Читать книгу Und dennoch ... - Gisela Raeber - Страница 6
ОглавлениеDer Traum von Afrika
Ihre Eltern hatten sie Petronella getauft, nach ihrer Großmutter. Das konnte in Petra oder Nelly verkürzt werden. Doch sobald sie reden konnte, bezeichnete sie sich selbst als Nel. Dabei blieb es. Der Name war schön kurz, klang energiegeladen und niemand sonst hieß so. Das gefiel ihr. Schon als Kind hatte sie einen Sinn für das Besondere.
Sie war zehn, als ihr ein Bildband über Zentral-afrika in die Hände fiel. Sie schaute sich die Fotos an und war fasziniert von den exotischen Tieren, der dunklen, glänzenden Haut der Menschen, den kriegsbemalten Männern, den in farbenfrohe Boubous gekleidete Frauen mit imposantem Kopfschmuck. Sie träumte von Savannen ohne Horizont und dichten Tropenwäldern, animiert durch ein subtiles Spiel von Licht und Schatten. Immer wieder holte sie das dicke Buch heraus und blätterte darin. Jedes Mal entdeckte sie etwas Neues, den klugen Gesichtsausdruck eines Affenbabys, die geometrischen Streifen des Zebras, die stolze Mähne des Löwen, das Angst einflößende Profil des Nashorns. Sie konnte sich nicht satt sehen.
„Dort möchte ich einmal hin“, vertraute sie ihrer Mutter an.
„Das ist aber sehr weit weg“, war die Antwort.
„Na und? Es gibt doch Schiffe und Flugzeuge.” Nel gab sich mit der Antwort ihrer Mutter nicht zufrie-den. Wie sollte sie auch verstehen, was in den Köpfen von frustrierten, im kommunistischen System eingepferchten Erwachsenen vorging?
Wenn Nel in ihrem Buch blätterte, konnte sie förmlich das Kreischen bunter Vögel und das Rauschen des Wasserfalls hören. Ihre Nase saugte den Modergeruch des Urwaldbodens auf. Beim Anblick der trockenen, sonnendurchfluteten Steppe wurde ihr ganz heiß. Obwohl draußen der Dezemberschnee leise fiel.
Ihr Wunschzettel ans Christkind war kurz. Er umfasste nur ein einziges Wort „Afrikabücher“.
„Afrika“, flüsterte sie. „Wenn ich groß bin, will ich nach Afrika.”
Als Ungarn 1989 die Grenze öffnete floh Nel mit ihrem damaligen Partner Klaus aus der DDR und kam über Österreich „nach drüben“, nach Westdeutschland. Fünfundzwanzig Jahre alt war sie gerade und erlebte Auffang- und Flüchtlingslager, Ablehnung wie auch Großzügigkeit seitens der Bundesbürger.
Nel und Klaus ließen sich in Bad Honnef bei Bonn nieder. Es galt einen neuen Anfang in dem völlig anderen Deutschland zu suchen, sich durchzukämpfen, seinen Platz zu finden.
Mit Klaus war sie schon im Kindergarten befreun-det. Er war der Nachbarsjunge. Später drückten sie zusammen die Schulbank, fingen beide das Betriebswirtschaft Studium an und hatten vor der Flucht schon einige Jahre zusammen gelebt. Klaus war unternehmungslustig, offen und sehr sportlich aber absolut nicht belastbar. Er schob jede Schwierigkeit auf Nel ab. Schlussendlich kam sie sich fast wie seine Mutter vor, die sich immer um alles für ihn kümmern musste.
Ein Jahr war in der Zwischenzeit vergangen. Täglich ging Nel in die Uni, hatte auch einen kleinen Job als Serviererin gefunden. Es war nicht leicht, sich als Ossi hier am Rhein zu behaupten.
Trotzdem war es nicht das, was ihr zu schaffen machte. Sie hatte vielmehr das Gefühl, daß ihr Leben mit Klaus ihr langsam entglitt.
Sie verstanden sich zwar noch immer gut, aber Liebe konnte das doch sicher nicht sein. Gab es das große, das überwältigende Glück? Sie wusste es nicht, und wenn sie untätig darauf wartete, würde sie es höchstwahrscheinlich niemals finden. Über eines war sie sich klar: wenn sie mit Klaus zusammen war, verspürte sie kein Kribbeln mehr, schlug ihr Herz niemals höher.
Gedankenverloren rührte sie in der Gemüsesuppe, die sie zum Abendessen zubereitete.
In den letzten Tagen wirkte Klaus des Öfteren abwesend. „Ich muss mit ihm reden“, sagte sie sich. „Ich kann so nicht weitermachen. Das Routineleben, das wir derzeit führen, befriedigt mich absolut nicht. Wir sollten uns vielleicht trennen.“
Als Klaus an diesem Abend heimkam, machte Nel einen bekümmerten, fast niedergeschlagenen Eindruck.
Klaus bemerkte es gar nicht. Er hatte andere Sorgen.
„Ich habe mir heute das Buch Jenseits von Afrika von Tania Blixen gekauft. Hast du das mal gelesen?“ Nel deutete auf das dicke Buch, das auf dem Tisch lag, und fügte kopfschüttelnd hinzu: „Was für eine dumme Frage, natürlich nicht.”
„Nein, natürlich nicht!“ Klaus ahmte ihren ironischen Ton nach. „Aber ich kenne die Anziehungskraft, die Afrika, die Wildnis und das Abenteuer auf dich ausüben. Die teile ich nicht mit dir, das weißt du. Ich brauche Sicherheit, Geborgenheit, ein geregeltes Leben.”
„Eben Klaus! Seit unserer Kindheit sind wir die besten Freunde, und ich habe immer auf dich zählen können. Wir haben so viel miteinander geteilt, so viel unternommen und können auf schöne Momente zurückblicken. Aber ich frage mich, ob ich glücklich bin. Richtig glücklich. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt. Weißt du es?
„Glück ... meinst du nicht eher Liebe. Ich glaube, du fragst dich, was Liebe ist.”
„Ja. Und ich zweifle daran, daß Liebe das ist, was wir füreinander empfinden. Wir sind beide einfach automatisch in diese sehr bequeme Zweisamkeit gerutscht.”
„Du hast vielleicht Recht.” Klaus nickte versonnen. „Zwanzig Jahre kennen wir uns schon, sind durch dick und dünn zusammen gegangen, haben uns immer gut verstanden. Wir sind tolle Freunde, aber ...
„Aber so echt geknistert hat es nie.” vervollständigt Nel seinen Satz.
Klaus nickte und blickte sie offen an.
„Daß du das gerade heute auf den Tisch bringst. Ich glaube...“, er zögerte.
„Was glaubst du?“
„Ich... ich glaube, ich bin dabei, mich in eine Studienkollegin zu verlieben. Seit drei Wochen überlege ich mir, wie ich es dir beibringen soll und habe bisher den Mut dazu nicht aufgebracht.”
Nel schaute ihn erstaunt an, dann hellte sich ihr Gesicht auf. Sie stupste ihn in die Seite, und beide brachen in Lachen aus.
„Das trifft sich ja bestens. Ich freue mich für dich. Wie wär’s also, wenn wir uns trennen und dabei gute Freunde bleiben. Ist das ein Vorschlag?“ fragte Nel.
„So einfach hätte ich mir das im Traum nicht vorgestellt.” erwiderte Klaus, sichtlich erleichtert. „Ich stand vor einem großen Problem, das ich hin und her wälzte, ohne einen Ansatz zur Diskussion zu finden. Und du legst mir die Lösung einfach in den Schoß.“
Er legte die Arme um Nel und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Über ihre Schulter schaute er in den Suppentopf.
„Ah, die leckere Gemüsesuppe deiner Mutter. Dann lass uns doch jetzt zuerst mal essen. Ich habe einen Mordshunger. Dabei können wir in Ruhe weiterreden. Und was hältst du davon, wenn wir anschließend ins Kino gehen um unsere Scheidung zu feiern?“ er malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. „Auf dem Programm steht „Jenseits von Afrika“ mit Meryl Streep und Robert Redford. Erzähl mir nur nicht, daß du das noch nicht wusstest.“
„Natürlich habe ich das gesehen. Deswegen habe ich doch das Buch gekauft.“