Читать книгу Dachbodengeflüster / Stimme des Blutes - Gloria Murphy - Страница 8
KAPITEL 1
ОглавлениеWäre Paige – im zweiten Monat schwanger – nicht weniger als fünfzig Meter entfernt von ihrer Wohnung in Manhattan überfallen worden, wären sie nie auf die Idee gekommen, den Winter in Briarwood zu verbringen. Das Gebäude, in dem sich ihre Eigentumswohnung befand, war keine drei Straßen östlich vom Central Park gelegen; immer noch eine gute Wohngegend, wie ihre beste Freundin Brooke meinte. Aber für Paige schien es in der ganzen Stadt keinen sicheren Ort mehr zu geben. Und obwohl sie sich nicht zum ersten Mal mit Gewalt und Aggression konfrontiert sah – ihre Tätigkeit als Sonderschullehrerin an fünf Grundschulen im Distrikt erforderte es, daß sie oft in übelbeleumundeten Vierteln unterwegs war –, wurde sie schlagartig von Panik erfaßt, als sie die Stahlklinge aus dem Ärmel des Jungen hervorblitzen sah.
Sie schrie, trat um sich, schlug mit ihrer Handtasche nach ihm und reagierte genau so, wie ein Opfer in ihrer Lage den Ratschlägen der Polizei zufolge nie reagieren sollte. Aber sie überraschte ihn mit ihrem Verhalten immerhin so, daß er davonrannte und sie unverletzt entkam; sie zog sich nur einen oberflächlichen Schnitt an der rechten Schulter und beim Sturz auf den Marmorfußboden des rettenden Hauseingangs ein paar Schürfwunden und Kratzer an den Knien zu.
Doch die richtige Angst kam erst später, als ihr klar wurde, wie nahe daran sie gewesen war, auch dieses Kind zu verlieren; das Ergebnis waren Schlaflosigkeit, Alpträume, viel zu hoher Blutdruck und eine Schreckhaftigkeit, die täglich neue Nahrung erhielt durch die Horrorgeschichten, die sich überall in der Stadt ereigneten. Es war schließlich Dr. Lucas, ihr Frauenarzt, der sie dazu drängte, etwas dagegen zu unternehmen. »Tun Sie, was immer Sie tun müssen, um diese Belastung loszuwerden«, erklärte er ihr. »Aber wenn Sie so weitermachen, riskieren Sie nur eine Fehlgeburt.«
Inzwischen waren mehrere Monate vergangen; an einem Freitag nachmittag saß sie nun im Wagen und schaute aus dem Fenster, als sie gerade auf die Route 9 einbogen, die Straße, die den Hudson River entlang nordwärts zu ihrem Haus auf dem Land führte. Jason hatte es geschafft, sich noch rechtzeitig aus dem Büro davonzumachen, damit sie wenigstens nicht in den dicksten Verkehr kamen. Paige, die bei ihrer Größe von einem Meter siebzig zum Glück nicht sehr viel zugenommen hatte – was Jason zu verdanken war, der sehr darauf achtete, daß sie keine überflüssigen Kalorien zu sich nahm –, ließ sich in den weichen, ledergepolsterten Schalensitz zurücksinken, erleichtert, daß sie der Stadt wenigstens für eine Weile entronnen war.
»Ich fühle mich, als ob mein Blutdruck gerade um zehn Punkte gefallen wäre.«
»Schön... hoffen wir, daß der Arzt das auch bestätigen kann«, sagte Jason und setzte sich eine Kappe mit grünem Schirm auf sein widerspenstiges, kupferrotes Haar. »Du hast dich mit dem Arzt, den Dr. Lucas dir genannt hat, noch nicht in Verbindung gesetzt, oder?«
»Das eilt doch nicht so... aber wenn du willst, mache ich es gleich morgen.« Manchmal neigte Jason schon sehr dazu, sie herumzudirigieren, aber Paige sah stillschweigend darüber hinweg... denn viel wichtiger war es, daß er einen aufmerksamen, ausgeglichenen, hilfsbereiten und verläßlichen Charakter hatte – alles Qualitäten, auf die Paige während ihrer chaotischen Kindheit verzichten mußte, in der ihre ganze Familie aus einer Mutter bestanden hatte, die sich nur dann um ihre Tochter kümmerte, wenn die Männer in ihrem Leben ihr Zeit dazu ließen. Jason war zuerst strikt gegen den Umzug gewesen, da er befürchtete, Paige könne außerhalb der Großstadt medizinisch nur unzulänglich versorgt werden. Aber Dr. Lucas’ Lobeshymnen auf das Gesundheitszentrum in Poughkeepsie, das nur zwanzig Minuten nördlich von Briarwood lag, ließen Jason schwankend werden. Die Tatsache, daß der hochqualifizierte Chefgynäkologe des Zentrums, Milton Barry, ein früherer Klassenkamerad von Jason war und sich – auf dessen Nachfrage hin – nur allzugern bereit erklärte, Paige als Privatpatientin aufzunehmen, überzeugte ihn schließlich doch. Aber eines machte Jason immer noch Sorgen, nämlich die siebzig Meilen, die er die nächsten fünf Monate nun zweimal täglich zur Arbeit und wieder zurück würde fahren müssen.
»Du wirst ziemlich einsam sein da draußen«, hatte er argumentiert. »Die meiste Zeit werde ich abends nicht vor acht Uhr nach Hause kommen... vielleicht wird es sogar neun werden, kommt ganz auf den Verkehr an.«
Obwohl sie mit ihren Nachbarn kaum Kontakt hatten – schließlich hatten sie sich von ihrem ländlichen Zufluchtsort in erster Linie Abgeschiedenheit und Ruhe ersehnt –, kannten sie vom Sehen ein paar der Leute in dem kleinen Ort. »Da sind immer noch die Beeders«, erinnerte Paige ihn. »Sie scheinen mir ein recht nettes junges Paar zu seift, sehr hilfsbereit... und sie wohnen schließlich nicht mehr als eine Viertelmeile die Straße hinunter. Wir müssen uns natürlich ein Telefon legen lassen, dann können wir noch einen Wagen für mich mieten, und das Krankenhaus ist ohnehin recht nah. Außerdem kommt es immer nur im Kino vor, daß das erste Kind so überstürzt zur Welt kommt.«
So hatte sie Jason schließlich davon überzeugt, daß dies der richtige Schritt, die einzig logische Entscheidung war. Doch in Wahrheit war sie sich dessen selbst nicht so sicher. Obwohl Paige die Sache herunterspielte, hatte sie es immer gehaßt, allein zu sein, solange sie zurückdenken konnte; ganz im Gegensatz zu Jason, der sehr introvertiert war und, wenn nötig, auf jegliche Gesellschaft verzichten konnte. Es würde nicht leicht werden, in dieser Zeit ohne Brooke zu sein, die ihr eine enge Freundin geworden war, seit sie sich vor fünf Jahren im Haus nebenan eine Wohnung gekauft hatte.
Aber mittlerweile war sie dreiunddreißig und Jason fast siebenunddreißig, und sie wünschten sich nichts sehnlicher, als endlich eine Familie zu gründen. Wenn dieser Schritt also notwendig war, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen, dann würde sie ihn tun.
Das Haus – zwei Wohnebenen, ein Keller, ein Dachboden und eine Veranda, die sich an drei Seiten des Hauses entlangzog – glich einer trägen alten Kuh mit chronischer Heiserkeit und war die Sorte Haus, an der ein Hobbyschreiner wie Jason ewig herumbasteln konnte. Das Schönste daran war das weitläufige Grundstück – elf Morgen Waldland, die sich bis an die grasbewachsenen Ufer des Hudson erstreckten. In dem Augenblick, als sie in die lange, ungepflasterte Auffahrt einbogen, die in einem Bogen auf das Haus zuführte, wußte Paige, daß dies doch die richtige Therapie für sie war.
»Schau dir nur den Garten an, Jason... dieses Laub«, sagte sie, als sie aus dem Wagen stieg. Ein plötzlicher Windstoß wirbelte die grellbunten Blätter auf und trug sie mit sich davon, während er gleichzeitig Paiges dickes, kastanienbraunes Haar um ihre Schultern wehte und es schließlich wie eine enge Kappe an ihren Kopf drückte. Mit den Fingerspitzen zupfte sie sich das Haar aus dem Gesicht und strich es sich hinter die Ohren. Obwohl ihr und Jason der Besitz schon fast zwei Jahre gehörte, waren sie bisher immer nur im Frühling und im Sommer hiergewesen – ganz selten im September oder gar im Oktober. Paige verschränkte die Arme vor der Brust, als sie trotz ihres dicken Wollpullovers ein Frösteln überlief.
»Wir hätten vielleicht jemanden wegen der Heizung herschicken sollen«, meinte sie.
Jason warf ihr über den geöffneten Kofferraumdeckel hinweg einen prüfenden Blick zu; seine Augen waren hinter dem glänzenden Schirm seiner Kappe verborgen. Er hob zwei schwere Lederkoffer aus dem Wagen und stellte sie neben sich ab.
»Der Gasmann war erst vor zwei Tagen hier. Die Heizung und der Wasserboiler sind in gutem Zustand. Gleich am Montag wird auch das Telefon angeschlossen. Und der nächste Autohändler unten an der Schnellstraße hat eine große Auswahl an Leihwagen. Wir fahren morgen hin, und du suchst dir aus, was dir gefällt... Was hältst du eigentlich von Eugene? Ein kraftvoller und doch einfacher Name.«
»Ich will ja deinem Vater nicht zu nahe treten, aber mit dieser Unsitte, Kinder nach Verwandten zu benennen, kann ich überhaupt nichts anfangen«, sagte Paige.
Eugene Bennett, ihr Schwiegervater, war noch bemerkenswert agil für seine fünfundsechzig Jahre und lenkte die Geschicke von Familie und Geschäft wie der Kapitän eines Schiffes. Als bettelarmer junger Mann, der überhaupt nichts vom Geschäft verstand, hatte der mittlerweile allseits respektierte Patriarch angefangen und es geschafft, seine Farm in eine der größten Viehranchen im ganzen südlichen Illinois zu verwandeln.
Gemeinsam mit seiner Frau Callah hatte er außerdem vier Söhne produziert, die, bis auf einen, Farmer wie er geworden waren. Jason, der Jüngste und Kleinste – scherzhaft als Schmächtigster im Wurf bezeichnet –, der im Alter von siebzehn Jahren doch noch zu einer Länge von einem Meter fünfundsiebzig aufgeschossen war, konnte größenmäßig aber noch lange nicht mit seinen Brüdern mithalten. Aber Jason war derjenige gewesen, der der familiären Ranch den Rücken gekehrt hatte und nach Osten gezogen war. Er war auch der einzige Bennett, der jemals über die High-School hinausgekommen war.
»So etwas nennt man Kontinuität«, erwiderte er.
»Was soll das denn sein?«
»Wenn man ein Kind nach den Großeltern benennt. Das ist eine Möglichkeit, die vorhergehende Generation am Leben zu erhalten, wenigstens in der Erinnerung.«
»Da man die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, nicht gerade als Familie bezeichnen kann, ist mir der Wirbel vielleicht etwas fremd, den man um Namen macht. Aber eigentlich war ich immer der Meinung, daß Kontinuität mehr mit der Stärke einer Bindung zu tun hat.«
»Da hast du wahrscheinlich auch recht.«
»Und übrigens hat dein Vater bereits einen Sohn, der seinen Namen trägt, und noch einen Enkel... Außerdem hat man ja noch die Möglichkeit, einen zweiten Vornamen zu geben, oder nicht? Ich habe mir eigentlich vorgestellt, daß wir unserem Kind einen eigenen Namen geben, der seine Psyche nicht von vornherein belastet.«
Jason zuckte mit den Achseln. »Okay, du hast mich überzeugt. Aber soll das heißen, daß auch Jason Junior nicht in Frage kommt?«
Eine schmerzhafte Grimasse verzog ihr Gesicht. »Das meinst du doch nicht im Ernst, oder?«
Er lachte laut auf; sie packte eine Handvoll Blätter und bewarf ihn damit. »Ich hatte übrigens einen Jungen namens Eugene in der Klasse, der die ganze Volksschulzeit über in der Bank vor mir saß.«
Er schüttelte die Blätter aus seinem Haar. »Und?«
»Er hat am liebsten Wörterbücher gelesen und Insekten verspeist.«
»Was für Insekten?«
»Alles, was daherkam.« Sie griff durch das hintere Wagenfenster und holte eine Tüte mit Thunfischsandwiches und Flaschen mit kalter Milch heraus, die sie auf Jasons Drängen hin in dem letzten, noch einigermaßen anständigen Restaurant an der Straße gekauft hatten. »Jason, du hattest völlig recht, etwas zum Essen zu kaufen. Ob du es glaubst oder nicht, aber ich habe schon wieder Hunger. Wann habe ich dir eigentlich zum letzten Mal gesagt, wie intelligent du bist?«
Er überlegte einen Moment, ließ den Kofferraumdeckel zufallen und steckte die Schlüssel in die Tasche.
»Das ist mindestens schon ein paar Wochen her.« Er klemmte sich einen Koffer unter den Arm, nahm die anderen beiden und hob seine beladenen Arme. »Gar nicht so übel für ein schmächtiges Bürschchen, hmm?«
»Du bist doch gar nicht mehr schmächtig, das warst du vielleicht als Kind mal.«
»Aber ich komme mir immer noch so vor; so etwas vergißt man nicht so schnell. Nicht nach dem, was ich mir früher immer alles anhören mußte.«
»Na, dann mußt du dich eben auf deinen Verstand konzentrieren, was außerdem viel mehr bringt.«
»Dann denkst du also auch, daß ich schmächtig bin?«
Sie lief zur Eingangstür voraus, öffnete ihre Tasche und kramte darin herum.
»Du hast mir noch nicht geantwortet«, sagte er, als er hinter ihr die Stufen zur Veranda hochkam, geduldig wartete und ihr schließlich seinen Schlüsselbund gab.
Sie nahm ihn, suchte einen langen, glatten Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloß.
»Was soll’s, du bist nun mal kein Hüne.«
»Nein?«
»Aber falls es dir hilft, für mich bist du in Ordnung, wie du bist. Du hast einen perfekten Körper. Ich möchte wetten, wenn deine Beine nur etwas länger wären, wärst du bestimmt einen Meter neunzig groß.«
»Das hast du von mir.«
»So, tatsächlich.« Sie drehte sich um und schaute ihm ins Gesicht. »Hör mal, meinst du, daß du Vaterschaftsurlaub nehmen und die ganze Zeit, bis das Baby kommt, hier oben bei mir bleiben könntest?«
»Was würden wir denn die ganze Zeit über machen?«
»Reden, essen, Scrabble spielen, Spazierengehen...«
»Bumsen?«
»Wahrscheinlich auch... wenn du das möchtest«, erwiderte sie, aber ihre Unbeschwertheit war plötzlich wie weggeblasen.
Sie wich seinem Blick aus, öffnete die Eingangstür und trat in eine Art Vorraum, hinter dem ein Raum lag, der die doppelte Größe ihres Wohnzimmers in der Stadt hatte. Mehr als fünfundfünfzig Quadratmeter Platz, und als Blickfang des Ganzen ein wunderbarer, hoch gemauerter Kamin, der eine ganze Wand einnahm.
Zur Linken lag eine Eßküche, von der aus man in den Keller und zur Hintertür gelangte. Obwohl es in der Küche zu wenig Arbeitsfläche und noch weniger Stauraum gab, liebte Paige den Eßbereich mit dem Erkerfenster, das hinaus in die Wälder hinter dem Haus blickte.
Das Haus war mit einer Mischung aus den verschiedensten Stilen eingerichtet, die größtenteils einer späten Speicher- beziehungsweise einer frühen Flohmarktperiode entstammten. Sehr viel Rohrmöbel, Messing und alte Bücher ohne Schutzumschläge, die auf Bücherregalen standen, die Jason selbst gebastelt hatte. Paige machte ein paar Schritte ins Wohnzimmer, bückte sich über den farbenprächtig gemusterten Teppich, hob etwas auf, machte einen weiteren Schritt und bückte sich wieder.
»Das gefällt mir aber gar nicht«, sagte sie.
»Was?« fragte er, als er das Gepäck abstellte.
Sie streckte eine Faust in die Höhe und öffnete sie, um Jason die Eicheln darin zu zeigen. »Eichhörnchen?«
Ihre Schlaflosigkeit blieb ihr auch in dieser Nacht noch erhalten; der Gedanke an trippelnde kleine Tiere, die frei in ihrem Haus herumliefen, ließ sie kein Auge zutun.
»Geh die Sache doch mal logisch an«, sagte Jason, sobald sie im Bett lagen. »Du magst Eichhörnchen doch, oder?«
»Sicher, aber draußen in der freien Natur«, antwortete Paige. »Ich mag auch Ameisen, solange sie draußen bleiben; da habe ich überhaupt nichts gegen sie. Aber laß sie ins Haus, und sie verursachen mir Alpträume. Das gleiche gilt für Mäuse, Eidechsen, Spinnen und so weiter.«
»Was macht das für einen Unterschied, wo diese Viecher sind, wenn du sie siehst? Wichtig ist doch nur das Tier selbst. Solange du es nicht in die Enge treibst – und das tust du bestimmt nicht, wie ich dich kenne –, wird es sich einfach umdrehen und schnurstracks davonlaufen. Und außerdem, wenn diese Eicheln tatsächlich von einem Eichhörnchen stammen sollten, dann ist das Tierchen inzwischen bestimmt schon längst aus dem Haus.«
Sie drehte sich zu ihm um und betrachtete ihn mißtrauisch. »Das sagst du doch nur, um mich zu beruhigen.«
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Wie kommst du überhaupt auf die Idee?«
»Wegen des Lärms. Eichhörnchen haben – mehr als alle anderen Nagetiere – ein sehr gut ausgeprägtes Gehör. Sobald sie Stimmen oder Schritte hören, ergreifen sie die Flucht und laufen davon... In dem Moment, in dem wir im Vorraum das Licht angeschaltet haben, ist das Tierchen wahrscheinlich schon mit neunzig Sachen aus dem Haus geflitzt.«
»Wie ist es denn hinausgekommen?«
»So wie es auch hereingekommen ist. Diese Tiere haben so eine Art eingebauten Radar, der sie genau wieder dorthin zurückführt –«
»Das hast du doch alles nur erfunden, stimmt’s, Jason?«
»Wenn du willst, dann bestellen wir für morgen einen Kammerjäger, der sich mal umschauen soll. Und falls es irgendwelche Öffnungen in den Grundmauern gibt, mach‘ ich sie zu. In der Zwischenzeit solltest du aber trotzdem etwas schlafen. Soll ich dir den Rücken massieren?«
»Danke, nein.«
Jason drehte ihr den Rücken zu, und so konnte sie nicht sehen, ob er wirklich gekränkt war, aber sie hätte wetten können, daß er es war. Und irgendwie war das auch verständlich. Noch vor ein paar Monaten wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, eine seiner köstlichen Rückenmassagen abzulehnen... Aber seit diesem schrecklichen Zwischenfall ... Sie sah immer noch dieses verächtliche Grinsen, den dünnen, schwarzen Schnurrbart, die verfaulten Zähne vor sich; einer der unteren Schneidezähne fehlte... Weshalb bekam sie dieses Gesicht nicht mehr aus dem Kopf?
Eindreiviertel Stunden später lag sie immer noch grübelnd wach, aber inzwischen war es ihr wenigstens gelungen, an etwas Erfreulicheres zu denken: an das Baby. Jason, der bisher friedlich neben ihr geschlafen hatte, drehte sich plötzlich um, und ein Teil der Steppdecke glitt zu Boden. Sie griff über ihn hinweg, packte einen Zipfel der Decke, deckte ihn und sich wieder damit zu und gab ihm einen Kuß auf die Wange.
Auch wenn es bei ihren momentanen Stimmungsschwankungen nicht so auffiel – sie liebte ihn sehr... hatte es immer getan, seit sie in ihrem zweiten Jahr am City College irrtümlich in einen Kursus über Bürgerrechte geraten und ihr dabei der frischgebackene Anwalt aufgefallen war, der das Fach unterrichtete. Er war schlank und drahtig, nur wenige Zentimeter größer als sie, aber seine klugen blauen Augen und sein schiefes Grinsen erregten dermaßen ihr Interesse, daß sie seinen Kurs sofort in ihren Stundenplan aufnahm. Und seitdem war er Teil ihres Lebens.
Den Rest der Nacht brachte sie damit zu, immer wieder kurz einzunicken, um gleich darauf von einem Alptraum geweckt zu werden, der noch im Augenblick des Aufwachens bereits wieder aus ihrem Bewußtsein verschwunden war... und von einem Kratzgeräusch, das vom Dachboden kam.
»Ich bin absolut sicher, daß ich dort oben etwas gehört habe«, rief Paige am nächsten Morgen über den Lärm ihres Haartrockners hinweg. Nachdem sie ihre Morgengymnastik absolviert hatten – Jason joggte, sie spazierte –, wollten sie in einem Café im Ort frühstücken und anschließend im Dorfladen Lebensmittel einkaufen.
»Wenn du Angst hattest, dann hättest du mich wecken sollen«, sagte Jason.
»Was?«
»Wenn du Angst hattest –«
Sie schaltete den Fön aus. »Kein Grund, mich so anzuschreien.«
Er zögerte kurz und meinte dann ruhig: »Ich habe dich nur gefragt, warum du mich nicht geweckt hast.«
»Damit du mir das Gehirn wieder mit einem neuen Märchen aus dem Königreich der Tiere zukleisterst?«
»Wenn das eine Anspielung auf gestern abend sein soll –«
»Ist es.«
»Ich habe doch nur versucht –«
»Ich unterstelle dir ja nichts Böses, Jason.«
»Was ist es dann?«
Ein Seufzer, schließlich: »Es gefällt mir einfach nicht, wenn du mich wie ein schwachsinniges Kind behandelst.«
»Das habe ich doch gar nicht getan.«
»Doch, hast du.«
Jason nahm sich ein wetterfestes Sweatshirt aus der Kommodenschublade, zog es an und schlüpfte in ein Paar Trainingshosen. »Zieh dich jetzt besser an«, sagte er und ging zur Tür.
»Wo gehst du hin?«
»Hinaus.«
»Warte.«
»Warum? Ich will doch nur –«
»Verdammt. Warte doch mal ’ne Sekunde. Jason, was hältst du von Alexandra, abgekürzt Alie?«
Während sie auf ihre Honigmelone und die Vollkornwaffeln warteten, rief Jason bei den Kammerjägern in Klondike und Paige bei Barrys Sekretärin an, um einen Termin für Montag nachmittag auszumachen. Im Supermarkt des Dorfes erkannte Otis Brown, ein eckiger Mann mit einem flaumigen grauen Haarkranz um den Schädel, sie sofort wieder.
»Ihr seid heuer ja ziemlich spät dran, hab‘ ich recht?« meinte er, machte einen der Einkaufswagen los und schob ihn zu Paige hinüber.
»Na, eigentlich nicht«, erwiderte sie. »Wir wollen nämlich den ganzen Winter über hierbleiben. Wir haben gedacht, es wäre vielleicht schön, das Baby hier zu bekommen.« Himmel, dabei grinste sie wie ein dummes Schulmädchen und konnte gar nicht mehr aufhören.
Aber Otis ignorierte ihr Grinsen. »Brauchen Sie vielleicht eine Hebamme, Mrs. Bennett? Meine Frau ist wirklich große Klasse – die hat in den letzten Jahren schon jeder Menge Kinder auf die Welt geholfen... da ist eines gesünder als das andere. Wenn Sie möchten, dann frage ich sie mal –«
»Vielen Dank, sehr freundlich von Ihnen«, mischte Jason sich schließlich ein. »Aber meine Frau wird in das Gesundheitszentrum nach Poughkeepsie gehen.«
Otis preßte nickend die Lippen zusammen.
»Das ist ein gutes Krankenhaus, wenn man krank ist, aber um ein Kind auf die Welt zu bringen... ich weiß nicht. Es ist ziemlich weit weg von hier.«
»Zwanzig Minuten mit dem Auto«, meinte Jason. »Na ja, wenn Sie volle Pulle fahren, und das auch nur bei gutem Wetter. Aber ich weiß nicht, wie das wird, wenn es schneit.«
»Aber die Straßen hier oben werden doch geräumt, oder nicht?« fragte Jason, dessen Stimme eine Mischung aus Besorgnis und Verärgerung verriet.
»Aber natürlich werden sie das.«
»Wo liegt dann das Problem?«
»Komm schon, Jason«, sagte Paige und zog ihn auf die Seite. »Hilf mir beim Einkaufen.« Als sie im ersten Gang zwischen den Regalen mit Lebensmitteln standen, sagte sie: »Du hast ja ein Gesicht gemacht, als wolltest du ihn gleich verprügeln. Was ist bloß los mit dir?«
»Nichts. Ich habe nur versucht, hinter den tieferen Sinn dieser Unterhaltung zu kommen. Das klang ja so, als ob sie hier keine Schneepflüge hätten.«
»Jetzt beruhig dich wieder, Jason. Der alte Mann hat doch nur versucht, seiner Frau ein Geschäft zu vermitteln.«
Beim Autohändler schloß Paige einen sportlichen Mazda-RX7-Zweisitzer ins Herz, aber Jason bestand auf einem Nissan-Geländewagen.
»Hast du mir nicht erklärt, ich könne mir den Wagen selbst aussuchen?«
»Das war, bevor ich von dem Schnee hier wußte. Das ist ein Wagen mit Vierradantrieb, der ist genau das Richtige.«
Paige betrachtete stirnrunzelnd den Nissan. »Ich weiß nicht recht, er ist so groß und klobig.«
Jason legte von hinten den Arm um sie und drückte sein Gesicht in ihr Haar, so daß seine Lippen sie am Haaransatz kitzelten. »Du aber auch, Liebling«, flüsterte er. »Habe ich dich deshalb weniger lieb?«
Jetzt doppelt verärgert, entzog sie sich seiner Umarmung und unterdrückte den Impuls, über seine witzige Bemerkung zu lachen.
»Entschuldige, tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen. Paige, wie wär’s mit Robert? Ich weiß, den Namen habe ich schon mal genannt, aber –«
»Ich habe dir doch gesagt, daß ich diesen Namen hasse.« Sie verschränkte die Arme fest vor der Brust und vermied es, ihn dabei anzusehen. »Und außerdem tut es dir gar nicht leid.«
»Ich begreife es einfach nicht – wie kannst du einen Namen wie Robert nur hassen?«
Keine Antwort.
»Paige, ich habe dich doch nur aufgezogen. Warum bist du bloß so empfindlich? Hör mal, wenn ich dich gekränkt habe, dann tut mir das leid, ich schwöre es bei Gott. Außerdem siehst du einfach phantastisch aus, schwanger hin oder her.« Dann warf er einen Blick auf seine Uhr und meinte: »Wenn wir aber jetzt nicht bald nach Hause fahren, verpassen wir noch den Kammerjäger. Ich glaube nicht, daß wir ihn dann vor Montag noch mal erreichen, wenn er wieder wegfährt. Wer weiß, vielleicht wird es sogar Dienstag. Würdest du also jetzt bitte diesen verdammten Geländewagen nehmen?«
Sie warf erst einen Blick auf den einen, dann auf den anderen Wagen und schaute schließlich Jason an. »Und wenn nicht?«
Mit einem tiefen Seufzer fragte er: »Warum tust du mir das an?«
Jason fuhr hinter Paige her, um sich zu vergewissern, daß sie auch keine Probleme mit der Handhabung des Geländewagens hatte. »Also, was meinst du?« fragte er, als er die Wagentür öffnete und ihr beim Aussteigen half.
Sie zeigte mit beiden Daumen nach unten. »Und, wo ist jetzt dein Kammerjäger?«
»Der muß jede Minute kommen. Er hat mir versprochen, um zwei Uhr hier zu sein. Sollen wir einen kleinen Spaziergang machen?«
»Und riskieren, daß wir ihn verpassen?«
Clyde, der Kammerjäger, sah zwar nicht älter aus als neunzehn, benahm sich aber, als würde er diese Arbeit schon seit Jahren machen. Er brauchte eine Viertelstunde, um das Haus gründlich zu durchsuchen – als er wieder in die Küche kam, schüttelte er nur den Kopf.
»Ich habe ein paar Mäuseköttel im Keller gefunden.«
»Oh, großartig«, meinte Paige.
Clyde steckte einen schmutzstarrenden Finger in sein langes, fettiges Haar und kratzte sich am Kopf.
»Ich habe ein paar Tüten mit Gift unten gelassen, in einer Woche sind die Mäuse bestimmt verschwunden. Wenn Sie dann noch welche sehen, geben Sie mir Bescheid.«
»Und das Eichhörnchen?«
Er zuckte seine schmalen Schultern. »Nichts zu sehen.«
»Ich habe Ihnen doch von den Eicheln erzählt.«
»Klar, ich kann mir das nicht erklären. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich gefunden, beziehungsweise nicht gefunden habe.«
»Okay, vielleicht war es kein Eichhörnchen. Aber da war ganz eindeutig etwas auf dem Dachboden, ich habe es doch gehört.«
»Ich habe da oben ganz besonders sorgfältig nachgesehen, Ma’am. Wenn dort irgendein Tier gewesen wäre, dann hätte ich irgendwelche Kotspuren entdeckt. Ich kann nur wiederholen, da oben ist nichts.«
»Wollen Sie damit behaupten, ich hätte mir das nur eingebildet?«
Er machte eine beschwichtigende Geste und schüttelte den Kopf. »Hören Sie, ich sage doch nur, da oben ist kein Anzeichen –«
»Äh, hören Sie«, unterbrach ihn Jason, »da Sie nun schon mal da sind, könnten Sie doch auch auf dem Speicher etwas Gift auslegen. Falls da oben wirklich etwas sein sollte, wird es –«
»O nein, das geht nicht, Sir.«
»Wieso nicht?«
»Wissen Sie, eigentlich dürfen wir gar keine Eichhörnchen töten.«
»Aber Sie sagten doch, da oben ist kein Eichhörnchen.«
»Sicher, und dabei bleibe ich auch. Aber Sie verlangen von mir, daß ich da oben Gift auslege, um etwas zu töten, was ich nicht töten darf.«
Paige neigte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn ungläubig.
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte sie.
Jason hob beschwichtigend die Hand.
»Nun mal ganz langsam, Clyde. Einmal angenommen, nur einmal angenommen, da oben wäre ein Eichhörnchen.«
Clyde nickte.
»Wollen Sie dann sagen, daß ich in Zukunft damit leben muß?«
»Nein, Sir, das will ich nicht.«
»Okay, wie sollen wir es dann loswerden?«
»Wir stellen eine Falle auf und fangen es. Dann nehme ich das Tier mit und lasse es im Wald draußen wieder frei.«
Schritt für Schritt tastete Jason sich vorwärts. »Okay. Haben Sie vielleicht eine dieser Fallen dabei?«
»Sicher, draußen im Lieferwagen. Aber die brauchen Sie nicht, weil Sie ja kein Eichhörnchen haben.«
»Ich fange gleich zu schreien an«, sagte Paige.
»Hören Sie, Clyde, ich möchte Sie trotzdem darum bitten, auf dem Dachboden eine dieser Fallen aufzustellen. Falls dort oben wirklich ein Eichhörnchen ist, werden wir es damit fangen. Und falls keines da oben sein sollte, haben wir doch nichts verloren, oder?«
»Na, zum einen, Geld. Das wird Sie ‚’ne Menge kosten.«
»Hören Sie, Clyde, ich zahle – Sie machen Ihre Arbeit.«
Clyde brauchte ungefähr zehn Minuten, um den Drahtkäfig aufzustellen – als Köder mußte Erdnußbutter auf italienischem Weißbrot herhalten.
»Wenn das Tier die Erdnußbutter riecht«, erklärte Clyde, »dann schlüpft es in den Käfig. Dabei muß es auf diese Wippe treten, die die Türaufhängung auslöst. Und pängknallt die Tür zu!«
Clydes Handkante knallte krachend auf die Tischplatte und ließ Paige zusammenfahren. »Das ist alles«, sagte er, »es sitzt in der Falle. Dann brauchen Sie mich nur noch anzurufen. Aber ich glaube nicht, daß Sie mich anrufen werden. Wahrscheinlich wird es so sein, daß ich in ein paar Wochen, vielleicht auch in einem Monat oder zwei mal kurz vorbeischaue und den Käfig wieder mitnehme.«
Mit dem Gift für die Mäuse und dem Käfig für das Eichhörnchen belief sich die Rechnung auf einhundertfünfundsiebzig Dollar.
»Das war ein ganz gerissener Gauner«, sagte Paige später, als sie im Bett saß und ungesalzenes, ungebuttertes Popcorn verschlang.
Jason legte den Schriftsatz beiseite, in dem er gerade las, und gähnte.
»Ich vermute auch, daß er uns ein paar Dollar extra als Buße aufgebrummt hat, weil wir seinen Sachverstand angezweifelt haben.«
»Wir Stadtmenschen haben mit Sicherheit an allem etwas auszusetzen. Aber ich weigere mich, mich deswegen schuldig zu fühlen. Er hat es doch herausgefordert. Du glaubst mir doch, daß ich dort oben etwas gehört habe, nicht wahr, Jason?«
»Da oben ist jetzt eine Falle, das genügt doch, oder?«
»Du weichst meiner Frage aus.«
»Ich sehe nicht, was das für einen Unterschied –«
»Jason!«
»Natürlich glaube ich dir.«
Sie richtete sich mit einer so heftigen Bewegung im Bett auf, daß sie die Schüssel umstieß und sich das Popcorn über die Bettdecke verteilte. »Das tust du nicht. Verdammt, ich hasse es, wenn du so etwas nur sagst, damit ich endlich den Mund halte!«
Er hörte noch, wie ihre Füße die Treppe hinunter, hinaus auf die Veranda tappten. Seufzend zog er seine Jeans an, nahm ihren Morgenmantel, der an der Innenseite der Schranktür hing, und folgte ihr nach draußen.
»Bist du verrückt – du wirst dich noch erkälten«, sagte er vorwurfsvoll und hängte ihr den Morgenmantel um die Schultern.
Sie schüttelte ihn ab und ließ ihn auf den Boden der Veranda fallen. »Laß mich in Ruhe«, sagte sie.
Er lehnte sich an einen der Pfosten und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Ich kann nur verlieren, oder?«
Schweigen.
»Wir kommen hierher, damit du dein Gleichgewicht wiederfindest, und was passiert – du drehst bereits durch, weil du irgendein Geräusch auf dem Speicher hörst. Und wir beide können keine fünf Minuten Zusammensein, ohne daß du mich gleich angiftest. Wenn ich mit einer Manisch-Depressiven zusammenleben will, dann kann ich das in der Stadt viel bequemer haben. Dazu muß ich mir nicht auch noch die zusätzliche Last aufhalsen, täglich hin und her zu pendeln.«
Es war die Sache mit dem Hinundherpendeln, die schließlich die Spannung löste, so daß sie – zu ihrer eigenen Überraschung – in schallendes Gelächter ausbrach. Sie konnte gar nicht mehr aufhören, und Jason stimmte mit ein.
»Ich hasse dieses Auto... diesen Lastzug, oder was immer das sein soll«, sagte sie, als sie schließlich wieder sprechen konnte.
Er nahm sie in die Arme, und sie ließ ihn gewähren, wie es in der letzten Zeit nicht oft der Fall gewesen war...
»Dann fahre ich eben damit, bis es anfängt zu schneien. Und du nimmst solange den Volvo.«
Sie legte ihren Kopf an seine Brust. Früher hatte sie keinen Gedanken an die Autos verschwendet, die sie benutzte; sie stellte keine großen Ansprüche, Hauptsache, sie brachten sie dorthin, wo sie hinwollte. Weshalb jetzt dieser Lärm um nichts? »Es ist wirklich nicht so wichtig«, meinte sie schließlich.
»Bist du ganz sicher?«
Sie nickte, aber als er ihr ins Gesicht sah, entdeckte er Tränenspuren auf ihren Wangen. Er legte ihr die Hand unter das Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.
»Jetzt komm schon, Paige, raus damit.«
Sie holte tief Luft. »Ich habe Angst, Jason.«
»Wovor?«
»Daß ich das Kind verliere.«
»Aber das wirst du nicht.« Er beugte sich über sie, küßte sie...
Sie erwiderte seinen Kuß, aber sobald seine Hand tiefer wanderte und seine Finger tastend ihren Weg suchten, entzog sie sich ihm.
»Nein, Jason, bitte nicht.«
»Warum nicht?«
»Das Baby... Wir könnten den Fötus verletzen.«
»Aber der Arzt hat uns doch versichert –«
»Jason, ich bin fett, ich bin plump.«
»Das bist du nicht, und das weißt du auch ganz genau, nicht wahr?« Er machte einen Schritt in Richtung Haustür.
»Na gut, wenn du unbedingt willst...«
Er öffnete die Fliegengittertür, blieb kurz stehen und wandte sich dann zu ihr um. »Mache ich wirklich einen so verzweifelten Eindruck?«
Ihre Angst war völlig irrational... sie dachte darüber nach, als sie später wach im Bett lag. Auch wenn sie im Jahr zuvor eine Fehlgeburt erlitten hatte, so war das im ersten Schwangerschaftsdrittel geschehen, in einer Zeit, in der der Fötus am gefährdetsten ist. Jetzt war sie Ende des sechsten Monats, und aufgrund ihrer Amniozentese und der Ultraschall-Diagnose gab es nicht die geringsten Probleme; sie trug einen gesunden, gutentwickelten Fötus.
Und wenn das immer noch nicht Beruhigung genug war: Jetzt kam noch dazu, daß sie und Jason an einem Ort lebten, in dem es – einmal abgesehen von einer gelegentlichen Schlägerei, Alkohol am Steuer oder einem harmlosen Diebstahl – in den letzten zwölf Jahren nicht ein Kapitalverbrechen gegeben hatte. Doch trotz Jasons ständiger Beteuerung und ihres eigenen gesunden Menschenverstandes, die Angst war da – wie ein dunkler Fleck, der immer wieder auftaucht, gleichgültig, wie oft man auch reiben mag. Der Trick bestand darin, nicht daran zu denken, beschloß sie...
Ihre Gedanken wurden von einem schwachen Schaben über ihrem Kopf unterbrochen. Sie setzte sich auf und schaute zu Jason hinüber: Er schlief tief und fest. Nein, sie würde ihn nicht wecken, nicht deswegen. Morgen früh würde dieses Ding – was immer es auch sein mochte – in der Falle sitzen.
Päng...