Читать книгу Die Schattenschneise - Gisbert Haefs - Страница 10
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ОглавлениеSeine Exzellenz der Botschafter der Republik Andinien trank wie üblich vor dem Frühstück ein halbes Duralex-Glas mit Brandy (103, Etiqueta Negra), an der hauseigenen Espressomaschine unter gewaltigem Zischen erhitzt. Es ließ ihn dem Rest des Tages mit größerer Gelassenheit entgegensehen. Beim Frühstück — schwarzer Kaffee, Brötchen, Orangenmarmelade, Pata-negra-Schinken (nur mit Diplomatenkurier aus Spanien zu beziehen) und Malossol-Kaviar – überflog er die Vortags-Ausgabe von El País, dann mit gleichgroßem Desinteresse den Bonner General-Anzeiger und die FAZ. Schließlich seufzte er, tupfte sich mit einer Spitzenserviette die Mundwinkel, schob den Stuhl zurück, stand auf und ging in die Diele.
Während er – langwieriges Verfahren – seitlich vor dem Spiegel stand und die Weste zuknöpfte, räumte Jaime den Tisch im Speiseraum ab. Der ältere Mann – Butler, Gärtner, bei offiziellen Anlässen auch Chauffeur – räusperte sich dezent. Mit dem Tablett in Händen trat er in die Tür, erschien hinter dem Oberkörper-Profil des Botschafters im Spiegel.
Seine Exzellenz hob eine feine Braue.
Jaime (eigentlich hieß er Félix García Ridruejo, aber alle guten Butler müssen James heißen, in welcher Sprache auch immer) setzte das Tablett auf den Mahagonitisch der Diele und trat näher, um seinem Herrn in die elegante Jacke des Florentiner Maßanzugs zu helfen.
»La señorita no está.«
S. E. Ubaldo Villalba Narváez ließ die Information auf sich wirken. Jaime pflückte mikroskopische Staubteile von Schulter und Kragen des Jacketts.
Villalba haßte den Kern der Mitteilung; genauer: die absehbaren Folgen. Seit der Scheidung vor vier Jahren war sein Leben einfacher und angenehmer geworden; die nächtliche Abwesenheit seiner Tochter Rocío (denn wäre sie nur früh am Morgen aus dem Haus gegangen, hätte Jaime nicht gesagt, sie sei nicht da, sondern schon weg) würde Fragen, Übereinkünfte, Modifizierungen der überkommenen Hausordnung, insgesamt Unruhe und Störung nach sich ziehen. Villalba haßte Unruhe. Seine bescheidene diplomatische Arbeit und seine vielfältigen erotischen Allianzen und Verpflichtungen gediehen auf dem Humus häuslicher Ereignislosigkeit.
Wortlos verließ er die Residenz im Godesberger Villenviertel. Er trat gegen den linken Vorderreifen des olivfarbenen Jaguars, ließ sich in den Sitz fallen, knallte die Tür zu und startete hektisch. Der Motor jaulte; dann jaulten die Reifen, als er den Wagen aus dem mit einer Ziegelmauer eingefaßten Hof schießen ließ. Beinahe hätte er einen auf dem Bürgersteig gegenüber stehenden hellblauen VW-Transporter gerammt.
Er registrierte, daß zwei Männer darin saßen; dann mußte er einem Pkw ausweichen, der unvernünftig korrekt auf der für seinen Fahrer rechten Straßenseite fuhr. Villalba ignorierte eine Ampel, die eben auf Rot schaltete, hupte Fußgänger von einem Zebrastreifen, schnitt auf der Rüngsdorfer Straße zwei Radfahrer. Wegen der Baustelle auf der Konstantinstraße – fast hätte er sie vergessen – bog er am Römerplatz ab und jagte einen Wagen der bolivianischen Botschaft durch die enge Rheinstraße. In der Rolandstraße, oberhalb der französischen Botschaft, war sein Unmut verflogen, und als er viel zu schnell um die Marienkapelle quietschte, geschah es eher aus sportlichen Gründen. Er winkte seinem madegassischen Kollegen zu, der mit sorgenvollem Gesicht dem Tagewerk entgegenwanderte, und kurz vor Erreichen der andinischen Botschaft überfuhr er mit Lust eine feiste Amsel.
Seufzend, aber milder im Herzen, lenkte er den Jaguar auf den Botschaftsparkplatz. Er sah einen vertretbaren Kurs vor sich, einen Kompromiß, mit dem man würde leben können. Rocío sollte sich auswärts vergnügen, die Nächte verbringen, wo sie wollte; solange er in der Residenz keine plumpen deutschen Studenten beherbergen mußte, die seine Tochter beschliefen und ihn beim Frühstück zu trister Konversation zwangen; solange er den Tag mit Brandy, Zeitungen und Schweigen beginnen konnte ...
Die kleine Botschaft des kleinen Landes verfügte über eine große Glastür. Villalba betrachtete sein durchscheinendes Abbild, bevor der Pförtner öffnete, und er war zufrieden. Schlank, elegant, top; mit federnden Schritten betrat er sein Reich.
Seine Sekretärin, eine mollige Blondine, die ihm bisweilen über libidinöse Durststrecken half, begrüßte ihn mit einem angedeuteten Knicks und einem fragenden Blick. Als er den Kopf schüttelte, zog sie einen Flunsch. Vermutlich war sie ernsthaft verliebt; Villalba erwog nicht zum ersten Mal, sich von ihr zu trennen. Andererseits war es angenehm, an lauen Vormittagen von Überdruck befreit zu werden, ohne selbst allzu aktiv werden zu müssen.
Auf dem alten Schreibtisch aus englischer Eibe lagen Papiere. Die Sekretärin würde sie wie immer nach Wichtigkeit und Dringlichkeit sortiert haben, die ödesten ganz unten. Sie brachte ihm den Cappuccino, die Zigarrenschere, das Kästchen und den Aschenbecher und zog sich zurück.
Villalba rauchte einige Minuten lang, mit geschlossenen Augen; er dachte an Rocío und überprüfte seinen Entschluß. Dann legte er die Partagás in den Aschenbecher, nahm einen Schluck aus der Tasse und überflog die Papiere. Nichts von Bedeutung; abgesehen von den unerfreulichen Kontoauszügen.
Vorübergehend würde der Mann, dessen Besuch für zehn Uhr dreißig vorgesehen war, hier Abhilfe schaffen. Villalba schaute auf die kostbare, flache, aufrechte Quarzuhr. Eine Sonderanfertigung für ihn, mit ausgetauschtem Zifferblatt, auf dem das überflüssige t aus »Quartz« fehlte. Er seufzte und machte sich über die Papiere her.
Carlo Neumann sah eher aus, als ob er Karlchen Knolle heißen müßte, aber immerhin war er pünktlich. Er wartete, bis die Sekretärin ihm Kaffee gebracht hatte. Als die Tür wieder geschlossen war, öffnete er seine Mappe und legte einen Stoß mehrfarbiger Papiere und einen dicken Umschlag auf den Tisch.
»Was haben wir diesmal?«
Der kleine Dicke grinste. »Saatgut für die Republik Andinien. Und ein bißchen Diplomatengepäck; ein Container.«
Villalba nickte. Den Papieren zufolge – er blätterte rasch, eher um den Anschein zu wahren – kam das gesamte Transportgut aus der Bundesrepublik und sollte in Antwerpen verladen werden. Andinia, via Barranquilla. Irgendein geschmierter Angestellter einer großen Spedition und Zollagentur würde die Papiere, zusammen mit tausend anderen, bei einem deutschen Zollamt abstempeln lassen. Die Waffen lagen natürlich in Belgien, wo sie hergestellt worden waren, und hatten sich niemals auf deutschem Boden befunden. Villalba fand das Verfahren umwegig, aber gerecht. Er blickte mit einer gewissen Zuneigung auf den dicken Umschlag; dann nahm er die beeindruckenden Stempel aus der Schublade und versah die Papiere an den vorgesehenen Stellen mit allen nötigen Vermerken. Die Lieferung, hiermit amtlich für dringend et cetera erklärt, würde vermutlich in Barranquilla oder einem anderen Karibikhafen an Bord eines kleineren, älteren, schäbigen Schiffs geschafft und zum eigentlichen Empfänger gebracht werden. Honduras, Guatemala, El Salvador, Nicaragua ...
Neumann ging, mit seinen Frachtpapieren. Villalba wartete einen Moment; dann klingelte er der Sekretärin und bat sie, ihm ein Taxi zu bestellen. Sie betrachtete ihn verwundert.
»Ach so«, sagte sie dann. »Der Empfang.«
Gegen elf Uhr (c.t.) erwartete man S.E. in der Residenz eines afrikanischen Gesandten, der Bonn bald verlassen würde. All dies, das Datum wie auch die Lage der Residenz, war günstig und kam Villalba entgegen.
»Ich werde anschließend noch etwas in der Stadt erledigen«, sagte er. Sein Deutsch war makellos. »Ich glaube nicht, daß ich vor fünfzehn Uhr zurück sein werde.«
Als sie gegangen war, öffnete er mit der Elfenbeinklinge den Umschlag. Es mußte sich um eine wertvolle Lieferung handeln; seine »Gage« richtete sich nach dem Wert der Ware. Diesmal enthielt der Umschlag sechzigtausend Mark und vierzigtausend Schweizer Franken. Er nahm zehntausend Mark heraus und steckte sie zusammen mit einigen Zeitungsausschnitten – aus dem hierfür angelegten Vorrat in der Schublade – in einen anderen Umschlag, den er sorgsam zuklebte. Den Rest brachte er zum Wandsafe, aus dem er einen kleinen Lederbeutel holte. Dieser enthielt etwas, das Villalba vor einigen Wochen in Luxemburg erstanden hatte. Es gab noch mehr derartige Säckchen im Safe.
Zurück zum Schreibtisch. Er zögerte einen Moment, dann nahm er den Hörer ab und wählte. Die Vorzimmerdame des höheren Beamten im Justizministerium bestätigte die Verabredung für den Nachmittag.
Kurz vor Mittag verließ er den Empfang wegen unaufschiebbarer Termine. Er schlenderte zwei Straßen weiter und ging durch einen verwilderten Garten. Am Ende des ungenutzten Grundstücks stand eine überwucherte Mauer mit einer rostigen Tür; er stieß sie auf und betrat einen englischen Rasen.
Die Dame erwartete ihn; sie öffnete die Terrassentür des Wohnzimmers und ließ ihn ein.
»Gegen eins kommt ein Handwerker. Die Heizung«, sagte Irene Stein. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte Villalba.
»Dann wollen wir nicht zögern«, sagte er halblaut, als er sich aus der Umarmung befreit hatte. »Auch in der Eile kann Genuß liegen.« Er deutete eine Verneigung an.
Sie kicherte und ging vor ihm her ins Schlafzimmer, schloß das Fenster und zog die Vorhänge zu. Villalba schlüpfte aus der Jacke und legte die Krawatte auf einen Stuhl. Irene Stein stieg aus den hochhackigen Schuhen; auf hauchdünner Seide ging sie in die Küche. Villalba nahm den Umschlag aus der Innentasche der über den Stuhl gehängten Jacke und verstaute ihn in der schwarzen Mappe, die am linken Nachttischchen lehnte.
Madame kehrte zurück, mit einem Pokal voll Champagner. Es war unauffälliger und interessanter, bei diesen Gelegenheiten zu zweit aus einem Gefäß zu trinken.
Gegen halb eins, als sie gerade beide fertig waren, klingelte das Telefon.
»Rücksichtsvoll«, murmelte Villalba.
Sie reichte ihm den Pokal und glitt bäuchlings auf die andere Seite des Betts, um den Hörer abzunehmen.
»Stein.«
Pause. Dann warf sie ihm einen verblüfften, fast zornigen Blick zu und sagte: »Nein, Herr Villalba ist nicht hier. Wer ist denn da überhaupt?«
Villalba setzte sich auf. Er schüttelte den Kopf.
»Moment mal.« Sie deckte die Muschel mit der Hand zu und fauchte ihn an. »Hast du ...? Ein Mann. Er sagt, es geht um deine Tochter.«
Villalba stellte den Pokal ab. Er schluckte. »Ich ... ich bin immer diskret. Kein Wort, kein Zettel, nichts. Meine Tochter? Gib her.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung hatte einen kaum merklichen Akzent. Englisch? dachte Villalba. Nicht ganz. Aber er war zu besorgt, um genauer hinzuhören.
»Hören Sie mal zu. Wie Sie bemerken werden, kennen wir Ihre diplomatischen Vergnügungen. Wir wissen noch zwei oder drei andere Dinge.«
»Wer sind Sie?«
»Unterbrechen Sie mich nicht. Seit gestern abend haben wir Ihre Tochter. Rocío.« Er sprach es mit einem englischen r aus; es klang wie Rossi-oh. »Wir hätten da eine kleine Bitte an Sie, die Sie uns sicher nicht abschlagen werden. Nur, um ganz sicher zu sein, haben wir eine kleine Demonstration unserer Ernsthaftigkeit vorbereitet. Ich schlage vor, Sie fahren jetzt schnell nach Hause und werfen einen Blick in den Geräteschuppen in Ihrem Garten. Sie hören dann wieder von uns.«
Villalba öffnete den Mund, aber der Mann hatte schon aufgelegt.
»Was ist denn los?«
Er betrachtete Irene Stein, ohne sie tatsächlich zu sehen. »Jemand muß mich beobachtet haben«, sagte er halblaut. Er schluckte. »Erpressung.«
Sie riß die Augen auf und starrte ihn an.
Er nickte. Ohne Eleganz, wie mit einer Bürde auf den schlanken Schultern, stand er von der Bettkante auf. Dann ballte er die rechte Hand und sagte etwas, was sonst gar nicht zu seinem Stil und Vokabular paßte.
»¡Mierda con salsa verde!«