Читать книгу Dachbodengeflüster / Stimme des Blutes - Gloria Murphy - Страница 13

KAPITEL 6

Оглавление

Es war sieben Uhr früh, als Jason aus der Dusche kam, sich anzog und auf Zehenspitzen in Lilys Zimmer schlich, wo er ihre Decken und Laken unberührt, sie aber zusammen mit dem restlichen Bettzeug auf dem Boden vorfand. Sie setzte sich auf und drückte ihre Steppdecke mit dem Blumenmuster fest an sich.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken –«

Keine Reaktion.

»Hör mal, ich habe mir überlegt, ob du nicht Lust hättest, mit mir zu joggen. Normalerweise laufe ich morgens immer ein paar Meilen.«

Immer noch keine Reaktion.

»Später können wir dann zusammen frühstücken.«

»Was ist mit Paige?«

»Nun ja, Paige schläft zur Zeit morgens gern länger, und das ist auch gut so. Da sie ein Kind bekommt, schadet es ihr gar nicht, wenn sie sich etwas ausruht. Ich dachte mir, daß es außerdem auch eine gute Gelegenheit wäre, uns etwas besser kennenzulernen. Sieht ja ganz so aus, als würdest du eine Weile bei uns bleiben.«

Sie stand auf, drückte die Steppdecke fest an sich und blieb auf der Schaumgummiunterlage, über die ein Flanelltuch gebreitet war, stehen.

Er deutete auf die Unterlage. »Gar nicht so übel als Bett, wenn man gern auf dem Fußboden schläft. Hat Paige das so für dich hergerichtet?«

Sie nickte.

»Sie ist schon eine tolle Frau, was?« Wenigstens eines hatten sie gemeinsam – Paige.

Wieder nickte sie.

»Wenn wir zurückkommen, dann können wir zusammen Frühstück machen, wenn du magst, und es ihr ans Bett bringen.«

Lily bückte sich, um ihre Jeans vom Boden aufzuheben.

»Zieh doch Trainingssachen an. Ich bin sicher, daß Paige dir welche gekauft hat.« Er zog die oberste Schublade der Kommode heraus, schaute sich an, was darin lag, entdeckte einen hellblauen, zweiteiligen Trainingsanzug und warf ihn ihr zu. »Hier, zieh das an, damit fühlst du dich wie ein richtiger Crack.«

»Ein richtiger Crack?«

»Na, echt eben. Wie eine echte Läuferin, eine richtige Sportlerin.« Er ging aus dem Zimmer und hob die Hand. »Ich warte unten auf dich. In fünf Minuten, ja?«

Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie unten war, woraus er schloß, daß sie sich die Mühe gespart hatte, ihre Morgentoilette zu machen. In der Küche ging sie als erstes zu dem Hängeschränkchen über dem Geschirrspüler, machte es auf, streckte sich, zog eine Tüte mit Keksen herunter, steckte die Hand hinein und holte eine Handvoll davon heraus.

»Hey, was machst du da?« fragte er und nahm ihr die Tüte weg. »So etwas solltest du nicht essen, am allerwenigsten zum Frühstück. Wo hast du denn das überhaupt her?« Er schaute in den Hängeschrank und entdeckte zwei weitere Tüten mit Keksen und eine Schachtel voller Kartoffelchips. Dann nahm er ihr die Plätzchen aus der Hand, warf sie in den Abfalleimer und schob sie Richtung Tür. »Komm, nach dem Joggen gibt es etwas Anständiges zu essen.«

Aber sie riß sich von ihm los und rührte sich nicht vom Fleck.

Reglos starrten sie einander an. Schließlich drehte er sich um und ging zur Tür hinaus; es dauerte ein paar Minuten, ehe sie nachgab und ihm folgte. Sie hatten bereits mehr als eine halbe Meile schweigend zurückgelegt, als Jason seinen Lauf verlangsamte und sich zu ihr umdrehte; sie wirkte atemlos, und so blieb er stehen.

»Möchtest du eine kleine Pause machen?«

Er ging zu einem Baum und setzte sich; sie tat es ihm nach und lehnte sich an einen anderen Baum.

»Treibst du gern Sport?«

Schweigen.

»Das ist wahrscheinlich eine dumme Frage. Die meisten Kinder treiben gern Sport, ohne daß es ihnen überhaupt bewußt ist. Wie hättest du wohl sonst den ganzen Weg von Laurel Canyon bis hierher zurücklegen können, nicht wahr?«

Immer noch Schweigen.

»Du willst nicht mit Informationen herausrücken, wie? Na ja, ich könnte mir denken, daß du per Anhalter gefahren bist, zumindest einen Teil der Strecke, aber ich möchte wetten, daß du auch viel gelaufen bist. Weißt du, was ich gerne wissen möchte? Was du hier die ganze Zeit über gegessen hast. Im Frühjahr und in den Sommermonaten haben wir vielleicht ein paar Lebensmittel dagelassen, aber als wir das Haus für den Winter verschlossen, da haben wir auch die Schränke ausgeräumt. Mehr als eine Tüte Weißbrot für die –« Er hielt inne und lächelte. »Aha, du hast also den Vögeln ihre Brotkrumen weggegessen, aber damit kann man immer noch keinen ganzen Winter überleben.«

»Ich habe mir schon was zu essen besorgt.«

»So, und was?«

»Warum willst du das wissen?«

»Ich bin einfach neugierig, und ich will wissen, wie clever du bist. Deine Mutter scheint dich ja für ein richtiges Genie zu halten.«

Sie starrte ihn kurz an und stand dann auf. »Komm mit, ich zeige es dir.« Dieses Mal lief sie voran, in Richtung auf den Fluß zu. Bei einer großen Eiche am Flußufer blieb sie stehen.

»Du hast geangelt, hmm?«

Sie bückte sich: Unten um den Baumstamm herum verlief ein dickes Seil. Sie nahm das lose Ende und zog daran... immer mehr Seil kam zum Vorschein, das sie an Land holte. Und Jason sah, wie die Oberfläche des Wassers aufgerührt wurde, als ein Gegenstand immer näher ans Ufer kam.

»Jetzt bin ich aber wirklich beeindruckt. Was ist das, eine Falle? Für Hummer, Krabben, Flußkrebse?«

Ein Käfig kam zum Vorschein – es war eine Falle aus Draht, ganz ähnlich der, die sie auf dem Dachboden aufgestellt hatten, nur daß diese hier aussah, als ob Lily sie selbst gebastelt hätte. Sie bückte sich, hob sie aus dem Wasser und stellte sie ins Gras. Kein Hummer, keine Krabben und auch keine Flußkrebse waren darin, sondern zwei Eichhörnchen und drei schwarze Ratten.

»Das begreife ich jetzt nicht ganz.«

»Ich fange sie, ertränke sie und esse sie auf.«

Auf dem Weg zurück zum Haus hatte keiner ein Wort gesagt. Als sie in der Küche waren, holte Lily Kartoffeln, Butter, Eier und Zwiebeln aus dem Kühlschrank.

»Wenn du dich ungesund ernähren willst, von mir aus, aber tu mir einen Gefallen und mach nichts für Paige.«

»Warum nicht?«

»Weil ich es sage.«

»Aber es schmeckt ihr.«

»Ich habe gesagt, nein.«

»Du unterdrückst sie.«

»Das ist doch lächerlich, ich unterdrücke niemanden. Aber ich habe nicht die Absicht, darüber mit dir zu diskutieren ... Belassen wir es einfach dabei – da das hier mein Haus ist, hältst du dich an das, was ich sage.«

»Jason!«

Er drehte sich um, Lily auch, aber Paige schaute nur ihn an.

»Was ist hier los?« fragte sie.

»Gar nichts.«

»Ganz offensichtlich war doch etwas –«

Er verließ die Küche, durchquerte das Wohnzimmer und ging zur Vordertür hinaus. Sie lief ihm nach und holte ihn am Fuß der Veranda ein.

»Jason, würdest du bitte auf mich warten?«

Er verlangsamte seinen Schritt, und sie gingen nebeneinander her. »Was war da drinnen eben los?« wollte sie wissen.

»Du wirst nicht glauben, was sie die ganze Zeit über gegessen hat.«

»Wann?«

»Im vergangenen Winter natürlich.«

»Oh. Okay, was hat sie gegessen?«

»Sie hat Eichhörnchen und Ratten verspeist.«

Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, um ihn gleich darauf ungläubig anzustarren. »Oh, jetzt komm aber, Jason. Woher willst du das denn wissen?«

»Sie hat es mir selbst erzählt, sie hat es mir auch gezeigt – ein paar Nagetiere, ersäuft in einem Käfig am Fluß unten.«

Ein plötzliches Ekelgefühl ließ sie erschaudernd zusammenfahren, aber sie schob alle Schreckensbilder beiseite und konzentrierte sich auf den praktischen, rationalen Aspekt der Angelegenheit.

»Ist das alles?«

»Ich kann es nicht fassen, wie du so etwas fragen kannst. Dreht sich dir denn nicht der Magen um bei dieser Vorstellung?«

»Aber sicher doch. Aber sie mußte doch überleben, oder? Um zu überleben, sind Menschen auch schon zu Kannibalen geworden.«

»Sicher, man tut alles dafür. Aber hier in der Nähe ist ein Fluß, was ist mit Fischen?«

»Vielleicht hatte sie keine Angel.«

»Sie hat immerhin eine Drahtfalle mit einem Schnappmechanismus zusammengebastelt. Wenn sie so etwas fertigbrachte, dann hätte sie mit Sicherheit auch eine simple Angelrute zustande gebracht.«

»Vielleicht mag sie Fisch nicht, die meisten Kinder mögen ihn nicht.«

»Nein, aber Ratten mögen sie.«

»Jason, du reagierst völlig unvernünftig, das sieht dir gar nicht ähnlich. Korrigiere mich, wenn ich etwas Falsches sage – du stimmst mit mir doch darin überein, daß es für sie um Leben oder Tod ging, und trotzdem regst du dich auf, weil sie es vorzog, Ratten statt Fisch zu essen?«

Er blieb stehen, faßte sich an den Hals und massierte eine Stelle am Nacken.

»Das Ganze klingt doch reichlich absurd, nicht wahr?«

»Gott sei Dank siehst du das ein.«

»Es war nicht so sehr das, was sie sich als Nahrung ausgesucht hat, Paige, das hat mich nicht so erschüttert. Aber sie hat direkt eine Art perversen Gefallen daran gefunden, als sie sah, wie schockiert ich war.«

»Reagieren wir nicht alle mal so? Mir zum Beispiel macht es großen Spaß, dich aus der Fassung zu bringen. Ich sehe so gern deine erstaunte Miene.«

Er schnitt eine Grimasse. »Die hier?«

»Nein, das ist dein Idiotenausdruck.« Sie lief ihm davon, und er jagte sie die Auffahrt hinunter, quer über den Rasen auf die Straße zu, bekam sie aber noch rechtzeitig am Kragen zu fassen, bevor sie sie überqueren konnte.

»Okay, Gnade, Jason!« Lauter: »Jason!«

»Paige?«

»Ja?«

»Du mußt mit ihr mal ein Wörtchen über Ernährung reden.«

Die Arme immer noch zum Angriff erhoben, sagte sie: »Ich bin sicher, daß sie keine Ratten mehr verspeisen wird.«

»Nein, das natürlich nicht, aber sie ißt gern ungesundes Zeug, und mir ist aufgefallen, daß du ihr dabei nicht ungern Gesellschaft leistest.«

Mit einem Seufzer ließ sie die Arme sinken.

»In Ordnung. Oh, Jason, was hältst du von dem Namen Brittany?«

»Nee, der ist viel zu trendig«, sagte er. »Wie wär’s mit Michael?«

»Als Alternative?«

»Gott, wie schlau.«

Sie schlenderten schweigend zum Haus zurück, als sie sagte: »Meine Mutter hatte mal einen Freund namens Michael.«

»So?«

»Ich habe mich gerade gefragt, was wohl zuerst passiert ist – daß mein Vater uns verlassen hat oder daß meine Mutter Freunde hatte.«

»Hast du sie denn nie danach gefragt?«

»Doch, aber sie hat nie mit mir darüber gesprochen. Vergessen wir Michael.«

»Okay, dann keinen Michael.« Er legte den Arm um sie. »Hör mal, du mußt mir wirklich versprechen, daß du mit Lily redest, okay? Ich möchte nicht, daß unser Baby schon zuckersüchtig auf die Welt kommt. Und ich will nicht, daß du dick und fett wirst und verhärtete Arterien bekommst.«

Zu Hause verzog sich Jason gleich in irgendeine Ecke, wahrscheinlich um ihr Gelegenheit zu geben, allein mit Lily zu reden. Sie fand sie in der Küche, wo sie das Frühstück zubereitete. Paige schaltete das Gas unter der Bratpfanne aus und nahm Lily bei der Hand.

»Komm her. Schätzchen, ich muß mit dir reden.«

»Bist du sauer auf mich?«

»Nein, warum sollte ich?«

»Wegen Jason.«

»Jason ist nicht wütend, jedenfalls nicht im Augenblick.«

»Ich habe gesehen, wie er dich draußen herumgejagt hat.«

Pause, dann: »Hast du uns beobachtet?«

»Ich mußte doch aufpassen, daß er dir nicht weh tut.«

Verglich sie vielleicht ihre harmlose Rauferei im Garten mit den Kämpfen ihrer Eltern? Obwohl ihr Gerangel mit Jason auch nicht im entferntesten gewalttätig war, war Lily vielleicht einmal Augenzeugin einer ähnlichen Szene gewesen, die dann tatsächlich ins Gewalttätige umgeschlagen war.

»Wir haben doch nur herumgealbert, Lily. Außerdem würde Jason mir nie weh tun... oder dir. Das heißt aber nicht, daß er nicht manchmal außer sich gerät und ab und zu etwas laut wird. Das tun wir alle mal.«

Das Kind deutete auf die Pfanne am Herd. »Er will nicht, daß du das ißt. Stimmt’s?«

»Er hat recht damit. Fettes Essen ist nicht gut für mich.«

»Aber du magst es doch.«

»Oh, natürlich mag ich es. Leider mag ich eine Menge Dinge, die nicht gut für mich sind.«

»Ist es auch schlecht für mich?«

»Zuviel davon ist für keinen gut. Aber irgendwann einmal kommt die Zeit, da muß man sich entscheiden und anfangen, sich gesünder zu ernähren. Besonders dann, wenn man ein Baby mitzuernähren hat. Deshalb besteht Jason auch darauf.«

»Wann?« fragte sie.

Paige sah sie fragend an.

»Das Baby«, meinte Lily. »Wann kommt es?«

Sie war also doch neugierig auf das Baby. Paige lächelte und forderte sie auf, doch näherzukommen. »Möchtest du mal fühlen?«

Anfangs war sie etwas skeptisch, aber dann ließ sie sich von Paige an der Hand nehmen und die Hand über deren Bauch führen. Da wurden ihre Augen rund und groß, und sie machte ein andächtiges Gesicht, als sie spürte, wie sich das Kind unter ihrer Hand bewegte.

»Es soll am siebten Januar kommen.«

Lily verharrte ein paar Minuten in dieser Haltung, bevor sie ihre Hand wieder zurückzog... und das auch nur – wie Paige den Eindruck hatte – sehr widerwillig. Dann ging sie entschlossen zum Herd, nahm die Bratpfanne vom Gas, trug sie zum Abfalleimer und leerte sie dort aus.

»Lily, das hättest du nicht tun müssen, du hättest –«

»Nein, nein, wenn du es nicht willst, dann will ich es auch nicht.«

Daraufhin ging Paige zum Schrank, holte zwei Schüsseln heraus und füllte beide mit Kleie und Milch. Eine stellte sie für sich auf den Tisch, die andere schob sie Lily hin.

»Hier, probier mal.«

Lily nahm einen Löffel voll.

»Und?« fragte Paige, während sie selbst davon aß.

»Es schmeckt scheußlich.«

Paige lachte, schluckte es schnell hinunter – etwas zu schnell vielleicht – und hielt sich eine Serviette vor den Mund, da sie gar nicht mehr zu lachen aufhören konnte. Schließlich holte sie tief Luft und sagte: »Das finde ich auch.«

»Du magst es also auch nicht?«

Sie nickte. »Ich weiß auch gar nicht, warum ich es überhaupt esse. Ich kaufe es für Jason, und es ist immer im Haus... Wir schauen heute nachmittag mal im Supermarkt, ob wir nicht ein Müsli finden, das etwas besser schmeckt und das vielleicht sogar noch gezuckert ist. Aber du mußt vorsichtig sein, wenn Jason in der Nähe ist, mußt du dieses Wort sofort vergessen.«

Lily lächelte. Es war das erste Mal, daß Paige sie lächeln sah.

Brooke rief an diesem Abend gegen neun Uhr an.

»Wo steckst du nur die ganze Zeit?« fragte sie Paige. »Hier, wieso?«

»Weil ich seit Montag nichts mehr von dir gehört habe.«

»Ich habe mir gedacht, wenn ich mich nur lang genug nicht mehr rühre, dann rufst du mich schon an. Es ist Samstag abend, wieso bist du nicht unterwegs?«

»Gary mußte für einen anderen Assistenzarzt einspringen, du weißt doch, wie das so läuft, eine Hand wäscht die andere. Aber er schaufelt sich das nächste Wochenende frei, damit wir euch besuchen können. Ich darf mich also nicht laut beklagen. Apropos Besucher, ich habe erfahren, ihr habt bereits einen Gast.«

»So, und wer hat dir das erzählt?«

»Jason, ich habe am Dienstag mit ihm gesprochen, vielleicht war es auch am Mittwoch.«

»Hat er dich angerufen?«

»Nein, ich habe ihn draußen vor dem Haus getroffen.«

»Aha. Und, was hat er dir erzählt?«

»Nur, daß es sich um einen weiblichen Gast handelt, der schrecklich schmutzig ist und flucht wie ein Bandit.«

»Zum Teufel mit ihm.«

»Hat er etwa gelogen?«

»Nicht, was die Tatsache betrifft, daß unser Gast weiblich ist und mittlerweile übrigens gebadet wurde. Dabei hat es sich herausgestellt, daß sie in Wirklichkeit eine Schönheit ist.«

»Tatsächlich? Wie lange bleibt sie denn bei euch?«

»Hat Jason dir nicht mehr erzählt?«

»Gibt es noch mehr?«

»Nachdem sie jahrelang von ihm mißhandelt wurde, hat ihre Mutter ihren Vater umgebracht. Als Lily das mit ansehen mußte, ist sie auf und davon gerannt.«

»O je, das ist ja entsetzlich.«

»Es kommt noch schlimmer. Die Mutter hat ihn nicht einfach umgebracht, sondern hat ihm regelrecht Arme, Beine und den Kopf abgehackt.«

»Mein Gott! Hältst du es wirklich für klug, das Kind bei euch zu behalten?«

»Glaubst du, es wäre bei uns, wenn ich anderer Ansicht wäre? Jason und ich sind nicht ganz so dumm, wie es dir vielleicht manchmal erscheinen mag. Woher kommt es eigentlich, daß alle Leute sofort eine ganz bestimmte Haltung einnehmen, sobald sie davon erfahren haben?«

»Wer denn noch?«

»In erster Linie die Presse. Die rufen hier dauernd an und stellen mir die dümmsten Fragen.«

»Was wollen sie denn wissen?«

»Na, zum einen, ob ich mir Sorgen mache wegen des Einflusses, den ihr Milieu auf sie gehabt hat.«

»Was hast du geantwortet?«

»Gar nichts, ich habe aufgelegt.«

»Aber was hättest du geantwortet?«

»Nun, natürlich mache ich mir deswegen Gedanken. Es ist gar nicht möglich, daß all diese Ereignisse keine Spuren bei ihr hinterlassen haben. Sie wird eine Therapie brauchen... und das ziemlich lange, glaube ich. Aber wenn du mit der Frage gemeint hast, ob sie sich eines Tages an dem Verhalten ihrer Eltern orientieren wird, dann lautet meine Antwort nein. Kinder sind erstaunlich widerstandsfähig – besonders solche, die so zäh und klug wie Lily sind. Und sie reagieren auch erstaunlich gut auf Freundlichkeit und Fürsorge. Ich werde dafür sorgen, daß sie beides davon in ausreichender Menge bekommt.«

»Ja, aber du mußt doch zugeben, daß die Sache mit ihrer Mutter sehr erschreckend ist.«

»Dann kannst du dir ja vorstellen, wie das für Lily war, die schließlich alles mit angesehen hat. So oder so, du kannst sie nicht für den Fehler ihrer Mutter verantwortlich machen.«

»Entschuldige bitte... Fehler? Habe ich richtig gehört, du hast das einen Fehler genannt?«

»Ihr Mann hat ihr in dreizehn Jahren fünfzehnmal die Knochen gebrochen. Würdest du nicht auch sagen, daß das reicht?«

»Aber was ist dann bloß passiert, daß sie sich endlich gewehrt hat?«

Paige erzählte Brooke nicht, daß Jason für Lilys Mutter Berufung einlegen würde. Sie wollte es ihr das nächste Mal sagen, wenn sie miteinander sprachen, da sie annahm, Brooke würde bis dahin bestimmt ihre Einstellung geändert haben und nicht mehr allein das Opfer für alles verantwortlich machen.

»Was hast du denn im Nachbarhaus gemacht?« fragte Paige später an diesem Abend, als sie nebeneinander im Bett lagen.

»Woher weißt du überhaupt, daß ich dort war?«

Mit verschwörerischer Stimme und ebensolcher Miene erwiderte sie: »Ich habe meine Spione.«

»So?« Er rutschte unbehaglich hin und her, drehte sein Kissen um, knüllte es zusammen und strich es wieder glatt. »Es war Brooke. Sie hat mir erzählt, daß sie dich draußen getroffen hat.«

Schweigen.

»Willst du es gar nicht wissen?«

»Was?«

»Ob Gary und sie jetzt kommen?«

»Und, kommen sie?«

»Ich hatte schon den Eindruck.«

Noch längeres Schweigen.

Sie hob den Kopf und schaute auf seine Seite hinüber.

»Jason, hörst du mir überhaupt zu?«

»Natürlich habe ich dir zugehört – schön, großartig. Dann mache ich die Spaghettisauce.«

»Okay«, sagte sie. Aber so leicht wollte sie es ihm nicht machen. Wieder auf ihre ursprüngliche Frage zurückkommend, meinte sie: »Also, raus damit, was hast du dort gemacht?«

»Wo dort?«

»Wieso habe ich nur das Gefühl, als würde ich ein Selbstgespräch führen? In der Wohnung, was hast du dort gemacht, Jason?«

»Oh, das. Das war wegen einer Akte. Ich habe die Bernstein-Akte auf dem Tisch in der Diele liegen lassen.«

»Jason?«

»Ja?«

»Was ist, wenn Annas Fall noch nicht abgeschlossen ist, wenn wir im April wieder in die Stadt zurückkehren?«

»Ich hoffe doch, daß er bis dahin abgeschlossen sein wird. Ich habe nämlich die Absicht, ein bißchen Dampf zu machen und darauf zu drängen, daß der Fall Lilys wegen rasch entschieden wird.«

»Aber einmal angenommen, er ist es nicht?«

»Dann werden wir für Lily eben ein anderes Zuhause suchen müssen. Und zwar schnell. Übrigens, Anna Parks hatte zwei Geschwister.«

»Hatte?«

»Der Bruder ist tot. Die Schwester, Nora Kalish, wohnte im Nachbarort, in Windy Creek – wenigstens bis zu dem Mord. Kurz danach ist sie weggezogen, hat nicht einmal die Verurteilung ihrer Schwester abgewartet.«

»Das ist doch seltsam, findest du nicht?«

»Noch seltsamer ist, daß Anna leugnet, eine Schwester zu haben.«

»Vielleicht sind sie nicht gut miteinander ausgekommen. Oder vielleicht schützt sie sie.«

Jason hob den Kopf und schaute sie fragend an. »Wovor soll sie sie denn schützen?«

»Vor der Öffentlichkeit, der Presse. Ich habe ziemlich schnell am eigenen Leib erfahren, wie erbarmungslos und arrogant diese Leute sein können.«

»Aber das erklärt immer noch nicht, warum sie nicht will, daß ihr einziges Kind bei Verwandten aufwächst.«

Ein Seufzer. »Das weiß ich auch nicht«, antwortete Paige. »Vielleicht war meine erste Theorie gar nicht so falsch, daß sie nicht gut miteinander auskamen. Aber warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?«

»Ich dachte mir, daß ich sie vielleicht erst mal suche.«

»Und wenn du keinen Erfolg hast, Jason?«

»Dann bleibt das Kind eben hier, schätze ich.«

»Und wenn wir Lily mit in die Stadt nehmen?«

»Das schlag dir lieber gleich aus dem Kopf, kommt überhaupt nicht in Frage. Wir haben sechs Zimmer, davon haben wir aus einem gerade ein Kinderzimmer gemacht. Selbst wenn wir dazu bereit wären – was ich nicht bin –, würden wir keinen Platz für sie haben.«

Sie schaute ihn nicht an und gab ihm auch keine Antwort; natürlich hatte er recht, was den Platz anging. Er war zwar so klug, es sich nicht anmerken zu lassen, aber er war ganz eindeutig erleichtert, daß sie anscheinend so widerstandslos darauf eingegangen war.

»Vergiß nicht wegen heute nachmittag«, erinnerte Paige ihn, als er am nächsten Morgen auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schleichen wollte.

Er blieb stehen und drehte sich um: »Was ist heute nachmittag?«

»Das Lamaze-Picknick.«

»Um wieviel Uhr?«

»Um zwei.«

»Was ist mit Lily?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Wollen wir sie hier allein lassen?«

»Das Treffen findet doch zu dem Zweck statt, daß alle Familien sich untereinander kennenlernen. Dazu gehören normalerweise auch die Kinder.«

»Okay. Gut, ich bin bald wieder zurück.«

»Holst du die Zeitungen?«

»Nach dem Joggen.«

»Wie wär’s, wenn du Lily mitnehmen würdest? Sie ist sicher schon wach.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich mich entspannen möchte.«

»Und das kannst du nicht, wenn sie dabei ist?«

»Kaum zu glauben – du hörst mir doch tatsächlich endlich zu.«

Das Picknick fand auf einer Farm zwischen Poughkeepsie und Briarwood statt; Jason behauptete hinterher, einschließlich der Kinder fünfundsechzig Köpfe gezählt zu haben. Lily klammerte sich anfangs an den Ärmel von Paiges Strickjacke, als ob sie Angst hätte, sich von ihr zu trennen. Es waren ungefähr fünfzehn Frauen anwesend, die sich alle in verschiedenen Stadien der Schwangerschaft befanden. Zusätzlich zu den drei Grillplätzen im Freien, auf denen Lendensteaks, Hamburger und Frankfurter Würstchen vor sich hin brutzelten, waren in einer großen alten Scheune noch Tische aufgestellt, die sich bogen unter der Last von Kartoffeln, Nudelsalat und allen möglichen Brot- und Käsesorten.

»Der reinste Cholesterin-Himmel«, flüsterte Jason.

»Psst. Jason, was hältst du von Brooke?«

Er mußte gleich zweimal schlucken. »Wieso fragst du mich das?«

»Ich dachte mir, das ist vielleicht ein guter Name. Was, hast du vielleicht gedacht, ich wollte deine Meinung über Brooke wissen?«

»Ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Es hat nur so geklungen.. .« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Und der Name, na, den finde ich nicht schlecht.«

Sie ergriff seine Hände. »Mir gefällt er. Vielleicht sollten wir ihn auf unsere Liste mit den Namen setzen, die eventuell in Frage kommen.«

»Sie sind Paige Bennett, nicht wahr?«

Paige musterte neugierig die Frau, die vor ihr stand. Sie hatte dunkles, kurzgeschnittenes Haar, das sie wie ein Kobold aussehen ließ, ein Stil, den Paige seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ihre vollen, rosigen Wangen wurden noch runder, wenn sie lächelte.

»Hallo, können Sie sich noch an uns erinnern? Wir sind ihre Nachbarn. Ruthanne Beeder, und das ist mein Charlie«, sagte sie und legte ihren molligen Arm um einen hochgewachsenen, dünnen Mann mit schütterem Haar, der neben ihr stand. »Wir haben uns mal auf der Post getroffen.«

»Hallo, wie geht es Ihnen?« fragte Paige. »Das ist Jason.« Während die Männer Hände schüttelten, legte Paige die Hand auf Ruthannes Arm. »Tut mir leid, daß ich Sie nicht gleich erkannt habe.«

»Na, wer würde das schon in meinem Zustand«, meinte sie kichernd. »Ich sehe doch aus wie Elsie, die Kuh.« Sie stellte sich so hin, daß Paige sie von der Seite sehen konnte, und strich das Strickoberteil über ihrem sich stark wölbenden Bauch glatt. »Da sehen Sie mal, fünfundvierzig Pfund. Aber das steckt nicht alles hier drin, fürchte ich.«

»Wann ist es denn bei Ihnen soweit?«

»In drei Wochen; es können auch ein paar Tage mehr oder weniger sein.«

»Da sollte man eigentlich annehmen, daß Sie Ihren Lamaze-Kurs bereits hinter sich haben?«

»O ja, die letzte Lektion haben wir schon lange hinter uns. Ich bewege mich nur gern in Gesellschaft schwangerer Bäuche, da komme ich mir weniger bizarr vor. Obwohl Sie nicht gerade gut für mein Ego sind – man sieht Ihnen kaum an, daß Sie ein Kind erwarten.«

»Nun, ich bin erst im siebten Monat. Aber ich versuche wirklich aufzupassen, oder besser gesagt, Jason tut es. Sie sind bestimmt schon ganz ungeduldig, daß es endlich zu Ende geht. Manchmal habe ich das Gefühl, daß es bei mir nie vorbeigehen wird.«

Ruthanne lachte. »Sie werden noch voller Wehmut an diese Worte denken, wenn Sie nachts zum Stillen aufstehen.«

»Wir sind schon so gespannt, daß uns selbst diese Vorstellung nicht schrecken kann.«

»Das klingt ganz danach, als würden Sie zum ersten Mal Mutter werden.«

Bei diesen Worten lächelte Paige versonnen und schaute auf Lily hinab; aber als sie sie gerade vorstellen wollte, meinte Ruthanne: »Oh, das muß das kleine Mädchen sein, das Sie in Ihrem Haus gefunden haben, richtig?«

Paige warf Jason einen Blick zu.

»Hah, das war aber ein Blick«, meinte Ruthanne tadelnd. »Aber ich fürchte, wir sind hier nicht in Manhattan. Hier passiert nur wenig, was dem örtlichen Klatsch und Tratsch entgeht. Natürlich wird nicht immer alles vollständig oder gar wahrheitsgetreu wiedergegeben – zum Beispiel hat mir keiner gesagt, daß Lily so wunderschön ist. Oh, ich würde alles geben für diese Haare.«

Paige mußte lachen – sie wußte zwar nicht genau, was sie erwartet hatte, aber Ruthannes direkte Art war eine angenehme Überraschung für sie. Lily jedoch stand reglos neben ihr und schaute so düster wie immer drein.

»Möchtest du nicht meinen Sohn kennenlernen«, schlug Ruthanne vor. »Er ist zwar ein bißchen jünger als du, aber... Charlie, schau doch mal schnell, wo Roger steckt, damit wir die beiden hier miteinander bekannt machen können.«

Roger, der erst neun Jahre alt war, war ein ganzes Stück kleiner als Lily, hatte aber mindestens fünfzehn Pfund mehr auf den Rippen als sie. Dazu grinste er ebenso breit und freundlich wie seine Mutter. Nachdem man sie miteinander bekannt gemacht hatte und einige Worte von beiden Seiten gewechselt worden waren, verschwanden die Kinder zum Spielen.

»Der wird mal bestimmt Verteidiger bei den Giants«, meinte Jason kopfschüttelnd, als der dunkelhaarige Junge mit Lily weglief.

»Bei seiner Geburt hat er über zwölf Pfund gewogen«, erzählte Charlie.

»Ach du meine Güte«, sagte Paige zu Ruthanne. »Kaiserschnitt?«

»Norm.«

»Ich will lieber nicht wissen, wie es Ihnen da ergangen ist.« •

»Nun, die Lamaze-Methode hat mir schon geholfen, deswegen habe ich jetzt auch den Auffrischungskurs mitgemacht. Aber eine anständige Betäubung wäre mir natürlich viel lieber als jede noch so gesunde Atemtechnik. Doch in unserer heutigen Zeit sind die Geburtshelfer nicht mehr so schnell mit Betäubungsmitteln bei der Hand.«

Paige schmunzelte. »Und ich dachte allmählich schon, daß die Frauen hier in der Gegend einen weiten Bogen um jedes Krankenhaus machen.«

»Tatsächlich, wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?«

»Otis Brown, der Lebensmittelhändler –«

»Das reicht, er ist ein alter Schwätzer, und seine Frau ist genauso. Das einzige Kind, das sie meiner Erinnerung nach jemals entbunden hat, war das Baby ihrer Tochter, das als Notfall vor zehn Jahren in einem Wagen zur Welt kam, als diese Tochter noch keine vierzehn war. Aber wenn man ihn reden hört, dann könnte man meinen, sie hätte die Hälfte aller Kinder in der Gemeinde auf die Welt gebracht.« Ruthanne warf einen Blick zu den Grills hinüber, vor denen sich allmählich eine lange Reihe Wartender bildete.

»Hören Sie, ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber dieser Duft ist einfach zu verlockend. Ich hole mir jetzt einen Teller –« Sie unterbrach sich und deutete auf eine Gruppe, die sich neben dem Hühnerhaus versammelte. »Hmm, was dort wohl los ist«, meinte sie.

Auch Paige schaute in diese Richtung, aber noch ehe sie Lily in der Menge entdecken konnte, hörte sie ihre Schreie. Sie lief auf sie zu, gefolgt von Ruthanne und den Männern. Nachdem sie den Rand der Gruppe von Leuten erreicht hatte, bahnte sie sich einen Weg hindurch: Lily stand zitternd und allein mit blutverschmierter Kleidung in der Mitte und wehrte mit beiden Armen die Erwachsenen ab, die ihr helfen wollten. O gütiger Gott, was war da nur passiert?

Als sie Paige – Jason war gleich hinter ihr – kommen sahen, wichen die Erwachsenen zurück. »Das Blut –« setzte Paige an, als Jason Lily auf den Arm nehmen wollte... »Hey, das ist schon in Ordnung, Mister«, meinte ein ungefähr dreizehnjähriger Junge und trat vor. »Das ist nicht ihr Blut.« Er deutete auf eine Henne, die mit umgedrehtem Hals auf dem Boden lag.

Paige schnappte nach Luft und trat noch näher zu Lily.

»Schätzchen, wie ist das passiert?«

Sie bekam keine Antwort.

Jason warf einen fragenden Blick auf den Jungen, der jetzt etwas aufgeregt schien und den Eindruck erweckte, als wäre es ihm nun doch lieber, wenn er den Mund gehalten und sich aus der Sache herausgehalten hätte. Paige war froh, als sie sah, daß Jason ihn nicht so ohne weiteres davonkommen ließ.

»Na komm schon, raus mit der Sprache«, forderte er ihn auf.

Nach einer kurzen Pause, in der er von einem Bein auf das andere trat, meinte der Junge schließlich: »Zwei Kinder haben das getan.«

»Was waren das für Kinder?«

»Ich weiß nicht, wie sie heißen, aber ich habe sie schon früher hier gesehen. Die sind oft im Playland, in der Video-Spielhalle drüben im Einkaufszentrum. Die sind ungefähr vierzehn, fünfzehn.«

»Kannst du sie mir zeigen?«

»Nein, die sind davongelaufen. Ich glaube, daß die beiden gar nicht hierher auf die Party gehört haben.« Dabei warf er einem Jungen am Rand der Menge einen fragenden Blick zu, der daraufhin zustimmend nickte.

Jason seufzte. »Okay, erzähl mir, was passiert ist.«

Wie zwei Gummibälle hüpften die runden Schultern des Jungen nach oben, um dann wieder nach unten zu sinken. »Ich habe nur mitbekommen, daß sie sie übel beschimpft haben. Sie wissen schon, mit so Schimpfwörtern eben, die sich auf ihre Familie bezogen haben.«

Paige, die jetzt den Arm um Lily gelegt hatte, drückte sie fester an sich, als würde das ihren Schmerz lindern. Welche Schimpfwörter, Lily? Woher wußten sie überhaupt, wer sie war? Ruthanne hatte es auch gleich gewußt, oder? Warum nicht auch die anderen? Aber woran lag es nur, daß Kinder immer so verletzend sein und so tief in alten Wunden herumstochern mußten? Sie waren wie Fledermäuse, die Blut rochen.

»Und?« fragte Jason.

»Sie ist in das Hühnerhaus gerannt, um vor ihnen davonzulaufen, aber sie sind ihr hinterher und haben sie dabei beschimpft. Dann habe ich nur noch gesehen, daß sie wie die Wilden wieder herausgeschossen kamen, so, als hätten sie etwas wirklich Schlimmes angestellt und wollten unbedingt weg.« Er deutete mit dem Kinn Richtung Lily. »Und sie, sie stand unter der Tür und schrie wie am Spieß.«

Paige entdeckte Roger in der immer größer werdenden Menge; er sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen.

»Kinder!« meinte Ruthanne nur, als Jason das schweigsame Mädchen auf den Rücksitz des Wagens packte – Paige setzte sich daneben und legte den Arm um sie. »Werden die heutzutage tatsächlich immer sadistischer, oder bilde ich mir das nur ein?«

Sie saß in der Mitte eines Karussells ...es drehte sich so schnell, daß sie keine Bewegung mehr wahrnahm – nur daß die Leute, die außen im Kreis herumstanden, sich drehten. Und diese Leute waren so häßlich; sie fragte sich, ob man sie nicht in eines jener schrecklichen Spiegelkabinette gesperrt hatte, wie man sie in Vergnügungsparks findet.

Sie streckten ihr die Arme entgegen, weiter und immer weiter... wie die Plastikmenschen in einem alten Comicheft. Das einzige, was sie tun konnte, war, sich darauf zu konzentrieren, reglos auf dem winzigen schwarzen Kreis in der Mitte zu verharren, damit ihre krakenhaften Hände sie nicht erreichten. Sie verschloß ihre Ohren vor dem Klang ihrer tiefen Stimmen, aber ihre Münder verzerrten sich und nahmen groteske Formen an. Da wußte sie, daß sich aus den Tiefen ihrer Seelen das Böse aus diesen Mündern ergießen würde...

Plötzlich kam der eine mit dem fehlenden Schneidezahn mit solcher Gewalt auf sie zugeschossen, daß er ihr das Genick brach! Das Blut, o Gott, das Blut!

Paige schoß ruckartig im Bett hoch.

»Nein! Nein, nicht!«

Jason wachte davon auf und versuchte verzweifelt, ihre wild um sich schlagenden Arme zu fassen zu bekommen ...

»Was ist los, Liebling?« Mit einer Hand schaltete er die Nàchttischlampe an... »Was ist los, Paige – das Baby?«

Sie schüttelte nur den Kopf und holte lang und tief Luft.

»Nein, nein. Nur ein Alptraum.«

»Möchtest du mir davon erzählen?«

»Ich weiß nicht, ich kann mich nicht erinnern.«

»An gar nichts mehr?«

»Irgendwann im Lauf des Traums hat mir jemand das Genick gebrochen, glaube ich...« Sie fuhr sich mit der Hand an die Kehle und umfaßte sie. »Ich schätze, es waren die Ereignisse dieses Nachmittages, die mir so nahegegangen sind.«

Sie waren auch Jason nahegegangen... in doppelter Hinsicht. Jetzt, da Paige wieder schlief, er aber hellwach dalag, dachte er intensiver darüber nach. Als er ungefähr sieben Jahre alt gewesen war, hatte er mit angesehen, wie ein Junge von der High-School eine Katze tötete; er hatte das junge Tier in eine Plastiktüte gesteckt, wo es erstickte – das war ein wirklich krankhafter Sadist gewesen.

Als sie nach Hause gekommen waren, hatte Paige alles versucht, Lily zum Sprechen zu bringen und den Anblick dieses toten Huhns aus ihrem Gedächtnis zu streichen... Aber Lily hatte sich verschlossen wie eine Auster und sich in ihr Zimmer zurückgezogen, weil sie allein sein wollte.

Doch Paige hatte sich nicht davon entmutigen lassen; sie glaubte fest daran, daß sie mit der Zeit zu ihr durchdringen würde. Und jetzt wurde sie sogar von ihren Alpträumen geplagt.

Dachbodengeflüster / Stimme des Blutes

Подняться наверх