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Prolog

Die Stimme

Als sich das Telefon im Arbeitszimmer kurz nach Mitternacht mit einem speziellen Klingelton meldete, zuckte der Angerufene leicht zusammen. Diese Tonfolge, die nur der Stimme vorbehalten war, hatte er schon lange nicht mehr gehört. Es war geraume Zeit verstrichen, seit sich die Stimme das letzte Mal gemeldet hatte. Damals kündigte sie den Angriff einer feindlichen Clique auf seine Familie an. Der Angriff erfolgte dann auch, sie konnten ihn aber erfolgreich abwehren. Dabei wurde aber ein männliches Familienmitglied getötet und mehrere schwer verletzt. Ein Preis, den man bereit sein musste, zu zahlen, weil er dem Ganzen diente. Seitdem hatte er sein Gebiet ausdehnen und seine Macht festigen können. Er würde der Stimme zwar niemals absolut vertrauen, aber er hatte die Person hinter der Stimme in der Hand. Freiwillige Loyalität war etwas Schönes, aber eine anfällige Pflanze, die durch Egoismus, Geldgier und Machtstreben leicht zerstört werden konnte. Er bevorzugte wirkungsvollen Druck, mit Angst als Basis. Der Angerufene verfügte über ein ganzes Repertoire dieser Druckmittel gegenüber verschiedenen Menschen, auch gegenüber der Person, die er nur Die Stimme nannte. Paranoid, wie sie war, rief sie immer mit einer technisch verfälschten Stimme an, so auch jetzt. Furcht vor Tod oder Leid war eines, aber nicht das wirkungsvollste Instrument, über das er verfügte. Er förderte die Person hinter der Stimme, ließ sie aufsteigen, so hoch, dass die Angst vor einem Absturz viel schwerer wog als die Furcht vor einer schnellen Kugel. Der Angerufene meldete sich: „Es freut mich, wieder einmal von dir zu hören“, erklärte er ohne Begrüßungsfloskeln. „Was gibt es?“

„Es braut sich politisch etwas zusammen“, erwiderte die Stimme ohne Einleitung. „Ihr habt es übertrieben. Insbesondere die Familie von Mustafa al-Asmani. Zu viele schwerwiegende Verstöße gegen das Strafgesetzbuch. Manche seiner jungen Männer glauben, sie könnten sich alles erlauben. Die jüngste Schießerei in einem Döner-Imbiss mit zwei Toten hat das Fass zum Überlaufen gebracht.“

„Daran waren wir nicht beteiligt“, gab der Angerufene zurück.

„Die Falken in der Regierung differenzieren da nicht. Die Nachrichten von Zwangsheiraten, die Übergriffe auf Polizeibeamte und dann ein Ehrenmord auf offener Straße. Ihr denkt, das geht immer weiter so. Ich fürchte, hier wird sich bald einiges ändern. Ich kann dir nur raten, deine Familie zu disziplinieren.“

Ehe der Angerufene noch etwas erwidern konnte, klickte es in der Leitung. Die Stimme hatte aufgelegt. Er lehnte sich auf dem bequemen Diwan zurück und blickte zum Fenster hinaus. In der Ferne sah er die beleuchtete Festung Marienberg. Die Stimme hatte recht. In der letzten Zeit waren die jungen Männer von beiden Spessart-Clans zu aufmüpfig geworden. Sie respektierten nur noch ihre eigenen Gesetze und Regeln. Im Prinzip waren sich die beiden Clan-Chefs im Großraum Spessart einig, die Finger vom Einflussbereich des jeweils anderen zu lassen. Er überlegte kurz, ob er dem gegnerischen al-Asmani-Clan eine Warnung zukommen lassen sollte, entschied sich dann aber dagegen.

Jenseits des Spessarts

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