Читать книгу Isola Mortale - Giulia Conti - Страница 7
5
ОглавлениеDie Holztür zum Büro der Äbtissin stand offen, und als Simon und Carla vorsichtig ihre Köpfe hineinsteckten, sprang die Oberin sofort von ihrem Schreibtisch auf und kam ihnen mit energischen Schritten entgegen. Ihr Büro hätte auch das eines Managers eines mittelständischen Unternehmens sein können. Der hohe Raum war licht und geräumig, öffnete sich mit einer Fensterfront zum See, war nüchtern und zweckmäßig eingerichtet. Rund um einen Konferenztisch aus Glas standen ordentlich aufgereiht ein paar Holzstühle, dahinter, am Kopfende, nahmen ein Schreibtisch mit einem großen Computerbildschirm und ein Flipchart fast die gesamte Breite ein, und an den Wänden reihten sich Regale, prall gefüllt mit Aktenordnern. Altes Eichenparkett verlieh dem Raum trotz der eher spartanischen Einrichtung Würde und sogar etwas Wärme. Nur das Kreuz aus grauem Metall an der Wand hinter dem Schreibtisch gab einen Hinweis auf die religiöse Bestimmung dieses Ortes.
Die Äbtissin musste auf die siebzig zugehen, war sehr groß, aber ihr Oberköper war schmal, und sie bewegte sich trotz ihres Alters ausgesprochen leichtfüßig in ihrer schwarzen Kutte. Abrupt blieb sie vor den Besuchern stehen, einen gewissen Abstand wahrend, aber doch so nah, dass Simon unter ihrer Haube die hohe Stirn und die klugen hellblauen Augen wahrnahm. Ihre Augenbrauen darüber waren aschgrau und buschig und kontrastierten mit ihrem schmalen Gesicht und ihrer fast weißen, glatten Haut.
Simon wollte ihr seine Hand geben, bemerkte aber noch rechtzeitig, dass das verfehlt war. Mit einem Nicken, das ihn an die Queen erinnerte, begrüßte die Oberin sie. »Maresciallo Moretti, ja? Sie kommen wegen Suor Teresa.«
»Sì, Reverenda Madre«, sagte Carla und gab damit auch die Antwort auf die Frage, die Simon sich in diesem Moment stellte, nämlich, wie man eine Äbtissin eigentlich ansprach. Carla schien in Religionsfragen nicht ganz so inkompetent zu sein wie er. War sie eigentlich gläubig? Simon wusste es nicht, wie er überhaupt wenig über den Menschen Carla wusste. Sie war eine so nüchterne Person, dass er sich Frömmigkeit bei ihr nur schwer vorstellen konnte, aber er war zu lange Journalist, zu vielen Menschen begegnet, zu oft von ihnen überrascht worden, als dass er solchen voreiligen Urteilen traute.
»Ich habe Signor Strasser mitgebracht. Er spricht Deutsch und könnte uns vielleicht eine Hilfe sein. Die ermordete Nonne kam ja aus Deutschland …«, fuhr Carla fort.
Die Äbtissin ging auf Carlas Bemerkung nicht ein, schenkte Simon keinen Blick und wies auf den großen Tisch in der Mitte des Raums, auf dem eine kleine Holzkiste stand und ein paar Papiere bereitlagen. »Nehmen Sie Platz. Dieser Mord ist ein schrecklicher Schlag für unser Kloster. Alle meine Nonnen sind sehr verstört und sie brauchen meinen Beistand. Also bringen wir es schnell hinter uns.« Sie wirkte enorm wach und selbstbewusst, dachte Simon, war einer dieser Menschen, die automatisch alle Blicke auf sich zogen, wenn sie einen Raum betraten.
»Also, Signora, was wollen Sie wissen?«
»Seit wann war Leonie Hofmann in Ihrem Kloster?«
Die Äbtissin setzte eine Brille auf, blätterte in den Unterlagen auf dem Schreibtisch. »Sie meinen Suor Teresa. Ich habe hier ihre Akte. Sie ist im März zu uns gekommen, aus einem Benediktinerkloster in Bayern, auf eigenen Wunsch. Weil sie glaubte, sie könne ihre Mutter hier am See finden. Die ist vor acht Jahren spurlos in München verschwunden. Suor Teresa muss vor einiger Zeit einen Hinweis bekommen haben, dass sie hier in der Gegend zu finden sein könnte, Genaueres weiß ich aber nicht.«
»Hat sie denn mit Ihnen darüber gesprochen?«, fragte Carla.
»Wir sprechen hier im Kloster nicht viel, das wissen Sie ja wohl.« Der Ton der Äbtissin schwankte zwischen Ironie und Belehrung. »Aber ja, ich habe mit ihr gesprochen, als wir sie aufgenommen haben. Auch danach noch ein paarmal. Sie war überzeugt, dass ihrer Mutter etwas passiert sei. Und hat sich wohl erhofft, etwas darüber herauszufinden, wenn sie selbst hierher an den See kommt. Am liebsten hätte ich sie eigentlich gleich wieder weggeschickt. Aber schließlich habe ich doch christliche Milde walten lassen. Das erwartet man ja auch von mir, nicht wahr?« Jetzt umspielte wieder ein leises Lächeln ihre Lippen. »Allerdings habe ich das später durchaus bereut. Sie war eine schwierige Person.«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Ja.«
Der Blick der Äbtissin ging aus dem Fenster auf den See, wo das Boot der Carabinieri gerade wieder mit hoher Geschwindigkeit zurück in Richtung Omegna sauste. »Sie hat länger im Wasser gelegen, nicht wahr?«, fragte sie.
Carla nickte. »Ja, ein oder zwei Stunden.«
»Aber vielleicht haben Sie trotzdem bemerkt, dass sie eine besonders schöne Frau war. Ich glaube nicht, dass sie eine gute Nonne geworden wäre. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich meine nicht, dass man unattraktiv sein muss, wenn man Nonne werden will.« Sie legte eine Pause ein und sah vielsagend zu Carla, der ohnehin ihre ganze Aufmerksamkeit galt. Simon hatte sie immer noch keines Blickes gewürdigt. »Aber sie war nicht glaubensfest, auch wenn sie das selbst nicht wusste. Eine sehr schwärmerische Person. Das haben wir nicht so gern. Das lebenslange Bündnis mit Gott einzugehen, das verlangt eine enorme intellektuelle Anstrengung. Das ist eine ernste, eine ganz und gar geistige Sache. Damit muss man sich sehr intensiv auseinandersetzen. Das hat sie nicht. Sie hatte eine schwierige Kindheit, keinen Vater, hat ihre Mutter verloren und eine Heimat gesucht. Wärme, eine Familie. Verständlich. Aber dafür ist ein Kloster nicht da. Ein Kloster ist kein Ort zum Kuscheln.«
»Aber sie war noch Novizin?«
»Ja, sie war ja gerade mal zwanzig Jahre alt, im zweiten Jahr ihrer Probezeit. Und wie gesagt, ich glaube nicht, dass sie irgendwann das ewige Gelübde abgelegt hätte, es also endgültig in den Stand der Nonne geschafft hätte.«
»Sie meinen das Ordensgelübde, die Profess?«
Simon schaute erstaunt zu Carla. Sie schien sich wirklich auszukennen.
»Ja, die meine ich. Auch in Deutschland hatte man da wohl Zweifel. Ich glaube, man hat sie da nicht ungern gehen lassen.«
»Steht das in Ihren Unterlagen?«
Die Oberin setzte die Brille ab, gab keine Antwort und klappte die Akte mit einem Schlag zu, eine unmissverständliche Botschaft, dass von ihr dazu nichts weiter zu erfahren sein würde. Dabei ließ sie Carla nicht aus den Augen. Die hielt dem Blick der Äbtissin stand, schwieg eine Weile, stellte schließlich doch eine weitere Frage. »Hat sie denn hier im Kloster eine Zelle allein bewohnt?«
»Ja.«
»Können wir uns die ansehen?«
»Ja, wenn es denn sein muss. Ich rufe nachher eine Schwester, die wird Sie hinbringen. Da gibt es aber nicht viel zu sehen. Als Nonne braucht man nicht viel. Ihre paar privaten Sachen finden Sie hier in dieser Kiste.«
»Die haben Sie aus ihrer Zelle? Sie haben da also alles schon aufgeräumt?«
»Ja.«
»Da waren Sie aber schneller, als die Polizei es erlaubt.« Jetzt lächelte Carla, aber es war ein eisiges Lächeln, das ihren Ärger über die voreilige Aktion kaum überspielte. Sie zog die Kiste mit ihrem unversehrten rechten Arm zu sich heran, griff hinein. Viel war es wirklich nicht. Ein paar Fotos, ein kleiner Stofflöwe, Stifte, ein Notizbuch. Damit würde Carla sich später beschäftigen. Sie klappte den Deckel wieder zu. »Die nehme ich an mich. Dagegen werden Sie ja wohl nichts haben.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, und die Oberin schwieg.
»Gab es denn Probleme mit ihr?« Carla bemühte sich wieder um einen freundlichen Ton, obwohl sie innerlich aufgebracht war. So gut kannte Simon die Polizistin.
»Probleme gibt es immer. Wir sind hier sechzig Nonnen. Die können nicht immer alle miteinander harmonieren. Das ist im Kloster nicht anders als in Ihrer Welt.«
»Können Sie das etwas genauer erklären?«
»Ich kann Ihnen versichern, dass niemand aus dem Kloster mit dem Mord an dieser jungen Frau etwas zu tun hat.«
»Das will ich auch gar nicht unterstellen, Madre. Aber wir müssen uns ja ein Bild von ihr machen. Und dabei können Sie uns mit Ihrem Wissen behilflich sein.«
»Ich sagte ja schon, sie war schön, schwierig und schwärmerisch. Das ist eine explosive Mischung, auch bei einer Nonne.«
»Ihr Tod scheint Ihnen nicht besonders nahezugehen?« Simon hatte beschlossen, sich einzumischen und griff zu einer provokativen Frage aus seinem journalistischen Handwerkszeug, um sie aus der Reserve zu locken.
»Der Tod hat für mich wahrscheinlich nicht so einen Schrecken wie für Sie, Signor Strasser.« Sie wandte sich ihm nun doch zu und sah ihn mit ihren wachen Augen herausfordernd an. Simon fühlte sich gemaßregelt wie ein Schüler, der etwas Dummes gesagt hatte. »Das ist ein Vorteil«, fuhr die Äbtissin, ihn nicht aus den Augen lassend, fort, »den wir Gläubigen gegenüber den Unchristlichen haben. Wenn Sie so wollen, ist das unser return on investment. Aber ein Mord an einer meiner Nonnen, das lässt mich nicht unberührt, das können Sie mir glauben.«
»Dann wiederhole ich noch einmal meine Frage«, sagte Carla, »gab es Probleme mit ihr, hatte sie hier Feindinnen?«
»Es hat wohl etwas Unruhe unter den Nonnen gegeben, aber das sind Interna, die sicher nichts mit dem Mord zu tun haben und die Sie nichts angehen.« Das Lächeln war ganz aus dem Gesicht der Oberin verschwunden.
»Was mit dem Mord zu tun hat, das zu beurteilen, sollten Sie mir überlassen, Madre«, sagte Carla.
Die Oberin schwieg.
»Hat sie denn eine Aufgabe hier gehabt?« Simon suchte einen Weg, wie er Carla gegen die definitionsmächtige Oberin unterstützen konnte, und hoffte, der Äbtissin vielleicht auf diesem Umweg ein paar der Geheimnisse des Klosters entlocken zu können.
»Ja, sie hat die Bibliothek betreut. Wir sind ja ein Schweigekloster und leben in Klausur. Aber da sie Novizin war und die bayerischen Schwestern wegen der besonderen Situation, also der Suche nach ihrer Mutter, darum gebeten haben, hatte sie noch Kontakt nach außen. Sie war so etwas wie eine Freigängerin. Das ist ungewöhnlich, war aber für uns ganz nützlich, für die Bibliothek. Wenn man sich um die kümmert, muss man schon mal raus aus dem Kloster.«
Simon spürte, wie Carla die Ohren spitzte. Auch ihn elektrisierte diese Antwort, aber er hielt sich jetzt zurück.
»Mit wem hatte sie denn Kontakt?«
»Wir haben nicht jeden ihrer Schritte verfolgt. Aber die Insel hat sie normalerweise nicht verlassen.«
»Was heißt normalerweise?«
»Wenn sie das Schiffstaxi genommen hat, hat sie sich bei mir abgemeldet. Das war zum letzten Mal vor gut drei Wochen.«
»Um was zu machen?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wahrscheinlich ging es um ihre Mutter.«
»Wissen Sie denn, was sie gestern gemacht hat?«
»Das ist bei uns relativ einfach. Wir Benediktinerinnen machen jeden Tag dasselbe. Ora et labora, das ist Ihnen ja bestimmt ein Begriff. Wir haben unsere Andachten und Messen, und wir arbeiten, stellen Paramente her, also Altartücher, Stolen, Messgewänder und dergleichen. Das ist unser Alltag von morgens sehr früh bis abends. Dazwischen essen wir natürlich auch, frühstücken, essen zu Mittag und zu Abend, ganz wie andere Menschen auch. In Ihrer Welt würde man das wohl unsere Work-Life-Balance nennen.« Jetzt umspielte wieder ein Lächeln ihr Gesicht.
»Also hat Suor Teresa gestern das Kloster nicht verlassen?«
»Doch.«
Simon und Carla sahen sich an.
»Um was zu machen?« Dass Carla ihre Formulierung wiederholte, war ein Zeichen ihres wachsenden Unwillens, das spürte Simon. Sie war genervt von der Verschlossenheit der Äbtissin. Die stand auf, nahm die Akte der Nonne an sich, schien das Gespräch beenden zu wollen, aber dann antwortete sie doch, ebenfalls mit einer Spur von Unwillen: »Es gibt hier einen Nachbarn auf der Insel. Ein Deutscher wie Sie, Signor Strasser. Ein reicher Mann. Mit einer wertvollen Bibliothek. Und ein sehr großzügiger Mann. Er wollte dem Kloster ein paar Bücher überlassen, theologische Handschriften aus dem Mittelalter. Die hat er vorgestern Suor Teresa übergeben. Er hat darum gebeten, dass sie sie bei ihm abholt. Das hat sie am späten Nachmittag getan.«
Simon und Carla tauschten einen Blick. Das musste der Deutsche sein, in dessen Boot Leonie auf dem Wasser getrieben war.
»Und haben Sie die Bücher?«, fragte Carla.
»Nein.«
»Und haben Sie Leonie danach noch gesehen?«
»Nein, niemand hat Suor Teresa danach noch gesehen. Er war der Letzte. Zumindest soweit wir wissen.«