Читать книгу Dachbodengeflüster / Stimme des Blutes - Gloria Murphy - Страница 9

KAPITEL 2

Оглавление

Da sie wieder die halbe Nacht wachgelegen hatte, hörte Paige nicht, wie Jason sich am Sonntag morgen anzog und das Haus verließ. Aber als sie um neun Uhr aufwachte, fand sie einen Zettel auf seinem Kopfkissen: 8:00 Uhr, schlaf ruhig weiter – bin beim Joggen, bringe hinterher die Zeitung und ein paar Brötchen mit. Die Bäckerei war in Kingston – also schätzte sie, daß es mindestens noch eine halbe Stunde dauern würde, bis er zurückkam.

Sie rollte sich auf den Rücken, richtete sich aber abrupt wieder auf, als ihr das Geräusch vom Dachboden einfiel. Vielleicht sollte sie mal nach oben gehen und sich selbst umsehen – nein, es war besser, auf Jason zu warten. Wenn dort wirklich etwas in der Falle saß, dann war es besser, wenn sie nicht allein war. Statt dessen ging sie auf die Toilette und konzentrierte sich darauf, wie schön es sein würde, wenn sie eines Tages nicht mehr zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit aufs Klo rennen müßte. Mein Gott, in der vergangenen Nacht hatte sie mindestens fünfmal laufen müssen. Sicher, das Ganze war etwas lästig, aber doch ein beruhigendes Indiz dafür, daß das Baby lebte und... nun ja, auf ihrer Blase herumtrampelte.

Sie sehen also, Paige – dem Baby geht es gut, und das wird auch so bleiben... Sie und Jason werden schon dafür sorgen. Wieder verzogen sich ihre Lippen zu diesem albernen Grinsen, und sie beugte sich zu dem Spiegel vor, der über dem Waschbecken im Bad hing. Ihr Gesicht war in der letzten Zeit etwas voller geworden, die zarten Züge – wie sie in ihrem High-School-Jahrbuch beschrieben waren – wirkten aufgeschwemmt. Und ihre dunklen Augen waren von tiefen Ringen unterlegt.

Wenn sie ein kleines Mädchen bekam, würde es dann wie sie aussehen? Nicht unbedingt... sie hatte ihrer Mutter überhaupt nicht geähnelt. Sie stellte sich lieber einen kleinen Jungen vor, der Jasons dünne Lippen, sein breites Kinn hatte. Obwohl das Geschlecht des Kindes bereits mit Tests ermittelt war, hatten sie und Jason beschlossen, es lieber nicht wissen zu wollen. Was natürlich bedeutete, daß sie sich auf zwei Namen zu einigen hatten – obwohl sie sich bisher noch nicht einmal auf einen einigen konnten.

»Bist du wach, Paige?«

Sie lief nach unten – mehr denn je war sie sich der Tatsache bewußt, wie ungraziös ihre Bewegungen waren – und fiel ihm direkt in die Arme.

»Hey«, meinte er und ließ dabei fast die Zeitungen und die Tüten fallen, die er in der Hand hatte. »Womit habe ich das bloß verdient?«

»Du hast dir den Oscar dafür verdient, daß du der geduldigste Mensch bist, den ich kenne. Wie hältst du es zur Zeit nur mit mir aus?«

Er ging ihr in die Küche voraus, und während sie sich an den Tisch setzte und ihm zusah, fing er an, das Frühstück zusammenzustellen.

»Schwangere Frauen sind ja berüchtigt für ihre Stimmungsschwankungen«, sagte er. »Es geht rauf, runter, die ganze Zeit über. Als meine Mutter mit mir schwanger war, weinte sie jeden Morgen, wenn mein Vater zur Arbeit das Haus verließ. Sie hatte Angst, sie würde mit den anderen Kindern nicht fertig werden, während er weg war.«

»Na ja, sie war schwanger und hatte noch zwei Kleine in den Windeln stecken, da ist das kein Wunder.«

»Aber sie ist mit allem fertig geworden, jedenfalls bis er heimkam.« Jason stellte eine halbe Grapefruit, ein Glas mit fettarmer Milch und ein getoastetes Brötchen mit etwas Frischkäse vor Paige hin.

»Hier, iß das.«

Sie betrachtete ihn nachdenklich, als er sich über sein eigenes Frühstück hermachte. »Hast du jemals Mutter sein wollen?«

»Seltsame Frage.«

»Ich will mich ja nicht davor drücken, aber du machst das verdammt gut.«

»Du wirst das auch gut machen.«

»Ich kann in meiner Arbeit gut mit Kindern umgehen, aber das ist vermutlich nicht dasselbe, oder?«

»Iß deine Grapefruit.«

»Ich weiß einfach nicht, wie man Kinder richtig bemuttert. Vielleicht bin ich zu egoistisch... Jason, glaubst du, daß ich zu egoistisch bin, um eine gute Mutter zu sein?«

»Nein, das glaube ich nicht.« Er nahm den Wirtschaftsteil der NEW YORK TIMES und gab ihr eine dünne Wochenzeitschrift. »Hier, ich dachte, vielleicht interessierst du dich für die Lokalnachrichten.«

Sie nahm die Zeitung, schlug sie auf der zweiten Seite auf und überflog flüchtig einige Artikel.

»Was soll das, versuchst du vielleicht, mir nur harmlose Nachrichten zuzuschieben? So aufregende Dinge wie Kirchenbasare, Straßenreparaturen, Verleihung von Verdienstorden an Wölflinge, die Zusammenstellung von Schulmittagessen?«

»Du bist endlich raus aus der Stadt, weg von den ganzen Verbrechen. Warum sollst du das jetzt lesen?«

»Was ist mit Buchbesprechungen, Reise –«

Wortlos sammelte er mehrere lose Seiten der TIMES ein, legte sie vor sie hin und griff wieder nach seinem Brötchen.

»Oh, das hätte ich fast vergessen – die Falle, Jason. Ich habe heute nacht wieder Geräusche am Dachboden gehört. ..«

Jason betrachtete das Brötchen in seiner Hand. »Könnte das vielleicht noch etwas warten?« Aber als er ihre angespannte Miene sah, legte er das Brötchen auf den Tisch und schob seinen Stuhl zurück. »Okay, bringen wir es hinter uns.«

Bis zur Speichertür blieb sie dicht hinter ihm, hielt sich dann aber zurück.

»Siehst du etwas?«

»Nein. Die Falle ist leer.«

Paige machte nun doch einen vorsichtigen Schritt in den stickigen Raum: Luft kam hier nur durch zwei kleine Fenster herein; beide waren geschlossen. Sie ging an dem Gerümpel vorbei – alte Möbel und Werkzeuge, die die Vorbesitzer zurückgelassen hatten – und trat näher an den Käfig heran; entsetzt schlug sie die Hand vor die Brust.

»Das gibt es doch nicht.«

Jason beugte sich näher vor. »Was ist?«

»Der Köder, Jason... wo ist er hin?«

Clyde, der auf Jasons Anruf aus der Telefonzelle vor Otis‘ Supermarkt hin sofort zu den Bennetts hinauskam, meinte nur: »Es ist völlig unmöglich, daß ein Eichhörnchen an den Köder rankommt, ohne auf den Hebel zu treten.«

»Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, daß die Falle vielleicht defekt ist?« fragte Jason, als sie nebeneinander über den Käfig gebeugt standen.

»Sicher, aber das ist sie nicht. Hier, ich zeige es Ihnen.« Er tippte mit der Spitze eines Bleistiftes auf den Hebel und konnte gerade noch die Hand wegziehen, bevor die Käfigtür heruntersauste, den Bleistift verschluckte und zuschnappte.

»Was dann?« fragte Jason.

»War vielleicht irgend jemand hier oben und hat an dem Käfig herumgespielt?«

Jasons Augen folgten Paiges Blick zu der schweren Tür, die zu einer schmiedeeisernen Feuerleiter führte.

»Das können Sie vergessen«, sagte er und ging zu der Tür. »Das ist völlig unmöglich. Schauen Sie selbst, sie ist von innen verriegelt.« Er versuchte den großen, rostigen Riegel zur Seite zu schieben, aber der bewegte sich nicht. »Und außerdem ist der Riegel ganz verrostet. Ich hatte eigentlich vor, irgendwann mal in nächster Zeit das Schloß hier auszutauschen...«

»Das ist doch albern«, sagte Paige zu Clyde. »Natürlich hat irgendein Tier den Köder genommen. Ich glaube kaum, daß ein Einbrecher sich die Mühe machen würde.«

»Sicher, aber –«

»Jedenfalls hat die Falle nicht funktioniert«, schnitt Jason ihm das Wort ab. »Oder wir haben es mit einem superintelligenten Tier zu tun.«

Paige warf ihm einen fragenden Blick zu.

Er zuckte mit den Achseln und fing an, Wand und Dachpappe nach Öffnungen abzusuchen.

»Na, offensichtlich hat es einen Weg gefunden, den Hebel zu umgehen.«

Bevor Paige den Speicher verließ, schaute sie sich selbst noch flüchtig um – in einem Blumentopf entdeckte sie noch mal ein halbes Dutzend Eicheln. Dann legten sie ein weiteres Brotstück mit Erdnußbutter als Köder aus, und Clyde stopfte zusätzlich noch feste Drahtwolle zwischen die Gitterstäbe des Käfigs.

Dieses Mal gab es kein Entrinnen.

Es war schon fast neun Uhr, als Paige am Montag aufstand und wieder einen Zettel neben sich fand: Die Telefongesellschaft kommt heute und schließt das Telefon an. Habe nach der Falle gesehen – immer noch leer, sehe heute abend noch mal nach. Wie wäre es mit Richard... kurz Richie. Was meinst du?

Die leere Falle war keine Überraschung für sie: Da sie die ganze Nacht über nicht gut geschlafen hatte, hatte sie auf mögliche Geräusche gelauscht, aber keine gehört. Dabei war ihr ein Film eingefallen, den sie einmal im Fernsehen gesehen hatte: Er hatte von einer Ratte gehandelt, die so intelligent gewesen war, daß sie alle Versuche des Hausbesitzers, sie zu töten, vereitelt hatte. Und natürlich hatte diese Erinnerung nur dazu geführt, daß Paige sich ähnliche, schreckliche Szenen vorgestellt hatte... Und kaum eine Viertelstunde, nachdem das Telefon angeschlossen war, wurde es von ihr auch schon mit einem Anruf bei Brooke eingeweiht.

»Klingt ja nicht gerade so, als würdest du endlich zur Ruhe kommen, wie du es dir vorgestellt hast«, meinte Brooke.

»Oh, das kommt schon noch. Zuerst müssen wir uns eben diese Intelligenzbestie von Nagetier vom Hals schaffen. Aber es ist wirklich traumhaft schön, warte nur ab, bis du selbst diese herbstliche Landschaft hier siehst. Wann kommst du denn mit Gary?«

»Als wir uns das letzte Mal darüber unterhalten haben, war das übernächste Wochenende im Gespräch.«

»Höre ich da einen düsteren Unterton heraus?«

»Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr mit ihm gesprochen.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Die Eintrittskarten für Phantom...«

»Oh, richtig, du warst ja am Samstag im Theater. Wie hat es dir gefallen?«

»Wahnsinnig gut. Selbstverständlich ist Gary erst in der Pause erschienen. Das ist jetzt das dritte Mal in zwei Wochen, daß er zu spät kommt.«

»Er ist Arzt.«

»Das erzählt er mir auch dauernd... Soll ich vielleicht ständig meine Staffelei mit mir herumschleppen?«

»Warum nicht«, sagte Paige und ging bereitwillig auf diesen Themenwechsel ein. »Hey, wie wäre es, wenn du Gary am Sonntagabend allein in die Stadt zurückschickst? Du könntest doch noch ein paar Tage bleiben. Nur du und ich – Jason kann dich ja wieder in die Stadt zurückfahren, wann immer du willst. Du kannst nach Herzenslust malen ... ich werde dich bestimmt nicht stören.« Paige wußte Brookes strikten Stundenplan zu respektieren, die täglich von zehn bis drei Uhr arbeitete; und seit sie ihre eigene Arbeit an den städtischen Schulen aufgegeben hatte, hatte sie sich auch immer bemüht, ihr in dieser Zeit nicht in die Quere zu kommen.

»Soso«, schnurrte Brooke, und Paige sah deutlich ihren röten Schmollmund vor sich, der keinen Mann kalt ließ – das heißt, Gary bildete da gelegentlich eine Ausnahme. Dieser Schmollmund war sogar Paige aufgefallen, als sie – auf der Jagd nach einem Taxi – an jenem düsteren, verregneten Morgen Brooke über den Haufen gerannt hatte, die an eben diesem Tag in das Haus nebenan zog. Was zur Folge hatte, daß Bild und Malerin mit dem Gesicht, beziehungsweise mit der Vorderseite voran im Dreck landeten. Und wie sehr Paige sich auch bemühte, die Leinwand zu retten, während ihre neue, in Tränen aufgelöste Nachbarin im Badezimmer unter der Dusche stand – das Bild war ruiniert. Trotz des stürmischen Anfangs wurden Paige und Brooke bald enge Freundinnen.

»Das klingt ja wirklich sehr verlockend«, sagte Brooke schließlich, »aber ich habe eine Auftragsarbeit – ein Porträt, das in drei Wochen fertig sein muß. Darf ich vielleicht später noch mal auf dein Angebot zurückkommen?«

»Darüber läßt sich reden.«

Als Paige den Hörer auf die Gabel legte, lächelte sie in freudiger Erwartung des Besuchs. Bis dahin war dieses verdammte Eichhörnchen aber besser verschwunden. Es geschah, als sie den Sicherheitsgurt des Nissan um ihren Bauch legte und sich für die Fahrt zum Arzt fertig machte, bei dem sie um vier Uhr einen Termin hatte... da sah sie es, das heißt, sie sah ein unbestimmtes Etwas. Es bewegte sich sehr schnell – wie ein Blitz oder ein Schatten; was man eben so wahrnimmt, wenn man blinzelt.

Sie starrte noch lange auf denselben Fleck, auf den Fuß der Feuerleiter, wo jetzt nur noch ein Streifen trockenen Grases zu sehen war, der vom Haus weg in den Wald führte. Dann ließ sie ihren Blick hinauf in den ersten Stock zu dem schmiedeeisernen Balkon vor ihrer verschlossenen Schlafzimmertür wandern, um gleich darauf ihre Aufmerksamkeit dem Dachboden im zweiten Stock zuzuwenden: Die Tür war von innen verriegelt und so zugerostet, daß man sie nicht mehr aufbekam... das hatte sie mit eigenen Augen gesehen.

Das mußte das Eichhörnchen gewesen sein. Natürlich. Erst kletterte es die Feuerleiter hinauf und kroch dann durch ein von außen nicht sichtbares Loch in den Dachboden. Sie und Jason würden gleich heute abend noch einmal alles nach irgendwelchen Öffnungen untersuchen.

Dr. Milton Barry trug eine billige Hornbrille, die Art von Fassung, wie man sie normalerweise im Ausverkauf findet: Kaufe zwei, bezahle eine. Seine glänzenden, ausgebeulten Hosen unter dem kurzen, zerknitterten Kittel spiegelten seine absolute Achtlosigkeit modischen Ansprüchen gegenüber wider.

Als die Untersuchung vorüber und Paige wieder in Straßenkleidung war, nahm sie in seinem Sprechzimmer Platz. Er gab ihr eine Lamaze-Broschüre – sie schaute nur flüchtig darauf und steckte sie in ihre Handtasche. Dabei fiel ein rosa Zettel heraus.

»Was ist das?«

»Die Einladung zu einem geselligen Treffen, glaube ich. Meine Sprechstundenhilfe Lenore – sie leitet den Kurs – organisiert mit ein paar Frauen aus jeder neuen Gruppe immer ein Treffen für die ganze Familie. Normalerweise findet alle paar Monate eines statt. Sie werden sehen, die Leute hier sind sehr freundlich.«

Sie lächelte. »Schön. Oh, bevor Sie anfangen, möchte ich Sie bitten, mir das Geschlecht unseres Kindes nicht zu verraten. Jason und ich wollen uns lieber überraschen lassen.«

»Einverstanden. Nun, dem Baby geht es gut, Sie haben ja selbst seine Herztöne gehört.«

Sie nickte.

»Und was Sie betrifft... nun, Ihr Blutdruck ist wirklich höher, als es mir gefällt. Außerdem sehen Sie aus, als könnten Sie etwas mehr Schlaf vertragen.«

»Deswegen bin ich ja aufs Land gezogen.«

»So?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Geben Sie mir etwas Zeit.«

»Okay, aber wenn Sie mit jemandem darüber reden möchten... Manchmal hilft das.«

»Da gibt es nichts zu reden, wirklich. Ich bin nur der Typ Mensch, der sich ständig über alles mögliche Sorgen macht.«

»Ja, worüber denn?«

»Worüber machen sich schwangere Frauen wohl Sorgen?«

»Nein, nein, hier stelle ich die Fragen.«

Sie machte eine kurze Pause: »Ob das Baby gesund ist.«

»Das habe ich Ihnen doch bereits bestätigt.«

»Aber es kann doch alles mögliche passieren, Sie sind schließlich nicht Gott.«

»Wollen Sie, daß Gott das Kind entbindet?«

»Arbeitet er hier im Krankenhaus?«

Er lächelte; sie mochte sein Lächeln... und ihn auch. »Hören Sie, ich möchte mich nicht beklagen«, sagte sie schließlich. »Es ist nur so, daß... Haben Sie sich schon jemals so auf eine Sache gefreut, daß Sie glaubten, das könne unmöglich gutgehen? Das wäre zu schön, um wahr zu sein, als daß es tatsächlich passieren könnte?«

»Haben Sie das Gefühl, daß mit dem Kind etwas schiefgehen könnte?«

»Mit ihm oder mit mir. Sie haben ja meinen Krankenbericht gelesen – ich hatte eine Fehlgeburt, und vor ein paar Monaten bin ich von einem Jungen überfallen worden, der völlig zugedröhnt war und mich mit einem Messer bedroht hat. Das Baby hätte getötet werden können.«

»Wurde es aber nicht.«

»Aber es hätte passieren können. Alles hing an einem seidenen Faden. Woher wollen Sie wissen –«

»Sie wissen es auch nicht. Und das war Ihnen schon vor dem Überfall klar.«

»Ja, sicher, natürlich.« Sie lachte, seufzte. »Ich muß ja ziemlich einfältig klingen.«

Er schüttelte nur den Kopf und stützte sein Kinn auf die Hand.

»Der Mensch ist nun mal so, aber wir neigen dazu, bestimmte Dinge zu verdrängen. Jedenfalls, solange nichts auf dem Spiel steht.«

»Meine Ehe steht auf dem Spiel.« Wie aus heiterem Himmel war sie mit dieser Feststellung herausgeplatzt, die nicht im geringsten Zusammenhang zu ihrem Gespräch stand. Er machte eine ermutigende Geste, daß sie doch fortfahren möge.

»Ich meine damit unser Sexualleben«, sagte sie, nachdem sie beschlossen hatte, daß sie es ebensogut aussprechen konnte. »Ich habe zur Zeit einfach nicht dieselben Bedürfnisse, und ich weiß nicht einmal genau, warum das so ist. Außerdem habe ich Angst, Angst um das Baby und irgendwie auch um mich, glaube ich. Jedesmal, wenn mir seine Berührungen zu weit gehen, ziehe ich mich zurück.«

»Bei diesem Überfall, hat der Junge versucht –«

»Nein, nichts dergleichen. Außerdem hatte er keine Gelegenheit, überhaupt etwas zu tun. Ich habe ihn nur gesehen und bin auch schon ausgeflippt... habe um mich getreten und geboxt wie eine Verrückte, bin davongelaufen; ich kann mich kaum noch daran erinnern. Warum reagiere ich dann aber jetzt so ablehnend? Normalerweise«, fuhr sie lächelnd fort, »nun, früher hat Jason mich immer eine Rakete genannt.«

»Ich könnte Ihnen jede Menge Gründe für Ihr plötzliches Desinteresse nennen, der wahrscheinlichste dürfte Ihre Schwangerschaft sein. Während die meisten Frauen keine Probleme damit haben, den Verkehr weiterhin zu genießen, während sie ein Kind austragen, finden andere es unmöglich – und das aus den unterschiedlichsten Gründen. Einigen scheint ihr schwangerer Körper einfach nicht sexy genug zu sein, und eine Frau hat mir mal erzählt, daß in ihren Augen der sexuelle Akt die Reinheit des Gefäßes verletzt, das den Fötus trägt.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß in meinem Unterbewußtsein so ein Unsinn ablaufen sollte, aber... Glauben Sie, ich brauche einen Therapeuten?«

»Nun, vielleicht würde ich Ihnen sogar dazu raten, wenn es nicht noch ein paar Monate bis zur Entbindung wären. Mir scheint«, sagte er, und dabei umspielte ein Lächeln seine Lippen, »da wir es hier mit einer anscheinend besonders ausgeprägten Libido zu tun haben – da sollte doch alles wieder von selbst ins Lot kommen.«

Als sie die Praxis des Arztes verließ, war es grau und regnerisch, und trotzdem glühten ihre Wangen. Oh, was habe ich nur für ein loses Maul. Was war nur in sie gefahren, als sie ihm sagte, daß Jason sie immer eine Rakete nannte? Versuchte sie vielleicht allen Ernstes, ihre momentane Unzulänglichkeit mit großartigen Worten wieder auszugleichen?

Auf dem Weg nach Hause hielt sie am Supermarkt an und kaufte sich ein Taschenbuch von Jackie Collins, eine Schachtel mit gezuckerten Doughnuts, ein Pfund Hershy-Schokoladenküsse und eine Packung Kartoffelchips.

Jason war schließlich nicht da, um ihre Diät zu überwachen. Und was war schon dabei, wenn sie und das Baby Lust hatten, mal über die Stränge zu schlagen?

Der Besen ist ja lebendig, und wie! Ein langer, kräftiger, knorriger Körper und ein rundes, gelbes Gesicht, das die Dielenbretter küßt. »Hör auf mit dem Krach, steh auf und stell dich auf die Hinterbeine«, rief sie, aber er wollte, konnte nicht mit dem Fegen aufhören. Das war doch nichts, worüber man sich Sorgen machen mußte, oder? Das ist albern, Paige... albern und dumm, vielleicht sogar bloß ein Traum. Sie strengte sich mit dem Denken an und bemühte sich, ihr Gehirn auf Trab zu bringen, aber es klappte nicht so recht.

Sie beugte sich vor, versuchte den Besenstiel in die Hand zu bekommen, wollte dem Unfug ein Ende bereiten, aber das Gesicht aus Stroh verwandelte sich in sein häßliches Gesicht, und seine heiße Zunge schnappte nach ihren Knöcheln, leckte sie, verbrannte sie. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme blieb irgendwo tief in ihrem Hals stecken. Sie wurde nach hinten gefegt, immer weiter und weiter... sie schwankte, stolperte über ihre Füße. O Gott, paß auf das Baby auf, laß mich nicht stürzen!

Ihre Hände breiteten sich schützend über ihren Bauch, ihre Augen bemühten sich, die totale Dunkelheit zu durchdringen. Aber sie bewegte sich nicht, sondern konzentrierte sich auf die fegenden Geräusche, die von oben kamen... vom Dachboden. Ihr Herz hämmerte, sie setzte sich auf, suchte tastend die Lampe, schaltete sie an. Dann sah sie sich um: leeres Schokoladenpapier und Doughnuts-Krümel auf der Matratze, auf dem Nachttisch die Packung mit den Kartoffelchips und das Taschenbuch, die Uhr... Es war erst halb sieben abends – es würde noch eine Weile dauern, bis Jason nach Hause kam.

Schließlich hob sie langsam die Augen und starrte an die Decke. Irgend etwas war da oben... sollte sie hier unten bleiben und warten, ohne je zu erfahren, was es war? Oder sollte sie wie eine vernünftige Erwachsene nach oben gehen, die Tür aufmachen und nachschauen? Wenn sie sich dann noch bedroht fühlte – nun, das Telefon funktionierte –, dann konnte sie immer noch Clyde anrufen.

Mit einer Taschenlampe bewaffnet, stieg sie die Stufen hinauf, verharrte kurz auf dem Treppenabsatz und riß schließlich, an ihrer Unterlippe nagend, die Tür auf. Obwohl der Lichtstrahl voll auf den Käfig gerichtet war, konnte sie nicht hineinsehen... Sie machte ein paar Schritte näher heran: leer, und wieder war der Köder fort. Erschrocken wirbelte sie herum, und ihre bebenden Hände schickten den hellen Lichtstrahl unsicher zitternd über die Wände und in alle Ecken. Nichts... Und das merkwürdig fegende Geräusch – war es möglich, daß es auch aufgehört hatte?

Langsam und zögernd durchsuchte sie den Raum. Als das Licht auf einen Tisch neben der Innenwand fiel, hörte sie eine Bewegung. Erschrocken fuhr sie zurück und verlor kurz das Gleichgewicht. Als sie sich wieder gefangen hatte, versuchte sie mit fahrigen Bewegungen, die Ursache des Geräusches mit der Taschenlampe aufzuspüren. Plötzlich sprang etwas Großes unter dem Tisch hervor, flog durch die Luft und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. Dann hüpfte es hoch und rannte quer durch den Raum. Obwohl Paige den schnellen Bewegungen mit dem Lichtstrahl zu folgen versuchte, gelang es ihr erst, als das Ding vor dem winzigen Fenster ohne Gitter stehenblieb, es so weit wie möglich aufstieß und verschwand. Paige rannte zu dem Fenster, beugte sich hinaus und leuchtete mit der Taschenlampe nach unten.

Mittlerweile war das Ding schon fast die Feuerleiter hinuntergeklettert, und Paige war überzeugt, daß es ein Kind war.

Sie nahm sich gerade noch die Zeit, die Packung mit den Kartoffelchips in die Tasche ihres gelben Regenmantels zu stecken, und lief dann mit der Taschenlampe in der Hand in die Dunkelheit hinaus. Der heftige Schauer war zwar mittlerweile in einen dünnen Nieselregen übergegangen, aber es war ein Wind aufgekommen, der das nasse Laub gegen ihre Knöchel klatschen ließ und ihr Efeuranken ins Gesicht schlug, wenn sie sich zu bücken vergaß. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte, aber einem plötzlichen Impuls folgend, ging sie Richtung Fluß.

Paige glaubte zweimal, das Kind gesehen zu haben, aber gleich einem Tier, das sich in seiner eigenen Umgebung mit absoluter Leichtigkeit bewegt, tauchte es in Sekundenschnelle hinter einen Baum oder einen Busch und war verschwunden. Vernünftiger wäre es gewesen, die Polizei anzurufen und ihr die Suche zu überlassen. Als sie sich eben zu diesem Entschluß durchgerungen hatte und schnell wieder Richtung Haus zurücklaufen wollte, spürte sie, wie sie ein harter Gegenstand am Kopf traf. Sie sank zu Boden...

»Paige, Paige, hörst du mich, Paige?« Jedes Wort klang näher und lauter als das andere und brachte sie schnell wieder auf den nassen Waldboden zurück. Sie schlug die Augen auf und sah Jason, der sich mit einer Laterne über sie beugte.

»Bist du in Ordnung? Was ist denn eigentlich passiert?« fragte er.

»Ich weiß es nicht genau.« Sie faßte sich mit der Hand an den Kopf und fühlte eine Beule, so groß wie eine Kastanie. »Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen, glaube ich.« Sie deutete auf den Baum neben ihr. »Es war wahrscheinlich ein Ast.«

»Was treibst du überhaupt hier draußen?« Sie wollte sich aufsetzen, aber er hielt sie zurück. »Warte, vielleicht sollte ich –«

»Nein, mir geht es gut, ehrlich. Hier, hilf mir hoch.« Sie stützte sich auf seinem Arm ab, zögerte einen Moment und stand dann mit der Taschenlampe in der Hand auf. »Jason, hier draußen ist ein Kind.«

»Was für ein Kind?«

»Ich weiß es nicht, das vom Speicher.«

Er warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. »Vielleicht solltest du zum Arzt gehen.«

»Ich brauche keinen...« Sie steckte eine Hand in die Tasche, und als sie sie leer wieder herauszog, leuchtete sie mit der Lampe die Stelle auf dem Boden ab, wo sie gelegen hatte. »Die Chips sind weg, Jason.«

»Du redest wirres Zeug.«

»Nein, tue ich nicht, du kannst mir bloß nicht folgen. Ich meine Kartoffelchips. Ich habe sie eingesteckt, weil ich mir dachte, daß ich es damit vielleicht anlocken kann.«

»Ist hier wirklich ein Kind?«

»Das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu erklären.«

»Wenn hier wirklich ein Kind in der Nähe ist, warum ist es dann nicht stehengeblieben und hat dir geholfen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er ihr den Arm fest um die Schultern und führte sie Richtung Haus. »Komm, du bist ja völlig durchnäßt und voller Dreck, gehen wir zurück.«

»Aber was ist mit –«

»Wir rufen die Polizei an.«

Jason rief zuerst bei der Polizeistation in Briarwood an, die aus einem Sheriff und einem Hilfssheriff bestand. Dann erklärte er Paige: »Schätzchen, du solltest diese Beule besser einem Arzt zeigen. Warum springen wir nicht ins Auto, fahren kurz hinunter zum –«

»Ich habe dir doch gesagt, daß es mir gutgeht und daß ich nirgends hingehen werde. Das heißt, vielleicht unter die Dusche.«

»Du hast mir aber immer noch nicht erklärt, was du da draußen getan hast.«

»Ich habe das Kind aus dem Dachboden davonlaufen sehen.«

»Und das war der Grund, warum du mitten in der Nacht und bei diesem Wetter aus dem Haus bist?«

»Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen? Einfach ignorieren, daß ich etwas gesehen habe?«

»Nein, es wäre mir nur lieber, wenn du zuerst an dein Wohlergehen denkst. Du hättest telefonisch Hilfe holen können.«

»Das schien mir nicht nötig.«

»Na, wunderbar. Du machst dir doch sonst solche Sorgen um dein Baby, oder?«

»Was soll das heißen?«

»Ich will dir damit nur klarmachen, wie unvernünftig es war, mitten in der Nacht und bei diesem miserablen Wetter in den Wald zu laufen. Du hättest dir irgend etwas holen oder dich ernstlich verletzen können, vielleicht hätte dich sogar ein Tier angefallen... Ganz zu schweigen von der Heidenangst, die du mir eingejagt hast: Ich komme fix und fertig heim, finde das Haus hell erleuchtet wie einen Christbaum vor, die Türen stehen sperrangelweit offen, das Bett liegt voller Süßigkeiten, und meine schwangere Frau ist nirgends zu finden. Was soll ich denn da denken?«

»Okay, was ist es?«

»Bitte?«

»Für welche Sünde soll ich Buße tun – dafür, daß ich mich im Regen herumgetrieben, Energie verschwendet oder Junkfood gegessen habe? Wer weiß, vielleicht hängt das ja alles zusammen. Weißt du was, ich gehe jetzt unter die Dusche. Wenn der Sheriff kommt, dann ruf mich. Ich begleite ihn besser.«

»Wozu?«

»Ich weiß nicht, vielleicht kann ich helfen. Jason, da draußen ist ein kleines Kind ganz allein.«

»Junge oder Mädchen?«

»Das habe ich nicht gesehen, aber ist das wichtig?«

»Nein, ich bin nur neugierig. Es ist kaum zu glauben, daß sich ein Kind auf unserem Speicher aufgehalten hat und wir keine Ahnung davon hatten. Soviel zum Thema Eichhörnchen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schüttelte er nur den Kopf und hob einlenkend die Hand: »Paige, ich werde jetzt deinen Gynäkologen anrufen. Soll er entscheiden, ob er dich sehen will oder nicht.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »In Ordnung, wenn du unbedingt willst. Aber dann sag ihm auch, daß ich mich gut fühle... ich habe weder Schmerzen, noch fühle ich mich benommen oder schläfrig, und schlecht ist mir auch nicht.«

Dr. Barry traf eine diplomatische Entscheidung – obwohl er es nicht für nötig hielt, daß Paige gleich zu ihm kam, sollte sie doch sofort anrufen, falls irgend etwas Ungewöhnliches eintrat, falls ihr übel wurde oder falls Blutungen auftreten sollten. Auf jeden Fall hielt er es für vernünftig, wenn Paige den Rest des Abends im Bett verbrachte.

Aber es war gar nicht nötig, dieses Thema noch länger auszuführen – als Paige aus der Dusche kam, war sie selbst schon von Zweifeln befallen: War es vielleicht möglich, daß dem Baby bei ihrem Sturz etwas passiert war? Sie war zwar nicht sehr fest gestürzt – das Laub hatte ihren Sturz abgefedert, und die Beule an ihrem Kopf, die zwar definitiv von einem harten Gegenstand stammte, war nur unbedeutend...

Die eigentliche Frage war jedoch, wie das geschehen konnte. War ein niedrighängender Ast gegen sie geschnellt? Nein, das bezweifelte sie. Hatte das Kind sie vielleicht niedergeschlagen? Was für ein Kind würde... Dumme Frage, Paige – ein verängstigtes Kind natürlich.

Und dennoch überlief sie ein leichtes Frösteln. Wenn das Kind sie einmal angegriffen hatte, würde es das auch ein zweites Mal tun? Der zweite Überfall in wenigen Monaten, obwohl man diesen Vorfall kaum mit dem anderen vergleichen konnte: Dieses Mal war sie die Verfolgerin gewesen, und das Kind war davongerannt in dem Versuch, einer fremden Erwachsenen zu entkommen. Hätte sie als Kind nicht ebenso reagiert? Doch zunächst einmal hatte sie nichts dagegen einzuwenden, daß Jason ihren Pyjama holte, die Krümel aus dem Bett wischte, das Laken und die Steppdecke glattstrich und ihr eine Schüssel voll dampfender Hühnerbrühe brachte.

Sheriff Bulldoon kam tatsächlich, aber ohne seinen Deputy. Nachdem er sich angehört hatte, wie Paige das Kind aus dem Speicher hatte davonlaufen sehen, brachte er fast den ganzen restlichen Abend damit zu, das Grundstück zu durchsuchen, und läutete erst gegen halb zwölf wieder an ihrer Tür. Jason ließ ihn herein, bestand aber darauf, daß Paige im Bett blieb.

»Und?« fragte sie, als Jason wieder zurückkam.

»Er hat die ganze Gegend durchgekämmt, den Weg bis zum Fluß und wieder zurück, hat aber nicht das geringste entdeckt. Er vermutet, daß du das Kind verjagt hast und daß es woandershin ist.«

»Aber was ist das für ein Kind?«

»Er hat nicht die leiseste Vermutung.«

»Ich begreife das nicht – wie kann ein kleines Kind vermißt werden und die Polizei nichts davon wissen? Ich meine, wenn wir hier in der Stadt wären, okay, dann ja... Aber hier draußen?«

Er zuckte mit den Achseln, schaltete die Lampe aus, legte sich ins Bett und zog die Decke über sie.

»Hast du über den Namen nachgedacht – Richard?« fragte er.

»Ja, aber ich mag ihn nicht.«

»Wieso?«

»Ich weiß nicht, aber das war jemand, den ich nicht mochte. Ich glaube, er hieß Richie, nein Rich. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wer das war oder woher ich ihn kannte. Schau, selbst jetzt macht es mich noch ganz nervös, wenn ich versuche, mich daran zu erinnern.«

In der Nacht stand Paige mehrmals auf, trat ans Fenster und spähte in die Dunkelheit hinaus. Nicht, daß sie etwa erwartete, etwas zu sehen... oder etwas zu hören. Bestimmt kein Kratzen oder Fegen mehr... Das Kind war irgendwo da draußen, fror sicherlich, hatte Hunger und schreckliche Angst; nicht einmal in den Schutz eines warmen Dachbodens konnte es sich flüchten.

Sie dachte auch noch mal über den Namen nach – Rich... Sie konnte sich an zwei Jungen namens Richard von der High-School erinnern, keinen von beiden hatte sie gut gekannt. Und dann war da noch der Supermarktverkäufer in der Stadt. Aber keiner von denen hätte so ein ungutes Gefühl in ihr auslösen können...

Dachbodengeflüster / Stimme des Blutes

Подняться наверх