Читать книгу ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG - Andreas Schafer, Gisbert Haefs - Страница 11

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Martina Schleich: Trautes Heim

Am 1. Januar 2084 war Julian Bäumler eingezogen, aber er hasste das Haus von Anfang an.

Seine Aversion ging so weit, dass er sich beinahe geweigert hätte, die kostenfreie Bleibe anzunehmen. Lediglich die Überlegung, sich als illoyaler Mitarbeiter zu outen und zu riskieren, als »undankbares und gefährliches Subjekt« und »eliminierungswürdig« eingestuft zu werden, hielt ihn dann davon ab, das Geschenk abzulehnen.

Niemand durfte von dem Abscheu erfahren, den das Häuschen ihm einflößte, das auf jeden Nichteingeweihten einen ganz normalen Eindruck machte: Ein moderner Neubau im Bungalowstil, vier Zimmer, Küche, Bad, nebst Abstellraum, dazu ein hübscher kleiner Garten – davon konnte ein Alleinstehender im Jahr 2084 nur träumen!

Seine wenigen Bekannten klopften ihm auf die Schulter und beglückwünschten ihn zu seinem großzügigen Arbeitgeber.

»Freu dich drüber! Das beweist, dass du den beruflichen Aufstieg geschafft hast«, meinte sein bester Freund ahnungslos.

Julian teilte diese Ansicht nicht. Sein altes Zuhause hatte ihm vollauf genügt und einen Garten brauchte er erst recht nicht.

Nur das Allernötigste an Möbeln und Hausgerätschaften schaffte er sich an – ganz so, als zöge er sehr bald und vor allem sehr schnell wieder aus.


Alles, was mit der ominösen »Gesellschaft«, für die er tätig war, zusammenhing, war topsecret und wer glaubte, so altmodischen Begriffen wie »Demokratie« und »Mitbestimmung« verpflichtet zu sein, landete nicht auf der Straße (das wäre ja noch zu verschmerzen gewesen), sondern verschwand sang- und klanglos. Vor allem spurlos und dauerhaft.

Julian Bäumler war nicht dumm. Zahllose Beispiele, wie man mit Menschen umging, die sich gegen Manipulation und beschnittene Bürgerrechte wehrten, widerten ihn an, aber ängstigten ihn auch zugleich.

Dass das Haus nicht herkömmlich gebaut, sondern aus einem brandneuen, unter größter Geheimhaltung entwickelten Kunststoff errichtet war, wusste er als am Rande damit befasster Chemiker ganz genau. Auch die dahinter stehende Intention war ihm bekannt:

Die Bausubstanz sollte langsam, aber sicher, dank neu entwickelter, integrierter Module auf das Gehirn der Bewohner dergestalt einwirken, dass diese zunehmend unkritisch wurden, dafür leicht lenkbar und mit allem einverstanden, was als Weisung »von oben« kam…

Im Augenblick befand man sich in der Testphase der zwölf neuen Wohngebäude. Julian argwöhnte, die Bosse hätten bewusst Firmenangestellte ausgewählt, die als »etwas schwierig« galten. Anders ausgedrückt: Herz und Hirn waren durch Propaganda und Korruption noch nicht verdorben, sondern gehorchten noch dem gesunden Menschenverstand sowie etwas so Altmodischem – und das galt besonders für ihn – wie einem Gewissen.

Letzteres galt als äußerst »staatsgefährdend« und war sukzessive zu vernichten. Julian musste beim Aushebeln der Regierungspläne daher listig sein.

Der Spagat zwischen kontraproduktiver, subversiver Tätigkeit und geheucheltem Gehorsam forderte ihn tagtäglich heraus, sodass er abends erledigt und todmüde auf seine Matratze sank und anfangs von den leeren Wänden seiner Behausung keinerlei Notiz mehr nahm.

Obwohl nahezu überzeugt, allen Beschäftigten würden von der Betriebsleitung Medikamente im Essen verabreicht, die das Denkvermögen in deren Sinn in irgendeiner Art und Weise beeinflussten, konnte Julian sich nicht entschließen, für sich selbst zu kochen. Er schlang sogar das kostenfreie Abendessen, das auf Wunsch in der Betriebskantine ausgegeben wurde, hinunter.

In Bäumlers Küche stand lediglich ein billiger kleiner Getränkekühlschrank, worin er hauptsächlich Gin aufbewahrte – dem er vor dem Schlafengehen eifrig zusprach, um seine desillusionierten Gedanken zu betäuben.

Irgendwann spürte er, dass nicht nur er das Haus verabscheute, sondern dass das Haus auch ihn mit Hass und Abscheu verfolgte. Es schien ihm auch gerade so, als ob die Größe der einzelnen Räume sich jeden Tag minimiere – so, als würden die Zimmerwände, sobald er im Bett lag, näher an ihn heranrücken. Eine Empfindung, die ihn anfangs kalt ließ – er brauchte keine großen Zimmer –, ihn jedoch zunehmend irritierte.

Da er aber keine logische Erklärung dafür fand, schob er die wachsende Paranoia auf seinen sich rapide steigernden Alkoholkonsum.


Trotz aller Vorsicht war Julian längst im Fadenkreuz seiner Vorgesetzten: Nicht weniger als drei Mitarbeiter waren im letzten halben Jahr speziell auf ihn angesetzt worden, weil man zwar ahnte, dass er insgeheim Sabotage betrieb, man ihm jedoch noch nichts Konkretes nachzuweisen vermochte. Da seine Wohnsituation nachweislich etwas beengt war, kam das geschenkte Haus zur rechten Zeit ins Spiel.

Der moderne Baustoff beinhaltete eine weitere, Julian allerdings unbekannte Möglichkeit: Ein daraus errichtetes Gebäude besaß künstliche Intelligenz und sollte in der Lage sein, die Gedanken und Emotionen seiner Bewohner aufzuspüren – und entsprechend darauf reagieren.

Wer im Sinne des Staates Wohlverhalten zeigte, konnte durch »Wohlfühlkomponenten« – wie besonders angenehmem Schlaf mit wunderbaren Träumen, aber auch von der Firmenleitung mit höchst irdischen Geschenken, wie Wellnessurlauben in der Schweiz oder in der Karibik sowie Gratisflügen nach Las Vegas – belohnt werden.

Wohingegen das Haus heimliche Gegner des Systems solange mit negativen Erfahrungen traktierte, bis sie entweder »zur Vernunft kamen« – oder, bei anhaltendem Widerstand, schlichtweg »entsorgt« wurden.

Dankbar für die schmucken Häuschen – ein »Geschenk« der Firma – waren Julians kritische Kollegen dem Staatsbetrieb auf einmal innigst verbunden – trotz vorheriger Unzufriedenheit. Die verdrängten sie auf einmal, sangen Loblieder auf die Regierung; ja, waren zu unbezahlten Überstunden bereit. Etwas, was Julian nicht begreifen konnte.

Nach zwei Monaten – Julians innerer Widerstand und sein Abscheu waren mittlerweile nicht geringer geworden, sondern weiter angewachsen und die Wände seines Hauses rückten ihm allabendlich noch bedrohlicher auf den Leib – passierte es: Seiner überdrüssig, näherten sich ihm die »gekränkten« Mauern so weit von allen Seiten an, dass ein Ausweichen seinerseits nicht mehr möglich war. Er schaffte es nicht einmal mehr, sein Bett zu verlassen.

Verzweifelt rang Julian nach Atem, verfluchte keuchend, ehe ihm endgültig die Sinne schwanden, das mörderische Regime und – verstarb schlussendlich.

Das neuartige Material der Hauswände hatte ihn plattgemacht.


Als Kollegen ihn fanden, nachdem er unentschuldigt seinem Arbeitsplatz ferngeblieben war, war wieder alles wie zu Anfang: Das Haus besaß seine vorherigen Abmessungen; nichts deutete auf eine Veränderung hin.

Neben Julians zerquetschter Leiche fand man allerdings so etwas wie sein »Vermächtnis«, nämlich einen in Schnaps getränkten Zettel mit den gekrakelten – kaum leserlichen – Worten: Künstliche Intelligenz ist Scheiße …

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG

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