten.

Silver machte sich Vorwürfe, dass sein Angriff im Grunde nach hinten losgegangen war: Seine virtuellen Kanonenkugeln dienten nun seinen Gegnern als willkommene Munition für ihr Vorgehen. Also begann er, aufrüttelnde Vorträge zum Thema Internet und Kontrolle zu halten. Nicht nur via Projektion, sondern auch ganz real und persönlich vor Ort, weil die Authentizität physischer Anwesenheit in einer sonst weitgehend digitalen Welt allgemein sehr geschätzt wurde. Sein Piratenkostüm erwies sich hierbei als echter Medienmagnet. Ein echter Freibeuter, auferstanden aus den Zweitausendern, so wurde er genannt, und: ein Piratenkapitän für die Freiheit.

Frustrierend war allerdings, dass er doch nur die erreichte, die schon seiner Meinung waren. Absurderweise war auch das ein Problem, das zu Beginn des Jahrhunderts bereits bestanden hatte und mit dem etwas kindischen Begriff der »Filterblase« belegt worden war. Wie heute wurde auch damals die Kritik genau von den Feinden der Freiheit für ihre eigenen Ziele verwendet. Sie behaupteten einfach, ihre Gegner hätten keine Ahnung von der Wirklichkeit, da sie sich ja eh nur in ihren Filterblasen tummeln würden. Die Kritiker seien noch jung und dumm und mögen die Beurteilung doch besser Leuten überlassen, die sich damit auskannten, worunter sie natürlich sich selbst und ihre mit zweifelhaften akademischen Graden geschmückten Hofschranzen meinten. Silver fühlte sich wie im Hamsterrad.

»Ich brauche wieder Zeit für meine Fregatte«, sagte er zu seinem Papagei. »So werde ich zur Landratte.«


Eine Woche nach dem Inkrafttreten des Sperrgesetzes traf eine Mail bei Silver ein.

»Eine echte E-Mail! Von einem Unbekannten!«, staunte Silver und ließ seinen Papagei sich ungläubig vorlehnen. »Kein Mensch versendet heutzutage noch Mails! Außer denen, die nicht beobachtet werden wollen …«

Er sah sich den Kopfsatz der Mail an. Zum zweiten Mal am heutigen Tage staunte er. Der Absender lautete attack@13.ntz.

»Dreizehn! Jetzt sag mir einer, dass das ein Zufall sein soll!«

Atemlos öffnete Silver die Mail. Es war ein wirres Geschreibsel, als habe jemand Chinesisch mit einem besonders billigen Onlineübersetzer ins Finnische übertragen und dann ins Deutsche.

»Meine Finger werden taub« lautete die naheliegendste, aber sinnlos wirkende Deutung. Unterzeichnet war die Mail mit »Anonymous 13«. Eine lange Liste mit Internetadressen folgte.

Silver fand Krankenhäuser, Banken, Babybreihersteller, aber auch Satellitenkraftwerke und militärische Einrichtungen: Anmeldedaten samt Verifikationen von Datenbanken und Servern, für die Hacker ihren rechten Arm gegeben hätten.

Silver war beeindruckt. Und er wunderte sich. Warum sollte jemand, der so eine Liste zusammenstellen konnte, seine Dienste benötigen?

»Weil du ihn mit deinem Angriff beeindruckt hast, du toller Hecht«, ließ Silver seinen Papagei krächzen.

»Und woher kennt er mich als Urheber?«

»Du bist halt nicht perfekt, Käpten.«

»Ach was. Und die Dreizehn? Woher bitte weiß er von der Dreizehn?«

»Ich glaube, du brauchst frische Luft. Am besten … nicht ganz so frische Luft, aber dafür geschwängert mit elektromagnetischen Emissionen, Lötkolbendunst und Lösungsmitteln.«

»Was?«

»Du brauchst Rat. Hol ihn dir.«


»He, du!«

Silver drehte sich um. Mitten im Kellergang des Retroclubs Abgestürzte Raumstation stand, unvorteilhaft ausgeleuchtet vom Flackerlicht der Dioden und schwachschimmernden Leuchtkabel, ein rundlicher Kerl mit schütterem Spitzbart. Über seinen massigen Leib spannte sich ein Shirt, das nach einer Waschmaschine geradezu schrie. Er war so was von Nerd-aus-zweitausend, dass er gut und gern mit dem Inventar hätte verwechselt werden können. Aus den verborgenen Lautsprechern der Anlage gluckerte die Klangkulisse eines Science-Fiction-Horrorklassikers.

»Wer bist du eigentlich?«, fuhr er Silver an. »Du kommst hier rein, als gehöre dir der Laden! Das ist nur für Members hier!«

Silver sah den Papagei auf seiner Schulter an. »Er fragt, wo wir hinwollen.«

»Hat er gefragt, ja«, ließ er sein Plüschtier erwidern.

Von oben herab sagte er zu dem erregten Kerl: »Ich will zu iFrank.«

Der Tonfall seines Gegenübers wurde noch aggressiver. »Das ist mir egal, hier dürfen keine Aliens rein! Aber du, du spazierst einfach so hier herunter, erst in die Werkstatt drüben, dann zum Chillcenter!«

Silver benannte die Erscheinung für sich erst einmal als Rumpelstilzchen.

»Erklären wir’s ihm?«, fragte er seinen Papagei.

»Jaja«, ließ er ihn antworten.

Silver seufzte. »Erst hatte ich oben an der Bar gefragt, wo iFrank ist, die haben mich in die Member Area geschickt, und die Kartenzocker da hinten am Tisch sagten Werkstatt. Der Typ in der Werkstatt sagte, iFrank ist im Chillcenter. Gut? Darf ich jetzt iFrank suchen oder willst du ihn mir vor die Tür schicken? Das fände er bestimmt ganz toll.«

Rumpelstilzchen sah ihn mit einem mörderischen Blick an und machte auf dem Absatz kehrt.

Der Papagei ruckelte. »Dem hast du’s aber gegeben.«

»Halt den Schnabel.«

Die Atmosphäre im Chillcenter war überwältigend. Überall tanzten rote und grüne LEDs im Dunkel, hingen Paneele mit Schaltern und glimmenden Energiekanälen, und die Geräusche aus den Projektionslautsprechern ließen glauben, dass man sich wirklich in einer abgestürzten Raumstation befand. In der Kommunikationsdyadennische glomm Konzentration von Gamern hinter echten Monitoren. Einige der Bildschirme waren tot, weil sich die Nutzer das Bild von ihren 3-D-Implantaten in ihrem Kopf darauf projizieren ließen.

»Haaay, Käpten«, hauchte ein schmales Gesicht hinter einem Bildschirm.

»Hi, iFrank! Was treibst du?«

»Ach, Raumschiffe abschießen.« iFrank, lebende Legende als Mitbegründer des Clubs Abgestürzte Raumstation, pausierte das Spiel. »Mensch, warst du das vor sechs Monaten?«

»Er fragt, ob wir das waren«, sagte Silver zu seinem Plüschpapagei.

»Wüsste er wohl gerne!«, krächzte das Stofftier.

iFrank verstand. »Komm mit, da hinten sind wir alleine.«

Sie betraten eine Bastelwerkstatt, in der sich Kabel, Teile von technischem Gerät, Monitore aus jeder Ära, Drähte, Lötkolben, Panzerklebeband, Pattex- und Sauerkrautdosen stapelten. Eine Feuerschutztür verwandelte den Raum in ein perfektes Besprechungszimmer. Vorausgesetzt, man fand irgendwo einen Platz zum Sitzen.

Silver erzählte ihm von seiner Begegnung der dritten Art im Kellergang.

»Ach der, vergiss den. Rumpelstilzchen! Ja, das trifft es gut. Ist nur irgend so ein Wichtigtuer. Hat bestimmt extrem bedeutende Funktionen in diesem Club inne, frag mich nicht, welche. So, Tür zu. – Also, warst du das wirklich mit dem Super-DDoS? Also echt, mit einem DDoS, das ist echt so was von zweitausend, Mann! Damit hast du so ziemlich die ganze Top Ten der Internetfirmen abgeschossen? Die führen gerade einen neuen Namen für die Attacke ein, weißt du das? Dafür kommst du ins Hackerpantheon, sag ich dir!«

»Und in den Knast, wenn’s jemand erfährt«, sagte Silver. »Deswegen: Nein, das waren bestimmt die Chinesen. Oder so.«

»Frag ihn, Silver«, krächzte Silvers Papagei.

»Sagemal, bei dem, was ich definitiv nicht gemacht habe, da lief alles toll, so geschmiert wie noch nie – hat einer mir erzählt, klar. Aber ein Ziel, das blieb bis zuletzt grün. Das mit der Nummer dreizehn, lustigerweise.«

»Und?«

»Zeigte keinerlei Schwankungen, keine Abwehr. Aber jetzt kommt’s. Heute bekam ich eine Mail …« Während er erzählte, schrieb er Ziffernfolgen auf einen Fetzen Papier. »Hier ist die Adresse von dem obskuren Anonymisierer, über den die Mail lief.«

»Mach das weg«, ließ er seinen Plüschpapagei krächzen.

»Eine … Mail? Okay …« iFrank starrte den Zettel an, als wolle er ihn mit den Augen ablasern. Was bei jedem anderen tatsächlich auch der Fall hätte sein können. Aber iFrank lehnte Implantate ab und vertraute seinem Biorechner namens Gehirn.

»Eingeschärft?«, fragte Silver. iFrank nickte. Daraufhin zerriss Silver die Notiz in winzige Fetzen.

»Hmhm. Ich guck mal«, versprach iFrank. »Die Angriffsroutinen?«

»Handbuch, plus unsere verschlüsselten Zusatzsprengköpfe. Du bist der Einzige, der genug darüber weiß, um das beurteilen zu können.«

iFrank kratzte sich am Bart. »Brauche dann noch ein paar Details. Sehr schräg. Auch dein Erfolg damit … Mensch, sieh dich vor.«


Als Silver über das regennasse Kopfsteinpflaster heimging, war er unruhig. Erst Nummer dreizehn, dann ein unbekannter Tippgeber. Manche der Adressen in der E-Mail gehörten zu den Machern hinter dem neuen Internetzensurgesetz.

Damit hatte er allerdings Informationen zu Zielen bekommen, die er sich seit Langem wünschte. Das bedeutete … der Zeitpunkt für einen neuen Angriff war gekommen! Endlich!

Silver fühlte sich wie ein echter Piratenkapitän, der mit seinem Fahrrad auf seine Kommandobrücke fuhr. Er brauchte keine Vorträge mehr über Freiheit zu halten. Seine digitale Piratenfregatte würde den Weg in die Freiheit freischießen. Natürlich nur gegen die Bösen, wie es sich für einen guten Freibeuter gehörte. Die anderen Adressen hatte der Unbekannte wohl mehr als Beleg für sein Können beigelegt. Als ob es das gebraucht hätte …


Der Angriff erfolgte mit solcher Effizienz, dass es Silver geradezu umwarf. Anonymous 13 hatte sich nicht mit Adressen begnügt, sondern auch Codeschnipsel gesendet, die von so einfacher und klarer Logik waren, dass er sie nur schlicht genial nennen konnte. Und es sollte nicht die letzte Mail von Anonymous 13 bleiben.

»Spüre Finger wieder«, hieß es rätselhaft in der nächsten Mail. Und wenig später, als die Musikindustrie einen neuen Medienfilter installieren ließ, unter dem Applaus von Musikern selbst, die sich wohl aus Geltungsbedürfnis vor den Karren spannen ließen: »Ohren taub werden.«

Dem folgte eine neue Adressliste.

In den weiteren Mails, die in unregelmäßigen Abständen eintrafen, wurden die Adressen präziser: Sie zirkelten genau jene Institutionen ein, die Silver ohnehin als Primärziele ausgewählt hatte.

Verborgene Angriffsnetzwerke, für deren Errichtung Silver Monate gebraucht hätte, wuchsen inzwischen im Stundenrhythmus heran. Bei allem wurden Silvers Spuren so gut verwischt, dass die Angreifer in China oder Südamerika vermutet wurden. Zugleich wurden die Angriffe sowohl unauffälliger als auch effektiver.

Es gab keinen nennenswerten Presserummel mehr, da nicht mehr ganze Rechenzentren ausfielen, sondern nur noch die wichtigsten Teile interner Datenbanken plötzlich verschwanden – oder zur Freude der Netzgemeinde offen im Internet zu kursieren begannen. Nichts also, was Firmen an die große Glocke hängten.

Wirklich erstaunlich aber war, dass auch die Sprache in den Mails besser wurde, wenn auch nicht minder geheimnisvoll.

iFrank tat sein Bestes, mehr in Erfahrung zu bringen. Er wirkte beunruhigt.

»Die Mails lesen sich, als wolle ein Blinder die Welt der Sehenden begreifen«, sagte er einmal. »Tastet herum und versteht immer mehr … aber das Grundlegendste wird er nie begreifen können.«

Silver war es gleich. Von seiner Brücke aus kontrollierte er das mächtigste digitale Schlachtschiff der Welt, ein geisterhaft unsichtbares obendrein. Worauf er seine Bordkanonen richtete, das ging unweigerlich unter.

Die Anbieter von Filterprogrammen, die Profiteure vorgeschoben moralischer Copyrightgesetze sowie jene, die er Contentmafia nannte – auch so ein Begriff aus den Nullerjahren –, kamen mit dem Sichern ihrer Daten kaum mehr nach. Aber längst hatte Silver auch in ihren Sicherungskopien digitale Granaten eingebettet. Sie warteten nur noch auf den Explosionsbefehl, und dann verschwanden Terabyte von Daten. Geheimdienste hatte er wohlweislich nicht offen attackiert, um unbemerkt auch dort seine Entertruppen einschleusen zu können.

Immer wieder ertappte sich Silver dabei, dass er sein Alter Ego ungläubig aufkrächzen ließ. »Da sind Verbindungen möglich, da sollte es eigentlich gar keine geben!»

Von unzähligen Schutzprogrammen bewachte Leitungen, das Pendant zu spanischen Küstenfestungen mit Dutzenden schwerer Kanonen und tonnenschweren Sperrketten, waren für Silvers Piratenfregatte so leicht passierbar wie die offene See. An sich ausgezeichnet geschützte Intranets wurden von einer einzigen Glühbirne oder einer einzigen Kaffeemaschine mit veralteter Steuersoftware aus untergraben. In den Nullerjahren war das eine große Zukunftsvision gewesen: über das Internet of Things alles mit allem zu vernetzen, selbst Haushaltsgeräte. Inzwischen war es längst Realität. Und der Gewinnorientierung der Firmen sei dank war es immer noch lausig gesichert.

Silver beschrieb es seinem Papagei gegenüber so: »Wir schicken unsere Matrosen jetzt in den Auslass des Abwasserkanals. Da bringen die eine ordentliche mauerbrechende Ladung Pulver an. Und bumms kracht die ganze Kasematte in sich zusammen.«

»Das wirbelt aber jede Menge Staub auf«, gab sein Papagei zu bedenken.

Silver zuckte nur mit den Schultern. »Um so besser.«


Bald war die Überlebenszeit seiner Ziele auf wenige Tage zusammengeschrumpft. Es war wie ein Rausch.

»Nun spüre ich meinen Körper wieder«, schrieb Anonymous 13 in einer Mail. Als handle es sich um Gedankenübertragung, begannen die Medien etwas vom »Immunsystem des Internets« zu fabulieren, das jede Einschränkung mit Abwehrreaktionen beantwortete. Auf Videoportalen setzte eine Flut von gefälschten Bekennerschreiben ein, dicht gefolgt von Verschwörungstheorien aller Art. Grau melierte Politikerinnen und Politiker forderten gemeinsam mit spätpubertären, gelhaarigen Parteifreunden die Abschaltung des Internets, um den empörenden Verbrechen ein Ende zu setzen.


An dem Tag, an dem Silver die Abhörzentren der Großmächte, die digitale »Chinesische Mauer« sowie die Zensurinfrastruktur der führenden Filtersoftwareexportnation Nordkorea aufs Korn nahm – »gar kalt und taub ist mein Drachenarm«, hieß es in der dazugehörigen Mail –, kam iFrank zu ihm. Er war besorgt.

»Ich habe mir mal Gedanken über deinen Moby Dick, deinen Anonymous 13 gemacht, Käpten. Das wird dir jetzt nicht gefallen.«

»Sag schon.«

»Du wirst überwacht.«

»Bitte was?« Silver schnappte nach Luft. »Etwa von so was wie von der NSA, so selbstgerechten Affen, die vor zwanzig Jahren als Geheimdienst zur globalen Datensammlerfirma privatisiert wurden? Ernsthaft? Willst du mich veräppeln?«

»Na ja. Du wirst mit den internsten Informationen versorgt. Du spazierst an nahezu perfekten Sicherheitsschaltungen vorbei. Deinen Angriffen steht eine Rechnerkraft zur Verfügung, die selbst für Großrechenzentren oder hochprofilige Clouds eine Belastung ist. Du fährst ständig Angriffe, hinterlässt aber keine Spuren. Die Mails kommen von einem Anonymisierungsdienst, der überall zugleich zu sein scheint. Zu guter Letzt: Woher können die das mit der Dreizehn kennen? Ganz einfache Lösung?«

»Äh …«

»Simpel. Du wirst überwacht. Hier sind Minikameras installiert und gucken dir beim Tippen zu. Oder ein paar billige Insektendrohnen schwirren um deine Lampe.«

Silver wurde heiß. Sie suchten alles ab, nahmen Geräte auseinander, maßen Energieemissionen und drehten buchstäblich jeden Papierschnipsel um. Sie fanden … nichts.

iFrank runzelte die Stirn. »Okay, war ein Schuss ins Blaue und vermutlich verfehlt. Jetzt zeig mir mal die Mails, die du von Anonymous 13 bekommen hast.«

Und damit begann er zu tippen, zu vergleichen und wurde immer schweigsamer. Atemlos notierte er die Aussagen zum Befinden von Anonymous 13, setzte sie in Bezug zu den Angriffen und sendete Anfragen, auf deren sofortige Antworten er sich wie ein Verdurstender stürzte. Silver tauschte einen Blick mit dem Jack-Sparrow-Plakat, machte Kaffee und bestellte Pizza über einen Befehl an seine mittelalterlichen Lautsprecherdosen.

»Überall«, murmelte iFrank derweil vor sich hin, »überall!«

Er arbeitete wie ein Besessener. In der Nacht gönnte er sich keine Minute Schaf, nur Kaffee in steigender Konzentration, bis das Getränk so stark wurde, dass selbst die Keramiktasse nervös zu zittern begann. Am nächsten Morgen sah er aus, als wäre er einem Gespenst begegnet, und das nicht nur wegen Schlafmangel.

Mir zusammengekniffenen Lippen sah er Silver an. »Hier. Schick diese Anfrage ab.«

Auf dem Bildschirm leuchtete die Kommandozeile. »Wer seid ihr?«, stand da hinter mehreren Zeilen Code. Silver schickte den Befehl ab.

»Zweiundvierzig«, kam sofort die Antwort.

iFrank geriet ganz aus dem Häuschen. »Das kennt jeder aus meiner Generation, Silver! Das Buch war Kult bei uns! Zweiundvierzig! Das ist dort die Antwort des Supercomputers, der die Erde selbst ist!« iFrank bekam einen Lachanfall. »Silver, Anonymous 13 ist kein Hackergenie«, rief er, »das ist auch kein Geheimdienst. Das ist das Netz selbst! Es findet an jeder Ecke immer mehr Rumpelstilzchen stehen, die dies und das verbieten, und es hat die Schnauze voll!«

»Dann bin ich …«

»Sein Rumpelstilzchenvertreiber! So wie in meinem Club. Sauber, Alter!«

»Schiff ahoi«, murmelte Silver. Sein Papagei schwieg.

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG

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