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»Wow«, sagte Simon. »Sie hatten recht, das ist wirklich eine eindrucksvolle Frau, diese Äbtissin. Aber eine Offenbarung war das trotzdem nicht gerade, eher im Gegenteil. Man merkt, dass sie Übung in Verschwiegenheit hat.«

»Ja, leider. Ich frage mich, ob sie etwas zu verbergen hat. Dass sie die Zelle von Leonie schon hat ausräumen und putzen lassen, könnte darauf hindeuten. Und die Nonnen haben wirklich ganze Arbeit geleistet, die Spurensicherung brauche ich da nicht mehr hinzuschicken. Wir haben alles gesehen, was da noch zu sehen war, also nichts.«

Simon und Carla saßen an einem Fenstertisch im Inselrestaurant, wo sie die einzigen Gäste waren. Im Sommer war das Ristorante Terrazzina mit seiner Terrasse zum See gut besucht, sogar ein hauseigenes Schiff brachte die Gäste dann von Orta San Giulio in das Lokal auf der Insel und wieder zurück. Der Gastraum mit den antiken Möbeln, den mit Fresken ausgemalten Decken, gerahmten Spiegeln, halbhoch getäfelten Wänden und weißen Tischdecken hatte Atmosphäre, und als sie an dem Lokal vorbeikamen und überrascht feststellten, dass es nicht, wie im Dezember eigentlich üblich, geschlossen war, schlug Carla vor, zum Mittagessen dort einzukehren. Sie hatte Hunger und wollte etwas im Magen haben, bevor sie dem verdächtigen Deutschen mit den wertvollen Handschriften begegnen würden.

Sie aßen das Tagesmenü, ebenfalls keine Offenbarung, sondern italienischer Standard, pasta al ragù, filetto di maiale und eine panna cotta zum Abschluss. Simon genoss das einfache Mittagessen, denn es kam selten vor, dass er und Carla gemeinsam irgendwo einkehrten. Im Kamin des Gastraums brannte ein Holzfeuer und verbreitete behagliche Wärme.

»Wenn sie tatsächlich etwas verschweigt«, Carla nahm eher lustlos einen Löffel von ihrem Dessert, »werde ich mir die Zähne an ihr ausbeißen. Die Oberin ist eine Eminenz am See, die hält alle möglichen Fäden in der Hand, hat Beziehungen zu allen, die was zu sagen haben. Sie haben sie ja erlebt, die wäre bestimmt auch als Managerin in der Wirtschaft erfolgreich. Haben Sie ihre Brille bemerkt?«

»Ja, das war jedenfalls kein Kassenmodell. Ziemlich extravagant für eine Äbtissin. Aber sie hat mir trotz allem gefallen. Vielleicht gerade deshalb, weil sie so gar nicht dem Klischee einer frommen Kirchenfrau entspricht.«

Carla nickte. »Ja, obwohl sie das natürlich ist. Und außerdem noch eine allseits anerkannte Theologin. Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie ein Verbrechen deckt. Die ist wahrscheinlich einfach nur aus Gewohnheit so verschwiegen.«

»Ist sie eigentlich schon lange hier am See?«

»Sie hat den Posten vor zwanzig Jahren von ihrer Vorgängerin übernommen. Das Kloster gibt es erst seit rund fünfzig Jahren, angefangen hat es mit gerade mal vier Nonnen, inzwischen sind es sechzig. Und das in Zeiten, in denen sich junge Frauen ja nicht gerade darum reißen, Nonne zu werden. Die meisten Klöster haben Nachwuchsprobleme, sie nicht. Obwohl das ja die besonders harte Variante ist, in so einer kargen Zelle zu leben, immer mitten in der Nacht aufzustehen, ständig zu beten und zu schweigen und sich immer nur unter diesen Nonnen zu bewegen, ohne Kontakt zur Außenwelt. Von wegen Work-Life-Balance. Darunter stelle ich mir jedenfalls etwas anderes vor.«

»Haben Sie die denn?« Simon ergriff die Gelegenheit beim Schopf, einmal etwas Privates von Carla zu erfahren.

»Nein.« Mehr schien sie dazu nicht sagen zu wollen.

Simon ließ nicht locker. »Aber Sie leben in einer Wohnung und nicht in einer Kaserne?«

»Ja, in einer Wohnung. Bei dem Job ist es allerdings nicht immer einfach, die Distanz zu halten. Aber von so einem rigiden Alltag, wie ihn diese Nonnen haben, ist mein Leben doch weit entfernt.«

»Wenn schon Kloster, dann vielleicht richtig Kloster, also rigide«, entgegnete Simon. »Haben Sie schon mal den Begriff kostspielige Hingabe gehört?«

Carla blickte Simon nur fragend an.

»Der drückt aus, dass Menschen umso stärker an etwas glauben, je mehr man ihnen dafür abverlangt. Also je größer das Opfer, umso stärker die Gemeinschaft der Gläubigen.«

»Das scheint Sie zu faszinieren?«

»Nein, gar nicht. Aber was ich nicht verstehe, macht mich neugierig.«

»Sie können es ja mal ausprobieren. Das geht, man kann da als Gast ein oder zwei Tage im Kloster verbringen, auch Männer dürfen das.«

»Keine schlechte Idee, interessieren würde es mich schon. Aber ich käme mir wahrscheinlich ziemlich komisch vor, da als Ungläubiger, der ich ja bin, einzudringen, also sozusagen undercover.«

»Der Slang der Oberin hat offenbar schon auf sie abgefärbt, Simone, das könnte also vielleicht doch passen …« Sie blickte ihn schelmisch grinsend an.

Simon grinste zurück, fragte dann aber wieder sehr ernst: »Waren Sie denn schon mal in einem Kloster?«

»Nein.« Carla verstummte, schien es auch hier bei dieser kategorischen Antwort belassen zu wollen. Aber dann schob sie ihre nur halb aufgegessene panna cotta energisch von sich weg, und als hätte sie sich mit dieser Geste selbst einen Ruck gegeben, fuhr sie fort: »Meine jüngere Schwester ist Nonne, nicht hier, in der Toskana, in einem Kloster der Salesianerinnen, also zumindest nicht in Klausur. Die machen Sozialarbeit in der Gemeinde, kümmern sich vor allem um alte verarmte und kranke Menschen. Ich war trotzdem nicht begeistert, dass sie Nonne werden wollte. Aber sie war nicht davon abzubringen. Und ich muss zugeben, dass sie ziemlich glücklich zu sein scheint.«

»Deshalb kennen Sie sich also so gut aus?«

»Ach, Simone, reden Sie doch nicht um den heißen Brei herum. Wie hält Carla es mit der Religion? Das ist es doch, was Sie gerne wissen wollen, oder?«

Simon nickte und lächelte sie an. »Vor einer Polizistin kann man wohl nichts verbergen, jedenfalls nicht vor Ihnen …«

»Okay, das ist schnell gesagt. Ich bin nicht gläubig. Vielleicht hat das mit dem Beruf zu tun. Ich war zwar nie besonders religiös, aber als Carabiniere erlebt man so viel Abgründiges, dass einem der Glauben schon ganz abhandenkommen kann.«

»Oder man wird erst recht gläubig.«

Jetzt war es Carla, die Simon erstaunt ansah. Aber sie ging auf seine Bemerkung nicht ein, vermutlich war sie der Meinung, dass es im Augenblick Wichtigeres zu tun gab, als mit Simon noch länger das Thema Religion zu erörtern. »Jedenfalls haben wir ohne Zweifel einen Hauptverdächtigen«, sagte sie. »Und der sitzt nicht im Kloster, sondern in einem sehr weltlichen Haus hier auf der Insel. Den sollten wir uns jetzt langsam mal vornehmen.«

»Den Deutschen mit den Büchern? Wie heißt er eigentlich?«

»Huber, Max. So heißen doch fast alle Bayern, oder? Also los, es wird Zeit.« Sie kippte schon im Stehen ihren Espresso herunter und sah auf die Rechnung. »Wir teilen, ja?«

Vom Ristorante Terrazzina waren es nur noch ein paar Schritte bis zum Haus des Deutschen. Es war eines der schönsten Anwesen auf der Insel, dreistöckig, mit Erkern und Türmen, im obersten Stockwerk offene Arkaden, die Fassade zimtfarben, die Klappläden türkis, dazu ein verwilderter Garten, der sich neben und hinter dem Haus zum See hinunter neigte. Seitlich gab es einen kleinen Strand, an dem ein buntes Holzboot mit einem kleinen Außenborder lag.

»Hier an dem Strand muss auch das Ruderboot von diesem Huber gelegen haben«, sagte Carla. »Das, mit dem Leonie unterwegs war.« Sie machte ein paar Schritte am Ufer entlang, schaute in alle Ecken und sah sich suchend auf dem Boden um, stutzte auf einmal, bückte sich, griff in ihre Tasche, zog einen Handschuh über, nahm einen Stein auf und hielt ihn Simon hin. »Schauen Sie mal.«

Er war dunkelrot. »Das sieht ganz nach Blut aus«, sagte Simon.

Carla zog die Hand mit dem Stein wieder zurück, roch daran und packte ihn dann in ein Plastiksäckchen. »Ich glaube auch, dass das Blut ist«, stellte sie fest. »Sieht ganz so aus, als könnte das hier der Tatort sein.« Sie schob mit der Fußspitze noch einmal vorsichtig ein paar Steine hin und her, griff dann zu ihrem Handy. »Stefano, du musst sofort zurückkommen. Und bring bitte jemanden von der Spurensicherung mit. Die sollen sich das Gelände an dem Strand neben dem Grundstück von dem Huber ansehen. Das könnte der Tatort sein. Und hör dich mal in der Nachbarschaft und bei den Taxikapitänen um, wer alles am Nachmittag auf der Insel war.«

An der schweren Holztür, dem Eingang in das Haus von Max Huber, gab es kein Namensschild, aber eine Klingel. Carla drückte sie nun schon zum zweiten Mal, aber niemand machte auf.

»Und nun?«, fragte Simon.

»Ich hätte da eine Idee.« Ihre grünen Augen blitzten.

»Und die wäre?«

Sie schaute ihn einfach nur weiter an.

»Sie meinen, ich soll …«

Carla nickte. »Aber ich habe nichts gesehen.«

Simon musste noch nicht einmal über den Zaun steigen, das Holztor zum Garten war nicht verschlossen. Dahinter eröffnete sich eine regelrechte Wildnis. Ein paar hochgewachsene Bananen mit riesigen Blättern, Zypressen und Palmen, ausladende Büsche und dichtes Gestrüpp überall, dazwischen ein von Efeu überwucherter kleiner Glaspavillon und ein verwitterter Brunnen mit einem Engel aus grauem Stein, der Kopf von Locken umspielt; im Sommer spie er vermutlich Wasser. Hier hatte schon lange kein Gärtner mehr Hand angelegt. Ein Weg war nicht zu erkennen. Simon mochte solchen Wildwuchs, außerdem schützte er ihn vor Blicken; immerhin war er ein Eindringling und wollte nicht entdeckt werden.

Im selben Moment kam ihm in den Sinn, dass es auf dem Grundstück einen Hund geben könnte, und alarmiert sah er sich um. Die italienischen Vierbeiner, die den ganzen Tag nicht anderes taten, als Grundstücke zu bewachen, waren ernst zu nehmende Gegner, keine freundlichen Gesellen wie Buffon, der Terrier von Nicola. Dass er an seine Ziehtochter denken musste, besänftigte ihn sofort, trotz der heiklen Situation, in der er sich befand. Sie fehlte ihm. Und sogar ihr Hund fehlte ihm. Nico hatte angekündigt, ihn über Silvester in Ronco zu besuchen, und er freute sich auf sie. Der Gedanke, dass er sie und Buffon in wenigen Tagen wiedersehen würde, tat ihm gut, und seine Gelassenheit kehrte zurück.

»Was tust du?«

Simon fuhr zusammen. Die Stimme kam von oben, klang nasal und fremdartig. Er blickte hoch. Oben auf dem Ast einer Kiefer saß ein Graupapagei, schlug sacht mit den Flügeln. »Du Schwein«, krächzte er zu ihm herunter. »Was tust du?«

Ein Papagei war zweifellos weniger bedrohlich als ein Rottweiler, aber wenn der nicht aufhörte mit seinem Krächzen, könnte jemand auf Simon aufmerksam werden. Besorgt schaute er sich um. Hatte sich da etwas zwischen den Zweigen bewegt? War da jemand? Der Besitzer des Hauses? Das könnte unangenehm für ihn werden. Er verharrte einen Moment, suchte Deckung hinter den Blättern einer Bananenstaude, war wieder angespannt, spürte seinen schnellen Herzschlag. Nichts. Auch der Papagei war verstummt. Simon blickte nach oben. Der Vogel saß immer noch auf seinem Ast und starrte ihn an. Ewig konnte er nicht in seinem Unterschlupf bleiben. Sollte er nicht besser zu Carla zurückkehren? Nein. Er würde sich lächerlich machen, wenn er ihr sagte, dass er vor einem Papagei die Flucht ergriffen und deshalb den Rückzug angetreten hatte.

Kaum fasste er diesen Gedanken, kam die Gelassenheit zurück. Er löste sich aus der Bananenpflanze, machte ein paar Schritte, zunächst vorsichtig, dann zügiger. Der Papagei krächzte noch einmal kurz, schien aber zu resignieren und blieb stumm, und Simon bahnte sich erneut den Weg durch das Gestrüpp, dorthin, wo er die Terrasse auf der Seeseite des Hauses vermutete.

Die Sonne schien inzwischen mit großer Kraft, er schwitzte in seiner Winterjacke, hätte sie am liebsten ausgezogen, aber er durfte nun keine Zeit mehr verlieren, fühlte sich immer noch unbehaglich, wollte schnell wieder heraus aus diesem Garten, bevor ihn doch noch jemand entdeckte. Durch das Gebüsch sah er jetzt die Terrasse, ging etwas schneller, stolperte über einen Stein, rutschte aus und fiel der Länge nach hin.

»Was tun Sie hier?«

Das war nicht der Papagei. Simon hatte sich sofort wieder aufgerappelt und blickte in den Lauf eines Gewehrs. Der Mann, der es auf ihn richtete, war kräftiger und größer als er, aber wahrscheinlich etwa im gleichen Alter, vielleicht Mitte Fünfzig, hatte glatte, hellgraue Haare, die ihm bis zum Kinn fielen, einen kleinen silbernen Ring im Ohr und trug eine Wachsjacke und Stiefeletten, beides elegant und teuer. Er hatte die Frage auf Italienisch gestellt, aber der deutsche Akzent war unüberhörbar. Simon starrte auf das Gewehr. Er hatte sich bei dem Sturz am Fuß wehgetan, aber das war im Moment egal. Dieser Mann schien ziemlich entschlossen. Jetzt bloß nichts Falsches sagen, ihn nicht weiter gegen sich aufbringen.

Simon antwortete auf Deutsch. »Entschuldigen Sie, dass ich einfach so in Ihren Garten eingedrungen bin. Sie sind bestimmt Max Huber. Wir wollten zu Ihnen, haben geklingelt, aber niemand hat uns aufgemacht. Wir dachten, dass Sie im Garten sein könnten. Ich wollte nachsehen, das Tor stand ja offen.«

»Und wer ist wir?« Der Mann – der wohl tatsächlich Max Huber war, jedenfalls widersprach er nicht – richtete immer noch das Gewehr auf ihn. »Und was wollen Sie von mir?«

»Ich bin mit Maresciallo Moretti hier. Sie wartet vor Ihrer Haustür. Wir sind wegen des Mordes an der jungen Nonne auf der Insel. Sie haben bestimmt davon gehört.«

Der Mann fixierte ihn noch einen Moment, nahm aber schließlich langsam das Gewehr herunter. Er schien ihm zu glauben. Simon hoffte, dass er ihm nicht vorzeitig eine Information preisgegeben hatte. Carla wäre not amused.

Aber Huber wusste ohnehin Bescheid. »Leonie? Wegen ihr sind Sie also hier?«, sagte er. »Von dem Mord weiß ich natürlich.« Sein Ton war immer noch schroff, er schulterte das Gewehr, drehte sich abrupt weg und kehrte Simon den Rücken zu. »Kommen Sie mit, dann schauen wir mal, was der Maresciallo vorne an der Haustür macht und lassen ihn auf dem unter zivilisierten Menschen üblichen Weg herein. Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Simon Strasser.«

»Und Sie sind auch Polizist?«

»Nein, aber so etwas Ähnliches. Ich unterstütze Maresciallo Moretti bei den Ermittlungen, weil die Ermordete eine Deutsche war.«

»Und Sie sind auch Deutscher?«

»Nicht ganz, aber doch, ja.«

Max Huber gab sich mit der kryptischen Antwort zufrieden, forderte Simon auf, ihm zu folgen und ging voraus zur Terrasse.

Isola Mortale

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