Читать книгу Dachbodengeflüster / Stimme des Blutes - Gloria Murphy - Страница 10
KAPITEL 3
ОглавлениеAls sie die Brottüte leer vorfand, entschied sich Paige für Bran Buds und Milch. Während sie aß, schaute sie zum Küchenfenster hinaus, dachte an den vergangenen Abend zurück und fand es aufs neue erstaunlich, daß tatsächlich ein Kind bei ihnen auf dem Dachboden gewohnt hatte; ein Kind, das sich freiwillig für Unbequemlichkeit, Einsamkeit, Staub und Spinnweben entschieden hatte, statt bei dem zu bleiben, was er oder sie zurückgelassen hatte. Wie lange war das Kind wohl dort oben gewesen, und wo würde es hingehen, jetzt, da Paige es verscheucht hatte? Obwohl der Sheriff es nicht hatte finden können, wäre Paige bereitwillig jede Wette eingegangen, daß es noch in der Gegend war.
Wenigstens hatte es zu regnen aufgehört; es war zwar noch kühl, aber die Sonne würde bald etwas Wärme spenden ... Laut Wetterbericht vom Vorabend würden die Temperaturen dann am späten Nachmittag wieder sinken. Seltsam, gestern waren noch drei Brötchen in der Brottüte gewesen, das war ihr aufgefallen, als sie die Küche aufräumte, bevor sie zu ihrem Termin beim Arzt fuhr. Hatte Jason die alle gegessen?
Sie ging zur Hintertür und drehte am Knauf – es war abgeschlossen. Nicht, daß eine verschlossene Tür schon ein Beweis gewesen wäre: dieses Kind schien sich besser im Haus auszukennen als sie und Jason. Paige wanderte suchend umher: Sie schaute auf dem Speicher, im Keller, in den Schränken, Regalen, in jedem Spalt und selbst unter den Betten nach... Froh, daß sich niemand im Haus versteckt hielt, drehte sie eine zweite Runde und verriegelte dieses Mal alle Türen und Fenster.
Schließlich holte sie die Kühltasche aus der Armeekiste in einem der oberen Schlafzimmer und trug sie in die Küche. Na, Paige, wie wär’s mit einem einsamen Barbecue mitten im Oktober? Zieh dich warm an und nimm dir was zum Lesen mit. Sie hielt einen Moment inne, als ihr die Beule auf ihrem Kopf einfiel, ging dann entschlossen zum Wandschrank auf dem Gang und holte ihren Tennisschläger heraus. Eine kleine Schutzmaßnahme wäre vielleicht nicht so schlecht.
Sie wartete noch bis ein Uhr, verließ dann das Haus und bezog Posten unter einer Trauerweide, die ungefähr fünfunddreißig Meter vom Fluß entfernt stand, an einer Stelle, wo die Bäume und Büsche noch genügend Sonne durchließen. Und obwohl sie nur eine mittelmäßige bis schreckliche Köchin war – Jason war auf dem Gebiet viel besser als sie –, hatte sie sich die Mühe gemacht, einen Kartoffelsalat zuzubereiten. Als jetzt die Kohlen auf dem kleinen tragbaren Grill, den sie mitgebracht hatte, weiß zu glühen begannen, legte Paige zwei Frankfurter Würstchen auf den Rost.
Sie schob ihre Sonnenbrille auf den Nasenrücken, legte sich auf die Decke und schlug ihr Taschenbuch auf...
Erschrocken fuhr sie hoch, weil sie nicht einmal das leiseste Rascheln der Blätter gehört hatte... nur eine flüchtige Bewegung, die einen Schatten auf ihr Buch warf, hatte sie aufmerken lassen. Sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um die bloße rechte Hand zu sehen, die erst das eine, dann das andere Frankfurter Würstchen vom Rost holte.
»Paß auf!« rief Paige noch im Aufstehen.
Das Mädchen lief wieder in den Wald zurück, und obwohl Paige ihm instinktiv hinterherlaufen wollte, blieb sie nach wenigen Schritten wieder stehen: das würde ihr nur noch mehr Angst einjagen. Unter einem Baum stehend, lauschte sie in den Wald hinein: Es war nichts zu hören. Das Mädchen – groß, mager, vielleicht zehn, elf Jahre alt – war auch stehengeblieben und spitzte mit Sicherheit ebenfalls die Ohren.
»Ich heiße Paige«, sagte sie schließlich. »Paige Bennett. Und ich wollte dich nicht erschrecken. Du hast mich nur überrascht, und ich hatte Angst, daß du dich an dem Grill verbrennen könntest.« Nach einer Weile fragte sie: »Hast du dich verbrannt?«
Sie wartete: nichts.
»Die Hot Dogs waren ohnehin für dich gedacht, wenigstens einer davon. Aber wenn du beide willst, kein Problem. Ich kann mir vorstellen, daß du ziemlich hungrig sein mußt, wenn du hier draußen lebst.«
Es war immer noch nichts zu hören. Paige wartete weiter, wurde aber plötzlich von einem unheimlichen Gefühl beschlichen und kehrte deshalb wieder auf ihre Decke zurück. Ihre Kehle war ausgetrocknet – sie mußte sich räuspern, als sie die Hand ausstreckte und sie fest um den Griff des Tennisschlägers schloß.
»Ich hatte eigentlich die Absicht, ein kleines Picknick zu veranstalten. Hast du schon mal an einem teilgenommen? Ich dachte mir, das ist vielleicht eine ganz gute Gelegenheit, sich näher kennenzulernen, weißt du – alles mögliche zu essen und ein kleines Schwätzchen von Frau zu Frau.« Sie ließ den Tennisschläger los, griff statt dessen nach der Kühltasche und machte den Reißverschluß auf. »Mal sehen, ich habe Kartoffelsalat, kaltes Root Beer, Obst und jede Menge Erdnußbuttersandwiches mitgebracht.«
Nach einer längeren Pause fuhr sie fort: »Du denkst jetzt bestimmt, daß ich aufdringlich bin, hmm? Das liegt wahrscheinlich daran, daß ich wirklich ein bißchen verzweifelt bin. Du mußt nämlich wissen, daß ich neu hier in der Gegend bin und noch keine Freunde habe – das heißt, bis auf Jason natürlich. Aber das ist mein Mann, und er ist fast jeden Tag in der Stadt, so daß ich dauernd allein bin. Außerdem hatte ich mir eher eine richtige Freundin vorgestellt, ich habe nämlich keine.«
Paige seufzte. »Jetzt denkst du bestimmt: ›Du meine Güte, was redet die denn alles daher!‹ Habe ich recht?«
Sie blieb noch eine Viertelstunde ruhig sitzen. Schließlich stand sie auf, leerte den Grill, häufte Erde über die noch glimmende Glut und trat sie zusätzlich mit den Sohlen ihrer Turnschuhe aus.
»Ich wünschte, du würdest mir ein wenig vertrauen«, sagte Paige, als sie die Decke zusammenlegte und sich die Henkel der Kühltasche über einen Arm hängte. »Sicher, ich bin eine Fremde für dich, vielleicht ist es noch zu früh und zuviel verlangt... Aber wenn du aus deinem Versteck kommen und mit mir reden würdest, dann verspreche ich dir, daß ich dich zu nichts drängen werde, was du nicht tun willst.«
Immer noch nichts. »Na ja, dann lasse ich dich jetzt wieder allein und gehe ins Haus zurück... aber falls du deine Meinung doch noch ändern solltest, dann weißt du ja, wo du mich findest. Ich meine, du kannst jederzeit vorbeikommen. Klopf einfach an die Tür oder läute...«
Beide Arme schwer beladen, schlug Paige den Rückweg zum Haus ein; sie war erst ein paar Schritte weit gekommen, als sie fühlte, wie von hinten jemand an der Tasche mit dem Essen zerrte und wie sich zwei starke Arme um ihre Knöchel legten... Sie stolperte – Grill, Decke, Tennisschläger und Tasche fielen ihr herunter, als sie die Arme nach vorn riß, um sich irgendwo abzustützen. Ihre Hände fanden schließlich Halt an einem Baum, der einen Sturz verhinderte.
Sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie das Mädchen die Tasche hochheben wollte. Ohne lange zu überlegen, beugte Paige sich vor, schnappte sich die Tasche, riß sie dem Kind aus der Hand und schleuderte sie in den Wald. Dann packte sie das Mädchen am Arm und zog sie zu sich her: Zwei blaue Augen starrten sie an, die so dunkel waren, daß Paige völlig fasziniert das Mädchen beinahe wieder losgelassen hätte.
Aber sie ließ die Kleine nicht los, sondern erwiderte fest ihren Blick und betrachtete dabei das übrige Gesicht des Mädchens – seine feingeschnittenen Züge waren so verzerrt, daß die angespannte Haut jeden Augenblick wie Pergament zu zerreißen schien. Und dann dieser Schmutz. Paige hatte noch nie ein so verdrecktes Wesen gesehen, selbst die geschwungenen Augenbrauen des Kindes starrten vor Schmutz, auch sein langes Haar, das mit einem Gummiband zurückgebunden war und in einem verfilzten Zopf über seinen Rücken fiel.
»Was soll das«, sagte Paige. »Warum hast du das getan, ich hätte hinfallen können. Ich hätte dir doch etwas zu essen gegeben, wenn du mich darum gebeten hättest!«
Schweigend wurde sie angestarrt.
»Sag doch etwas.«
Die Kleine riß sich los und trat wild um sich – ihr zerfetzter Turnschuh traf zweimal Paiges Bein –, aber Paige wich den Tritten und Boxhieben aus, schaffte es sogar, hinter das Mädchen zu kommen, und umklammerte mit aller Kraft ihre kleinen Hände. Sie ließ die Picknickausrüstung liegen, wo sie war, und steuerte das Haus an, wobei sie weiterhin ihre ganze Kraft aufbringen mußte, damit die Kleine sich nicht wieder losriß.
Fünfzehn Minuten später und keine sechs Meter von der Hintertür entfernt, blieb sie völlig außer Atem stehen und schaute das Mädchen an.
»Ich habe jetzt schon mein Wort gebrochen, stimmt’s?«
Keine Antwort.
»Ich habe gesagt, ich würde dich zu nichts zwingen, und jetzt schleppe ich dich wie eine Jagdbeute hinter mir her. So bitter nötig werde ich es ja wohl kaum haben, eine Freundin zu finden, oder? Außerdem hast du gewonnen, mir reicht es. Du bist so stark wie eine Wildkatze, und ich bin müde. Kaum zu glauben, nicht wahr? Ich bin richtig erschöpft. Na gut, wenn du Hunger bekommst, das Essen liegt dort, wo ich es hingeworfen habe. Das findest du bestimmt wieder – das heißt, falls du nicht lieber mit mir ins Haus kommen und an einem Tisch essen willst.«
Paige ließ die kleinen Hände los – das Kind blieb stehen und schaute ihr hinterher, als sie sich umdrehte und ins Haus ging.
Sie hatte nicht übertrieben, als sie sagte, daß sie müde sei. Obwohl ihr eigentlich klar war, daß sie den Sheriff anrufen und ihn bitten mußte, zu ihr zu kommen, das Kind zu suchen und es in seine Obhut zu nehmen, ließ sie es sein. Was konnten ein paar Stunden mehr oder weniger schon schaden? Paige stieg die Stufen zum Schlafzimmer hinauf und ließ sich auf das Bett fallen. Aber irgendwann mußte sie es melden, da blieb ihr gar nichts anderes übrig. Sollte sie vielleicht weiter Katz und Maus mit einem verängstigten kleinen Mädchen spielen, das draußen auf ihrem Grundstück herumlief?
Bald würde es kalt werden, viel zu kalt, und solange die Kleine nicht wieder einen Weg ins Haus fand... Außerdem mußte das Mädchen ja irgendwo hingehören, irgend jemand mußte sie doch vermissen... Ganz ruhig, Paige, was ist nur in dich gefahren? Warum machst du dir solche Sorgen, du mußt doch nur die Behörden informieren? Bald würde sie alle Hände voll zu tun haben, sich um ihr eigenes Kind zu kümmern... Und wenn sie etwas bei ihrer Arbeit mit Kindern gelernt hatte, dann, wie schwierig sie manchmal sein konnten. War sie selbst nicht einmal von zu Hause weggerannt? Aber damals war sie viel jünger gewesen, wahrscheinlich war sie einfach zu weit weggelaufen ... und wie üblich hatte ihre Mutter nicht auf sie aufgepaßt.
Sie mußte schon länger wachgelegen haben, aber ihre Augen waren noch geschlossen, und in ihrem Kopf spukten unzusammenhängende Gedankenfetzen umher, als sie plötzlich etwas spürte oder hörte – sie war sich ihrer Wahrnehmungen nicht sicher. Paige schlug die Augen auf: Da stand das Kind, mit dem Rücken zur Schlafzimmerwand, und beobachtete sie... Wie lange hatte es schon dagestanden? Und alle Türen und Fenster waren verriegelt, wie war es nur ins Haus gekommen? Langsam, ganz langsam, beweg dich nicht zu schnell, sag nichts Falsches oder sprich nicht zu laut. Mach ihr keine Angst.
Langsam und geräuschlos richtete sie sich im Bett auf, zog die Beine an den Körper und überkreuzte sie im Schneidersitz, was ihr allmählich große Schwierigkeiten bereitete.
»Es wird immer schwieriger für mich«, sagte sie und deutete auf ihren gewölbten Bauch. »Der kleine Mensch hier drin scheint mir allmählich in die Quere zu kommen.«
Paige bekam keine Antwort, als sie auf die Uhr und dann wieder auf das Mädchen schaute.
»Ich muß wirklich müde gewesen sein, ich habe fast zwei Stunden geschlafen. Wie lange bist du denn schon hier?«
Paige stand auf, ging ins Badezimmer und auf die Toilette, wusch sich die Hände und kam wieder heraus. Das Kind stand immer noch auf demselben Fleck. »Ich gehe jetzt nach unten und mache das Abendessen«, sagte Paige. »Möchtest du mitkommen?« Sie wartete nicht lange eine Antwort ab, sondern ging einfach voraus; dabei bemerkte sie, daß ihre verängstigte Besucherin ihr im Abstand von zehn Sekunden folgte.
In der Küche ging sie zum Kühlschrank, holte frisches Gemüse heraus, ging damit zum Spülbecken und wusch sich noch mal die Hände.
»Möchtest du dir auch die Hände waschen?«
Statt einer Antwort rannte das Kind zu ihr und griff sich eine rohe Karotte von der Küchentheke. Paige packte das Mädchen an der Hand, als es wieder zurückweichen wollte.
»Warte, die Karotte ist doch noch voller Erde, ich will sie erst abschaben.« Behutsam löste sie die Finger, die um das Gemüse verkrampft waren, und in dem Augenblick fielen ihr die Blasen am rechten Daumen und auf der Handfläche auf.
Oh, Mist...
Nachdem Paige das Mädchen lange bedrängt hatte, erlaubte es ihr, daß sie seine Hand wusch, die Brandblasen mit einer antibiotischen Salbe bestrich und einen Verband anlegte. Obwohl sie sich weigerte, sich weiter säubern zu lassen, trottete sie Paige jedoch ins Bad hinterher, setzte sich dort auf den Deckel der Toilette und schaute ihr beim Duschen zu.
»Als ich noch klein war«, erzählte Paige hinter der Glastür der Duschkabine, »noch viel jünger, als du jetzt bist, habe ich immer gerne zugesehen, wenn meine Mutter sich zum Ausgehen fein gemacht hat – wenn sie sich geduscht, Make-up aufgelegt, die Fingernägel lackiert und sich angezogen hat, das ganze Drum und Dran eben. Ich habe es zwar gehaßt, wenn sie mich allein ließ, aber irgendwie habe ich verstanden, daß sie sich schick machen und an schicke Orte gehen wollte. Wir waren arm, so arm, daß unser Bauch oft leer war und vor Hunger weh tat.«
Paige trat aus der Dusche, schlang ein Handtuch um ihren Körper und wickelte ein zweites wie einen Turban um ihren Kopf.
»Ich vertraue dir so viele Dinge über mich an, und dabei hast du mir noch nicht einmal deinen Namen genannt. Ich will mich ja nicht beschweren...« Sie zuckte die Schultern. »Du hast bestimmt gleich gemerkt, daß das gelogen war. Okay, ein bißchen will ich mich schon beschweren, du mußt ja nicht hinhören.«
Zum Abendessen gab es Salat und Spaghetti mit einer Fertigsauce. Es war schon nach sechs Uhr, als das Mädchen zu Ende aß, den Teller in die Hand nahm und ihn sauber ableckte – nichts als Effekthascherei in Paiges Augen; doch immerhin ließ sie sich auf ihr heftiges Drängen dazu überreden, sich mit einer Serviette wenigstens Mund und Kinn zu säubern. Schließlich zog Paige ihren Stuhl näher heran und beugte sich zu dem Mädchen vor.
»Um dir die Wahrheit zu sagen, ich muß herausfinden, wer du bist. Ich meine, ich muß das nicht unbedingt wissen, aber die Polizei. Weißt du, es wäre einfach falsch, wenn ich gar nichts machte. Es gibt bestimmt Leute, die verzweifelt überall nach dir suchen – deine Mom, dein Dad?«
Das Kind preßte die Augen fest zusammen, hielt sich die Ohren zu und weigerte sich, ihr zuzuhören. Paige ließ ein paar Minuten verstreichen, ehe sie ihre Hände löste.
»Na, dann eben irgend jemand anders. Du mußt doch zu jemandem gehören. Hör mal, du brauchst dir keine Sorgen zu machen – natürlich müssen wir deine Familie finden, aber das heißt noch lange nicht, daß du auch wieder dorthin zurück mußt. Nicht, wenn irgendwelche Gründe dagegen sprechen. Es gibt Gesetze zum Schutz von Kindern, man wird dir die Entscheidung überlassen. Bitte, vertrau mir.« Das Kind, das startbereit ganz vorn auf der Stuhlkante saß, sah zu, wie Paige aufstand und zu dem Telefon an der Küchenwand ging. Würde die Kleine davonlaufen? War es dumm gewesen, sie zu warnen?
Vielleicht... aber Paige war trotzdem nicht auf das vorbereitet, was geschah, als sie zum Telefonhörer griff. Das Kind sprang vom Stuhl hoch, warf sich auf den Boden und umklammerte mit beiden Armen fest Paiges Beine.
Paige ließ den Hörer fallen, sank auf die Knie und versuchte, die Hände des Kindes unter Kontrolle zu bringen, die wie wild um sich schlugen und sich mindestens verdoppelt zu haben schienen.
»Hör auf! Ich sagte, hör auf damit!«
Als es des Spielchens überdrüssig wurde, ließ das Mädchen los.
»Ich kann dich nicht hierbehalten, das ist nicht so einfach, es gibt Gesetze, und ich muß mich nach ihnen richten.«
Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen, und obwohl sich Paige noch nie zuvor von den Problemen oder Tränen eines ihrer Schüler emotional hatte einfangen lassen, fühlte sie dieses Mal ein so schmerzhaftes Ziehen in der Brust, daß sie es kaum ertragen konnte. Sie streckte die Arme aus, und das Mädchen schmiegte sich an sie, vergrub seinen Kopf an Paiges Brust, fester und fester, als versuchte es, in Paige hineinzukriechen. Dabei murmelte es etwas vor sich hin... Nach ein paar Minuten ließ Paige die Kleine los, holte ein Frotteetuch und wischte mit einem Zipfel die Tränen und den Schmutz aus dem Gesicht des Kindes.
»Und jetzt sag das noch mal, damit ich es auch verstehen kann.«
»Wer etwas findet, darf es behalten«, sagte das Mädchen.
Wer etwas findet, darf es behalten; der Verlierer hat das Nachsehen: Paige fiel der kleine Spottvers aus ihrer eigenen Kindheit wieder ein. Die Kleine meinte damit, daß Paige sie gefunden hatte und deshalb auch behalten durfte. Sie schaute in diese weitaufgerissenen blauen Augen, und ihr Herz schmerzte.
»Hallo, hier Vermittlung, kann ich Ihnen helfen?«
Paige betrachtete seufzend den Telefonhörer, der an einer gedrehten Schnur hing und hin und her baumelte; im Aufstehen nahm sie ihn hoch und legte ihn wieder auf die Gabel.
Paige stellte dem Mädchen einige Fragen, die sie alle nicht beantwortete, nur ihren Namen nannte sie – Lily. Als Jason gegen neun Uhr nach Hause kam, hatte Paige das leere Schlafzimmer neben dem ihren hergerichtet, Lily ein Nachthemd gegeben und sie ins Bett gebracht. Aber erst als Jason zu Abend gegessen hatte, rückte sie mit ihrer Neuigkeit heraus.
»Es gibt etwas –«
»Hey, was hältst du davon, wenn ich an einem der kommenden Wochenenden ein paar Tomaten kaufe, ganz frisch vom Stock, dazu etwas frischen Knoblauch, und einen ganzen Topf Spaghettisauce koche«, sagte er. »Vielleicht an dem Wochenende, wenn Brooke und Gary kommen –«
»Okay.«
»Nicht, daß das hier nicht gut geschmeckt hätte, aber –«
»Bitte, Jason, Fertigsaucen machen nun mal keine großen Umstände, und hausgemacht klingt wirklich sehr verlockend, aber würdest du mir jetzt bitte mal zuhören?«
»Entschuldige, rede weiter.«
»Sie ist hier, Jason. Sie ist von sich aus gekommen. Natürlich bin ich heute nachmittag in den Wald, um sie zu suchen – ich dachte eigentlich, sie würde freiwillig mitkommen –, aber sie hat sich zuerst gewehrt, und so habe ich –«
Er ließ die Gabel sinken und hob die Hände.
»Hey, warte, ganz langsam. Redest du von dem Kind auf dem Dachboden?«
Paige nickte. »Genau von dem. Es ist ein Mädchen und heißt Lily und hat die dunkelblausten Augen, die ich je gesehen habe. Und sie hat etwas an sich, Jason, etwas so Verletzliches.«
Er schaute sich suchend in der Küche um, wippte mit dem Stuhl und warf einen Blick ins Wohnzimmer.
»Okay, ich gebe es auf. Wo ist sie?«
»Momentan schläft sie in dem leeren Zimmer neben dem unseren. Ich hätte ja gerne gehabt, daß du sie noch siehst, aber sie konnte kaum mehr die Augen offenhalten. Da dachte ich mir, daß du sie morgen auch noch kennenlernen kannst.«
Er schüttelte den Kopf, als wollte er seine Gedanken zurechtrücken.
»Fang noch mal von vorn an. Wie ist das alles passiert?«
»Nun, das ist etwas kompliziert. Man könnte sagen, wir sind schnell Freunde geworden.«
»Woher kommt sie?«
»Das weiß ich nicht.«
Er nahm seine Serviette vom Schoß und warf sie auf den Teller. »So übereilt getroffene Freundschaften sind oft nicht die besten. Und was hat der Sheriff gesagt?«
»Nichts.«
»Wie, nichts?«
»Nun, wie ich schon sagte, die Sache ist etwas kompliziert. Ich hatte den Eindruck, daß die Kleine nicht unbedingt gefunden werden will, falls jemand nach ihr sucht. Es könnte sich eventuell um einen Fall von Kindesmißhandlung handeln. Ich halte das sogar für sehr wahrscheinlich.«
Feine Linien huschten über Jasons Stirn, um gleich darauf wieder zu verschwinden. »Du hast den Sheriff gar nicht angerufen, habe ich recht?«
Sie nickte.
Er stand auf, ging zum Telefon und nahm den Hörer; sie folgte ihm, griff über seine Schulter hinweg und legte den Hörer wieder auf die Gabel.
»Warte damit noch, bitte. Was kann ein einziger Tag schon ausmachen? Außerdem ist mir nicht aufgefallen, daß der Sheriff sich besonders besorgt gezeigt hätte; er hätte ja auch von sich aus heute zurückkommen und sich erkundigen können, ob sie wieder aufgetaucht ist.« Paige nahm Jason bei der Hand. »Komm mit nach oben und schau sie dir an.«
»Was gibt es da groß zu sehen?«
»Bitte, komm doch mit.«
Sie hatte ein kleines Licht brennen lassen, und so sahen sie sofort, daß das Bett leer war.
»Großartig«, meinte er und wollte wieder hinausgehen. »Warte, psst«, sagte sie und legte ihre Finger auf die Lippen. »Schau.« Sie deutete in die Ecke, aus der sie ein Geräusch gehört hatte. Lily hatte sich dort zu einer Kugel zusammengerollt – das heißt, nur ein dünnes Bein ragte aus dem Knäuel heraus und wischte wie der Zeiger einer Uhr über den Boden.
Leise gingen sie näher heran – Paige nahm die Steppdecke vom Bett und deckte das Kind damit zu. Sie erinnerte sich vage, daß sie als Kind auch mal auf dem Boden geschlafen hatte. In einem winzigen Zimmer und auf einem sehr harten Fußboden... Das war alles, woran sie sich noch erinnern konnte.
»Was ist mit ihrer Hand?« flüsterte Jason.
»Sie hat sich verbrannt.«
»Wie ist das passiert?«
»Bei dem Picknick. Sie hat die Hot Dogs vom Grill genommen.«
»Mit der bloßen Hand?«
Seufzend nickte sie.
»Himmel, ist sie schmutzig.«
»Morgen.«
»Was –«
»Psst.«
Sie nahm ihn am Arm und führte ihn wieder aus dem Zimmer.
»Was ist mit morgen?« wollte er wissen, sobald sie im Gang draußen waren.
»Nichts. Aber vielleicht hat sie dann genügend Vertrauen zu mir, daß ich sie baden kann.«
»Und wenn nicht?«
»Ich weiß nicht, dann wird sie eben noch einen Tag so schmutzig bleiben.«
»Stammt diese Therapie aus einem deiner alten Lehrbücher über Wasserphobien?«
»Haha, ich sterbe vor Lachen.« Sie ging in ihr Schlafzimmer, und Jason folgte ihr.
»Was geht hier eigentlich vor? Täusche ich mich, oder willst du mir jetzt gleich vorschlagen, daß wir dieses Kind behalten sollen?«
»Ich will nichts dergleichen vorschlagen. Aber was können ein paar Tage schon –«
»Halt, warte. Morgen werde ich den Sheriff anrufen, ohne jedes Wenn und Aber. Denn wenn wir es nicht tun, machen wir uns eventuell zu Komplizen eines jugendlichen Straffälligen, das ist ein Vergehen.«
Sie schaltete das Licht im Schlafzimmer an.
»Damit habe ich kein Problem, so weit kann ich auch noch denken.« Sie legte die Hände in einer beschützenden Geste über ihren Bauch. »Schließlich haben wir bald ein eigenes Kind. Aber wer weiß, vielleicht brauchen sie ja jemanden, der eine Zeitlang auf sie aufpaßt, während die Polizei versucht, ihre Eltern oder einen Vormund aufzutreiben.«
»Aus diesem Grund gibt es doch Kinderheime. Warum sollten unsere schwerverdienten Dollars für etwas verpulvert werden, das dann nie zum Einsatz kommt?«
Sie drehte sich um, zog ihre Bluse, ihren Büstenhalter aus und durchwühlte die Schublade ihrer Wäschekommode, bis sie einen Pyjama gefunden hatte. Jason stellte sich hinter sie und streichelte über ihre nackten Schultern und ihren Nacken.
»Na gut, Paige, dann hast du eben eine Schwäche für das Kind, das ist doch kein Problem. Aber du darfst auf keinen Fall vergessen, wie wichtig es ist, daß du dich nicht aufregst, damit dein Blutdruck nicht wieder steigt.«
Sie nickte. »Du hast ja recht, das weiß ich. Vor ein paar Minuten habe ich selbst noch darüber nachgedacht, wie schwierig Kinder oft sein können, besonders in ihrem Alter.«
»Und besonders solche, die aus einer kaputten Umgebung stammen, aus einer Welt, die sie dazu zwingt, davonzulaufen, sich etwas zu essen zu stehlen, in fremde Häuser einzubrechen und auf Fußböden zu schlafen.«
»Das mußt du mir gar nicht erst sagen. Mir ist schon klar, um was für ein emotional gestörtes Kind es sich hier handelt.«
»Sicher, du hast an der Schule mit solchen Kindern zu tun gehabt, aber nur in deiner Eigenschaft als Lehrerin und nur in einer Umgebung, die darauf spezialisiert war, unterstützt von einem ausgeklügelten System, das nur dazu da war, das Kind im Gleichgewicht zu halten. Und wenn die Stunde aus war und es geläutet hat, konntest du gehen. Du solltest dir jetzt nicht auch noch diese Last zumuten, Liebling, vor allem nicht in deinem momentanen Zustand, der nicht sehr stabil ist. Deine erste Sorge muß unserem eigenen Kind gelten. Komm, laß mich mit ihm reden.« Er legte die Arme um sie und fuhr mit den Händen liebevoll über ihren Bauch.
Sie konnte spüren, wie sie allmählich lockerer wurde. »Hör auf, es immer als er zu bezeichnen«, sagte sie schließlich.
»Er, sie, egal. Aber leg das da weg, ja?« Er nahm ihr den Pyjama aus der Hand, warf ihn zu Boden, drehte sie zu sich herum und wollte gerade ihre Brust streicheln, als er abrupt innehielt.
»Was ist das?« fragte er.
Sie schaute an sich hinab und entdeckte ein großes dunkelrotes Mal auf ihrer Brust. »Sieht aus, als ob ich mich gestoßen hätte.«
»War ich das?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wie ist das dann –«
»Ich weiß nicht.« Bevor er noch mehr sagen oder tun konnte, bückte sie sich nach dem Pyjamaoberteil, zog es an und stellte sich ein paar Schritte weiter weg. »Ich war gestern übrigens beim Arzt. Bei der ganzen Aufregung gestern abend bin ich noch gar nicht dazu gekommen, dir davon zu erzählen.«
Er reagierte nicht gleich darauf, sondern ging erst zum Schrank, wo er mit einer Hand das Hemd aufknöpfte und seine Krawatte lockerte.
»Ach ja, das habe ich selbst ganz vergessen. Und, was hat er gesagt?«
»Es ist alles in Ordnung, nur mein Blutdruck ist noch etwas zu hoch. Jason, ich habe mit ihm über unser... über mein Problem gesprochen.«
Jason zerrte an seiner Krawatte, bis sie unter seinem Hemdkragen hervorschlüpfte; er hängte sie an ihren Platz innen an der Schranktür, drehte sich um und schaute sie fragend an.
Sie hob entschuldigend die Hände. »Du weißt schon. Mein plötzliches Desinteresse an Sex.«
»Du hast mit ihm über uns gesprochen?«
»Eigentlich habe ich über mich, nicht über dich gesprochen. Der Arzt meinte, daß es nicht ungewöhnlich für schwangere Frauen ist, so eine Phase durchzumachen, in der sie sich nicht gerade sexy fühlen.« .
»Und was hat das zu bedeuten?«
»Daß alles wieder normal werden wird, sobald ich das Kind bekommen habe.«
»Ich verstehe. Na, wenn er das sagt...«
»Was soll das, glaubst du das etwa nicht?«
»Ich weiß nicht, was ich zur Zeit noch glauben soll, Paige.
Ich weiß nur, daß du erst seit diesem Überfall so bist.« Er musterte sie einen Augenblick und sagte dann: »Paige, hat dir dieser Mistkerl mehr angetan, als du mir erzählt hast?«
»Nein, Jason! Wie kommst du nur darauf, daß ich dich deswegen anlügen könnte?«
Er schüttelte den Kopf. »Vergiß, was ich gesagt habe.«
»Scheiße, Pisse, Abschaum, Arschloch, Scheißkerl, Nutte... Scheiße, Pisse, Abschaum, Scheißkerl, Nutte –« Die zarte Stimme des kleinen Mädchens drang unter der Bettdecke hervor; offensichtlich waren diese Worte nur für ihre Ohren bestimmt. Paige schlich auf Zehenspitzen leise von der Tür weg; Lily mußte ja nicht unbedingt wissen, daß sie das gehört hatte.
Sie war wieder auf der Toilette gewesen, das zweite Mal in dieser Nacht. Als sie ins Schlafzimmer zurückkam, hatte Jason das ganze Bett mit Beschlag belegt. Vorsichtig schob sie erst seinen Arm, dann sein Bein zur Seite – er grunzte freundlich, als sie seine Gliedmaßen dazu zwang, auf seiner Seite der Matratze zu bleiben – und legte sich neben ihn. Als sie den Kopf auf das Kissen bettete, spürte sie einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust.
Ihre Brüste waren extrem empfindlich, wie es während einer Schwangerschaft normal war. Lily hatte es ganz bestimmt nicht böse gemeint, als sie Paige so heftig umarmt und ihren Kopf so fest gegen sie gedrückt hatte, daß sie ihr einen blauen Fleck gemacht hatte. Aber angesichts Jasons Einstellung Lilys Anwesenheit im Haus gegenüber bezweifelte sie, daß er die. Sache so leicht nehmen würde.
Doch im Grunde genommen hatte Jason recht. Selbst für kurze Zeit – und mehr stellte Paige sich auch nicht vor – würde Lily viel Zeit und Geduld erfordern, vielleicht mehr, als sie zu geben bereit war. Kinder, die große emotionale Probleme hatten, konnten oft sehr besitzergreifend sein; man mußte seine ganze Energie aufbringen, und selbst dann drang man manchmal immer noch nicht zu ihnen durch... Ihrem Vokabular nach zu urteilen mußte Lily sehr viel Wut mit sich herumschleppen.