Читать книгу Die Spur des Wolfes - Günter Huth - Страница 11
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Hasenstamm brachte die Strecke vom Friedhof bis zum Waldrand mit größtmöglichem Tempo hinter sich. Dort brach er mit Gewalt durch den Randbewuchs des Hochwaldes. Dass er sich dabei an Brombeersträuchern zahlreiche Kratzer und Risswunden zufügte und auch sein Anzug Risse erhielt, nahm er kaum zur Kenntnis. Ihm war klar, dass der Alarmanruf des handlungsfähig gebliebenen Vollzugsbeamten bei den Verantwortlichen zu einer hektischen Betriebsamkeit führen würde. Viele Hunde sind des Hasen Tod, sagte man. Hasenstamm beabsichtigte diese Volksweisheit zu widerlegen. In der nächsten Stunde musste er so viel Distanz wie möglich zwischen sich und seine Verfolger bringen und dann erst einmal untertauchen, bis sich der erste Aktionismus des Polizeiapparats etwas gelegt hatte. Schon nach kurzer Zeit waren seine billigen schwarzen Straßenschuhe verdreckt und vom feuchten Erdreich durchweicht. Er musste sich so schnell wie möglich andere Kleidung und Schuhe besorgen. Hasenstamm lauschte kurz. In weiter Ferne waren die Sirenen von Einsatzfahrzeugen zu hören. Sie waren schnell, das musste er zugeben. Entschlossen rückte er die Pistole hinter dem Gürtel zurecht, dann marschierte er eilig weiter. Er war sich sicher, bald würden die ersten Hubschrauber über dem Gebiet kreisen.
Hasenstamm hatte den Vorteil, dass er genau wusste, wo er sich befand. Die Wälder um Wiesmühl kannte er seit seiner Jugend wie seine Hosentasche. In der nächsten Senke stieß er auf einen schmalen Waldbach, der, wie er wusste, sich eine ganze Strecke durch das Tal zog und am Ende in den künstlichen Teich einer Karpfenzuchtanlage mündete. Dank der Regenfälle der vergangenen Tage führte der Bach ausreichend Wasser. Ohne zu zögern, stieg er mit seinen Schuhen hinein und folgte dem Gewässer. Mit diesem Trick hatte er sich schon einmal vierbeinige Verfolger vom Hals gehalten. Er achtete sorgsam darauf, dass er mit seinen Hosenbeinen nicht am Uferbewuchs anstreifte. Hasenstamm war sicher, dass die Hundeführer, sobald die Hunde seine Spur verloren, ein ganzes Stück am Ufer weiterlaufen würden, um die Stelle zu finden, wo er den Bach wieder verlassen hatte. Eine Dreiviertelstunde später sprang er an einer bestimmten Stelle mit einem langen Satz aus dem Wasser heraus. Hier erstreckte sich beiderseits des Fließgewässers felsiger Grund, auf dem seine Witterung nicht lange halten würde. Hasenstamm setzte sich ein ganzes Stück entfernt auf einen umgestürzten Baumstamm. Er zog seine Schuhe aus und ließ das Wasser herauslaufen. Anschließend wrang er seine Socken aus und zog sie sich wieder an. Weit konnte er mit dem durchweichten Schuhwerk nicht mehr laufen, sonst würde er Blasen bekommen. Es war außerdem dringend notwendig, sich neue, zweckmäßigere Kleidung zu besorgen. Er wusste, wo er Ersatz bekommen konnte. Nach seiner Kenntnis befand sich etwa einen Kilometer von seinem jetzigen Standort entfernt eine Waldarbeiterhütte. Sie diente den Holzhauern vor allen Dingen im Winter als Unterstand, in dem man sich aufwärmen und seine Mahlzeiten einnehmen konnte. Jetzt, im Sommer, wurde die Hütte wahrscheinlich gar nicht benutzt. Vor seiner Verhaftung hatte sich Hasenstamm mit seinem Vater öfter einmal in diese oder ähnliche Behausungen zurückgezogen, wenn sie auf Wilderertour waren. Schwitzend zog er sich das Anzugjackett aus und öffnete die Knöpfe seines Hemdes bis zum Gürtel. Dichte schwarze Brusthaare drängten sich hervor.
Während er einen vergrasten Waldweg entlangmarschierte, fiel sein Blick auf eine Ansammlung von Baumschösslingen, die alle an der Spitze, am Leittrieb, verbissen waren. Hasenstamm nahm dies zufrieden zur Kenntnis. Die Verursacher dieses Verbisses waren unzweifelhaft Rehe. Für ihn ein wichtiger Hinweis, dass in der Gegend ausreichend Wild vorhanden war. Seine Ernährung war also gesichert.
Die Waldarbeiterhütte stand ein Stück abseits von einem schmalen Forstweg, am Rande einer Fichtenkultur. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren die Bäume kaum drei Meter hoch. In den Jahren, die er im Knast verbracht hatte, waren die schnellwüchsigen Bäume ein ganzes Stück in die Höhe geschossen. Die Hütte hob sich von dem dunklen Hintergrund der tiefgrünen Zweige kaum ab. Der geflohene Sträfling blieb eine ganze Zeit lang hinter dem Stamm einer dicken Buche verborgen stehen und beobachtete die Umgebung. Alles war ruhig, keine Menschenseele zu sehen. Auch die Vögel zeigten keinerlei Anzeichen von Beunruhigung. Etwas träge zwitscherten sie in der dumpfen Schwüle. Schließlich verließ Hasenstamm seine Deckung und näherte sich dem Eingang. Er zog nicht einmal seine Schusswaffe, da er fest überzeugt war, dass hier keine Gefahr auf ihn lauerte. Seine Verfolger konnten unmöglich schon hier sein.
Die im Blockhausstil gebaute Behausung war außen schon stark verwittert, was auf ihr hohes Alter schließen ließ. Das aus Teerpappe bestehende Dach zeigte eine dicke Moosschicht, die lediglich um das Kaminrohr, das nach oben herausstand, unterbrochen war. Links vom Eingang stapelte sich entlang der Hüttenwand ordentlich aufgeschichtetes Feuerholz. Darüber befanden sich die geschlossenen Holzläden eines Fensters. Hasenstamm musterte den von Fichtennadeln bedeckten Waldboden in der Nähe des Eingangs. Keine Anzeichen von Fußspuren. Jetzt galt es nur noch das dicke Vorhängeschloss am Eingang zu beseitigen. Der Bügel des Schlosses war durch zwei Löcher des angerosteten Riegels geführt, der dadurch nicht zurückgeschoben werden konnte. Der Riegel war mit der Tür und dem Rahmen verschraubt. Die Schrauben waren ebenfalls verrostet, das Holz, das sie hielt, porös. Hasenstamm hätte den Riegel ohne Probleme mit einem der Holzscheite abschlagen können, das hätte aber auffällige Spuren hinterlassen. Er griff in die Hosentasche und zog das feststellbare Klappmesser heraus, das er dem Vollzugsbeamten abgenommen hatte. Er klappte es auf. Die Schneide der einseitig geschliffenen Klinge war sehr scharf. Hasenstamm drückte die stumpfe, hinter der Spitze liegende Rückseite des Messers in den Schlitz einer der Schrauben. Vorsichtig übte er Druck aus und begann zu drehen. Es ging erstaunlich leicht. Zwei Minuten später war der Riegel mitsamt Schloss entfernt und die Tür ließ sich mit einem protestierenden Quietschen öffnen. Langsam trat er ein. Dabei musste er sich bücken, um nicht gegen den oberen Türstock zu stoßen. Im Raum roch es dumpf und modrig. Nachdem er einen Schritt weitergegangen war, hörte er hinter sich ein Rascheln. Als er herumwirbelte, konnte er gerade noch eine Maus erkennen, die fluchtartig ihr bisher so störungsfreies Domizil verließ. Durch das Licht, das durch die offene Tür kam, konnte er die Einrichtung erkennen. Ein grober Tisch, eine Eckbank, die irgendwo ausrangiert worden war, und mehrere Holzstühle bildeten die Grundausstattung. In der Ecke stand ein alter Kanonenofen. An die Wand gelehnt zwei zusammengeklappte Schlafpritschen aus Militärbeständen. Unter der Eckbank entdeckte er einen Haufen alte Blätter. Anscheinend der Unterschlupf der Maus. Diese Nager fanden immer einen Zugang.
Da Hasenstamm den Fensterladen nicht öffnen wollte, ließ er die Tür offen. Mit einem Ruck schob er den Tisch nach vorne und öffnete den Deckel der tiefen Truhe der Eckbank. Seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Mit einem zufriedenen Knurren zog er mehrere Kleidungsstücke heraus, die allesamt schon bessere Tage gesehen hatten. Anscheinend hatten die Mäuse noch keinen Weg in die Truhe gefunden, denn die Sachen waren nicht angefressen. Ein warmer Parka mit Innenfutter zeigte zwar einen Riss am Ärmel, der war aber zu vernachlässigen. Schließlich wollte er nicht auf eine Modenschau. Zwei unterschiedlich große, stark verdreckte Schnittschutzhosen mit Latz und Hosenträgern, wie sie Holzfäller bei der Arbeit mit Motorsägen trugen, kamen unter einer alten Wolldecke zum Vorschein. Dabei eine speckige Basecap mit dem Emblem eines bekannten Motorsägenherstellers. Zwischen den Kleidungsstücken steckten mehrere dicke, wollene Socken und einige Arbeitshandschuhe. Obenauf, in einer Plastiktüte, fand er ein paar verblichene Joggingschuhe. Die Größenangabe auf dem groben, stark abgenutzten Profil der Sohle war nicht mehr zu erkennen. Hasenstamm setzte sich und hielt einen Schuh gegen die Sohle seines Straßenschuhs. Wahrscheinlich eine Nummer zu groß, aber dem konnte man abhelfen. Er zog sich aus und probierte die größere der Hosen. Zum Glück hatten die Schutzhosen keine signalfarbenen Einsätze. Die Hose war ein paar Zentimeter zu kurz, dafür etwas zu weit. Aber das war mit den Hosenträgern problemlos zu regulieren. Er fand zwei passende Socken, die zwar stark getragen wirkten, aber trocken waren. Er zog sie an, dann schlüpfte er in die Joggingschuhe, die er vorher mit Blättern der vergilbten Zeitung ausgestopft hatte, die neben dem Ofen lag. Einen Moment dachte er darüber nach, ob er die abgelegte Kleidung im Ofen verbrennen sollte, verzichtete dann aber darauf. Der Rauch aus dem Kamin würde weit durch den Wald ziehen und zu riechen sein. Er bündelte das Jackett, die Hose, Schuhe und die Socken zusammen, nachdem er die Pistole vorne in die Tasche des Brustlatzes gesteckt und das Messer in der Hosentasche verschwinden lassen hatte. Er warf die Truhe zu und rückte den Tisch wieder zurecht. Dann packte er das Bündel und verließ die Hütte. Ohne Probleme konnte er den Riegel wieder verschrauben. Er schmierte etwas Erde auf die Schlitze der Schrauben, da an den Stellen, wo er das Messer angesetzt hatte, blanke Stellen zu sehen waren. Er fuhr mit den Fingerspitzen über den Fichtennadelteppich vor dem Eingang und verwischte damit jeden Schuhabdruck. Schon war von außen nichts mehr von seinem Besuch zu sehen. Sein Aufenthalt hatte knapp zwanzig Minuten gedauert. Zügig marschierte er weiter.
Erst in der späten Abenddämmerung traute sich die Maus wieder in die Hütte zurück.
Hasenstamm orientierte sich immer wieder am Stand der Sonne, wenn er sie durch das Blätterdach sehen konnte. Noch zwei Stunden Fußmarsch, dann hatte er das Gebiet erreicht, in dem er sich die nächsten zwei Wochen verstecken wollte. Obwohl ihm unter dem Parka sehr warm war, fühlte sich Wolfgang Hasenstamm von Minute zu Minute besser. Die letzten fünf Jahre im Knast waren für ihn, der es von Jugend an gewohnt gewesen war, sich ständig in freier Natur zu bewegen, eine schreckliche Qual gewesen. Eingeengt in die Zelle und den monotonen Knastalltag, begrenzt von Gittern, jeder seiner Schritte bewacht, war er einmal kurz davor gewesen, sich das Leben zu nehmen. Auch wenn er sich diese Verzweiflung nach außen nicht hatte anmerken lassen. Etwas Abwechslung brachte die Arbeit in der anstaltseigenen Schreinerei, für die man ihn als Zimmermann eingeteilt hatte. Gelegentlich besuchten ihn seine Eltern. Sie konnten auch gleich zu Beginn seiner Haft seine Sorge beruhigen, die seinem Wolfshund galt. Sie berichteten ihm, bis jetzt nichts von dem Schicksal des Grauen gehört zu haben. Er war und blieb verschwunden. Wolfgang Hasenstamm machte sich keine Sorgen, der große Rüde kam sehr gut alleine klar und war auch gewitzt genug, um nicht in irgendwelche Fallen zu tappen.
Später blieb sein Vater den Besuchen fern. Seine Mutter berichtete ihm, dass es ihm sehr schlecht gehe.
Während des Prozesses hatte man bei ihm einen Prostatakrebs diagnostiziert, der nicht mehr operiert werden konnte. Deshalb nahm Wolfgang Hasenstamm bei der Gerichtsverhandlung alle Schuld bezüglich des toten Försters auf sich. Zwischen ihm und seinem Vater bestand eine besondere Beziehung und er wollte nicht, dass sein Vater im Gefängnis sterben musste.
Vor einem Dreivierteljahr besuchte ihn dann sein Vater zum letzten Mal. Diesen Besuch würde er nie vergessen. Richard Hasenstamm war alleine gekommen. Der Mann war nur Haut und Knochen. An einem etwas abseits gelegenen Tisch nahmen sie einander gegenüber Platz. Quer über den Tisch verlief eine etwa dreißig Zentimeter hohe Trennwand, so dass sich ihre Hände nicht berühren konnten. Im Raum verteilt saßen an strategisch günstigen Punkten mehrere Vollzugsbeamte, die scharf darauf achteten, dass keine Gegenstände ausgetauscht wurden. Trotz dieser Überwachung gelang ihnen so etwas wie Intimität.
„Junge“, begann Richard Hasenstamm mit leiser Stimme. Alleine dieses Wort enthielt so viele ungewohnte Emotionen, dass Wolfgang sofort hellhörig wurde. Gefühle zu zeigen war in der Familie nicht üblich.
„Jetzt red schon!“, forderte Wolfgang ihn auf, da ihn die Atmosphäre belastete.
„Junge, wir wissen beide, dass eigentlich ich hier sitzen müsste.“ Das Gespräch strengte ihn sichtlich an. Er atmete tief durch. Als Wolfgang etwas entgegnen wollte, hob er abwehrend die Hand. „Letzte Woche habe ich eine neue Diagnose bekommen. Der Krebs ist stark fortgeschritten und hat überall im Körper gestreut. Die Ärzte geben mir noch ein halbes Jahr. Aber das ist in Ordnung so. Die Quälerei muss dann mal ein Ende haben.“
Wolfgang Hasenstamm sah seinen Vater durchdringend an. Der fuhr entschlossen fort: „Bevor ich den Abgang mache, will ich allerdings noch meine Schuld bei dir abtragen. Mir ist klar, wie sehr du hier, hinter diesen Gittern, leidest.“ Noch immer schwieg Wolfgang und ließ seinen Vater nicht aus den Augen. Der sah sich vorsichtig im Raum um, ob sie besonders beobachtet wurden. Als er feststellte, dass dies nicht der Fall war, nahm er mit noch leiserer Stimme seinen Gesprächsfaden wieder auf. „Ich möchte dir die Gelegenheit geben, von hier abzuhauen.“
Wolfgang Hasenstamm zog die Augenbrauen in die Höhe. „Wie soll das gehen?“
„Hör mir gut zu. Ich war nach der Diagnose bei einem Anwalt, bei dem ich so tat, als wolle ich mich wegen ein paar Erbschaftsfragen erkundigen. Dabei habe ich auch erwähnt, dass du im Knast sitzt, und gefragt, ob es da mit der Vererberei Probleme gäbe und ihn so nebenbei gefragt, ob mein Sohn bei meiner Beerdigung dabei sein kann, auch wenn er im Gefängnis sitzt. Der hat dann in seinen schlauen Büchern nachgeschaut und mir gesagt, dass Strafgefangenen bei familiären Angelegenheiten, wozu auch die Beerdigung naher Angehöriger zählt, ein bewachter Ausgang genehmigt werden kann.“ In den Augen des Alten blitzte ein Stück weit die alte Bauernschläue auf. In seinem Blick lag die Frage, ob Wolfgang ihn auch richtig verstanden hatte.
„Du meinst …?“
Richard Hasenstamm nickte. „Ich kann dir nur die Gelegenheit verschaffen, was du daraus machst, ist deine Sache.“
Für einen Moment herrschte zwischen den beiden Schweigen. Wolfgang musste diese Nachricht erst einmal verdauen. Schließlich fuhr der Alte nüchtern fort: „Da ich nicht elendig verrecken will, werde ich den Termin meines Ablebens selbst bestimmen. Du wirst ihn erfahren, dafür werde ich sorgen. Das gibt dir die Möglichkeit, deine Flucht etwas zu planen.“
Wolfgang Hasenstamm sah seinen Vater ablehnend an. „Das will ich nicht!“
„Aber ich“, gab Richard Hasenstamm hart zurück. Es war klar, dass er keinen Widerspruch dulden würde. „Das ist allein meine Entscheidung!“ Seine Stimme hatte sich etwas erhoben, was einen Vollzugsbeamten veranlasste herüberzusehen. Da aber nichts Außergewöhnliches geschah, döste er weiter vor sich hin. Wolfgang war klar, dass der Entschluss seines Vaters feststand. Nach einem tiefen Atemzug fuhr der Senior fort: „Dies ist mein letzter Besuch. Wenn du von meinem Tod erfährst, kannst du davon ausgehen, dass ich an dem uns bekannten Platz entsprechende Ausrüstung versteckt habe. Damit bist du fürs Erste versorgt.“ Wieder trat ein längeres Schweigen ein. „Am besten, du verschwindest ins Ausland. In einigen Jahren ist Gras über die Geschichte gewachsen und sie werden die Nachforschungen einstellen.“ Der alte Hasenstamm sah auf seine Armbanduhr. Die Besuchszeit war bald abgelaufen. „Da ist noch etwas, das du wissen sollst. Es geht um den Grauen. Sie haben ihn ja nie erwischt. Irgendwann haben sie davon gesprochen, dass er von einem Wolfsforscher eingefangen wurde. Der unterhält im Spessart ein Gehege mit einem Wolfsrudel. Angeblich soll der Graue jetzt in der Forschungsstation leben.“ Er nannte ihm die Örtlichkeit. „Aber, wie gesagt, das ist ein Gerücht.“
Die Besuchszeit war abgelaufen. Vater und Sohn verabschiedeten sich voneinander. Sie waren es nicht gewohnt, großes Aufheben zu machen. Ein kräftiger Händedruck, ein längerer Blick, dann verließ der Alte den Besuchsraum. Wolfgang sah ihm einen Moment hinterher, dann ließ er sich auf seine Zelle bringen. Dieses Gespräch hatte ihn enorm aufgewühlt, auch wenn er sich äußerlich nichts anmerken ließ.
Einige Monate später bekam er von seinem Vater einen Brief. In dem Schreiben berichtete er seinem Sohn, neben anderen Nebensächlichkeiten, von den Planungen für den siebzigsten Geburtstag seiner Tante am 15. Juni. Wolfgang Hasenstamm war klar, was das bedeutete. Seine Tante hatte im März Geburtstag. Am 15. Juni wurde Wolfgang Hasenstamm zur Anstaltsleitung gerufen und man teilte ihm mit, dass sich sein Vater das Leben genommen habe. Der alte Mann hatte seinen Entschluss also in die Tat umgesetzt. Wenige Tage später stellte Wolfgang Hasenstamm über seinen Anwalt den Antrag auf bewachte Ausführung, um an der Beerdigung seines Vaters teilnehmen zu können.
Das Geräusch der Rotorblätter des näher kommenden Hubschraubers alarmierte den flüchtigen Strafgefangenen. Hasenstamm blieb stehen und lauschte. Wie es sich anhörte, flog der Helikopter mit mäßiger Geschwindigkeit und ziemlich dicht über den Baumwipfeln. Er war zwar noch ein ganzes Stück entfernt, aber Hasenstamm hatte keinen Zweifel daran, nach wem sie suchten. Vermutlich hatte der Heli eine Wärmebildkamera an Bord, sonst würde er nicht so dicht über dem Blätterdach fliegen, das ja keinen freien Blick auf den Waldboden zuließ. Hasenstamm sah sich um. Vor ihm befand sich eine Tannenkultur. Diese Wärmebildgeräte reagierten, wie er sich in der Gefangenenbibliothek angelesen hatte, auf alle warmen Körper, die sich von der Umgebungstemperatur abhoben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit nutzten auch Wildtiere diese Kultur hier als Tageseinstand. Wenn er Glück hatte, würde die Kamera mehrere Objekte aufzeichnen, was hoffentlich bei den Piloten für Verwirrung sorgte. Schnell überwand er die Distanz zu dem Unterschlupf und drang zwischen die Stämme ein. Nach etwa hundert Metern hielt er inne und kauerte sich auf den Waldboden zusammen. So würde sich auf dem Display nicht die typische Kontur eines menschlichen Körpers abzeichnen. Ab da erstarrte er zur Bewegungslosigkeit und lauschte in den Himmel. Der Hubschrauber kam näher. Plötzlich veränderte sich das Geräusch des Rotors nicht mehr. Offenbar stand der Heli auf der Stelle. Sicher war aber nicht er gemeint, denn dafür war der Helikopter noch zu weit entfernt. Es dauerte eine gute Minute, dann nahm das Fluggerät wieder Fahrt auf und … entfernte sich langsam von Wolfgangs Standort. Er atmete tief durch. Als das Geräusch verklungen war, verließ Hasenstamm die Deckung und marschierte weiter. Sobald er sein Ziel erreicht hatte, musste er sich wegen einer Bedrohung aus der Luft keine Gedanken mehr machen.
Der Eingang zum Schacht an dem felsigen Steilhang war so gut hinter Brombeersträuchern und anderem Unterwuchs verborgen, dass Hasenstamm zuerst an ihm vorüberlief. Es war ja einige Jahre her, seitdem er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Die Natur rund um den Eingang hatte sich mittlerweile stark verändert. Hasenstamm drängte sich zwischen die Sträucher, bis er vor einem verrosteten Gittertor stand, das die Mine verschloss. Vor ihm befand sich einer jener alten Bergwerksstollen, in denen bis Anfang der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts Schwerspat abgebaut wurde. Rund um Partenstein gab es eine ganze Anzahl dieser Gruben, die allerdings alle 1948 wegen mangelnder Ergiebigkeit geschlossen wurden. Damals fanden in diesen Gruben zahlreiche Spessartbewohner Arbeit und Lohn. Jetzt das ideale Versteck für einen flüchtigen Sträfling. Dieser und andere Stollen dienten viele Jahre als Verstecke für seinen Vater und ihn, wenn sie sich nach ihren Streifzügen einige Zeit unsichtbar machen mussten. Selbst bei den Einheimischen waren diese Schächte weitgehend in Vergessenheit geraten. Nur noch die Alten erinnerten sich an sie.
Wolfgang Hasenstamm besah sich das Vorhängeschloss der Gittertür. Auf den ersten Blick wirkte es verrostet und nicht mehr funktionstüchtig. Als er allerdings mit der Fingerspitze über das Schloss fuhr, blieb ein feiner Ölfilm daran haften. Sein Vater hatte also Wort gehalten. Hasenstamm sah sich aufmerksam um. Die alte Eiche mit der Spechthöhle, in der sie schon früher den Schlüssel verwahrt hatten, stand noch immer. Wolfgang griff hinein und fühlte eine Plastiktüte, darin der Schlüssel. Der Mechanismus des Schlosses funktionierte einwandfrei. Sogar die Scharniere des Gitters waren geschmiert und gaben kein Geräusch von sich, als er es öffnete. Er trat ein und schloss hinter sich wieder ab. Das Tageslicht reichte nur einige Schritte in den Schacht, dann gähnte vor ihm die Finsternis. Hier sollte in einer Nische eine Taschenlampe bereitliegen. So hatten sie es jedenfalls früher gehalten. Ohne Probleme ertastete er einen weiteren Plastikbeutel. Ihm entfuhr ein anerkennendes Brummen, als er eine moderne Stirnlampe auswickelte. Er zog sie sich über den Kopf und schaltete sie mit einem Knopfdruck ein. Das grelle Licht der leistungsfähigen LED-Lampe drang weit in den finsteren Schacht hinein, der sich kurz nach dem Eingang deutlich nach unten senkte. Die Luft war gegenüber draußen kalt und feucht. Ein Stück weiter endeten die Reste der Schienen, auf denen mit Loren das Baryt nach draußen transportiert worden war. Wegen seiner Körpergröße musste er sich gebückt weiterbewegen. Die Streben, die den Schacht schon seit vielen Jahrzehnten abstützten, bestanden, wie er wusste, aus hartem Eichenholz, das auch nach so langer Zeit seine Stabilität nicht verloren hatte. Während er immer tiefer in den Berg eindrang, strömten zahlreiche Erinnerungen auf ihn ein. Erinnerungen an Erlebnisse, die er mit seinem Vater geteilt hatte. Nach etwa fünfzig Metern bekam der Schacht eine künstliche Erweiterung, welche die Bergleute geschaffen hatten, um dort zu rasten. Hasenstamm nickte zufrieden. Sein Vater hatte verschiedene Ausrüstungsgegenstände hierher geschafft, die ihm nun einen längeren Aufenthalt ermöglichten, bis die Suche nach ihm sich etwas gelegt hatte. Eine Militärliege, ein Klapptisch mit zwei Stühlen, ein Gaskocher, Schlafsack und eine Petroleumlampe. Zwei dunkle Kanister enthielten mehrere Liter Lampenpetroleum. In einem Rucksack lagerten zahlreiche Konservendosen. In einer Ecke waren eine Reihe von Kanistern aufgestapelt, die Trinkwasser enthielten. Außerdem fand er mehrere Kleidungsstücke mit Tarnmuster. Die Sachen waren, soweit zu ihrem Schutz erforderlich, in Plastikumhüllungen verpackt. In der Ecke fand er das, was ihm am wichtigsten war: einen Jagdbogen und einen Vorrat an entsprechenden Pfeilen. Es musste Wochen gedauert haben, bis sein Vater trotz seiner Krankheit all dies hierher geschafft hatte.
Langsam ließ sich Wolfgang Hasenstamm auf dem Klappstuhl nieder und zündete die Petroleumlampe an, damit er die Batterien der Kopflampe sparen konnte. Jetzt fehlte ihm nur noch der Graue.