Читать книгу Die Spur des Wolfes - Günter Huth - Страница 7
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Sechs Jahre zuvor
Es war fünf Uhr morgens und kühl. Im Dämmerlicht waberten fetzige Nebelschleier über die große Waldlichtung am Eichenschlag und ließen die dreizehn Stück Rotwild, die auf ihr ästen, im ersten Dämmerlicht wie gespensterhafte Schemen erscheinen. Die schwache Brise war kaum spürbar und trug die Witterung des Jägers weg vom Wild, nach hinten in den Wald. Forstrat Volker Wohlfahrt saß auf der hohen Jagdkanzel am Rande der Lichtung und war sich sicher, das Wild konnte ihn nicht wittern. Gut fünfzig Schritte waren es bis zum ersten Alttier, einer erfahrenen Hirschkuh, die das Rudel anführte. Deutlich konnte er hinter ihr das Kalb erkennen, das der Mutter nicht von der Seite wich.
Wohlfahrt würde Ende des nächsten Monats in den Ruhestand treten und hatte von seiner oberen Dienstbehörde letztmals einen reifen Hirsch zum Abschuss freigegeben bekommen. Ein übliches Verfahren bei verdienten Beamten.
Plötzlich wurde die Stille des Septemberwaldes von einem tiefen, orgelnden Röhren zerrissen. Wohlfahrt lief ein Schauer über den Rücken. Da war er, der bejahrte Brunfthirsch, und schrie seinen Herrschaftsanspruch auf das Rudel in den Wald hinein. Es dauerte nur einen Moment, dann kam aus weiterer Ferne Antwort. Ein Rivale sagte dem Platzhirsch den Kampf an, um ihm die Herrschaft über das Rudel streitig zu machen. Erneut gab der starke Hirsch Antwort. Er stand nur in geringer Distanz zum Jäger in einer Buchenaufforstung, noch immer durch den Nebel unsichtbar. Das Archaische dieses Vorgangs versetzte Wohlfahrt in fast unerträgliche Spannung. Dieser Sechzehnender ließ ihn schon seit drei Stunden hier an der Wildwiese ausharren. Der Hirsch war alt und seine Tage, in denen er der Herr über dieses Rudel sein konnte, waren sicher gezählt. Plötzlich hörte er trommelnden Hufschlag. Der Platzhirsch verließ galoppierend seine Deckung. Als er abrupt stoppte, konnte Wohlfahrt ihn sehen. Wie ein Denkmal stand er im Nebel, dann senkte er sein Haupt und gab einer der Kühe einen unsanften Stoß mit seinem Geweih, damit sie näher zum Rudel aufschloss. Er musste seinen Harem zusammenhalten. Im vollen Bewusstsein seiner Stärke hob er sein gewaltiges Haupt, dass die Geweihstangen fast seinen Rücken berührten, und röhrte seine Kampfansage in mehreren Intervallen in den Himmel. Sein heißer Atem stand dabei wie eine Wolke vor seinem Äser. Der Förster spürte das Vibrieren der Kanzel. Gewaltsam riss er sich aus seiner Faszination und hob das Gewehr. Er wollte den alten Recken mit einem sauberen, schnell tötenden Blattschuss erlegen.
Während er noch durch das Zielfernrohr die Stelle suchte, hinter der das Leben schlug, machte der Hirsch plötzlich einen steilen Satz nach oben, dann nach vorne, tat noch zwei weite Sprünge, um dann unvermittelt zusammenzubrechen. Er schlegelte noch einige Male auf der Seite liegend, mit den Hinterläufen, dann war Stille. Der Vorgang lief so schnell ab, dass der Mann auf der Kanzel überhaupt nicht erfassen konnte, was hier geschehen war. Er hatte ja nicht geschossen und trotzdem war ihm klar, irgendetwas musste den Hirsch tödlich getroffen haben. Aus heiterem Himmel, wie vom Blitz erschlagen. Wie konnte das sein?
Der Hufschlag des flüchtenden Rotwildrudels riss Wohlfahrt aus seiner Erstarrung. Zorn kam in ihm hoch. Er sicherte sein Gewehr und machte sich an den Abstieg. Er hatte einen schlimmen Verdacht. Ohne große Überlegung stürmte er vorwärts. In seiner Amtszeit hatte es in seinem Zuständigkeitsbereich mehrmals Hinweise auf Wildereraktivitäten gegeben. In den letzten beiden Jahren wieder häufiger. Starke Hirsche, die dem Forstamt bekannt waren, verschwanden plötzlich von der Bildfläche und wurden nicht mehr gesehen. Forstarbeiter stießen im Wald auf Innereien von Rotwild, die jemand verscharrt hatte. Die Füchse gruben sie wieder aus und zerrten sie ans Tageslicht. Die Förster vermuteten, dass hier eine ganze Bande am Werk war, denn für eine Einzelperson war ein starker Hirsch, der deutlich mehr als zwei Zentner wiegen konnte, kaum zu transportieren. Gesehen hatte man diese Kerle jedoch noch nie. Eines war klar, sie waren ortskundig und im höchsten Maß gerissen. Damals erkannte man die Wilderer an einer ganz speziellen Handschrift: Sie töteten das Wild mit Pfeil und Bogen und führten dabei einen großen Hund mit sich, der ihnen offenbar ihre Beute zutrieb.
Wider alle Regeln der Vernunft hastete der alte Förster zu der Stelle, wo der Hirsch zusammengebrochen war. Plötzlich begann sein Herz schneller zu schlagen. Im Nebel erkannte er eine menschliche Gestalt, die sich über den Wildkörper beugte. Sie war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Wohlfahrt war klar, er handelte extrem leichtsinnig. Normalerweise hätte er sich zurückziehen und über sein Handy die Polizei verständigen müssen. Damit war aber die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Wilddiebe verschwunden waren, ehe die Ordnungshüter eintrafen. Er entschloss sich zu handeln. Mit der Waffe in Vorhalte näherte er sich langsam dem Menschen in Tarnkleidung. Unvermutet trat er auf einen trockenen Zweig, der krachend brach. Der Mann richtete sich erschrocken auf. Wohlfahrt sah in der Hand des Kerls ein großes Messer aufblitzen, mit dem der sich an dem Hirsch zu schaffen gemacht hatte. Sein Gesicht hatte der Wilderer mit Farbe unkenntlich gemacht. Er musste älter sein, denn unter seiner Basecap quollen graue Haare hervor. Wohlfahrt zögerte nicht länger, die Situation war eindeutig. Hier in seinem Zuständigkeitsbereich hatte er Polizeigewalt. Angriff war die beste Verteidigung.
„Halt! Lassen Sie das Messer fallen und heben Sie die Hände hoch. Ich bin hier der Förster und bewaffnet! Ich verhafte Sie wegen Jagdwilderei!“
Das Gewehr hielt Wohlfahrt im Hüftanschlag. Innerlich ärgerte er sich, seine Pistole nicht mit zur Jagd mitgenommen zu haben. Diese kurze Waffe wäre in der jetzigen Situation wesentlich besser zu handhaben gewesen. Deutlich spürte er die Spannung, die sich zwischen ihm und dem Mann aufbaute. Der Wilderer machte keinerlei Anstalten, das Messer fallen zu lassen. Er schien zu überlegen. Langsam ging der Förster einige Schritte näher. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er das Gesicht des Mannes zu erkennen, aber das war unmöglich. Zudem hatte er den Schirm der Basecap tief ins Gesicht gezogen.
„Los, sofort die Waffe weg“, befahl Wohlfahrt erneut, „… flach auf den Bauch legen, Arme und Beine abgespreizt! Aber ein bisschen plötzlich!“
Jetzt erst entdeckte er die zweite Gestalt, die sich ein Stück von der ersten entfernt aus dem Nebel herausschälte. Der Forstmann erschrak. Offenbar hatte er es tatsächlich mit einer Bande zu tun. Der Gewehrlauf schwenkte zwischen den beiden Männern hin und her. Jetzt wurde die Situation kritisch. Allerdings konnte er bei dem zweiten Wilderer keine Waffe erkennen.
„Für dich gilt das Gleiche!“, stieß Wohlfahrt hervor. „Hinlegen!“ Im Augenblick wusste er nicht, wie er diese schwierige Situation meistern sollte. Er hatte zwar sein Handy dabei, aber in seiner jetzigen Lage konnte er nicht telefonieren. Dazu hätte er sein schweres Gewehr mit nur einer Hand halten müssen und das war unmöglich. In diesem Augenblick raschelte links von ihm das Laub. Gleichzeitig vernahm er ein tiefes, bösartiges Knurren. Erschrocken fuhr der Forstbeamte herum. Der Lauf seines Gewehres schwenkte unwillkürlich mit. Weniger als zehn Meter von ihm entfernt stand sprungbereit ein großer, dunkler Hund, der ihn mit gefletschten Zähnen anstarrte. Es war abzusehen, dass er jeden Augenblick angreifen würde. Die Gedanken wirbelten wild durch den Kopf des Försters. Was sollte er tun? Das war eine verdammte Zwickmühle! Er durfte die beiden Wilderer nicht aus den Augen lassen, musste aber auch auf den Hund aufpassen. In Sekundenbruchteilen traf sein Gehirn eine Entscheidung und übertrug diese auf seinen Finger am Abzug. Der Schuss brach und der Knall fand im Wald ein vielfaches Echo. Hastig wollte er eine neue Patrone ins Patronenlager repetieren, als er auch schon einen harten Schlag gegen seine Brust bekam, der von einem schrecklichen Schmerz begleitet wurde. Wohlfahrt hatte das Gefühl, als würde es ihm die Lunge zerreißen. Sein Gewehr fiel ins Gras, weil seine Hände instinktiv an seine Brust fuhren. Im gleichen Moment war der große Hund heran. Sein Schuss war offenbar wirkungslos in die Wiese gegangen. Mit voller Wucht sprang das Tier den Förster an und warf ihn auf den Rücken. Eine Sekunde später gruben sich die scharfen Zähne des Hundes tief in die Kehle des Mannes, zerquetschten seinen Kehlkopf und rissen ihm die Halsschlagader auf.
„Grauer zurück! Aus!“ Trotz seiner Panik hörte Wohlfahrt die laute befehlende Stimme. Verzweifelt versuchte er mit schwindender Kraft das Tier von sich zu zerren. Doch der zangenartige Griff der Kiefer verstärkte sich noch. Ein heftiger Schmerz fuhr ihm ins Gehirn. Wohlfahrt bekam keine Luft mehr, weil ihm die Luftröhre abgedrückt wurde. Schnell verfiel er in eine Art Agonie. Sekunden später verlor er das Bewusstsein.
Er bekam nicht mehr mit, wie der zweite Mann herangerannt kam und mit harter Hand den Hund zurückriss, damit er von seinem Opfer abließ.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte der Jüngere und leuchtete mit einer Taschenlampe auf den Förster, aus dessen Halsschlagader das Blut stoßweise in die Wiese lief. Aus seiner Brust ragte der hintere Teil eines Pfeils. „Er stirbt! Vater, warum hast du geschossen? Der Graue hätte den Kerl doch an den Boden genagelt.“
„Ich wollte verhindern, dass er noch einmal schießt!“, knurrte der Ältere und ließ den Bogen wieder ins Gras fallen, von wo er ihn gerade aufgenommen hatte, als der Förster durch den Hund abgelenkt wurde. „Los, wir müssen den Hirsch zerlegen und abtransportieren. Es wird schnell heller. Für den da können wir nichts mehr tun.“ Er spuckte ins Gras und wandte sich wieder dem Wildkörper zu.
Der Jüngere starrte den sterbenden Forstmann an, der noch einige Male mit den Beinen zuckte und dann still lag.
Nachdem der Hirsch zerlegt war, trat der Ältere an den Toten heran, setzte seinen linken Schuh auf dessen Brust und zog mit einem Ruck den Pfeil aus der Brust.
Als Volker Wohlfahrt am Morgen nicht zum Forstamt zurückkehrte und auch über Handy nicht zu erreichen war, fuhr sein Nachfolger mit dem Jeep in den Wald hinaus, um nachzusehen. Wenig später fand er den Kollegen in seinem Blut. Das abgefeuerte Gewehr und die Spuren im Gras ließen darauf schließen, dass hier offenbar eine schreckliche Auseinandersetzung stattgefunden hatte. Der Forstbeamte suchte eine Stelle mit Handyempfang und alarmierte die Polizei.