Читать книгу Die Spur des Wolfes - Günter Huth - Страница 10
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Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner, Leiter der Würzburger Mordkommission, traf gleichzeitig mit der Spurensicherung in einem mit allem möglichen elektronischen Equipment ausgestatteten Einsatzbus am Tatort ein. Sein Stellvertreter, Kriminalhauptkommissar Kauswitz, saß während der Fahrt am Steuer, so dass sich Brunner in der Zeit telefonisch erste Einzelheiten über den Tatablauf und den Täter verschaffen konnte. Nachdem er erfahren hatte, dass es sich bei dem flüchtigen Täter um einen gewissen Wolfgang Hasenstamm handelte, schlugen bei ihm sofort alle Alarmglocken. Der Name war ihm durchaus in Erinnerung. Er selbst hatte vor ungefähr sieben Jahren, damals noch als stellvertretender Leiter der Mordkommission, im Fall eines getöteten Forstbeamten ermittelt. Der Mann war in einem Revier, etwa zwanzig Kilometer von Wiesmühl entfernt, abends auf die Jagd gegangen und am nächsten Morgen nicht mehr zurückgekehrt. Ein Kollege fand ihn, schrecklich zugerichtet, im Wald.
Im Rahmen der Ermittlungen geriet auch der Name Hasenstamm ins Visier der Kriminalpolizei. Die Beamten hatten aus der Bevölkerung anonyme Hinweise erhalten, dass ein Richard Hasenstamm und sein Sohn Wolfgang, die in der Nähe des Dorfes in einer heruntergekommenen Mühle lebten, wildern würden. Allerdings gab es keine konkreten Zeugenaussagen. Natürlich war Brunner dieser Spur nachgegangen und hatte das Umfeld der Hasenstamms gründlich durchleuchtet. Er erinnerte sich noch ganz genau, weil der Fall so frustrierend gewesen war. Vater und Sohn hatten jede Aussage verweigert. Die Mutter bestätigte, dass die beiden Männer zum Tatzeitpunkt in der Mühle waren. Eine Tante, die mit in der Mühle lebte, schwieg.
Im Umfeld ermittelten die Beamten, dass Wolfgang Hasenstamm Zimmermann gelernt hatte, dann längere Zeit auf Wanderschaft gewesen und irgendwann wieder aufgetaucht war. Er brachte einen jungen Wolfshund mit, der mit ihm in der halb verfallenen Mühle am Rande von Wiesmühl lebte und ihm praktisch nicht von der Seite wich. Die Menschen meinten, der Hund sei gefährlich. Da der tote Förster am Hals Bisswunden von einem großen Raubtier aufzeigte, bekam man eine richterliche Durchsuchungsanordnung und durchforstete die Mühle. Aber man fand weder Hinweise auf illegale Aktivitäten der beiden noch den Hund. Wolfgang Hasenstamm gab damals an, das Tier sei ihm entlaufen. Es gelang den Beamten allerdings, am Fressnapf des Hundes Genmaterial sicherzustellen. Man verglich es mit den Spuren, die man an der Wunde des Försters gefunden hatte. Sie waren übereinstimmend. Hasenstamms Wolfshund hatte also den Förster angefallen. Es war allerdings nicht feststellbar, ob das Tier auf den Förster gehetzt worden war oder aus eigenem Antrieb angegriffen hatte. Blieb nur noch zu klären, wer den Pfeil abgeschossen hatte, der für sich alleine gereicht hätte, den Förster zu töten.
Als die Beamten Wolfgang Hasenstamm festnehmen wollten, war er verschwunden. Richard, der zweite als Täter in Frage kommende Verdächtige, bekam von seiner Frau und seiner Schwester für die Tatzeit ein Alibi und musste wieder aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Zu seinem Sohn befragt, verweigerte er die Aussage. Er blieb zwar im Fokus der Ermittler, verhielt sich aber vollständig unauffällig. Damals begann die Jagd auf Wolfgang Hasenstamm. Sie gestaltete sich allerdings äußerst schwierig. Er hatte sich offenbar mit seinem großen Wolfshund in die Wälder zurückgezogen. Immer wieder fanden Jäger und Förster Spuren, dass in den Spessartrevieren gewildert wurde. Die Pfotenabdrücke eines großen Wolfes in der Nähe eines toten Rehs oder eines Hirschkalbs sprachen dabei eine beredte Sprache. Hasenstamm und der Wolf teilten sich dabei wohl die Beute, denn Teile des Wildes zeigten Fraßspuren, andere Stücke waren mit dem Messer aus den Kadavern herausgetrennt. Man verdächtigte Hasenstamm, von den Höfen der Bauern Enten, Gänse und Hühner zu stehlen. Gelegentlich wurde auch in Kellern eingebrochen. Straftaten, die auch ihm zugeordnet wurden. Erwischt wurde er nie. Als ein Förster an einem Morgen ein frisch gerissenes Reh und bei der Beute eindeutige Wolfs- und Schuhspuren fand, verständigte er sofort die Polizei. Eberhard Brunner war eine Stunde später mit zwei Hundeführern und drei weiteren Beamten am Riss. Zunächst kam Rex, ein erfahrener Deutscher Schäferhund, zum Einsatz. Der kräftige Rüde nahm sofort die Fährte auf. Der zweite Hundeführer folgte mit seinem jungen Dobermannrüden Sascha in einigen Meter Abstand hinterher. Sascha hatte erst vor kurzem seine Ausbildung abgeschlossen und sollte erst dann zum Einsatz kommen, wenn der Erfolg der Suche abzusehen war. In Begleitung des Försters, der als ortskundiger Führer diente, ging es fast einen Kilometer über Stock und Stein, rauf und runter über die Höhenzüge des Spessarts. An Rex’ Verhalten erkannte der Beamte, dass der Rüde noch immer auf der Fährte war. Gelegentliche Schuh- und Pfotenabdrücke im weichen Waldboden gaben weitere Hinweise. Vor einer dichten Fichtenanpflanzung zog Rex plötzlich stark am Riemen. Der Förster erklärte ihnen, dass es sich um eine mehrere Hektar große Anpflanzung handele, die sehr dicht und daher nur sehr schwer zu durchdringen sei. Nach kurzer Beratung entschlossen sich die beiden Hundeführer, ihre Hunde von der Leine zu lassen, so dass sie sich frei vor ihnen bewegen konnten. Die beiden Beamten wollten ihnen so schnell wie möglich folgen. Rex und Sascha waren gleich zwischen den dicht stehenden Bäumen verschwunden. Schon nach wenigen Metern mussten die nachfolgenden Männer feststellen, dass der Forstbeamte recht hatte, das Gehölz war wirklich fast undurchdringlich. Teilweise mussten die beiden Beamten auf allen vieren kriechen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Von ihren Hunden hörten sie zunächst nichts mehr. Beide waren so abgerichtet, dass sie Laut geben würden, wenn sie auf etwas gestoßen wären.
Die beiden Männer verloren langsam jegliches Zeitgefühl. Sie verständigten sich gegenseitig durch Zurufe, da sie kaum Sichtkontakt hatten. Plötzlich hörten sie ein ganzes Stück vor ihnen wütendes Bellen, dann lautes Knurren. Kurz darauf rumpelte es laut, dabei hörte man ein wildes, fauchendes Knurren, das wenig später von heftigem Schmerzensgejaule unterbrochen wurde. Das war eindeutig Kampfeslärm! Wahrscheinlich waren die Hunde auf den Wolf gestoßen und er stellte sich seinen Verfolgern. Die beiden Beamten ließen alle Vorsicht fahren. Mit Armen und Beinen wühlten sie sich durch die Zweige in Richtung Kampfplatz. Sie mussten ihren Hunden unbedingt zu Hilfe eilen! Als sie Minuten später, völlig verschwitzt, verdreckt und mit Fichtennadeln bedeckt mit gezogenen Dienstwaffen vor ihren vierbeinigen Kameraden standen, zerriss es ihnen fast das Herz. Rex lag mit durchbissener Kehle im Dreck und zuckte nur noch schwach. Sascha blutete ebenfalls heftig aus zahlreichen Bisswunden, sein Bauch war aufgerissen und die Eingeweide hingen ihm heraus. Von dem Wolf war nichts mehr zu sehen. Den beiden Beamten war völlig klar, dass es für beide Hunde keine Rettung mehr gab. Mit Tränen in den Augen hoben sie ihre Pistolen und erlösten Rex und Sascha von ihren Leiden. Hasenstamm wurde nicht gesehen.
Später kamen die Ermittler niemals mehr so nahe an Hasenstamm und seinen Wolfshund heran.
Im Prozess kam natürlich auch der tragische Tod von Wolfgang Hasenstamms Freundin zur Sprache. Anna Drescher war eine Waise, die von der Landwirtsfamilie Karl-Heinz und Doris Lederer aus Wiesmühl mit zehn Jahren adoptiert worden war. Die Eltern des Mädchens, die als Entwicklungshelfer in Afrika gearbeitet hatten, waren bei einem Flugzeugabsturz in Kenia ums Leben gekommen. Doris Lederer war die Schwester der verunglückten Yvonne Drescher und hatte das Kind später mit ihrem Mann zu sich geholt. Anna war ein rebellisches Kind. Von Afrika her ein sehr eigenständiges, von Zwängen weitgehend freies Leben gewöhnt, ordnete sie sich nur mühsam in den Haushalt der sehr konservativen, stark religiös geprägten Adoptiveltern ein. Da sie in Afrika von ihren Eltern unterrichtet worden war, empfand sie die Schule in Deutschland als einengend und den Lehrstoff als wenig sinnvoll. Entsprechend unkooperativ verhielt sie sich. Nach einer Ehrenrunde schaffte sie mit Ach und Krach dann doch das Abitur.
Letztlich ließ sich nicht mehr genau ermitteln, wie die junge Frau und Hasenstamm zusammengekommen waren. Vermutlich verliebte sich Anna in den unabhängigen, jungen Mann, weil er ein Leben führte, das sie an ihre ungezwungene, freie Jugend in Afrika erinnerte. Es konnte damals nicht festgestellt werden, ob sie an den Straftaten Hasenstamms in irgendeiner Form beteiligt gewesen war. Hasenstamm verneinte dies, schwieg sich im Übrigen aber beharrlich aus. Jedenfalls half sie ihm auf der Flucht, wobei sie dann tödlich verunglückt war. Als dieser Punkt im Strafverfahren zur Sprache kam, konnte man bei Wolfgang Hasenstamm erstmals eine emotionale Regung erkennen. Bei der Bestätigung Kerners, dass er als Staatsanwalt den Schießbefehl auf das Fluchtauto empfohlen hatte, sprang Hasenstamm wutentbrannt auf und musste vom Justizwachtmeister mit Gewalt auf seinen Platz zurückgedrückt werden.
Brunner würde niemals das Verhalten von Vater und Sohn Hasenstamm beim weiteren Prozessfortgang vergessen. Lange Zeit waren beide wie versteinerte Monumente vor ihren Richtern gesessen und hatten geschwiegen. Simon Kerner gelang es nicht, das Schweigen der Männer zu brechen.
Von einem Tag auf den anderen änderte sich diese Haltung der Angeklagten. Sehr zur Überraschung der Prozessbeteiligten erklärten die Verteidiger der beiden am zweiten Verhandlungstag, dass Wolfgang Hasenstamm eine Aussage machen wolle. Mit dürren Worten gestand er, auf den Förster Wohlfahrt einen Pfeil abgeschossen zu haben, weil dieser mit seinem Gewehr auf ihn geschossen hatte. Der Wolfshund habe ihn bedroht gesehen und darauf den Förster aus eigenem Antrieb angefallen. Sein Vater sei zwar an gemeinsam begangener Jagdwilderei beteiligt gewesen, habe mit dem Tod des Forstbeamten aber nichts zu tun. Richard Hasenstamm bestätigte die Aussage seines Sohnes.
Aufgrund dieser beiden Aussagen kam das Gericht zu der Überzeugung, dass Wolfgang Hasenstamm des Totschlags und der schweren Jagdwilderei überführt sei. Zur Aburteilung wegen Mordes reichten die Beweise nicht. So wurde er zu dreizehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil nahm Wolfgang Hasenstamm wortlos und mit undurchdringlicher Miene an.
Richard Hasenstamm wurde vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen, jedoch wegen schwerer Jagdwilderei zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
Wie es der Anwalt Hasenstamms geschafft hatte, ihm zur Beerdigung seines Vaters einen bewachten Ausgang zu verschaffen, war Brunner rätselhaft. Brunner vermutete, dass sich Hasenstamm in der Haft ordentlich geführt hatte und der Gefängnispsychologe dadurch zu der Überzeugung gekommen war, diese Aktion verantworten zu können. Eine folgenreiche Fehlentscheidung! Hasenstamm hatte alle getäuscht. Die Umstände seiner Befreiungsaktion bewiesen, zu welcher Brutalität dieser Mann fähig war.
Während Brunner auf dem Friedhof die Umstände der Tat untersuchte, sorgte Kauswitz dafür, dass sämtliche denkbaren Stellen, die Hasenstamm nach seiner Flucht anlaufen konnte, überwacht wurden. Dazu gehörte insbesondere die heimische Mühle. Außerdem forderte er mehrere Hundeführer an, die die Spur des Geflüchteten verfolgen sollten, solange sie noch warm war. Die Hunde verloren jedoch schon nach wenigen Kilometern die Spur des Flüchtigen, da er offenbar längere Zeit in einem Bach gelaufen war. Die Suchtrupps mussten mit Einbruch der Dunkelheit die Verfolgung aufgeben. Am nächsten Tag veranlasste Eberhard Brunner eine Polizeiaktion, wie sie der Spessart, insbesondere die Gegend um Wiesmühl, noch nicht erlebt hatte.
Noch am Abend rief Eberhard Brunner seinen Freund Simon Kerner zuhause in Partenstein an und berichtete ihm von der geglückten Flucht Wolfgang Hasenstamms. Er verschwieg ihm auch die brutalen Umstände des Ausbruchs nicht. Kerner war sofort alarmiert. Er konnte sich noch sehr gut an den Prozess mit den beiden schweigsamen Angeklagten erinnern. Wolfgang Hasenstamm hatte ihn stundenlang mit brennenden Augen angestarrt. Für Kerner war sofort klar, dass in erster Linie der Wunsch nach Vergeltung für den Tod seiner Freundin die Triebfeder seiner Flucht war.
Die Leitung der Justizvollzugsanstalt, in der Hasenstamm eingesessen war, wurde von der Kriminalpolizei umgehend vom Entkommen des Verbrechers und vom Tod des einen und der Verletzung des anderen Beamten unterrichtet. Die Nachricht von der erfolgreichen Flucht Hasenstamms und deren Umständen verbreiteten sich unter den Strafgefangenen wie ein Lauffeuer. Es gab nur zwei Gefangene, die mit Hasenstamm näheren Kontakt hatten, da sie, getrennt voneinander, eine Zeit lang die Zelle mit ihm geteilt hatten. Einer der beiden stand den Ermittlern am nächsten Tag im Zimmer des Gefängnisdirektors Rede und Antwort. Für seine Kooperationsbereitschaft versprach er sich Vorteile bei der gerichtlichen Prüfung des Erlasses seiner Restfreiheitsstrafe auf Bewährung. Er beschrieb Hasenstamm als ausgesprochenen Einzelgänger, der von allen Gefangenen respektiert wurde. Kurz nach dem Strafantritt Hasenstamms hatte sich ein Vorfall ereignet, der ermittlungstechnisch nie aufgeklärt werden konnte. Der Strafgefangene Dimitri Bulganov, wegen mehrfachen Totschlags zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt, war im Knast der unangefochtene Anführer einer Russengang. Wegen seiner Brutalität, insbesondere gegenüber Neuzugängen unter den Gefängnisinsassen, war er gefürchtet. Was alle Gefangenen mit Spannung erwarteten, ereignete sich zwei Tage nach Hasenstamms Strafantritt beim morgendlichen Duschen. Die Vollzugsbeamten hatten sich auf einen Wink Bulganovs vor den Duschraum zurückgezogen. Es gab im Knast nun einmal eine Hierarchie, die sie stillschweigend duldeten, solange die Ordnung in der Anstalt dadurch nicht gestört wurde. Als die anderen Insassen mitbekamen, was sich da zusammenbraute, verschwanden sie schleunigst aus der Dusche. Lediglich zwei Männer aus Bulganovs Gang blieben zurück.
Was sich im Detail im Duschraum wirklich abspielte, wurde nie aufgeklärt, da alle Beteiligten schwiegen. Letztlich hatte keiner der Männer ein gesteigertes Interesse daran, die Angelegenheit aufzuwühlen. Die Vollzugsbeamten sagten im Rahmen eines Dienstaufsichtsverfahrens aus, sie hätten aus der Dusche klatschende Geräusche gehört, dann einen unterdrückten Schrei. Sie seien von einer harmlosen Rangelei unter Gefangenen ausgegangen. Kurz darauf verließ zu ihrer Verwunderung Hasenstamm völlig gelassen den Raum und nickte den beiden Beamten mit einem merkwürdigen Lächeln zu. Es sollte einer der wenigen Momente gewesen sein, dass man den Gefangenen Hasenstamm lächeln sah. Die Beamten sahen daraufhin in der Dusche nach und fanden zu ihrer Überraschung die Gangmitglieder Bulganovs vor, deren Köpfe ziemlich malträtiert aussahen. Dem einen blutete die Nase, dem anderen schwoll bereits ein Auge zu. Bulganov selbst hatte es aber am härtesten getroffen. Das Handtuch, das sich der Russe aufs Gesicht drückte, war bereits blutgetränkt. Die Beamten bemerkten zu ihrem Entsetzen, dass aus dem linken Auge des Russen ein Fremdkörper herausstand. Die beiden Gangmitglieder des Russen behaupteten stur und steif, dass es sich um einen Unfall handele. Sie hätten unter der Dusche spaßeshalber etwas herumgecatcht, um den Neuen ein wenig zu testen. Dabei sei Bulganov auf den nassen Kacheln ausgerutscht und mit dem Gesicht gegen die Wand der Dusche geknallt. Dabei sei eine Fliese gebrochen und ein Fragment in Bulganovs Auge gedrungen. Das Auge des Russen konnte nicht gerettet werden. Bei der nachfolgenden Untersuchung stießen die Ermittler auf die berühmte Mauer des Schweigens. Die Russen blieben bei ihrer Version der Geschichte und Hasenstamms Kommentar bestand in einem Schulterzucken. Bulganov trug fortan eine schwarze Augenklappe und ging Hasenstamm aus dem Weg. Der Burgfrieden wurde nie gebrochen. Es drang nie nach außen, dass Hasenstamm Bulganov gedroht hatte, ihm beim nächsten Versuch einer Belästigung durch ihn oder seine Vasallen die Eier abzuschneiden. Keiner zweifelte an der Ernsthaftigkeit seiner Drohung.
Auch der kooperative Strafgefangene behauptete, von dem Fluchtplan Hasenstamms keine Ahnung gehabt zu haben. Wolfgang Hasenstamm teilte sich niemandem mit. Er sprach nur das Nötigste. Wie der Gefangene berichtete, hatte sich Hasenstamm nur einmal, es war, wie er sagte, der Jahrestag des Todes seiner Freundin, emotional berührt gezeigt und sein Schweigen ein wenig gebrochen. Dabei habe er sich dahingehend geäußert, dass er ein ausgezeichnetes Personengedächtnis habe und sich ihm alle Gesichter der Menschen, die am Tod seiner Anna beteiligt gewesen waren, eingebrannt hätten.
Diese Informationen wurden umgehend an Eberhard Brunner weitergegeben. Beim Studium der Verfahrensakten stieß er auf der Rückseite eines Blattes auf einen interessanten handschriftlichen Vermerk, den er fast übersehen hätte. Danach hatte man die damalige Anordnung der Ordnungsbehörde, die eine Tötung des als höchst gefährlich eingestuften Wolfshunds Hasenstamms bestimmt hatte, nicht vollzogen. Wenige Monate nach der Verurteilung Hasenstamms stellte ein Wissenschaftler, der im Spessart zu Studienzwecken ein Versuchsgehege mit einem kleinen Wolfsrudel unterhielt, den Antrag, ihm einen ihm zugelaufenen Wolfsrüden zu überlassen. Er benötige Ersatz für einen eingegangenen Leitrüden und garantiere, dass von dem Tier keine Gefahr mehr ausgehen würde. Daraufhin wurde das „Todesurteil“ aufgehoben. Zweck der Studie war es, die Rudelstrukturen einer Wolfsfamilie zu studieren, um daraus Erkenntnisse für das Wolfmanagement in Bayern zu gewinnen. Die Spezies Wolf, die sich in den letzten Jahren als Einwanderer aus dem Osten viele ihrer alten Jagdgründe in Teilen Deutschlands zurückerobert hatte, stand nach Expertenmeinung auch kurz vor der Einwanderung in den Spessart.
Brunner ging in Gedanken eine Liste der Personen durch, die mit dem damaligen Unfalltod von Hasenstamms Freundin in Verbindung gebracht werden konnten. Für ihn gab es keinen Zweifel, Simon Kerner und er standen an oberster Stelle. Hasenstamm hatte im Prozess ja deutlich vor Augen geführt bekommen, wer den Schießbefehl zu verantworten hatte. Besonderes Kopfzerbrechen bereitete dem Leiter der Mordkommission die Tatsache, dass sich Hasenstamm bei der Flucht in den Besitz einer Schusswaffe gebracht hatte. Die ganze Art und Weise, wie er sich befreit hatte, ließ keinen Zweifel daran, wie skrupellos der Mann war. Eberhard Brunner war sich absolut sicher, dass Hasenstamm rücksichtslos von ihr Gebrauch machen würde.