Читать книгу Jenseits des Spessarts - Günter Huth - Страница 13
ОглавлениеZehn Tage später:
Simon Kerner las mit zufriedener Miene das Schreiben, das er sich an Brunners Adresse schicken ließ. Vor knapp zwei Wochen hatte er den Antrag gestellt, heute gegen Mittag wurde er bereits vom Postboten eingeworfen.
„Gratuliere, Herr Rechtsanwalt Dr. Simon Kerner“, stellte er im Selbstgespräch für sich fest. „Jetzt benötigt der Herr Rechtsanwalt ein Büro und dann vor allen Dingen Klienten.“
Mittlerweile hatte sich Kerner einen dunkelgrünen Jeep Wrangler zugelegt, um wieder mobil zu sein. In einem früheren Leben, bevor er nach Südafrika ausgewandert war, fuhr er immer einen Land Rover Defender. Nachdem aber seine damalige Lebensgefährtin in seinem Wagen auf dramatische Weise zu Tode gekommen war, lehnte er diese Marke aus emotionalen Gründen ab. Obwohl er im Augenblick natürlich kein Geländefahrzeug benötigte, hatte er sich in Afrika derart an diesen Fahrzeugtypus gewöhnt, dass er sich auch hier einen Jeep gekauft hatte.
Im Augenblick stand er mit einer Anwaltskanzlei in Karlstadt in Verhandlung, deren Inhaber aus Altersgründen aufhören wollte. Er hoffte, dass sein Ruf als Jurist in Main-Spessart noch nicht vergessen war. Von daher hoffte er, die Mandanten des ausscheidenden Anwalts übernehmen zu können und neue hinzuzugewinnen. Er machte von der Zulassung ein Foto und schickte es mittels seines Mobiltelefons an den Kanzleiinhaber. Große Erläuterungen musste er dazu nicht schreiben. Die Botschaft war selbsterklärend. Er steckte das Handy wieder ein, das er zwei Tage nach ihrer Ankunft in zweifacher Ausführung kaufte, eines für Theresa und eines für sich. Zunächst würden sie die Geräte als Prepaidhandys benutzen. Für Vertragsangelegenheiten hatte er jetzt nicht die Zeit.
Theresa würde sich freuen, wenn sie gleich erfuhr, dass sie wieder die Möglichkeit hatten, sich eine Existenz zu schaffen. Simon Kerner verließ die Wohnung seines Freundes und stieg ins Auto. Sein täglicher Besuch bei seiner Tochter lag an. Zuvor wollte er eine Kleinigkeit einkaufen, um Clara und Theresa eine Freude zu machen. Er kam an einer Buchhandlung vorbei und nahm für Theresa etwas Lesestoff mit. Wenig später fuhr er durch die Schranke an der Einfahrt zum Universitätsklinikum in der Josef-Schneider-Straße. Die Kinderkrebsstation lag nur ein paar Meter entfernt. Es dauerte etwas, bis er einen Parkplatz gefunden hatte. Da die Besuchsmöglichkeiten für Eltern ganztägig gegeben waren, konnte er direkt zu Claras Zimmer durchgehen. Er machte sich in einem dafür vorgesehenen Bereich steril, dann klopfte er leise an und trat ein. Mutter und Kind belegten im Augenblick ein gemeinsames Zimmer. Sein erster Blick ging zu seiner Tochter, die in ihrem Bett am Fenster lag. Sie schlief. Theresa, die neben dem Bett saß, legte die Zeitschrift, in der sie geblättert hatte, zur Seite und kam ihm entgegen. Sie umarmten sich kurz, dann fragte Kerner: „Wie geht es ihr heute?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Die Chemotherapie schlaucht sie schon gewaltig. Sie hat kaum Appetit. Sie schläft viel. Der Professor meint, das würde ihr helfen Kraft zu schöpfen. Wenn man ihm Glauben schenken kann, verträgt sie die Chemo ganz gut und es sei schon gelungen, das Wachstum der Krebszellen etwas zu bremsen.“
„Das ist ja schon mal eine gute Nachricht!“ Kerner musterte den Infusionsbeutel, der an einem Ständer neben dem Bett hing und über einen Schlauch eine Flüssigkeit in ihre Venen tropfte.
„Ist das …?“
Theresa verstand ihn, ohne dass er es aussprach.
„Nein, das ist keine Chemikalie. Es handelt sich um eine Lösung, die ihre Kräfte unterstützen soll.“
„Hast du schon etwas vom Typisierungsergebnis gehört?“ Da Clara mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne einen Knochenmarkspender nicht auskommen würde, hatten sich Mutter und Vater sofort nach der Ankunft in der Klinik auf ihre Eignung als Spender untersuchen lassen. Außerdem lief eine Anfrage bei der zentralen Datenbank für Knochenmarkspender.
„Nein, leider noch nicht. Es würde im Augenblick auch noch nicht gehen, da ihr Immunsystem erst völlig heruntergefahren werden muss, damit es eine Spende nicht abstößt.“
Simon Kerner setzte sich auf einen anderen Stuhl. Gemeinsam betrachteten sie ihr Kind, das in seinen jungen Jahren schon einen Kampf ausfechten musste, den oft ein Erwachsener nicht bestand.
„Wenn du mal gerne an die frische Luft gehen möchtest, dann geh nur. Ich bin ja jetzt da.“ Er nickte Theresa auffordernd zu. Sie zögerte einen Moment, dann meinte sie: „Nicht weit von hier ist ein großer Supermarkt. Ich könnte wirklich ein paar Dinge brauchen, Hygieneartikel und so. Außerdem geht mir langsam die Wäsche aus. Das Krankenhaus wäscht mir meine Sachen gegen eine Gebühr dankenswerterweise mit, wenn ich sie entsprechend markiere.“
„Geh nur, wie gesagt, ich bin da.“
Man konnte Theresa anmerken, wie schwer es ihr fiel, sich vom Krankenbett ihrer Tochter zu entfernen. Kerner stand auf und nahm sie in den Arm. Schließlich ging sie leise zur Tür und schlich sich hinaus. Kerner setzte sich auf das zweite Bett im Zimmer, das Theresa benutzte. Er zog seine Schuhe aus und lehnte sich bequem zurück. Auf der Seite liegend versank er in der Betrachtung seines Kindes, das mit blassem Gesicht in den Kissen lag. In Gedanken sah er sie lebenslustig, laut lachend über den Hof der Rangerstation toben. Rex, verspielt wie ein Welpe, immer um sie herum. Die Ranger waren ihr alle verfallen gewesen und ließen sich von ihr herumkommandieren. Während er so sinnierte, sank ihm der Kopf auf das Kissen und er fiel in einen flachen Schlummer.
Er schreckte hoch, als es an die Tür klopfte. Er richtete sich auf. Dr. Herbert Jansen, der Oberarzt, kam herein. Er warf Clara einen aufmerksamen Blick zu. Das Kind war nicht aufgewacht.
„Guten Tag, Herr Kerner, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie aufgeweckt habe, aber ich wollte Ihnen die positive Nachricht gleich persönlich überbringen …“
Simon Kerner sah ihn aufmerksam an. Jegliche Müdigkeit war verflogen.
„Ihre Frau ist …?“ Der Arzt sah Kerner fragend an.
„Sie ist nur mal kurz an die frische Luft“, erklärte er, „sie muss jeden Moment zurückkommen.“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, als die Tür aufging und Theresa leise eintrat. Als sie Dr. Jansen sah, erschrak sie. Sie versuchte die Mienen der beiden Männer zu lesen. Ein besorgter Blick ging zu ihrem Kind.
„Ist etwas mit Clara?“, fragte sie, während sie ihre Einkaufstüte in der Ecke auf dem Boden abstellte.
„Nein“, gab Kerner zurück, „aber Dr. Jansen wollte uns gerade eine Nachricht überbringen.“
„Ja“, klinkte sich der Arzt ein, „wir haben soeben die Laborergebnisse der Typisierung bekommen.“ Er legte eine kleine Kunstpause ein, dann sah er Theresa direkt an und lächelte: „Ich kann Ihnen gratulieren, Frau Schönbrunn, Sie als Mutter sind mit Ihrer Tochter kompatibel und kommen daher als Spenderin in Frage!“
Für einen Augenblick herrschte in dem Krankenzimmer völlige Ruhe, die nur von dem leisen Piepsen des Infusionsapparats unterbrochen wurde. Theresa und Simon waren derartig geschockt, dass es ihnen die Sprache verschlagen hatte.
„… und da gibt es keinen Irrtum?“, wollte Theresa wissen, die ihr Glück nicht fassen konnte. Sie griff nach der Hand Simons und drückte sie mit voller Kraft.
„Nein, das Ergebnis ist definitiv positiv“, versicherte der Arzt. Er sah Simon Kerner an. „Bei Ihnen ist es leider negativ.“ Er hob bedauernd die Schultern. „Aber wir haben jetzt eine reelle Chance, Clara helfen zu können. Glauben Sie mir, so schnell einen Spender zu finden, ist wirklich nicht die Regel, eher die seltene Ausnahme.“
Als sich Theresa und Simon in die Arme nahmen, lächelte er leise und verließ das Krankenzimmer. Solche glücklichen Momente waren in seinem Beruf leider nicht die Tagesordnung.
Als sich die beiden eine Minute später wieder voneinander lösten, waren beide tränenüberströmt.
„Warum weint Ihr?“, kam die leise Stimme von Clara. Sie war offenbar aufgewacht. Sie hatte in den letzten Wochen viele Tränen ihrer Mutter erlebt, auch wenn diese sich sehr bemühte, sich nichts anmerken zu lassen.
Theresa setzte sich zu ihr ans Bett, strahlte sie an und nahm sie in die Arme. „Mein Schatz, wir haben gerade eine ganz wunderbare Nachricht von Dr. Jansen bekommen. – Stell dir vor, ich komme für dich als Knochenmarkspenderin in Frage!“
Clara sah ihre Mutter mit großen Augen an. Mittlerweile waren ihr trotz ihrem Kindsein viele Details ihrer Krankheit bekannt und sie wusste, dass das, was da in ihrem Körper wütete, eine gefährliche Krankheit war.
„Werde ich dann wieder gesund?“
„Ja, du wirst wieder gesund!“, erwiderte Kerner im Brustton der Überzeugung. Es machte keinen Sinn, das Kind mit den vielen Unwägbarkeiten, die noch auf dem Weg zu ihrer Genesung warteten, zu belasten.
Kerner blieb noch eine Stunde, dann eilte er zu seinem Wagen und machte sich auf den Heimweg zu Brunners Wohnung. Er musste jetzt einige Telefonate erledigen und dann anschließend ein paar Wohnungen ansehen, um ihre Existenz hier in der Heimat auf sichere Füße zu stellen. Er wollte seinem Freund nicht länger als unbedingt notwendig zur Last fallen. Innerlich war er sehr froh!