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PROLOG

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Für eine Vierjährige wußte sie eine Menge, das sagte jeder. Meistens sperrte sie Augen oder Ohren gerade dann weit auf, wenn sie eigentlich nichts hören oder sehen sollte. Aber manchmal kamen Mommy oder Daddy zu ihr und fingen von sich aus zu erzählen an. Mommy erzählte ihr zum Beispiel bereits von dem Baby, das in ihrem Bauch wuchs, als ihr Bauch noch ganz flach war und niemand geglaubt hätte, daß es überhaupt dort hineinpaßte. Und obwohl sich keiner von ihnen über einen Namen für das Baby Gedanken gemacht hatte, nannte Daddy es von Anfang an nur sein Bübchen.

Doch die bedeutendsten Dinge ergaben den geringsten Sinn – so war es auch mit den Bestrafungen. Nicht, daß Mommy oder Daddy jemals mit ihr darüber gesprochen hätten, das taten sie nicht einmal miteinander. Und natürlich passierten diese Dinge auch nicht alle Tage, nicht einmal jede Woche, aber wenn sie passierten, dann traf es immer Mommy: Sie war die Böse. Und da Daddy der Größte, der Stärkste und der Klügste war, war er es, der ihre Verderbtheit immer als erster entdeckte.

So wie an jenem Tag, als das kleine Mädchen vom Spielen ins Haus zurückkam, er vor dem Fernsehapparat saß, statt draußen einen der alten Wagen zu reparieren, und von Mommy nirgends etwas zu sehen oder zu hören war: da wußte das kleine Mädchen, daß es wieder mal soweit war. Daddys Aufmerksamkeit wandte sich von der lärmenden Spiel-Show ab und der Tür zu, wo sie stehengeblieben war, und er breitete beide Arme weit aus, um sie darin aufzufangen.

»Wie geht’s Daddys Liebling?« fragte er und zog sie zu sich auf das Sofa; sie lächelte, umarmte ihn ganz fest, so wie er es gern hatte, und drückte ihm kleine, feuchte Küsse auf Gesicht und Hals. Sie wollte so gern wissen, was mit Mommy war, fragte aber nicht – er würde es ihr schon sagen, wenn er dazu bereit war. Und erst, als sie ein ganzes Marmeladenbrot und ein Glas Milch vertilgt und den Rest von der Show gesehen hatte, da sagte er: »Mommy ist im Schlafzimmer. Willst du ihr was zum Essen bringen?«

Sie nickte. Und er holte einen Teller aus dem Kühlschrank, auf dem bereits dünngeschnittenes Fleisch auf Salatblättern vorbereitet war. Er stellte den Teller auf ein Tablett, dazu Messer, Gabel, eine Serviette und ein niedriges weißes Glas, in dem dieselben Veilchen standen, die hinter dem Haus wuchsen.

»Paß auf, daß sie alles aufißt«, sagte er. »Mein Bübchen braucht es.«

Bereits die Erwähnung des Babys machte sie glücklich – eine richtige lebendige Puppe, die ißt und weint und die ihr ganz allein zum Spielen gehörte. Und vielleicht zum hundertsten Mal, seit sie wußte, daß das Baby unterwegs war, fragte sie: »Darf ich mich um das Baby kümmern, wenn es da ist, Daddy?«

Er lächelte und zeigte seine großen weißen Zähne – damit ich dich besser fressen kann. Aber wie immer gab er ihr das zur Antwort, was sie hören wollte.

»Wer sollte das wohl besser als seine Schwester können?«

Eins, zwei, drei... noch drei Monate, dann würde Bübchen zur Welt kommen, sagte sie sich, als sie das schwere Tablett in beide Hände nahm und es zum Schlafzimmer ihrer Eltern trug. Vor der Tür blieb sie stehen, holte tief Luft, hielt den Atem an – denn sie wußte nie, welcher Anblick sich ihr bieten würde –, drehte langsam den Türknauf und stieß die Tür auf.

Mommy lag auf dem Bett, ohne Kleider und mit weit gespreizten Armen und Beinen, die mit ihrer zerrissenen Strumpfhose an die Bettpfosten gebunden waren. Sie war ziemlich mager, bis auf den Bauch, der rund und hart wie ein Basketball aufgetrieben war; obwohl sie die Augen geschlossen hielt, schlief sie nicht. Das kleine Mädchen betrachtete sie von oben bis unten – keine blauen oder schwarzen Flecken, keine Beulen, keine Schnitte, kein Blut. Jetzt stieß sie den angehaltenen Atem aus, beugte sich über sie und küßte sie auf die Wange.

»Hi, Mommy.«

Sie schlug die Augen auf und lächelte, als sie ihre Tochter sah.

»Wo ist der Boß?« fragte sie, Daddys Kosenamen benützend.

»Vor dem Fernseher.« Sie zeigte ihr das Tablett. »Er hat dir was zu essen gemacht.«

Die Frau musterte das Essen und schüttelte den Kopf.

»Du mußt was essen. Er wird nur wieder wütend auf dich, wenn du nicht ißt.«

»Ich kann nicht, du weißt doch, daß ich nicht kann. Ich muß mich sonst wieder übergeben.«

Das Mädchen schnitt ein Stück von dem hellen Fleisch ab, spießte es auf die Gabel und hielt es ihrer Mutter an die Lippen.

»Nur ein kleines bißchen«, bettelte sie.

Die Frau preßte die Lippen zusammen und drehte den Kopf zur Seite. »Ich kann nicht, ich will nicht. Bitte, zwing mich nicht dazu.« Als sie sich schließlich wieder ihrer Tochter zuwandte, glitzerten Tränen in ihren großen, veilchenblauen Augen. »Könntest du nicht, Baby?«

Das Mädchen stöhnte kurz auf und starrte auf das Essen ... sie hatte keinen Appetit, besonders nicht auf so etwas. Aber sie schob die Gabel in den Mund, biß in das zähe Fleisch, schluckte es hinunter, nahm noch einen Bissen und noch einen, bis alles weg war und sie glaubte, sie müsse gleich platzen oder sich übergeben, obwohl ihr keines von beiden jemals in ihrem Leben passiert war.

Als sie gehen wollte, streckte Mommy die Finger nach ihrer Hand aus und kitzelte ihre Handfläche.

»Was würde ich nur ohne dich tun, Baby?« flüsterte sie, den Tränen nahe.

»Darf ich Bübchen streicheln?«

Normalerweise mochte sie es nicht, wenn man ihren Bauch anfaßte, aber dieses Mal gestattete sie ihrer Tochter, daß sie ihr die Hand darauf legte und hin- und herfuhr, bis sie die Stelle gefunden hatte, wo die Füße des Babys zu spüren waren. Nachdem sie eine ganze Reihe Tritte abbekommen hatte, zog das kleine Mädchen die Hand zurück und hob das Tablett mit dem nun leeren Teller auf.

»Die Blumen«, sagte die Mutter, »vergiß nicht, dem Boß zu sagen, wie sehr sie mir gefallen haben.«

Schweigen.

»Oh, jetzt komm, sei nicht so. Er macht doch immer so nette kleine Gesten, um mir zu sagen, daß es ihm leid tut. Du kennst ihn doch, wenn es wieder vorbei ist, kauft er uns bestimmt irgendein dummes Geschenk und führt anschließend im Wohnzimmer einen Freudentanz mit uns auf. Außerdem ist es gar nicht so schlimm, wie es aussieht.«

Immer noch Schweigen.

»Er liebt dich... das weißt du doch, oder?«

Das kleine Mädchen nickte.

»Und mich liebt er auch, bei großen Leuten zeigt sich das nur anders.«

Es war schon spät an diesem Abend, als Mommy so laut zu schreien anfing, daß selbst Daddy Angst bekam. Er band ihre Arme und Beine von den Bettpfosten los, trug sie zum Wagen und fuhr sie ins Krankenhaus.

Das kleine Mädchen, das allein im Schlafzimmer zurückgeblieben war, untersuchte den blutigen Klumpen und schaufelte ihn anschließend mit bloßen Händen vom Bettuch in eine grüne Mülltüte, die sie oben zuband und im Wald vergrub.

Und danach sprach keiner mehr von Bübchen...

Dachbodengeflüster / Stimme des Blutes

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