Читать книгу Die Spur des Wolfes - Günter Huth - Страница 12

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Simon Kerner saß im Amtsgericht an seinem Schreibtisch, die Lehne seines Bürostuhls ganz nach hinten gekippt, und starrte zum Fenster hinaus auf die sich jenseits des Mains erhebenden Spessarthöhen. Vor einer Viertelstunde hatte er einen Schöffengerichtsprozess beendet, indem er den Angeklagten vom Vorwurf der schweren Körperverletzung freigesprochen hatte. Freisprechen musste, da die Beweislage alles andere als eindeutig war und er daher nach dem Rechtsgrundsatz in dubio pro reo, im Zweifel zugunsten des Angeklagten, urteilen musste. Sehr zu seinem Ärger, weil er in seinem Innersten davon überzeugt war, dass der Angeklagte seinen Nebenbuhler um die Gunst seiner ehemaligen Freundin niedergeschlagen und schwer verletzt hatte. Es war ihm leider nicht eindeutig nachzuweisen, weil sich die umworbene Dame plötzlich an nichts mehr erinnern konnte. Zu dem Zeitpunkt sei sie angeblich zu betrunken gewesen. Der Verteidiger des Angeklagten hatte dies natürlich gnadenlos ausgenutzt. Von der Geschädigten hatte man damals bedauerlicherweise keine Blutprobe genommen.

Kerner erhob sich, packte seine Richterrobe, die er über einen Sessel am Besprechungstisch geworfen hatte, und hing sie über einen Bügel und in den Schrank. Anschließend goss er sich aus einer Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein und griff sich einen Keks von einem Teller. Seine Gedanken wandten sich dem gestrigen Telefongespräch mit seinem Freund Eberhard Brunner zu. Die Nachricht, dass sich der Verurteilte Wolfgang Hasenstamm bei einem geführten Ausgang befreit hatte und dabei ein Vollzugsbeamter zu Tode gekommen war, hatte Kerner tief erschüttert. Obwohl die Verurteilung Hasenstamms schon Jahre zurücklag, konnte er sich noch sehr gut an den Prozess erinnern. Er hatte damals die Anklage vertreten. Die Umstände von Hasenstamms Festnahme waren im höchsten Maß dramatisch gewesen. Da die beiden Hasenstamms im Strafprozess schwiegen, war es nicht möglich, einem das Tötungsdelikt an dem Förster zuzuordnen. Dann gab es plötzlich eine überraschende Wende. Wolfgang Hasenstamm nahm am zweiten Prozesstag alle Schuld auf sich und wurde dann auch wegen Totschlags verurteilt. Der Alte kam mit einer Bewährungsstrafe wegen Jagdwilderei davon. Der Wolf verschwand. Seitdem herrschte in den Wäldern Ruhe. Der alte Hasenstamm trat strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung. In den Dörfern rund um Wiesmühl wurde davon gesprochen, dass er eine schwere Krankheit habe. Wie ihm Eberhard Brunner berichtet hatte, hatte er sich vor einer guten Woche das Leben genommen. Offenbar wollte er das Siechtum durch den Krebs nicht länger ertragen.

Kerner war klar, dass der gewalttätige Ausbruch Hasenstamms für die Ermittlungsbehörden ein echtes Problem darstellte, da er, wie Brunner ihm erzählt hatte, sofort in die Wälder geflüchtet war. Eine Umgebung, in der er problemlos überleben konnte. Das hatte er früher ja hinreichend bewiesen. Hasenstamm hatte einmal getötet. In die Enge getrieben, würde Hasenstamm sicher wieder töten. Die Härte seines Vorgehens bei seinem Ausbruch ließ das Schlimmste erwarten.

Er hatte Wolfgang Hasenstamm während des gesamten Prozesses genau beobachtet. Als die Frage nach der Verantwortlichkeit für den Schießbefehl auf das Fluchtauto angesprochen wurde, hatte Hasenstamm das erste und einzige Mal seine Zurückhaltung aufgegeben. Nur mit Hilfe seines Verteidigers war es dem Gericht gelungen, seine Hasstirade gegen ihn, Kerner, und Eberhard Brunner zu unterbinden. Nachdem Wolfgang Hasenstamm die gesamte Schuld für den Totschlag auf sich genommen hatte, war er in finsteres Brüten verfallen. Regungslos hatte er den Schuldspruch aufgenommen. Lediglich seine Augen hatten Bände gesprochen. Für Kerner stand fest, dass der Flüchtige auf Vergeltung aus war, Vergeltung für den Tod von Anna Drescher, den er auch ihm, vielleicht sogar in erster Linie, anlastete. Bis der Flüchtige wieder eingefangen war, musste er aufpassen. Da er in der Nähe des Ortes lebte, an dem das Unglück geschehen war, war die Bedrohung für ihn real.

Das Klopfen an seine Bürotür unterbrach seine Gedanken. Er sah auf die Armbanduhr. Das musste der Personalrat sein, der sich bei ihm angemeldet hatte, um mit ihm einige Details des am Freitag in einer Woche stattfindenden Sommerfestes zu besprechen. Seit er hier in Gemünden Behördenchef war, fand dieses Fest bei seiner Jagdhütte statt. Ein Event, der bei allen Behördenangehörigen sehr beliebt war. Nur mühsam konnte er sich auf das Gespräch konzentrieren.

Die Spur des Wolfes

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