Читать книгу Die Spur des Wolfes - Günter Huth - Страница 9
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Fünf Jahre später
Es war kurz vor vierzehn Uhr. Ein wolkenloser, heißer Sommertag ließ die Temperatur fast auf vierzig Grad steigen. Der Friedhof am Rande der kleinen Spessartgemeinde Wiesmühl lag direkt hinter der Kirche St. Raphael, in einem durch eine dichte Hecke begrenzten Areal. Nach Osten hin, nur knapp hundert Meter von der Umgrenzung entfernt, war in der flirrenden Luft die dunkle Wand des Waldrandes zu erkennen.
Die letzte Ruhestätte der Familie Hasenstamm lag in der südöstlichen Ecke des Friedhofs, direkt neben der Hainbuchenhecke. Der Erdaushub rund um das frische Grab war mit einer grünen Plane abgedeckt. Einige Buchsbäumchen in Pflanztöpfen und mehrere Flammenschalen auf metallenen Ständern gaben dem Ort eine gewisse Feierlichkeit. Im Augenblick lag das offene Grab noch verlassen da.
Der neutrale, grüne VW-Bus parkte auf dem kleinen Parkplatz in der Nähe des Eingangs des Kirchhofs. Der Motor war aus. Der Fahrer saß hinter dem Steuer und starrte gelangweilt auf das geschlossene Kirchenportal. In dem mit einem Gitter abgetrennten Fahrgastraum saßen auf der mittleren Rückbank drei Männer. Zwei, wie der Fahrer, in die Uniform von Strafvollzugsbeamten gekleidet. Die beiden Beamten klemmten einen Zivilisten mit ihren kräftigen Figuren regelrecht zwischen sich ein. Seine mit Handschellen zusammengeschlossenen Hände lagen locker in seinem Schoß. Die etwa dreißig Zentimeter lange Verbindungskette ließ ihm etwas Spielraum. Der hagere Gefangene, dessen Alter sich irgendwo in Richtung vierzig bewegen durfte, lehnte den Kopf ganz entspannt rückwärts gegen die Kopfstütze und hielt die Augen geschlossen. Er schien zu schlafen. Doch seine beiden Bewacher ließen sich durch dieses Verhalten nicht in Sicherheit wiegen. Der Mann, für den sie bei diesem genehmigten Ausgang verantwortlich waren, war nicht ganz ungefährlich. Vor fünf Jahren war er vom Schwurgericht wegen Totschlags in einem Fall und schwerer Jagdwilderei in mehreren Fällen zu dreizehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Staatsanwaltschaft hatte seinerzeit auch wegen des Verdachts des Mordes gegen ihn ermittelt, konnte ihm diesen aber nicht nachweisen, so dass es bei Totschlag blieb. Während der Strafverbüßung hatte sich der Strafgefangene aus Sicht der Gefängnisverwaltung weitgehend unauffällig verhalten.
Vor zwei Tagen nun hatte die Anstaltsleitung dem Verurteilten Wolfgang Hasenstamm, auf seinen Eilantrag hin, diese bewachte Ausführung genehmigt, damit er an der Beisetzung seines kürzlich verstorbenen Vaters teilnehmen konnte. Zu diesem Zweck hatte man ihm gestattet, die Anstaltskleidung, die er als Strafgefangener normalerweise tragen musste, gegen den Anzug einzutauschen, den er während seines Gerichtsprozesses getragen hatte.
Unvermittelt begann die Totenglocke der Kirche zu läuten. Gleichzeitig öffneten sich die beiden Flügel der Tür von St. Raphael. Zwei Ministranten und ein Priester traten heraus. Diesen folgte eine fahrbare Bahre mit einem Sarg darauf, die von vier Männern in dunklen Anzügen geschoben wurde. Hinter dem Sarg schritten zwei alte, in Schwarz gekleidete Frauen, die kleine Blumengebinde in den Händen hielten. Die Trauerprozession bog auf den Friedhof ein und passierte dort die schmiedeeiserne Pforte.
In die Männer im Transporter kam Bewegung. „Auf geht’s!“, kommandierte einer der Beamten, worauf der andere die Schiebetür des VW-Busses öffnete und ausstieg. Er drehte sich um und fasste den Gefangenen am Arm, um ihm aus den Wagen zu helfen. Hasenstamm lehnte die Hilfe mit einer eindeutigen Körperbewegung ab. Mit einem elastischen Sprung stand er auf dem Boden und streckte sich leicht. Jetzt konnte man sehen, dass er die beiden Beamten um einen ganzen Kopf überragte. Er war drahtig, mit einem scharf geschnittenen Gesicht. Sein Haar trug er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Gefangene hielt den Beamten seine gefesselten Hände hin. In dieser Geste lag eine Aufforderung. Der zuletzt ausgestiegene Vollzugsbeamte, offensichtlich der Chef der Gruppe, schüttelte jedoch entschieden den Kopf.
„Tut mir leid, Hasenstamm, aber die Handschellen müssen dran bleiben. – Anordnung der Anstaltsleitung“, ergänzte er. Nach kurzer Überlegung zog er seinen Dienstblouson aus. Jetzt war sein Einsatzgürtel mit Dienstpistole, Pfefferspray, zusammengeschobenem Schlagstock und Tasche für die Handschellen sichtbar. Ein in einer geschlossenen Scheide steckendes Klappmesser vervollständigte die Ausrüstung. Daneben hing an einem Karabinerhaken der Schlüssel für die Handfesseln. Er legte die Jacke wortlos über die Handschellen des Gefangenen, so dass diese fast völlig verdeckt waren. Dann fassten die beiden Männer den Gefangenen rechts und links an den Ellbogen und führten ihn hinter dem Trauerzug her. Eine der beiden Frauen, Hasenstamms Mutter, blieb kurz stehen und machte Anstalten, zu diesem zu gehen. Die andere hielt sie jedoch mit hartem Griff am Arm zurück, dabei warf sie Hasenstamm und den Wärtern unverhohlen böse Blicke zu.
Nachdem der Priester alle rituellen Handlungen und Gebete vollzogen hatte, senkten die vier Männer in Schwarz den Sarg in die Grube. Sie verneigten sich kurz, dann verließen sie mit der Rollbahre den Friedhof.
Der Priester betrachtete mit ausdrucksloser Miene die wenigen Trauernden. Kritisch musterte er die Schusswaffen der beiden Beamten. Schließlich trat er auf die beiden Frauen zu, gab ihnen die Hand und murmelte dabei einige Worte des Beileids. Anschließend fiel sein Blick auf Hasenstamm. Er zögerte eine Sekunde, gab sich dann einen innerlichen Ruck und streckte langsam dem Gefangenen seine Hand entgegen. Doch Hasenstamm sah ihn nur durchdringend an, als wäre er gar nicht vorhanden, und ignorierte die Geste.
Schließlich zog der Priester seine Hand wieder zurück, murmelte ein pflichtschuldiges „Mein Beileid“ und verließ gemessenen Schrittes, mit den Ministranten vorweg, den Friedhof.
Die beiden Frauen standen einen Augenblick unschlüssig vor dem Grab. Schließlich traten sie nach vorne. Die Witwe ergriff die armlange Schaufel, die in einer Tonschale mit Erde steckte, und warf polternd drei kleine Portionen Erdreich auf den Sarg. Die zweite tat es ihr nach, dann drehten sie sich um. Hasenstamms Mutter blieb vor dem Gefangenen stehen, dann löste sie sich aus dem Griff ihrer Begleiterin.
„Ach, mein Junge“, stieß sie hervor und fiel ihm schluchzend um den Hals. Einer der Beamten ließ sie einen Moment gewähren, dann legte er vorsichtig seinen Arm um ihre Schulter und meinte leise, aber bestimmt: „Frau Hasenstamm, bitte keine körperlichen Berührungen.“
Hasenstamm warf ihm einen eisigen Blick zu, dann schob er seine Mutter langsam von sich. „Mutter, ist ja gut. Jetzt hat er es überstanden.“
Die andere Frau ergriff die weinende Mutter und zog sie weg. „Lass uns gehen“, stieß sie hart hervor. Dabei musste sie an Hasenstamm vorbei, der wie versteinert zwischen den Wärtern stand. Plötzlich drehte sie ihren Kopf und spukte ihm vor die Füße. Dabei stieß sie halblaut einige Worte aus, die für die Umstehenden kaum zu verstehen waren. Hasenstamm zuckte kurz zusammen, dann hatte er sich aber wieder im Griff. Ihre Reaktion verwunderte ihn nicht. Diese Frau war die ältere Schwester seines Vaters. Sie hasste ihn, weil sie der Meinung war, er trage Schuld an dem Drama der Familie. Deshalb hatte sie im Strafprozess auch gegen ihren Neffen ausgesagt. Energisch führte sie Hasenstamms Mutter in Richtung Ausgang.
Die Beamten hatten sich bei der Attacke kurz angespannt und ihren Griff verfestigt. Als ihr Gefangener aber keine sichtbare Reaktion zeigte, entspannten sie sich wieder.
„Du kannst jetzt kurz Abschied nehmen“, erklärte der verantwortliche Wärter zu seiner Rechten leise, „dann müssen wir wieder los.“
Hasenstamm reichte dem Mann seine Jacke zurück, dann trat er an das Grab. Die beiden Beamten flankierten ihn. Langsam griff sich der Gefangene die kleine Schaufel und warf zwei Häuflein Erde auf den Sarg. Als sich die Schaufel das dritte Mal der Tonschale näherte, wirbelte Hasenstamm urplötzlich mit einer einzigen schwungvollen Bewegung herum und rammte die lanzenförmige Spitze dem Beamten zu seiner Linken mit brutaler Gewalt von vorne in den Hals. Ohne Probleme durchdrang das an den Kanten mit einer gewissen Schärfe versehene Schaufelblatt das Gewebe. Mit einem gurgelnden Geräusch griff sich der Wärter an den Kehlkopf und brach dabei zusammen. Aus der schrecklichen Wunde sprudelte unaufhaltsam das Blut. Während der Mann langsam auf die Knie sank, riss ihm der Gefangene das Pfefferspray vom Gürtel und schnellte herum. Der zweite Beamte war für einen Augenblick vom Schock wie gelähmt. Sein Verstand wollte das Geschehen einfach nicht begreifen. Ehe er richtig erfasste, was da gerade geschah, bekam er eine volle Ladung des Pfeffersprays mitten in die Augen. Mit einem heiseren Schrei fuhren seine Hände hoch zu seinem Gesicht. Er war völlig blind und taumelte nach vorne in Richtung Grab. Hasenstamm warf das Pfefferspray zur Seite, dann riss er dem Beamten die Schusswaffe aus dem Holster. Der war so mit dem Schmerz in seinen Augen beschäftigt, dass er den Waffenraub überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Hasenstamm gab ihm einen heftigen Stoß und er schlug mit einem hohlen Laut auf dem Sarg auf. Die beiden Frauen, die schon fast den Ausgang des Friedhofs erreicht hatten, hörten das Geräusch und blieben wie angewurzelt stehen. Wie versteinert verfolgten sie das unfassbare Geschehen aus der Distanz. Hasenstamm bückte sich, riss die Schusswaffe aus dem Holster des blutenden Beamten und warf sie ins Grab. Das Röcheln des Mannes schallte grausig über den Friedhof. Schnell steckte sich der Gefangene die andere Waffe vorne hinter den Hosenbund, dann zerrte er die Handschellenschlüssel vom Gürtel des Sterbenden und steckte auch das Klappmesser ein. Dabei warf er einen schnellen Blick zum VW-Bus. Der Fahrer hatte die Geschehnisse am Grab natürlich mitbekommen. Gerade riss er die Fahrertür auf und sprang mit einem Satz heraus. In der Hand hielt er seine Dienstpistole und stürmte damit durch das Friedhofstor.
„Verschwinden Sie!“, brüllte er den beiden Frauen heftig winkend zu, die sich aus ihrer Erstarrung lösten und vom Gelände stolperten.
„Hasenstamm, werfen Sie die Waffe weg und heben Sie die Hände hoch, sonst muss ich von der Schusswaffe Gebrauch machen!“ Er war aber keineswegs so selbstsicher, wie er tat. Sein Warnschuss schallte über das Gelände.
Immer schön nach Vorschrift, dachte Hasenstamm grimmig, hob die Waffe und gab einen Schuss in Richtung des Beamten ab, der sich daraufhin hinter einen Grabstein warf. Offenbar sah er dann ein, dass diese Einzelaktion von ihm sinnlos war. Als sich Hasenstamm seinerseits hinter ein Grabmal in Deckung brachte, drehte er sich um und rannte im Zickzack geduckt zum Fahrzeug. Er musste Verstärkung anfordern. Mit zitternden Händen wählte er die Nummer der Einsatzzentrale.
Hasenstamm gab sich nicht länger mit den Beamten ab. Er hatte nicht vor, sich hier ein Feuergefecht zu liefern. So schnell wie möglich musste er hier weg. Zügig, aber ohne Hast öffnete er die Handschellen und warf sie achtlos hinter sich ins Grab. Angespannt wandte er sich ab und musterte die Hecke in Richtung Wald. Eine weniger dichte Stelle mit schwächerem Bewuchs hatte er schon bemerkt, als man ihn zum Grab führte. Mit einem schnellen Blick überzeugte er sich davon, dass ihm von dem übrig gebliebenen Vollzugsbeamten keine Gefahr drohte, dann nahm er aus dem Stand Anlauf und brach mit Gewalt durch die Zweige. Die Kratzer, die ihm einige störrische Zweige ins Gesicht schlugen, ignorierte er.
Als der Notarzt später eintraf, konnte er nur noch den Tod des einen Vollzugsbeamten feststellen. Der extrem wuchtige Stoß mit dem scharfen Schaufelblatt hatte die Halsschlagader, die Luft- und die Speiseröhre durchtrennt. Die Obduktion würde ergeben, ob der Beamte verblutet oder womöglich schon vorher an seinem eigenen Blut erstickt war. Der zweite Vollzugsbeamte, dessen Gesicht und Augen von dem aggressiven Pfefferspray verätzt waren, wurde versorgt und dann ins nächste Krankenhaus transportiert. Der Mann stand massiv unter Schock.
Die vom Fahrer des VW-Busses verständigte Polizei traf kurz nach dem Notarzt ein. Die Streifenpolizisten begutachteten kurz den Tatort, dann verständigten sie die Mordkommission in Würzburg. Anschließend sperrten sie den Friedhof ab und verwehrten den immer zahlreicher werdenden Neugierigen aus dem Dorf den Zutritt. Die Nachricht von der Bluttat auf ihrem Friedhof hatte sich in dem kleinen Spessartdorf wie ein Lauffeuer herumgesprochen und heizte die Gerüchteküche enorm an.