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Etwas stimmte nicht. Als er den Aufzug verließ, sträubten sich seine Nackenhaare. Geräuschlos stellte er die graue Reisetasche auf den Gang, steckte die Rechte in die Tasche des grauen Straßenanzugs und richtete, ohne sie herauszuziehen, die Smith & Wesson leicht aufwärts vor sich. Die Lizenz der Waffe lautete auf Harald Lingen; dieser Name stand auch in seinen übrigen Papieren und auf dem kleinen Messingschild neben der Tür. Er war so gut wie jeder andere.

Das Apartment lag im vierzehnten Stock eines von vielen gleichen Wohnsilos am Ostrand von Köln. Innerhalb weniger Minuten ließen sich von hier aus mehrere Auffahrten des Autobahnrings erreichen; die Flughäfen Wahn und Lohausen waren nicht allzu weit; es gab Landstraßen hinaus und Stadtstraßen hinein, wenn man es nicht vorzöge oder vorziehen müßte, als Fußgänger oder im Netz der zahlreichen Vorortbahn-, Straßenbahn- und Buslinien zu versickern.

Die Tür des Apartments war angelehnt. Als sie von der Wand zurückprallte, lag der Mann, der sich zur Zeit Lingen nannte, auf dem grauen Teppichboden neben dem Schirmständer. Der auch für derlei Fälle übersichtlich möblierte Raum war leer; der Spiegel über der offenen Tür zum Bad zeigte nur die vertraute Einrichtung. Der Lauf der Waffe beschrieb noch einen Bogen; dann stand der Mann auf, steckte sie ein, holte die Tasche vom Gang, schloß die Tür und sah sich um.

Neben dem Telefon stand eine zum Aschenbecher umfunktionierte Untertasse. Sie quoll über von Kippen. Craven A. Er nahm den Hörer ab; im Display des Telefons leuchtete die absurde Summe von 39999 Gebühreneinheiten auf. Es mochten vielleicht hundert oder hundertfünfzig gewesen sein, als der Mann vor zwei Wochen sein Apartment verlassen hatte. Er fluchte mit zusammengebissenen Zähnen und drückte die Taste für Wahlwiederholung. Die gespeicherte zuletzt gewählte Nummer begann mit 0081. Er notierte und wartete. In unendlicher Ferne begann eine freundliche, sanfte Stimme zu sprechen. Er verstand nichts, hatte aber den Eindruck, daß sich der Text mit geringfügigen Abwandlungen wiederholte, unterbrochen von regelmäßigen Piepstönen.

Er legte auf und setzte sich auf das graue Sofa. Der Intensität des Tabakqualms zufolge war vor höchstens einer Stunde die letzte der Zigaretten geraucht worden. Jemand, der Craven A rauchte und sich auf Sicherheitsschlösser verstand – das Türschloß war nicht beschädigt –, der außerdem wußte, wann er spätestens die Wohnung verlassen mußte, um nicht mit Lingen zusammenzutreffen, hatte äußerst ausgiebig mit der automatischen Zeitansage in Tokio telefoniert.

Der Gast hatte vermutlich auf dem Sofa geruht oder geschlafen, ohne es zum Bett auszuziehen. Er hatte Kaffee getrunken; im Müllbeutel fanden sich mehrere Filter mit Kaffeesatz. Die saubere Pfanne lehnte im Geschirrständer neben dem Becken; sie hätte im Schränkchen sein sollen. Im Kühlschrank fand sich noch eines von zehn Eiern; die Pfundschachtel Margarine war fast leer, ebenso die Flasche Cardhu, vor zwei Wochen kaum angebrochen.

Lingen füllte die Kaffeemaschine, kippte die Zigarettenstummel in den Müll und setzte sich auf das Sofa.

Das Telefon klingelte, noch ehe der Kaffee fertig war. Der Mann hob ab, räusperte sich und sagte: »Nett, daß Sie wenigstens gespült haben, Sullivan.«

Der verrückte Ire, den alle Mad Sullivan nannten, war schon lange in Deutschland. Er rauchte Craven A und hatte einmal erzählt, seinen ersten Mord habe man ihm mit drei Shilling neun Pence honoriert. Die Quersumme der Gebühreneinheiten war neununddreißig. Sullivan war die rechte oder linke Hand – das wechselte nach unerfindlichen Gesetzen – eines aus Surabaja stammenden Halbholländers. Dessen mögliche Geschäftspartner kannte Lingen nicht und wollte sie niemals kennen lernen.

»War ich Ihnen doch schuldig.« Sullivan kicherte; ein unangenehmes Geräusch. »Der Cardhu ist übrigens lecker. Natürlich kein Bushmill’s, aber immerhin.« Der Akzent war kaum zu hören, eher zu ahnen.

Lingen schwieg. Er lauschte dem Gurgeln der Kaffeemaschine.

»Wir haben da einen Job für den Mann ohne Gesicht.« Sullivan sagte es mit einem leicht hämischen Unterton.

Lingen schwieg weiter.

»Sie wollen ja nicht freundlich mit uns zusammenarbeiten, deshalb mußten wir Sie ein bißchen – überreden .«

»Neuntausendeinhundertneunundneunzig Mark siebenundsiebzig«, sagte Lingen.

»Ist doch ein gutes Argument, oder? Und das quergeschlitzte Mädel hat sooo eine Stimme.«

Der Mann ohne Gesicht schwieg.

»Okay, hören Sie zu«, sagte Sullivan schließlich. »Mijnheer will Sie sehen.«

»Ich ihn aber nicht.«

»Das wissen wir; deshalb ja der Eingriff in Ihre Telefonrechnung. Erstattung plus, wenn Sie übernehmen. Sonst ...«

»Was sonst?«

»Wir wissen, daß Sie ein paar Tage in Paris waren.«

Lingen runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

»Da ist gerade ein Libanese erschossen worden; stand in der Zeitung. Einer, an den man sonst nicht rankommen konnte. Profiarbeit.«

Der Mann ohne Gesicht bleckte die Zähne.

»Man könnte natürlich irgendwem einen Tip geben. Die anderen haben bestimmt gern eine offene Stelle weniger auf der Rechnung.«

Der Mann ohne Gesicht schlug die Beine übereinander.

»Sie haben dafür zwanzig Große plus zwei für Spesen gekriegt. Wir denken bei dem kleinen Job an fünfzig, plus Spesen. Plus Telefonrechnung.«

Lingen schnalzte leise mit der Zunge. »Paddy, Sie lassen nach.«

»Ja. Aber es gibt keinen Spielraum zum Feilschen.«

»Das meine ich nicht.«

»Was denn?«

»Sag ich Ihnen nicht. Das mache ich mit Mijnheer ab. Wo und wann?«

Sullivan grunzte. »Heute abend. Nach neun. Bei ihm.«

Lingen legte wortlos auf. Immerhin keine melodramatische Aktion mit Treffen im Hinterzimmer eines Billardlokals oder ähnlichem Kinounfug.

Er trank sein Glas leer und streckte sich auf dem Sofa aus. Fünfzigtausend – das war etwas Größeres. Mijnheer hatte nie mehr als zehntausend gezahlt; das hielt Mijnheer für ein angemessenes Honorar für einen Spitzenmann. Lingen sah das anders. Kleine, billige Jobs ließ der Halbholländer von seinen eigenen Leuten erledigen. In der Klasse zwischen zehntausend und zwanzigtausend gab es einige gute Spezialisten. Fünfzig – das war neu. Das ging über Mijnheers Gepflogenheiten hinaus. Das war etwas Großes. Etwas für einen, der eine Spezialaufgabe übernahm und hinterher sicher schwieg. Todsicher schwieg. Der Mann ohne Gesicht bedachte dies. Dann setzte er sich aufrecht und fuhr mit der Hand über seinen Nacken, als ob er Unebenes glätten müßte.

Bis zum Mittag beseitigte er die Spuren, die der Ire hinterlassen hatte, duschte, zog sich um. Sullivan mochte tausend kleine Geräte versteckt haben; Lingen konnte für das, was er tun mußte, sein Telefon nicht benutzen.

Ein grauer Granada folgte ihm langsam um den Block. Lingen hob nicht einmal die Schultern; er »versickerte« routiniert. Taxi zu einer U-Bahn, hinab, auf der anderen Seite wieder hinauf, in einen großen Laden mit mehreren Ausgängen, zum Bus. Als er den Hauptbahnhof erreichte, war er sicher, nicht mehr beobachtet zu werden. In einem kleinen italienischen Lokal nicht weit vom Dom aß er einen Fisch und bat den Wirt um zwei Tips. Er zahlte mit einem Fünfhunderter.

»Stimmt so?«

»Alles bestens, commendatore. Va bene.«

Die beiden Stränge, die er aufzuriffeln versuchte, kosteten schließlich einen Tausender, ergaben aber letztlich nicht viel. Das übliche Gerede, die üblichen Informationen, teils zuverlässig, teils unzuverlässig. Der Sarde vom Kiosk verwies ihn an den Vormann einer Kolonne von Fensterputzern; dieser – Neapolitaner – wußte immerhin, daß Sullivan in den letzten Tagen mehrmals mit einem Herrn vom BDI getafelt hatte. Der Ire und die Großindustrie? Anderen Andeutungen oder Bruchstücken von Auskünften entnahm Lingen, daß Mijnheer seine Finger in den üblichen Dingen hatte: der alte Kanal nach Bonn, zu einem Ministerium; irgendeine Schieberei mit Bauaufträgen im Kölner Südwesten; ein günstiger Brand in einer Diskothek, kurz vor Mitternacht – für Mitternacht war eine Razzia angesetzt gewesen. Mehr von dieser Art, aber nichts eindeutig Verwendbares. Allenfalls die Bau-Mauschelei; Mijnheer hatte normalerweise keine architektonischen Neigungen. Vermutlich war es ein Geschäft auf Gegenseitigkeit – der Halbholländer zog an bestimmten Fäden, jemand erhielt einen öffentlichen Auftrag und revanchierte sich durch Zupfen an anderen Fäden, die Mijnheer nicht selbst in die dicken Finger kriegen konnte. Ein Türke wußte etwas von einem ehemaligen Wach- und Schließ-Mann; dieser redete von einer Tiefbau-Firma und Vermessungsarbeiten. Offenbar sollten in Bonn demnächst einige hundert Millionen an öffentlichen Geldern ausgegeben werden, um dreißig Arbeitsplätze zu sichern und U-Bahn- oder Straßentunnel zu bauen, die keiner haben wollte. Der Besitzer eines Massagesalons und zweier Kneipen, ein noch relativ junger Kölner (Importeur von Thai-Mädchen) wußte, daß ein bestimmter Professor für ein Baugutachten fünftausend Mark und für eine bestimmte Formulierung in diesem Gutachten fünfundzwanzigtausend Mark erhalten hatte; ein schäbiger kleiner Detektiv, der manchmal von Sullivan für schäbige kleine Nebenjobs eingespannt wurde, hatte – nach Auskunft eines Arbeiters im Straßenbahndepot – für Sullivan irgendwen in Bonn bespitzelt, angeblich einen Diplomaten, und war einen Tag nach Erledigung des befristeten Auftrags volltrunken unter einen Lkw geraten.

Lingen hatte den kleinen Detektiv gekannt; ein Männlein mit Spitzmausgesicht, passionierter Jogger und absoluter Antialkoholiker. Als er von seinem letzten Kontaktmann des Tages erfuhr, daß in der Nähe des Unfallorts am fraglichen Nachmittag der Lastwagen einer bestimmten Bonner Spedition alte Büromöbel geladen hatte, nickte er nur.

Das übliche Gemenge und Gemauschel, Klatsch und Klüngel. Jemand – Lingen wußte nicht mehr, wer – hatte gesagt: Mit der Abschaffung der Korruption entzog sich die Justiz jeder vernünftigen Kontrolle. Nun ja; Justiz und Politik arbeiteten längst wieder kontrolliert; nichts an all den Informationen deutete auf besondere Vorkommnisse. Allenfalls der beschattete Diplomat. Leute von Ämtern und Ministerien steckten in nahezu jedem Dreck, aber Diplomaten trieben ihre Spiele normalerweise auf einer anderen Ebene. Sie war zweifellos ebenso schäbig und schmierig, stand aber nur selten mit der Ebene der gewöhnlichen Dinge im Raum Köln-Bonn in Verbindung.

Ohne Selbstgerechtigkeit hielt der Mann ohne Gesicht sich für einen anständigen Killer und wollte sich nicht durch Umgang mit Politikern besudeln. Er kannte niemanden, der je wirklich den Staat geachtet hätte, aber seit Machtantritt des klobigen Pfälzers hatte sich ringsum die Stimmung erheblich geändert – von passiver Geringschätzung zu aktivem Hohn. Anders als die Leerstelle im Kanzleramt (die Formulierung stammte von einem christdemokratischen Kommunalpolitiker) konnte Lingen sich nicht jeden Tag vor dem Frühstück mit einer Flasche Spätlese einnebeln (die Information stammte von einem Journalisten), sondern mußte immer wach sein und für sein Geld hart arbeiten. Derlei Gedanken brachten ihn wieder zu Mijnheer zurück, einem begnadeten Politiker. Lingens Schwester hatte einmal für Mijnheer gearbeitet, fünf Wochen lang, bis eine halbe Minute vor ihrem Tod. Mijnheer und Sullivan wußten, daß Lingen wußte. Er holte seinen grünen Ascona aus dem Hinterhof in Müngersdorf, wo er ihn vor zwei Wochen abgestellt hatte, und während er in die beginnende Nacht nach Osten fuhr, ins Bergische hinein, bedachte er all dies noch einmal. Zwei Leute wußten, daß er an diesem Abend zu Mijnheer und Sullivan fuhr; das war seine Kurzzeit-Lebensversicherung. Sullivan und Mijnheer würden davon ausgehen, daß er nicht ohne Rückendeckung zum Rendezvous kam. Auf der Autobahn überlegte er, ob er nicht lieber die Telefonrechnung selbst bezahlen und sich von dem Gespann aus Javakröte und irischem Skorpion fernhalten sollte. Wieder sträubten sich seine Nackenhaare. Aber die winzige Chance, nicht selbst der Tote zu sein, lockte ihn. Denn sie bedeutete, daß er vielleicht mit Mijnheers Geld Mijnheers offene Rechnungen begleichen konnte. Und diese Aussicht war bei aller Winzigkeit der Chance zu attraktiv.

Die Schattenschneise

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