Читать книгу Die Schattenschneise - Gisbert Haefs - Страница 6
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ОглавлениеKurz nach fünf wurde der Himmel schwarzgrau; Martin Krollmann löschte die Arbeitsleuchte und öffnete das Oberlicht. Der Raum stank – heiße Kunststoffassungen, Schweiß, Farben und Tusche. Gegen zwei hatte es kurz geregnet; ein paar Tropfen fielen vom Fensterrahmen auf die schräge Arbeitsplatte, neben das letzte Blatt. Schwarzweiße Illustrationen zu einer dicken Anthologie literarischen Horrors; Krollmann brachte das Ergebnis der Nacht in Sicherheit. Neben dem überfrachteten Rolladenschreibtisch wand sich das weiße Kabel des Sammelsteckers kaum erkennbar über den Teppich. Martin haßte Schlangen; er verzog das Gesicht und schüttelte sich. Nachtfantasie überlappte die Einrichtung. Auf der Staffelei sahen seine müden Augen einen Teil des Umschlagbilds für den Band. Mit grellem lumineszierenden Scharlach gemalte Krebsspinnen krochen aus dem Rachen und attackierten das Zäpfchen; den Rest – ein aufgerissener, gallegefüllter Mund, in Panik und Ekel verzerrt, dahinter der deformierte Kopf – gab Krollmanns Gedächtnis dazu.
Am fahlschwarzen Nordosthimmel zwinkerte ein Helikopter über dem Verteidigungsministerium. Martin reckte den Kopf in die späte Nacht. Die Luft war frisch, trotzdem sommerweich. Südwestwind; er kam von den Feldern zwischen Flerzheim und Buschhoven und durchquerte einen Ausläufer des Kottenforsts. Krollmann atmete tief. Der Himmel war gerade hell genug, um den Widerschein der wenigen Lichter und Laternen von Volmershoven zu schlucken und Bäume und Felder zu einer vagen schwarzen Masse zu machen.
Ohne Licht ging Krollmann ins Bad, eine halbe Treppe unter dem Dachstudio. Er erleichterte seine Blase, hielt dann einen Moment den Kopf unter den Kaltwasserhahn. Aus der fast schwarzen Küche, noch eine halbe Treppe tiefer, holte Martin eine Flasche Guinness und stieg wieder zum Studio hinauf.
Vor drei Jahren, mit achtundzwanzig, hatte er das Häuschen billig gekauft. Inzwischen bedauerte er das. Damals war es ihm als gute Investition des von der gegnerischen Versicherung gezahlten Schmerzensgelds erschienen – nach dem Motorradunfall. Immer wieder, wenn er sich mit seiner Lage beschäftigte, stellte er die gleiche Rechnung auf: Hätte er irgendwo auf dem Land ein Obergeschoß billig gemietet, statt soviel für Material beim selbstdurchgeführten Umbau des alten Häuschens auszugeben, dann hätte er, zusammen mit den sonstigen Ersparnissen, beinahe schon die für den Flug und die Behandlung nötige Summe zusammen. Aber der wichtigste Faktor in der Gegenrechnung blieb: Damals hatte er nicht wissen können, daß ein Jahr nach dem Unfall amerikanische Ärzte eine Operationsmethode entwickeln würden, die immerhin eine fünfzigprozentige Chance auf Besserung, wenn nicht sogar komplette Wiederherstellung bot.
Das Backsteinhaus stand außerhalb von Volmershoven in einem Waldausläufer unmittelbar an den Gleisen der Bahnstrecke Bonn-Euskirchen. Es hatte – mit dem kleinen Garten – vierzigtausend Mark gekostet und ausgesehen wie eine Kombination aus Bahnwärterhäuschen (unten) und Müllhalde (oben). Nach den Umbauten, die etwa fünfzehntausend Mark für das Material verschlungen hatten, sah es aus wie ein ältlicher Kuhstall mit aufgepfropftem Treibhaus. Wasser, Strom, Installationen, Wände, Zwischendecken, das zur Hälfte gläserne Dach – Krollmann konnte es aushalten und dort arbeiten. Platz gab es reichlich. Über der Grundfläche von fünfzig Quadratmetern hatte Martin eine Art Tiefparterre als Keller und Materiallager ausgebaut; auf halber Treppe ein Vorratsraum; dann Küche und geräumige Wohn-Schlaf-Bibliothek; eine halbe Treppe höher das Bad (die Zwischenetagen jeweils rechts vom Treppenhaus), darüber das große Studio. Er lehnte sich an die Schreibtischkante, gähnte, trank sein Guinness aus der Flasche und blickte durch das schmale Fenster in der hochgezogenen Südwand, die das Glasdach trug. Auf dem schaukelnden Zweig vor dem Fensterbrett hockte eine schlaflose Elster; sie riß den Schnabel auf und schien den Wind zu verschlingen. Zwischen den Baummassen sickerte lichteres Grau auf die Gleise, ein halbhelles V in der Finsternis.
Der Wagen kam von rechts, von der Hauptstraße her. Mit Standlicht hoppelte er über den vor Jahrzehnten einmal befestigten Feldweg, nur für Anlieger und landwirtschaftlichen Verkehr. Unter den Bäumen wurde er abgebremst. Drei Türen öffneten sich. Das Standlicht erlosch. Drei Männer, von der Innenbeleuchtung umrissen, stiegen aus und gingen zum Wagenheck. Die zweite Innenlampe glomm auf; es war ein Kombi. Die Männer hantierten an etwas auf der Ladefläche herum. Dann zogen sie die Ladung heraus. Einer warf die Heckklappe zu. Sie verschwanden unter den Bäumen, traten auf die Gleise.
Krollmann duckte sich, als einer der Männer mit einer Stablampe die Umgebung absuchte. Erst etwa eine Minute später hob er wieder vorsichtig den Kopf.
Sie hatten den Körper auf ein Gleis gelegt, die Beine nach Norden, gespreizt, den Kopf nach Süden. Einer der Männer bückte sich und tastete an dem Liegenden herum; der zweite stand unter den Bäumen, der dritte ließ auf eine Geste des ersten hin die Lampe aufblitzen. Der Liegende hatte die Augen geschlossen. Der Tastende war mit der Untersuchung der Taschen fertig; er hielt etwas hoch. Die Lampe erlosch; die Innenbeleuchtung des Wagens ging wieder an, als die Türen geöffnet wurden. Der Kombi fuhr ein paar Meter, setzte mehrfach vor und zurück – der Weg war an dieser Stelle etwas breiter –, wendete schließlich ganz und fuhr unter die Bäume. Dort blieb er stehen.
Krollmann kaute auf der Unterlippe. Seine Knie waren weich. Er schaute auf die Uhr. In wenigen Minuten würde der erste Zug von Bonn Richtung Meckenheim und Euskirchen kommen. Unter den Bäumen stand der Wagen mit den drei Männern. Sie warteten. Er hatte keine Waffe und war kein Held. Er hatte nicht einmal Telefon. Und der Mann da unten war vielleicht längst tot.
Als der Zug etwa zwanzig Meter zu weit endlich stand, war der Wagen unter den Bäumen verschwunden. Die Elster landete auf dem Zweig, legte den Kopf schief und blickte zum Zug, bis dort fuchtelnde Gestalten erschienen. Dann öffnete sie den Schnabel und flatterte in den Himmel, der rosa geworden war.