Читать книгу Dachbodengeflüster / Stimme des Blutes - Gloria Murphy - Страница 11
KAPITEL 4
ОглавлениеPaige wachte von dem Geruch von Spiegeleiern auf, und als sie aus dem Bad zurückkam, stellte Lily gerade vorsichtig ein Frühstückstablett auf ihren Nachttisch. Sie drehte sich zu Paige um und streckte ihr die Hände entgegen, um ihr zu zeigen, daß sie sie gewaschen hatte. Paige schmunzelte und schaute sich an, was Lily ihr gebracht hatte.
»Donnerwetter, ich bin beeindruckt von diesem fürstlichen Mahl. Wer hat dir solche Sachen beigebracht?« Lily zuckte nur mit den Achseln, nahm eine Gabel und hielt sie Paige hin, während sie sie gleichzeitig ins Bett zurückdrückte.
»Diese Spiegeleier sehen toll aus und riechen auch so. Normalerweise versuche ich ja, nichts Fettes zu essen –« Lilys Mundwinkel fielen nach unten, und Paige nahm ihr die Gabel aus der Hand. »Na, einmal wird es mir schon nicht schaden.«
Lily zog sich an die Wand zurück und glitt dort zu Boden, wobei sie Paige nicht aus den Augen ließ.
»Was ist mit dir, willst du nichts essen?«
»Ich habe schon gegessen.«
»Aha.« Paige nickte; sie freute sich, daß das Kind endlich auf sie reagierte und ihr eine Antwort gab. Sie aß einen Bissen, noch einen Bissen, und dann fiel ihr ein, daß Jason den Sheriff anrufen wollte, es wahrscheinlich schon getan hatte. Sie warf erst einen Blick auf die Uhr, dann auf Lily. Sie würde es ihr sagen müssen, bevor der Sheriff kam, bevor... Da läutete das Telefon.
Erschrocken sprang Lily auf die Beine, und Paige packte den Hörer. »Hallo.«
»Paige, Liebling... ich bin es.«
»Das war ja Gedankenübertragung.«
»Was?«
»Nichts. Hast du schon?«
»Ja, ich habe«, erwiderte Jason. »Der Sheriff überprüft bereits seinen Computer nach vermißten Kindern aus dieser Gegend. Er wird bald bei euch sein, um mit ihr zu reden.«
»Ich bezweifle, daß sie –«
»Daß sie was?«
»Du weißt schon... reden.«
»Ist sie da, hört sie uns zu?«
»Das könnte man sagen.«
»Nun, auch wenn sie sich weigert, ihm zu helfen, so kann er sie doch immerhin beschreiben und ein Foto von ihr machen, um es dann weiterzuleiten. Übrigens, ob du es glaubst oder nicht, aber diese Gemeinde hier hat nicht einmal ein zuständiges Kinderheim.«
»So?«
»Na ja, normalerweise – wobei so etwas natürlich nicht so oft vorkommt – versuchen sie, eine Art Übergangszuhause für so ein Kind zu finden. Der Sheriff ist überzeugt, daß sich bestimmt eine der Frauen aus dem Ort dazu bereit erklären wird. Falls es aber zu lange dauert, dann wird der Staat –«
»Wenn es eine der Frauen aus dem Ort machen kann, warum dann nicht ich? Das wird mich auf Trab halten, und ich höre vielleicht auf, mir ständig Sorgen um das Baby zu machen. Und außerdem bin ich dann auch nicht die ganze Zeit über allein.«
Erst eine Pause, ein tiefer Seufzer und schließlich: »Ich bin nicht gerade begeistert von der Idee, aber das weißt du ja. Hör zu, Paige, wenn du es unbedingt machen willst, dann los, mach es. Es sieht ohnehin so aus, als würde meine einzige Hoffnung darin bestehen, daß der Sheriff weiß, wo das Kind hingehört. In diesem Fall wäre unsere ganze Diskussion natürlich rein hypothetisch.«
Paige legte den Hörer auf; sie hatte versucht, vorsichtig mit ihren Worten zu sein, da sie wußte, daß Lily ihr zuhörte. Doch offensichtlich war sie nicht vorsichtig genug gewesen, denn Lily stürzte auf sie zu, packte sie bei der Hand, zog sie vom Bett hoch und zerrte sie verzweifelt Richtung Tür.
»Hey, warte, hör auf damit«, rief Paige, aber Lily ließ sich nicht beirren. »Was treibst du da?« Schließlich gelang es Paige doch, sich von ihr loszureißen; sie nahm das Mädchen fest bei den Schultern, drückte es aufs Bett und zwang es, ihr in die Augen zu schauen. »Hör mir zu, Lily, ich will, daß du dich entspannst. Ich will, daß du jetzt tief Luft holst... hörst du mich, du sollst tief und fest Luft holen.«
Lily tat, wie ihr geheißen.
»Braves Mädchen, und jetzt noch mal...«
Nach einer Weile konnte Paige sehen, wie sich Ruhe auf dem Gesicht des Mädchens ausbreitete. Konnte sie wissen, daß der Sheriff auf dem Weg zu ihnen war? Paige hatte nichts gesagt, was darauf hingedeutet hätte... Aber trotzdem mußte sie es ihr sagen, bevor... Wieder läutete das Telefon, und Lily sprang auf.
»Ist schon in Ordnung, Lily.«
Paige nahm den Hörer und meldete sich... Jemand wollte mit einer Susan Lewis sprechen... Sie ertappte sich dabei, wie erleichtert sie war, daß jemand eine falsche Nummer gewählt hatte. Sie wollte Lily jetzt noch nicht gehen lassen, nicht jetzt, da sie gerade anfingen, Fortschritte zu machen.
Es war schon merkwürdig – ehe sie Jason vorhin am Telefon den Vorschlag gemacht hatte, das Kind doch eine Weile bei sich zu behalten, war sie sich dessen gar nicht so sicher gewesen. Natürlich, die Idee stimmte ihn nicht gerade froh. Aber er konnte murren, soviel er wollte, wenn sie bei ihrem Entschluß blieb, dann würde er schon wieder zurückstecken; das war normalerweise immer so. Und dieses Mal würde sie hart bleiben. Was war schließlich so falsch daran, das Mädchen eine Zeitlang bei sich zu behalten?
Sie hätte gern jemanden um sich, für den sie sorgen konnte, jemanden, der ihr die Einsamkeit vertrieb und sie davon abhielt, ihren eigenen düsteren Gedanken nachzuhängen. Und sie hatte schließlich viel Erfahrung mit Kindern, wahrscheinlich mehr als jede andere Frau am Ort... Außerdem, was waren schon ein paar Tage, im Höchstfall eine Woche? Ganz bestimmt würden die Nachforschungen der Polizei rasch etwas über ein Kind dieses Alters ergeben.
Sheriff Frank Bulldoon war ungefähr fünfzig, hatte einen breiten Brustkorb und einen kurzen, dicken Hals, der unsichtbar irgendwo in seiner braunen Wildlederjacke steckte. Paige fragte sich, ob der »Bulle« in seinem Namen wohl an Ochsenfrosch erinnern sollte, denn genau so sah er aus.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer und schaute sich forschend um.
»Wo ist sie?«
»Oben. Ich wollte zuerst mit Ihnen allein reden.«
»Nun, Ihr Mann hat mir gesagt –«
»Sheriff, ich würde sie gern hierbehalten. Ich meine, nur für eine Weile natürlich, bis Sie herausgefunden haben, wo sie hingehört.«
»Das klingt aber ganz anders als das, was Ihr Mann mir heute morgen erklärt hat.«
»Jason neigt nun mal dazu, sich Sorgen um mich zu machen, was in diesem Fall gänzlich unbegründet ist. Da ich schwanger bin, hat er Angst, ich könnte mich dabei überanstrengen, wenn ich mich um das Mädchen kümmere.«
»Ich bin auch eher seiner Ansicht. Das kleine Mädchen ist wahrscheinlich eine Ausreißerin, und die sind normalerweise rotzfrech; manchmal werden selbst die eigenen Eltern nicht mehr mit ihnen fertig, was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, warum sie überhaupt weg ist. Auf jeden Fall nicht gerade die Art von Kind, die eine Dame sich als Hausgast wünscht.«
»Ich bin Sonderschullehrerin, das heißt, daß ich Kinder unterrichte, die Lernschwierigkeiten haben, Kinder, die körperlich oder geistig behindert sind. Aber was viel wichtiger ist, Lily und ich sind bereits auf dem besten Weg, Freunde zu werden.«
»Lily, soso?« Er nahm ein Notizbuch heraus und schrieb sich den Namen auf. »Kennen Sie ihren Familiennamen?«
»Nein, aber wenn Sie mir noch mehr Zeit lassen, wird sie ihn mir gestimmt sagen. Das ist auch der Grund, warum ich erst mit Ihnen reden wollte. Ich halte es für besser, wenn Sie nicht versuchen, sie mit Fragen zu bombardieren. Sie ist verängstigt, und in diesem Zustand neigt sie zu extremen Reaktionen. Aber eines ist sicher: Auf Ihre Fragen wird sie Ihnen keine Antwort geben.«
»Wollen Sie damit vorschlagen, daß Sie diese Befragung durchführen?«
»Ganz genau. Sobald ich etwas erfahre, werde ich Sie selbstverständlich sofort benachrichtigen.«
»Wie wäre es dann wenigstens mit einer Beschreibung? Die brauchte ich dringend. Und ein Foto von ihr wäre auch sehr hilfreich.«
»Im Augenblick ist sie ziemlich unansehnlich, das heißt, total verdreckt. Ich werde ihr einen Handel vorschlagen – ich schicke Sie wieder weg, und sie steigt dafür in eine heiße Badewanne. Wenn sie erst einmal abgeschrubbt ist und saubere Wäsche anhat, bin ich sicher, daß sie nichts dagegen hat, wenn ich ein paar Fotos von ihr mache. Ich verspreche Ihnen auch, daß ich Ihnen noch heute nachmittag eines davon im Büro vorbeibringe.«
Er strich sich nachdenklich übers Kinn, nickte aber dann.
»Okay, sieht so aus, als würden Sie tatsächlich ziemlich viel von Kindern verstehen. Wenn Sie glauben, daß es so besser geht, dann probieren wir es aus. Besorgen Sie mir auch noch ihr ungefähres Gewicht, ihre Größe, besondere Kennzeichen und so weiter.«
»Das dürfte kein Problem sein.«
»Ich hoffe nur, daß es auch Ihrem Mann recht ist, ich meine, nach dem, was er heute früh am Telefon gesagt hat... Aber es ist Ihr Mann, Sie kennen ihn wahrscheinlich am besten.«
Paige begleitete den Sheriff hinaus und ging dann nach oben. Dort versuchte sie Jason anzurufen, um ihm Bescheid zu geben, aber laut Auskunft seiner Sekretärin Pat war er noch beim Mittagessen. Also hinterließ sie nur eine Nachricht, daß er sie zurückrufen solle, und ging dann ins Bad, um ein Schaumbad vorzubereiten; sie war sich ganz sicher, daß noch etwas von dem Erdbeerbad im Wäscheschrank sein mußte.
Freu dich, Lily, das macht dir bestimmt Spaß.
Es war die Akte Bernstein, und er war überzeugt, sie irgendwo in ihrer Stadtwohnung gelassen zu haben – nur wo, das wußte er nicht mehr. Ohnehin schon genervt von der Aussicht, daß das Kind länger bei ihnen bleiben würde, stimmte es ihn auch nicht gerade heiterer, als er sich jetzt durch das Chaos in ihrer Wohnung kämpfte – das Produkt von Paiges dubiosen hausfraulichen Fähigkeiten.
Er durchforstete Dutzende von Zeitschriften und losen Blättern auf Paiges Kommode, dann die auf seiner Kommode und schließlich das Bücherregal im Arbeitszimmer. Es war das erste Mal, daß er eine Akte verlegt hatte. Kein Wunder, erst der Umzug, dann die Ereignisse dieser Woche, genauer gesagt, der ganzen letzten schrecklichen Monate... Verdammt, das war einfach nicht fair.
Als sie frisch verheiratet gewesen waren, hatte Paige noch keine Kinder gewollt – und obwohl er gern welche gehabt hätte, hatte er verstanden, daß sie noch etwas Zeit brauchte. Sie hatte ja erst mit dreiundzwanzig mit dem Studium am College begonnen – ganz zu schweigen von einem richtigen Beruf – und hatte gerade mal ein paar Dollar auf die hohe Kante gelegt.
Im Gegensatz zu Jason hatte Paige als Kind um alles kämpfen müssen; nicht einmal ein simples Fahrrad hatte sie gehabt. Als diese aufregende Studentin aus seinem Bürgerrechtskursus ihm das bei ihrer ersten Verabredung bei einer Tasse Kaffee anvertraut hatte, war er schockiert gewesen. In Springfield, Illinois, hatten selbst die Kinder aus dem ärmsten Viertel ein Fahrrad. Es war vielleicht etwas übertrieben von ihm, ihr gleich bei ihrer zweiten Verabredung ein Zehn-Gang-Rad zu schenken, aber er hätte einen Handstand mitten auf der Fifth Avenue gemacht, nur um noch einmal jenes reizende, verführerische Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern, das ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging...
Als Jason endlich das Geräusch an der Wohnungstür bemerkte, war aus dem leisen Klopfen bereits ein lautes Hämmern geworden. Er eilte zur Tür und riß sie auf. Draußen stand Brooke, einen Henkelkorb am Arm. Sie trug ausgebleichte Jeans und ein schwarzes Bustier unter einem offenen Baumwollhemd... ihre langen, glatten blonden Haare fielen offen über ihren Rücken. Sie rauschte an ihm vorbei in die Wohnung und stellte den Korb auf dem Boden ab.
»Hey, was soll das?«
»Bekomme ich keinen Begrüßungskuß?«
»Aber natürlich.« Er lächelte, beugte sich vor, küßte sie auf die Wange und fragte: »Wie geht’s, wie steht’s, Nachbarin, wie geht es Gary? Und woher wußtest du überhaupt, daß ich hier bin?«
»Fragen, nichts als Fragen... Ich habe dich vom Fenster aus gesehen und mir gedacht, daß du mich vielleicht besuchen wolltest. Aber als ich dann vor deiner Tür stand und mir die Finger wundgeklopft habe, kam mir der Verdacht, du hättest dich vielleicht schon wieder durch die Hintertür verdrückt.«
»Arbeitest du nicht normalerweise um diese Zeit?«
»Schon, aber ich halte mich nicht immer so streng an meinen Stundenplan, schließlich gibt es ja so etwas wie mildernde Umstände.«
»Nun, wie du selbst siehst, ist Paige nicht da. Ich bin eigentlich nur auf einen Sprung vorbeigekommen, um eine Akte zu holen, die ich bis jetzt allerdings noch nicht gefunden habe.«
Sie ließ sich wie ein Kind auf den Boden sinken, packte ihn an den Händen und zog vorsichtig daran. »Komm, setz dich.«
»Was tust du da?«
»Wir zwei machen jetzt ein Picknick.« Mit diesen Worten deutete sie auf den Korb.
»Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
»Würde ich dich wohl je nicht ernst nehmen? Schau her...« Sie klappte den Deckel des Korbs zurück, holte eine kleine, rotweißkarierte Tischdecke heraus, die sie auf dem Fußboden ausbreitete, dann eine Schachtel mit Hähnchenkeulen, zwei Frühlingsrollen, kaltem Reis mit Schweinefleisch, süß-saurer Sauce, scharfem Senf...
»Chinesisch esse ich am liebsten.«
»Aha. Gibt es bei euch auf dem Land überhaupt ein chinesisches Restaurant?«
»Nicht daß ich wüßte.«
Sie lächelte und packte weiter eine Hasche Wein und zwei Kristallgläser aus. »Na dann, nimm Platz –«
»Wein! Nein, ich glaube nicht – da passe ich lieber. Ich muß schließlich wieder ins Büro zurück.«
Sie zog ihren berühmten Schmollmund... »Mußt du denn so entsetzlich steif sein?« Sie stemmte die Arme nach hinten und verlagerte ihr Gewicht. »Was du brauchst, mein Junge, das ist ein kleines Feuer, das dich anheizt.«
Pause, dann: »Was ich brauche, ist diese Akte.«
»Jason, es ist doch nur ein Lunch. Iß, und ich verspreche dir, hinterher diese Akte mit zu suchen.«
»Im Ernst? Ich werde dich daran erinnern.«
Mit dem Finger zeichnete sie ein Kreuz auf ihre Brust.
»Großes Ehrenwort... Aber jetzt komm.«
»Muß das eigentlich unbedingt auf dem Fußboden sein?
Ich meine, wir haben doch auch einen recht passablen Tisch –«
»Jason, wirst du dich jetzt wohl endlich hierhersetzen!«
Jason schlüpfte aus seiner Anzugjacke, lockerte seine Krawatte und rollte seine Hemdsärmel zurück... »Na gut, aber nur ein Glas Wein.«
Sie aßen und unterhielten sich, in erster Linie darüber, wie hart diese letzten Monate für ihn gewesen waren: Ausgerechnet jetzt, wo er und Paige endlich auf dem Land waren, mußte ihnen dieses Kind ins Haus schneien und noch mehr Unruhe in ihr Leben bringen. Als sie ihr drittes Glas Wein geleert hatten, fuhr sich Brooke mit der Zunge über die Lippen und schlüpfte aus ihrem Hemd; und als wäre es die natürlichste Sache der Welt, legte sie ihr Bustier ab und warf es zur Seite.
Erst jetzt, als Paige sie aus der Wanne holte und ihr das Haar trocknete, hatte sie Gelegenheit, sie richtig zu betrachten. Natürlich war sie ein hübsches kleines Ding – das war sogar schon durch die zentimeterdicke Schmutzschicht zu sehen gewesen... Aber frisch gewaschen, wie sie jetzt war, fielen ihre natürlich schimmernden rosigen Wangen und Lippen auf, die im starken Kontrast zu ihrer weißen Haut standen... und ihr Haar war nicht einfach blond, sondern von jenem Goldton, der sich selten länger als bis zum dritten Lebensjahr hält.
»Du riechst so gut«, sagte Paige, während sie die Schubladen durchwühlte, um etwas zum Anziehen zu finden, das Lily in etwa passen würde. Sie war zwar recht groß, aber Paige war doch noch etwas größer... Also suchte sie in ihrer normalen Garderobe nach einem Stück, das für alle Größen paßte. Da fielen ihr Jasons Trainingsanzüge ein. Obwohl er ein paar Zentimeter größer als sie war, hatte er kürzere Beine. Und wenn sie sich recht erinnerte, dann hatten seine Trainingshosen verstellbare Kordeln in der Taille und um die Knöchel.
»Und, wie gefällt es dir?« fragte Paige später, als Lily vor einem mannshohen Spiegel stand: von Jason hatte sie die Trainingshosen an, von Paige ein Hemd. Lily betrachtete ihr Spiegelbild, als ob sie es noch nie zuvor gesehen hätte oder sich nicht mehr daran erinnern konnte.
»Na ja, etwas zu schlabbrig, um richtig schick zu sein, hmm? Da muß ich dir recht geben. Ich würde vorschlagen, sobald wir die Fotos gemacht haben, kaufen wir dir etwas Richtiges zum Anziehen.«
Lily machte einen ziemlich nervösen Eindruck, als Paige sie fotografierte, so, als ob auch das eine völlig fremde Erfahrung für sie wäre. Ein Foto steckte Paige in einen Umschlag, den sie auf ihrem Weg zum Einkaufen beim Sheriff vorbeibringen wollte.
Paige hatte eigentlich nicht vorgehabt, auf eine Peperonipizza Halt zu machen, aber nachdem sie so lange herumgelaufen waren, mußten sie sich unbedingt irgendwohin setzen und ihre Beine ausruhen, und der Duft, der aus der Pizzeria drang, war noch bis in den entferntesten Winkel des Einkaufszentrums zu riechen. Als sie mit mindestens einem Dutzend Tüten beladen zu Hause ankamen, war es bereits sieben Uhr, und Jasons Wagen stand schon in der Auffahrt.
»Wo warst du?« fragte er, und seiner Stimme war die Verärgerung deutlich anzuhören.
Paige stellte ihre Tüten auf die Anrichte im Wohnzimmer, nahm Lily den Rest ab und stellte ihn ebenfalls dorthin.
»Ich habe dich noch nicht so früh zurückerwartet.«
»Trotzdem dachte ich, daß du hier sein würdest.«
»Es ist doch erst sieben Uhr, Jason, nicht Mitternacht.«
»Du hättest wenigstens eine Nachricht hinterlassen können.«
»Ich dachte eigentlich, daß ich noch vor dir wieder zu Hause bin. Wie wär’s, wenn ich dir etwas zum Abendessen herrichte?«
»Nein, nicht jetzt. Ich würde erst gern mit dir reden, deswegen bin ich auch eher heimgekommen.« Er warf Lily einen Blick zu, die sich in die Küche verdrückt hatte und ihn von dort aus mißtrauisch anstarrte.
Paiges Augen wanderten zwischen ihr und der Anrichte hin und her.
»Lily, warum bringst du die Tüten nicht hinauf in dein Zimmer? Vielleicht möchtest du deine neuen Kleider ja schon mal anprobieren, bevor du sie weghängst.«
Sie mußte zweimal gehen, und Jason wartete, bis Lily das zweite Mal oben verschwunden war, ehe er sagte: »Waren das meine Trainingshosen?«
Sie zuckte nur mit den Achseln.
»Sieht ja aus, als hättest du den ganzen Laden aufgekauft.«
»Wahrscheinlich habe ich etwas übertrieben. Aber es hat mir soviel Spaß gemacht, Jason. Weißt du, ich hatte noch nie Gelegenheit, in einem Geschäft für Mädchenkleidung einzukaufen, nur so darin herumzuwandern und auszusuchen, was mir gefällt.«
»Nie?«
»Die paar Dinge, die ich hatte, hat meine Mutter immer in irgendeinem Second-hand-Laden im Village gekauft. Sie sahen fürchterlich aus und paßten nie.« Paige hatte sich tatsächlich nie selbst etwas zum Anziehen kaufen können; erst als sie alt genug war, um zu arbeiten und eigenes Geld zu verdienen, hatte sie dazu Gelegenheit gehabt. Zu der Zeit aber war sie bereits den Kindergrößen entwachsen und kaufte selbst in Discount-Läden ein.
Er nickte begreifend. »Ich möchte deiner guten Laune wirklich keinen Dämpfer versetzen, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluß, daß es keine so gute Idee ist, das Mädchen hierzubehalten. Ich weiß nicht, ob das nicht gefährlich ist.«
»Gefährlich? Sie ist diejenige, der man weh getan hat.«
»Du vergißt, sie hat dir schon mal weh getan... an diesem ersten Abend im Wald, als sie dich auf den Kopf geschlagen hat.«
»Aber das wissen wir doch nicht sicher.«
»Doch, wir beide wissen es. Nicht wahr?«
Paige nickte. »Okay, aber da hatte sie Angst.«
»Das ist noch lange keine Entschuldigung.«
»Natürlich ist es das, die beste Entschuldigung überhaupt. Wenn man Angst hat, handelt man irrational, manchmal tut man Dinge, die einem normalerweise nicht im Traum einfallen würden.«
Sie bemerkte, wie er leicht die Stirn runzelte. Also war er nicht ihrer Meinung – trotzdem war sie nicht in der Stimmung für eine Diskussion. Sie setzte sich neben ihm auf das Sofa.
»Genug über Lily. Worüber wolltest du mit mir reden?«
»Was?«
»Du wolltest doch mit mir reden.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist jetzt nicht mehr so wichtig.«
»Bist du sicher?«
Er war sich sicher. Was hätte er denn schon sagen sollen: daß er sie an diesem Nachmittag betrogen, daß er in ihrer eigenen Wohnung mit ihrer besten Freundin geschlafen hatte? Das heißt, eigentlich sogar zweimal, um die Enthaltsamkeit der letzten drei Monate wieder wettzumachen. Und jetzt quälten ihn jede Menge Gewissensbisse... Und deswegen suchte er einen Anlaß, ihr etwas von seinem Kummer aufzuladen...
Eine Viertelstunde später stellte sie eine Schüssel mit Salat vor ihn auf den Tisch.
»Was ist los?« fragte sie.
»Nichts, warum?«
»Ich weiß nicht. Du machst so einen nachdenklichen Eindruck.«
Er schüttelte nur den Kopf und breitete eine Serviette über seinen Schoß. Dann nahm er die Flasche mit dem Dressing, schraubte den Verschluß ab und schüttete etwas davon über den Salat. »Sieht gut aus«, meinte er und warf einen fragenden Blick auf ihr leeres Set. »Was ist mit dir und dem Kind?«
»Wir haben unterwegs schon gegessen.« Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Er mochte es vielleicht nicht zugeben, aber irgend etwas machte ihm ganz eindeutig Sorgen. Konnte das immer noch mit Lilys Anwesenheit zu tun haben? Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf die seine. »Du hättest ihr Gesicht im Restaurant sehen sollen, Jason«, sagte sie, »und erst im Geschäft. Ich glaube, es war das erste Mal für sie.«
»Wie ich sehe, hast du sie in die Badewanne bekommen, sie sieht wirklich viel besser aus. War sie heute etwas gesprächiger, ist sie vielleicht aufgetaut und hat dir ihren Familiennamen verraten oder woher sie kommt?«
»Ich habe erfahren, daß sie elf Jahre alt ist. Sie hatte am sechsten September Geburtstag. Sie ist recht groß für ihr Alter, findest du nicht?«
»Tatsächlich?«
»Ich bitte dich. Es kann doch nicht so schrecklich sein für dich, ein bißchen entgegenkommender zu sein. Du hast ihr gerade einen richtigen Schrecken eingejagt. Und wenn du es nur aus Höflichkeit tust – sie ist schließlich Gast in unserem Haus.«
»Ich habe doch gar nichts zu ihr gesagt.«
»Das ist ja das Problem. Sie ist sehr sensibel, sie hat sofort begriffen, daß du etwas gegen sie hast. Sie sieht in dir wahrscheinlich eine Bedrohung.«
»Ich bedrohe sie?«
»Sie ist doch noch ein Kind. Sie faßt deine Haltung eben so auf.«
»Okay, okay, ich habe begriffen. Ich werde darauf achten.«
Das Baby bewegte sich – Paige lächelte, ergriff schnell seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Fühl mal. Nein, warte«, sie fuhr schnell mit seiner Hand über ihren Bauch, um die Stelle zu finden, wo die Beinchen des Babys verschwunden waren... »Genau hier.«
Er wartete einen Moment und strahlte dann über das ganze Gesicht, als er eine Bewegung spürte.
»Mensch, das hat ja ganz schön gestrampelt. Irgendwie ist das Ganze schon recht mysteriös, findest du nicht auch? Ich meine, daß er da in dir drin ist.«
Obwohl sie bereits seit einiger Zeit die Bewegungen des Kindes spürte – jedesmal, wenn das Baby um sich trat oder seine Lage veränderte –, war sie doch immer wieder aufs neue überrascht und erstaunt. Sie lächelte. »Falls es übrigens ein Mädchen sein sollte, mein lieber Jason, dann kann ich keine Garantie dafür übernehmen, daß es nicht mit einer Mordswut auf dich auf die Welt kommen wird. Ich meine, wie oft hast du von unserem wunderbaren ungeborenen Kind als einem ›Er‹ gesprochen? Und immer sind dir nur Jungennamen eingefallen.«
»Seltsam, daß ausgerechnet du das sagst. Mir ist nämlich aufgefallen, daß du bisher nur Mädchennamen vorgeschlagen hast.«
»Ich habe doch nur versucht, ein gewisses Gleichgewicht zu erhalten.«
»Aha, ich verstehe. Nun, falls ich unser Kind gekränkt haben sollte, dann keinesfalls mit Absicht. Vielleicht fällt es mir tatsächlich leichter, mir einen Jungen vorzustellen. Unser ganzes Haus war immer voll davon. Mädchen dagegen waren diese fremden Wesen, die wir nur in der Schule zu Gesicht bekamen: zerbrechlich, gefühlvoll, verschwörerisch und sehr, sehr kompliziert.« Er beugte sich vor, küßte Paige, stand auf, nahm sie bei der Hand und zog sie neben sich. »Komm mit und leiste mir Gesellschaft, wenn ich die Kleine anständig bei uns willkommen heiße.«
»Meinst du das im Ernst?«
»Wofür hältst du mich bloß, für unhöflich?«
Als sie oben auf dem Treppenabsatz standen, legte er den
Arm um sie und hielt sie zurück. »Hör doch.«
»Ficken, Scheiße, Nutte, Arschloch, Pisse –«
»Das ist sie«, sagte er.
»Ich weiß.«
»Dann hast du das schon mal gehört?«
»Sie ist wütend, verängstigt, sie tut es nur, wenn sie allein ist oder glaubt, allein zu sein. Kinder fluchen oft, das ist nichts Ungewöhnliches.«
»Aber nicht so, und nicht normale Kinder.«
Das stimmte zwar so nicht ganz, aber wieder wollte sie vermeiden, daß deswegen eine Diskussion zwischen ihnen entbrannte.
»Bitte, Jason«, sagte sie deshalb.
»Okay, okay.«
Lily saß auf dem nackten Fußboden neben der Schranktür, und die Tüten standen ungeöffnet auf der Kommode. Als sie unter die Tür traten, richtete sie sich auf und schaute von einem zum anderen.
»Hi, ich bin Jason«, sagte er. »Paige hat mir erzählt, daß du eine Weile bei uns bleiben wirst, zumindest, bis wir deine Familie ausfindig gemacht haben.«
Schweigen.
»Kennst du irgendwelche Spiele?«
Schweigen.
»Na ja, ich auch nicht.«
»Wie steht’s mit Scrabble?« meinte Paige.
Jason nickte. »Sie hat recht, Scrabble kann ich spielen.«
Das Telefon läutete – Lily schoß in die Höhe.
»Ich gehe schon ran«, sagte Jason und zog sich in das Schlafzimmer zurück.
Paige überredete Lily, ihr dabei zu helfen, die Tüten auszupacken, die Preisschilder daran zu entfernen und die neugekauften Kleider in die leeren Schubladen einer Kommode einzuräumen. Als Jason nach fünf Minuten immer noch nicht zurück war, ging Paige ihm nach. Er saß auf dem Bett und telefonierte nicht mehr.
»Wer war das? Warum bist du nicht wieder zurückgekommen?«
»Setz dich«, sagte er.
»Ist irgend etwas passiert, mit deinem Vater?«
»Nein, es geht um sie.« Er deutete mit dem Daumen auf das Zimmer nebenan. »Es war der Sheriff. Er weiß, wer sie ist.«
»So schnell schon?«
»Offensichtlich hat sie ungefähr hundertfünfzig Meilen nordwestlich von hier gewohnt, in Laurel Canyon. Ihr Verschwinden hat ziemlich viel Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt.«
»Wieso hat er dann nicht gleich gewußt, wer sie ist?«
Er zuckte mit den Achseln. »Er hat nicht gleich den entsprechenden Schluß gezogen. Inzwischen haben nämlich alle angenommen, daß sie tot ist.«
Eine plötzliche Kälte überzog sie, und sie verschränkte beide Arme fest vor der Brust. »Wie sind sie bloß auf die Idee gekommen?«
»Ihr Vater war Maynard Parks. Sagt dir das nichts?«
»Nein, sollte es?«
»Die TIMES hat die Geschichte damals gebracht; ich kann mich erinnern, sie gelesen zu haben. Den Nachbarn zufolge muß der Vater so eine Art Monster gewesen sein, der die Mutter regelmäßig grün und blau geschlagen hat. Anna Parks hatte keine Freunde, aber die Leute, die sie vom Sehen kannten, mochten sie offensichtlich. Außer daß sie unfähig war, ihren Marin zu verlassen, hatte niemand etwas Negatives gegen sie vorzubringen. Den Krankenblättern im Krankenhaus war zu entnehmen, daß die Frau in dreizehn Jahren fünfzehn Knochenbrüche erlitten hatte. Na, wahrscheinlich hat sie dann irgendwann beschlossen, endlich zurückzuschlagen, vermute ich. Sie hat ihm etwas Gutes zum Essen gekocht... und während er aß, hat sie ihn umgebracht.«
Paige hielt den Atem an.
»Auf ziemlich scheußliche Art und Weise übrigens.«
»Wie scheußlich?«
»Sie hat dazu eine Sichel benutzt. Sie hat ihm den Kopf abgesäbelt, Arme und Beine abgetrennt –«
»Das reicht. O mein Gott. Und Lily hat das mit angesehen?«
»Es scheint so.«
»Wann war das?«
»Willst du das wirklich wissen? Das war vor fast einem Jahr. Es geschah während eines heftigen Schneesturms, und das Kind rannte in die Nacht hinaus davon, ehe noch Hilfe eintreffen konnte. Die ganze Stadt hat tage-, wochenlang nach ihm gesucht, erst als die Schneeschmelze einsetzte, hat man die Suche eingestellt... In der Zwischenzeit ist die Mutter zu einer Gefängnisstrafe von fünfundzwanzig Jahren verurteilt worden.«
»Das scheint mir übertrieben viel angesichts dieser besonderen Umstände.«
Er zuckte mit den Achseln. »Soweit ich mich erinnern kann, hatte sie irgend so einen jungen Schnösel als Verteidiger – so einen Pflichtverteidiger für Mittellose, der wahrscheinlich geradewegs von der Uni kam. Er plädierte von vornherein auf ›schuldig‹ und lieferte sie damit voll dem Ermessen des Gerichts aus; außerdem hat er sich nicht einmal die Mühe gemacht, alle rechtlich zulässigen Mittel auszuschöpfen – sie bekam keine Verhandlung, geschweige denn eine Verhandlung vor einem Geschworenengericht.«
Paige schüttelte den Kopf; es dauerte eine Weile, bis ihre Stimme ihr wieder gehorchte. »Jason, wo, glaubst du, ist Lily gewesen? Meinst du, sie war die ganze Zeit über auf unserem Speicher?«
Er zuckte nur mit den Achseln.
»Und dieses Ungeheuer, Jason, was hat er ihr irangetan? Sie war damals ja noch keine zehn Jahre alt.«
Es war schon spät, als sie endlich schlafen gingen. Sie hatten erst Lily ins Bett gebracht, und dann hatten sie und Jason sich noch lange unterhalten... Obwohl ihr der Entschluß nicht leid tat, Lily eine Weile bei sich aufzunehmen und alles für sie zu tun, was in ihrer Macht stand, hatte die Neuigkeit des Sheriffs sie wirklich erschüttert. Und obwohl Jason wesentlich mehr gegen Lilys Anwesenheit im Haus einzuwenden hatte, mußte zu seinen Gunsten gesagt werden, daß er seine Bedenken nicht äußerte. An diesem Abend tat sie den beiden nur unendlich leid.
Ihr nächster Schritt würde eine Fahrt ins Frauengefängnis in Albany sein: Gleich am nächsten Morgen würde Jason Anna Parks besuchen, ihr von Lily erzählen und sich nach eventuellen Freunden oder den nächsten Verwandten erkundigen. Nach einem Menschen, dem sie ihre Tochter anvertrauen konnte.
Die Aussicht, die nächsten fünfundzwanzig Jahre im Gefängnis zu verbringen – was mußte das bloß für ein Gefühl sein? Vielleicht war es ja gar nicht so schlimm, da sie annehmen mußte, daß ihr Kind tot war. Aber jetzt würde es bestimmt schlimm werden – zu wissen, daß Lily heranwuchs, ohne daß sie es miterleben durfte. Aber das Ungeheuer würde es auch nicht miterleben... das würde Anna Parks als Genugtuung reichen müssen.
Fünfzehn Knochenbrüche in dreizehn Jahren... Was geschah an jenem Abend, Anna? Was unterschied diesen Abend von den anderen?