Читать книгу Die Spur des Wolfes - Günter Huth - Страница 8
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Ein gutes Jahr danach
Der alte, dunkelgrüne Renault 4 preschte mit so hoher Geschwindigkeit über den geschotterten Forstweg, dass die Bodenhaftung der Räder gerade noch so eben gewährleistet war. Die Steine des Untergrunds schlugen mit der Kadenz eines Maschinengewehrs gegen den Unterboden und machten eine normale Verständigung im Inneren unmöglich.
Trotz des Lärms hörten die beiden Insassen deutlich das Heulen der Polizeisirene des sie verfolgenden Einsatzfahrzeugs. Der Streifenwagen mochte vielleicht zwei-, dreihundert Meter zurückliegen. Nur durch eine für die Verfolger kaum zu kalkulierende Irrfahrt über schwer passierbare Waldwege hatten sie diese Distanz aufbauen können. Der R 4 war dem verfolgenden BMW zwar an Schnelligkeit absolut unterlegen, auf dem schwierigen Gelände nutzte dem Streifenwagen seine höhere Leistungsfähigkeit allerdings nicht viel. Der kleine Franzose war hochbeiniger und konnte die ausgefahrenen Waldwege verhältnismäßig schnell passieren, während der Fahrer der Polizeilimousine höllisch aufpassen musste, dass er nicht aufsetzte. Hinzu kam, dass einer der beiden im Renault den Wald wie seine Westentasche kannte. Der Forstweg mündete etwas später auf eine Staatsstraße, der sie zwei Kilometer folgen mussten, um dann auf der anderen Seite wieder in den Wald eintauchen zu können. Es war ein Wettrennen gegen die Zeit. Sie mussten unbedingt schneller sein als die Polizei, die mit Sicherheit gerade dabei war, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften in der Umgebung Straßensperren zu errichten.
Der Mann auf dem Beifahrersitz gab der Fahrerin ein Zeichen. Die Staatsstraße war nur noch zweihundert Meter entfernt. Als der Mann durch die Bäume voraus die blinkenden Blaulichter erkannte, stieß er einen heftigen Fluch aus. Offenbar waren sie tatsächlich schon dabei, diese Straße zu sperren. Sie hatten verdammt schnell reagiert!
„Mist, wir müssen durchbrechen!“, schrie er gegen den Krach an und gab der Fahrerin ein Zeichen, dass sie am Ende des Forstweges nach rechts auf die Staatsstraße abbiegen solle. Die junge Frau hinter dem Steuer nickte mit weit aufgerissenen Augen. Sie hielt das Lenkrad mit beiden Händen umkrampft, um nicht die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren. Die extrem weiche Federung des Franzosen verstärkte das Gefühl, auf einem Boot in stürmischer See zu sitzen. Ihr Gesicht war vor Konzentration verzerrt. Sie sah das dunkle Band der Straße kommen, trat etwas überhastet auf die Bremse, zerrte die Revolverschaltung in den nächstniedrigeren Gang, riss das Steuer nach rechts und trat das Gaspedal wieder voll durch. Der R 4 übersteuerte kurzzeitig und das Heck drohte auszubrechen. Sie gab stur Vollgas und der Frontantrieb ermöglichte es ihr, den Wagen wieder voll in den Griff zu bekommen. Jetzt erst erfasste sie die Szene auf dem Asphalt in Gänze. Offenbar waren etwa hundertfünfzig Meter vor ihnen zwei Einsatzfahrzeuge gerade dabei, sich auf der Fahrbahn quer zu stellen, um eine Straßensperre zu bilden. Durch das Heranstürmen des R 4 konnten sie den Vorgang allerdings nicht ganz abschließen. Zwischen den beiden Streifenwagen klaffte noch eine Lücke, welche die Beamten jetzt hektisch zu schließen versuchten, indem sie sich mit gezogenen Waffen im freien Raum postierten. Der Beifahrer sah bei den Beamten Maschinenpistolen. Einer hielt eine rot leuchtende Polizeikelle in die Höhe und forderte damit hektisch winkend die Fahrzeuginsassen auf abzustoppen.
„Wir müssen durchbrechen, sonst haben sie uns!“, brüllte der Mann.
Als offensichtlich war, dass der Wagen nicht anhalten würde, kniete einer der Beamten nieder und gab einen Feuerstoß aus seiner Maschinenpistole ab. Zwei andere Polizisten schossen mit ihren Pistolen. Sie hielten tief, weil sie die Vorderreifen treffen wollten, verfehlten aber ihr Ziel. Einige Projektile schlugen wirkungslos in die Karosserie ein, dann war die Distanz zusammengeschrumpft und die Beamten mussten sich in letzter Sekunde durch hastige Sprünge zur Seite in Sicherheit bringen.
Der Renault raste durch die bestehende Lücke. Das Blech der Fahrzeuge kreischte auf, als der kleine Wagen beiderseits an den Stoßstangen der Streifenwagen entlangschrammte und sie ein Stück zur Seite schleuderte. Dabei verlor er nur geringfügig an Geschwindigkeit. Mit eiserner Hand hielt sie den Wagen in der Spur, der für einen Moment ausbrechen wollte.
Bis die Beamten sich wieder aufgerappelt hatten und die ersten Salven hinter dem Fluchtfahrzeug herfeuerten, hatte dieses fast die nächste Kurve erreicht. Drei, vier Projektile schlugen blechern in die Heckklappe ein, blieben aber anscheinend in den Polstern der Rücksitze stecken.
Die Anspannung der männlichen Person entlud sich in einem lauten, triumphalen „Ja!“. Die Frau gab weiter konzentriert Gas. Sie sagte nichts, aber ihre Nerven waren bis zum Äußersten angespannt.
„In ungefähr zweihundert Metern kommt eine Rückegasse. Fahr da ein Stück rein und halte an. Ich verschwinde dann“, erklärte er knapp. „Ehe die Bullen merken, dass sie uns auf den Leim gegangen sind, bin ich in Sicherheit. Du fährst dann auf dieser Rückegasse weiter. Sie führt den Hang hinauf, dabei schneidet sie mehrere Forstwege. Aber die alte Kiste müsste das schaffen. Nimm die Schleichwege am alten Steinbruch entlang, dann verstecke dich mit dem Wagen in einer Dickung, bis es dunkel wird. Erst dann kehrst du zu eurem Hof zurück. Mit Sicherheit werden sie dort auf dich warten. Wenn sie dich in die Mangel nehmen, sag einfach, ich hätte dich zu allem gezwungen. Ansonsten schweigst du. Da können sie dir nicht viel anhaben.“
Durch das offene Fenster vernahm er ein knatterndes Geräusch. Er spähte nach oben. Über ihnen schwebte ein Hubschrauber. Verflucht, das hatte ihm gerade noch gefehlt.
„Anna, da rein!“, schrie er und deutete auf einen schnell herannahenden schmalen Waldweg. Die junge Frau zwang den schwankenden R 4 in die Rückegasse. Sie fuhr mit verminderter Geschwindigkeit die Gasse ein Stück weit entlang, dann bremste sie ab. Er beugte sich herüber, gab ihr schnell einen Kuss, dann riss er die Tür auf und sprang hinaus. Über sich hörte er nach wie vor den Hubschrauber, der aber wegen des dichten Blätterdaches praktisch keine Sicht auf den Boden hatte. Ihm war aber klar, dass die Piloten geländegängige Einsatzfahrzeuge aus der Luft einweisen würden.
„Anna, fahr jetzt weiter. Wie besprochen bleibe ich so lange im Wald, bis einigermaßen Gras über die Sache gewachsen ist. Irgendwann hole ich dich, dann gehen wir ins Ausland. So, jetzt muss ich aber verschwinden! Ich liebe dich.“
„Wolfi, bitte sei vorsichtig!“, rief sie. „Ich liebe dich auch!“
Er warf ihr ein Lächeln zu und griff sich vom Rücksitz seine Ausrüstung. Mit Schwung schulterte er einen Rucksack, dann drückte er die Türen leise zu. Ein kurzes Winken, dann marschierte er einen sanft ansteigenden Spessarthang hinauf. Einen Steinwurf weit entfernt nahm ihn eine Dickung auf und entzog ihn endgültig seinen Verfolgern aus der Luft. Nachdem er innerhalb der Dickung eine längere Strecke zurückgelegt hatte, blieb er auf einer freien Stelle stehen und kontrollierte seine Ausrüstung. Im Köcher steckten zwanzig Jagdpfeile. Ihre rasiermesserscharfen Spitzen trugen Schutzhüllen, damit man sich nicht an ihnen verletzte. Der Langbogen steckte entspannt in einem schlanken Etui. Mit wenigen Handgriffen konnte er einsatzbereit gemacht werden. Sein langes Jagdmesser hing am Gürtel. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass alles einsatzbereit war, marschierte er bis zum Ende der Dickung. Vorsichtig blieb er zwischen den Randbäumen stehen und spähte hinaus in den Hochwald. Kurz orientiere er sich, dann legte er beide Hände wie einen Schalltrichter an den Mund, legte den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Heulen aus. In mehreren Intervallen hob und senkte sich seine Stimme. Dann brach er ab und lauschte. Kurz darauf wiederholte er den Vorgang. Er wusste, dass der Schall von dieser Anhöhe aus ziemlich weit trug. Nach der dritten Wiederholung wartete er. Als er nach einiger Zeit aus der Ferne eine Antwort bekam, huschte ein schmales Lächeln über sein Gesicht. Es geschah fast lautlos. Plötzlich tauchte neben ihm im Unterholz ein großer, dunkler Schatten auf. Der Wolfshund gab ein hohes Winseln von sich, während er den Mann mit gesenkter Rute, angelegten Ohren und leicht geduckter Haltung begrüßte. Der Mann griff ins Fell des Wolfshundes und zauste es rau, aber herzlich. „Brav, mein Grauer. Ich freue mich ja auch, dich wiederzusehen.“
Die junge Frau gab wieder Gas und der unverwüstliche R 4 zog zuverlässig die Rückegasse entlang. Jetzt, wo der Mann das Fahrzeug verlassen hatte, konnte sie ihrem Schmerz nachgeben. Keuchend verzog sie das Gesicht und griff mit der rechten Hand nach ihrer linken Schulter. Betroffen warf sie einen kurzen Blick auf das Blut an ihren Fingern. Offenbar hatte eines der Projektile, die die Polizisten auf das Auto abgefeuert hatten, noch genug Kraft besessen, um in ihre Schulter einzudringen. Wie es sich anfühlte, steckte es oberhalb des Schulterblattes in der Muskulatur. Zum Glück hatte es Wolfgang Hasenstamm, ihr Gefährte, wegen der stressigen Flucht nicht bemerkt, sonst hätte er sie sicher nicht verlassen. Sie biss die Zähne zusammen. Die Wunde war ziemlich schmerzhaft, aber wahrscheinlich nicht sehr gefährlich. Sie musste noch eine Weile durchhalten, ehe sie sich zuhause in die Obhut eines Arztes begeben durfte. Der Renault zog jetzt einen Hang hinauf. Der Hubschrauber schwebte weiterhin über ihr. Wolfgangs Einschätzung traf zu. Wegen des Blätterschirms war es ihnen verborgen geblieben, dass er das Fahrzeug verlassen hatte.
Hasenstamm hatte sie auf dem Kirchweihfest vor zwei Jahren kennengelernt. Sie war mit Freunden auf dem Fest, weil sie dort ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag feierte. Es war ein fröhlicher Abend und sie hatte viel getanzt. Die Toilettenanlagen der Gastwirtschaft, in deren Saal die Veranstaltung stattfand, lagen jenseits des Hofes in einem Anbau. Als sie die Örtlichkeiten aufsuchen musste, wurde sie von einem betrunkenen Festbesucher, der im Dämmerlicht des schlecht beleuchteten Hofes herumlungerte, belästigt und begrapscht. Sie wehrte sich zwar heftig, kam aber gegen die Kräfte des Mannes nicht an. In diesem Augenblick trat Wolfgang Hasenstamm wie aus dem Nichts hervor und schnappte sich den Burschen. Er prügelte ihn windelweich und gab ihm zum Schluss einen Tritt in den Hintern, der ihn auf den Heimweg beförderte. Von diesem Tag an waren sie und Wolfi zusammen. Erst nach und nach erfuhr sie von der gefährlichen Obsession, die ihren Freund beherrschte. Und sie bekam mit, welchen negativen Einfluss Wolfgang Hasenstamms Vater Richard auf seinen Sohn hatte. Immer wieder versprach er ihr, mit der Wilderei aufzuhören, immer wieder wurde er rückfällig. Lange Zeit konnten sich Vater und Sohn der Polizei entziehen. Irgendwann musste etwas Gravierendes passiert sein, etwas, worüber er nicht mit ihr sprach, etwas, das ihn aber sehr belastete. Die Polizei intensivierte ihre Verfolgung. Auch sie wurde mehrmals vernommen, leugnete aber jede Verbindung. Anscheinend wurde sie in der Folgezeit überwacht. Aber immer wieder war es ihr gelungen, sich heimlich mit Wolfgang im Wald zu treffen. Heute war die Falle nun zugeschnappt. Sie hatte sich mit Hasenstamm in ihrem Auto an einer verborgenen Stelle im Wald getroffen. Auf der Rückfahrt war ihnen plötzlich ein Polizeifahrzeug gefolgt. In ihrer Verblendung sah sie für sich keine andere Wahl, als ihm zur Flucht zu verhelfen.
Nur mit eisernem Willen konnte sie den zunehmenden Schmerz ertragen, der durch das Holpern des Wagens noch verstärkt wurde. Plötzlich registrierte sie, dass sie sich kurz vor dem ihr bekannten aufgelassenen Steinbruch befand, den sie laut Wolfgang oberhalb der Abbruchkante passieren sollte. Der Boden war rutschig vom letzten Regen und verlangte von ihr volle Konzentration. Plötzlich bemerkte sie im Rückspiegel zwischen den Bäumen eine Bewegung. Erschrocken stellte sie fest, dass ihr ein geländegängiges Polizeifahrzeug folgte und zügig immer näher kam. Offenbar hatte sie der Hubschrauber doch gesehen. Sie gab zwar Gas, aber ihr war klar, dass sie auf Dauer gegen den Geländewagen keine Chance hatte. Sie wollte ihre Festnahme aber so lange wie möglich hinauszögern, damit Wolfi einen ausreichenden Vorsprung bekam.
Die Absturzkante des alten Steinbruchs war nicht abgesichert. Wer sich hier nicht auskannte, lief Gefahr, in den Abgrund zu stürzen. Wenn die Polizisten die Gefahr bemerkten, würden sie vielleicht aufgeben.
Trotz der Schmerzen in ihrer Schulter hielt sie das Lenkrad eisern fest, damit der R 4 wenige Meter vom Abgrund entfernt die Spur hielt. Mit einem Blick in den Rückspiegel konnte sie sich davon überzeugen, dass das Verfolgerfahrzeug tatsächlich anhielt. Sie erschrak, als sie eine durchdringende Lautsprecherstimme hörte, die sie aufforderte, auf der Stelle anzuhalten und sich zu ergeben. Die Warnung wurde wiederholt. Mit entschlossener Miene fuhr sie weiter. Bald hatte sie die gefährliche Stelle hinter sich. Da hörte sie einen lauten Knall. Im gleichen Augenblick ging durch den Wagen ein Ruck und das rechte Hinterrad rutschte weg. Mit einem schnellen Blick in den Rückspiegel entdeckte sie einen Uniformierten, der mit einem Gewehr im Anschlag neben dem Geländewagen stand. Es gab keinen Zweifel, er hatte ihr einen Hinterreifen zerschossen. Sofort schob die Felge des zerstörten Rades das Auto auf den Abgrund zu. Sie versuchte das Steuer herumzureißen, um nach links vom Abgrund wegzukommen. Der Rest ging blitzschnell. Sekunden später kippte der R 4 im Zeitlupentempo über den Rand, und stürzte dann, immer schneller werdend, in den Abgrund. Zwanzig Meter tiefer schlug der Wagen, der sich im Fall leicht zur Fahrerseite hin gedreht hatte, mit einem lauten Knall auf den Grund des Steinbruchs auf. Da das alte Fahrzeug weder Airbags hatte noch über Sicherheitsgurte verfügte, prallte der Kopf der Fahrerin ungebremst gegen die Seitenscheibe des Wagens. Der sofortige Genickbruch schenkte ihr einen schnellen Tod. Das Verfolgerfahrzeug blieb stehen. Der Schütze und ein weiterer Beamter näherten sich vorsichtig der Absturzstelle. Einer eilte zum Fahrzeug zurück, alarmierte die Rettungskräfte und verständigte dann die Einsatzleitung.
Der Schuss und das laute Krachen des in den Abgrund stürzenden Wagens wurden vom Wind weit getragen. Hasenstamm, der mit dem Wolfshund schon ein ganzes Stück weitergezogen war, blieb abrupt stehen und lauschte. Auch der Hund stellte die Ohren auf und legte den Kopf schief. Das Erste war eindeutig ein Schuss und kam aus Richtung des Steinbruchs. Hasenstamm warf sich auf dem Absatz herum und rannte zurück. Sein Gefühl sagte ihm, dass etwas Schreckliches geschehen war. Jede Zelle seines Körpers war alarmiert. Der Wolfshund trabte neben ihm her.
Hasenstamm näherte sich dem Steinbruch von der Talsohle her. Schritt für Schritt tastete er sich die letzten Meter vor, jede Deckung nutzend. Er hörte die lauten Stimmen von Männern, die Kommandos schrien. Im Steinbruch war es düster. Die Sonne erreichte nur kurze Zeit am Tag die Sohle aus rötlichem Buntsandstein. Er machte dem Hund ein Handzeichen und dieser blieb gehorsam zurück. Mit seiner schwarz-grauen Fellzeichnung verschmolz er völlig mit dem hier wuchernden Unterwuchs. Wenig später hatte Wolfgang Hasenstamm freien Blick auf die schockierende Szene. Für einen Moment war er völlig erstarrt. Mittlerweile war, neben zahlreichen Polizisten und SEK-Männern, auch die Feuerwehr am Grund des Steinbruchs eingetroffen. Die Feuerwehrmänner waren mit Hilfe eines Seilzugs dabei, den R 4 so aufzurichten, dass er wieder auf den Rädern stand. Beim Öffnen der Fahrertür fiel ihnen eine im Gesicht blutüberströmte weibliche Gestalt entgegen, die offensichtlich kein Leben mehr in sich trug. Hasenstamm rastete von einer Sekunde zur anderen völlig aus. Ohne nachzudenken, stürmte er mit einem Schrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte, aus seiner Deckung hervor. Die anwesenden Hilfskräfte und die Polizeibeamten wurden völlig überrumpelt. Mit wenigen Sprüngen erreichte er den demolierten Wagen und gab dem Feuerwehrmann, der sich gerade über die Frau beugen wollte, einen harten Stoß. Der Mann taumelte nach hinten und stürzte. Sein heiserer Schrei löste die Erstarrung der Polizisten. Instinktiv griffen einige zu ihren Waffen. Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriffen, was sich da vor ihren Augen abspielte. Der Unbekannte warf sich über die Frau und nahm ihren Kopf in seine Arme. Ein trockenes Schluchzen erschütterte seine Brust, während er sich mit der Frau im Arm wie in Trance vor und zurück wiegte.
Den SEK-Männern war klar, dass es sich bei diesem Mann um den verfolgten Wolfgang Hasenstamm handelte. Auf ein Zeichen des Einsatzleiters hin näherten sich zwei der Polizeibeamten mit angeschlagenen Waffen dem verzweifelten Mann. Sie erfassten das Drama, das sich hier vor ihren Augen abspielte. Ohne sich abzusprechen, hielten sie sich einen Moment zurück, um ihm einen Augenblick des Abschieds zu gewähren. Plötzlich kam aus dem Unterwuchs des Steinbruchs ein fauchendes Knurren, das sie aufschreckte. Dann raste auch schon ein großer, dunkler Schatten heran, der sich sofort auf den ersten Beamten stürzte. Ehe die Einsatzkräfte richtig begreifen konnten, was sich hier abspielte, hing der große Wolfshund dem Polizisten an der Kehle und riss ihn mit seinem Körpergewicht zu Boden. Der Mann, vor Schreck völlig erstarrt, war zu keiner Abwehrbewegung fähig. Als die Uniformierten ihre Schrecksekunde überwunden hatten, schrien sie sich durcheinander Befehle zu. Die Läufe mehrerer Schusswaffen richteten sich auf das Tier. Keiner wagte jedoch zu schießen, da sie befürchteten, ihren Kollegen zu treffen. Sie waren wie paralysiert. Mitten in diese ausweglose Situation hinein erklang scharf die sonore Stimme Hasenstamms, der noch immer den Kopf der Frau auf seinem Schoß hielt.
„Grauer, lass aus! Grauer aus! Los, hau ab!“
Sofort ließ der Wolfshund mit blutigem Fang von seinem Opfer ab und war mit zwei weiten Sätzen im Unterholz verschwunden. Zwei Beamte hoben ihre Pistolen, um ihn noch von hinten zu treffen. Hasenstamm war aber schneller. Er ließ die Frau zu Boden gleiten, sprang auf und rempelte die Umstehenden mit Wucht von der Seite her an, so dass sie taumelten. Es löste sich ein Schuss, der aber wirkungslos in die Botanik ging. Als Hasenstamm nach der Dienstwaffe des gebissenen Beamten greifen wollte, gab ein Beamter in Zivil, der direkt daneben stand, einen schnellen Schuss auf ihn ab. Mit einem Aufschrei stürzte er zu Boden. Mit beiden Händen hielt er sein durchschossenes Bein. Sofort stürzten sich mehrere SEK-Männer auf ihn, drehten ihn auf den Bauch, rissen ihm die Hände nach hinten und legten ihm Handschellen an. Gegen diese Übermacht kam Hasenstamm nicht an. Der Einsatzleiter, der auf ihn geschossen hatte, steckte seine Pistole ins Holster zurück und gab mit ruhiger Stimme ein paar Anweisungen, die wieder Ordnung in die herrschende Aufregung brachten. Die Freiheit des unter anderem wegen Verdachts des Mordes gesuchten Wolfgang Hasenstamm war hier und jetzt zu Ende. Ruhig, fast unbeteiligt wirkend, lag er in Handschellen auf der Liege des Rettungswagens. Mit starrem Blick verfolgte er die Geschehnisse im Steinbruch. Er registrierte die intensiven Bemühungen des Notarztes um Anna. Sah sein resignierendes Kopfschütteln, da ihr nicht mehr zu helfen war. Danach suchte sein glühender Blick das Gesicht des Einsatzleiters, der auf ihn geschossen hatte. Er würde es sich für immer ins Gedächtnis einbrennen.
Der Beamte beachtete Hasenstamm aber nicht mehr. Er war tief betroffen über den Tod des Polizisten, den der große Wolfshund angegriffen hatte. Auch für ihn kam jede Hilfe zu spät. Das Tier hatte ihm den Kehlkopf und die Halsschlagader durchgebissen.
Wortlos wandte sich der Notarzt nun Hasenstamms Schusswunde zu. Obwohl diese Behandlung sehr schmerzhaft sein musste, gab er keinen Klagelaut von sich. Nach seinem emotionalen Ausbruch wirkte er abwesend, fast apathisch, als wäre er in einer anderen Sphäre. Sein Blick ruhte dabei auf den Konturen der toten Frau, die sich unter der Plane abzeichneten, mit der man sie mittlerweile abgedeckt hatte.