Читать книгу Die Spur des Wolfes - Günter Huth - Страница 6
ОглавлениеProlog
Heute
Die elf Menschen lagerten schon seit zwei Stunden gut versteckt in einem größeren Feldgehölz nahe der deutsch-österreichischen Grenze. Stark gezeichnet von einer monatelangen Flucht, ausgemergelt und erschöpft lagen sie auf dem Boden und nutzten die Zeit, um Kraft zu sammeln. Hohläugig starrten sie stoisch vor sich hin und warteten darauf, dass die Zeit verging. Im Ausharren waren sie geübt. Ihr weniges Gepäck lag neben ihnen im Gras. Ihre Kleidung trugen sie seit Wochen und sie waren sich bewusst, dass sie schlecht rochen. Ein Umstand, der den meisten von ihnen, die überwiegend aus geordneten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen stammten, sehr unangenehm war.
Der Schlepper, ein Österreicher mittleren Alters, saß etwas abseits und beobachtete nervös die Gruppe, die aus fünf Männern, zwei Frauen und drei Kindern bestand. Vor einer Stunde hatte er ihnen in gebrochenem Englisch erklärt, dass die letzte Strecke bis zur Grenze noch einmal zweihundert Euro pro Person kosten würde. Diese Forderung löste bei den geschundenen Menschen Ärger und Wut aus. Sie hatten bereits vor Antritt der Reise durch Österreich eine nennenswerte Summe an die Organisation geleistet. Von weiteren Kosten waren sie nicht ausgegangen. Sie wussten nicht, dass dies das private Zusatzgeschäft des Schleusers war, das dieser an der Organisation vorbei tätigte. Nach kurzer emotionaler Aufwallung resignierten die Flüchtlinge und zahlten.
Eines der Kinder, ein etwa drei Monate alter Säugling, war anscheinend krank. Er wimmerte leise und seiner Mutter gelang es kaum, ihn zu beruhigen. Immer wieder legte sie ihn an die Brust, aber anscheinend war seine Nase so verstopft, dass er nicht richtig trinken konnte. Sein ständiges leises Weinen bedeutete eine permanente Gefahr, da in diesem grenznahen Gebiet durchaus Menschen unterwegs waren. Im Augenblick konnten sie nicht weiter. Sie mussten hier noch so lange ausharren, bis die Dämmerung ihnen beim Weitermarsch mehr Schutz geben würde. Zur Grenze waren es noch fast zwei Kilometer, wie ihr Führer ihnen verständlich machte. Der Weg führte teilweise über offenes Ackerland und war der kritischste Teil so kurz vor dem Ziel ihrer Flucht. Seit Wochen waren die Streifen der deutschen Bundespolizei entlang der ganzen grünen Grenze massiv verstärkt worden. Allerdings, und darauf baute ihr Führer, war eine lückenlose Sicherung der Grenze zwischen Österreich und Bayern unmöglich. Dazu war sie viel zu lang und das Gelände zu unterschiedlich strukturiert. Ein großes Risiko würde der Schleuser nicht eingehen. Er wohnte in der Grenzregion und kannte sich aus. Die Flüchtlingsströme der letzten Monate erschlossen ihm und anderen Privatpersonen, die sich von der Organisation bezahlen ließen, eine kräftig sprudelnde Einkommensquelle. Hinzu kamen die ganz speziellen Nebeneinnahmen.
Vor Monaten hatten sich diese Menschen aus dem Lager Yibo, in der Provinz Hatay, im türkischen Grenzgebiet zu Syrien, auf dem Weg gemacht. Über die Balkanroute waren sie mit Hilfe von verschiedenen Schleusern über die grüne Grenze nach Österreich gelangt und hatten sich vor zwei Tagen mit Hilfe ihres jetzigen Führers auf die letzte Strecke ihres Wegs nach Deutschland gemacht.
Jeder von ihnen hatte seine eigenen Gründe, weswegen er sich beim Grenzübertritt nicht registrieren lassen wollte. Über die sozialen Netzwerke, auf die sie mit ihren Smartphones Zugriff hatten, hatten sie erfahren, dass ihnen die Behörden in Bayern Bargeld und Wertsachen, die eine bestimmte Summe überschritten, abnehmen würden. Etwas, das sie nicht hinnehmen wollten, da ihnen dadurch die Basis ihrer neuen Existenz geraubt wurde.
Der Österreicher gab einen zischenden Laut von sich und legte den Finger auf den Mund. Die Menschen lauschten. In der Ferne hörten sie das lauter werdende Geräusch eines Dieselmotors. Wenig später näherte sich ihnen ein Traktor. Der Fahrer befuhr den Betonweg, der einige Meter an ihrem Versteck vorbeiführte. Der Schleuser machte ihnen Zeichen und sie legten sich ins Gras. Der Rand des Feldgehölzes war von blickdichten Büschen bewachsen, so dass sie gute Chancen hatten, unbemerkt zu bleiben. So war es auch. Der Traktor tuckerte vorbei und war eine Minute später außer Sichtweite. Erleichtert standen sie wieder auf.
Ahmad, einer der Flüchtlinge, ein gebürtiger Iraker, kam jetzt aus Syrien und besaß auch einen syrischen Pass. Diese Papiere waren jedoch gefälscht. Ausgestellt von einer terroristischen Organisation. Er reiste nicht alleine. Begleitet wurde er von dem Syrer Mohammed, dessen Ausweispapiere echt waren. Beide Männer hatten die gleichen Motive für die Flucht, die von denen der übrigen Schicksalsgenossen maßgeblich abwichen. Den beiden war es bisher gelungen, ihre Zusammengehörigkeit zu verschleiern. Ebenso die Tatsache, dass sie die deutsche Sprache weitgehend beherrschten. Besonders wegen dieser Fähigkeit waren sie für diese Reise ausgewählt worden.
Nach Einbruch der Dämmerung machte der Schleuser einige Schritte zur Seite, zog ein Mobiltelefon hervor und führte ein Telefonat. Ahmad und Mohammed hatten trotz des österreichischen Slangs jedes Wort verstanden, da sich der Mann keine große Mühe gab, leise zu sprechen, weil er davon ausging, niemand würde ihn verstehen. So erfuhren die beiden Männer, dass sie ihr Führer in der Nähe der Grenze bei Passau, aber noch auf österreichischer Seite, ihrem Schicksal überlassen würde. Er wollte sich nicht dem Risiko aussetzen, in die Fänge der deutschen Bundespolizei zu geraten. Sein Geld hatte er ja bekommen. In dem Telefonat vereinbarte er mit dem Gesprächspartner einen Treffpunkt, an dem ihn derjenige abholen sollte.
Anschließend forderte er die Flüchtlinge nachdrücklich zum Aufbruch auf.
„Verdammter ungläubiger Teufel“, flüsterte Ahmad seinem Partner auf Arabisch zu. Mohammed wusste, was das bedeutete.
Im Gänsemarsch folgten die Flüchtlinge dem Schleuser. Der hetzte die Gruppe über die freie Fläche. Alle atmeten auf, als sie zwanzig Minuten später in den nächsten Wald eintauchen konnten. Das Baby verhielt sich jetzt erstaunlich ruhig, anscheinend war es vor Erschöpfung eingeschlafen.
Wortlos marschierten sie eine Weile auf einem Forstweg, bis schließlich der Schleuser die Hand hob und ihnen im Flüsterton verständlich machte, dass sie soeben die Grenze nach Deutschland überschritten hätten. Ein befreites Raunen ging durch die Gruppe. Teilweise fielen sie sich in die Arme. Während dieser kurzen Phase des Glücks verschwand der Österreicher in der Nacht. Die Menschen waren zunächst etwas verwirrt, entschlossen sich dann aber, dem Rat des Schleusers zu folgen und in die angegebene Richtung weiterzulaufen. Wenn sie die Nacht durchmarschierten, befanden sie sich so tief in Bayern, dass sie sich einigermaßen sicher fühlen konnten.
Ahmad und Mohammed ließen sich Stück für Stück bis ans Ende der Marschformation zurückfallen. Irgendwann blieben sie stehen, während die anderen weiterhasteten. Ihre Mission hinderte sie daran, die Flüchtlinge zu warnen. Kam die Gruppe ungeschoren über die Grenze, war alles gut. Sollten sie jedoch von der Bundespolizei aufgegriffen werden, waren die Ordnungshüter so beschäftigt, dass sie beide unbemerkt durch die Grenze schlüpfen konnten.
Die beiden Männer blieben im Wald stehen und warteten. Plötzlich drang greller Lichtschein durch die Bäume. Er kam von der Stelle, wo sich die Flüchtlinge jetzt in etwa befinden mussten. Eine laute Mikrofonstimme forderte die Menschen in deutscher, englischer und arabischer Sprache auf, stehen zu bleiben. Jetzt erst hatten die Flüchtlinge die Grenze erreicht und waren prompt von der Bundespolizei entdeckt worden.
Ahmad war klar, dass die Festnahme einige Zeit in Anspruch nehmen würde. So lange mussten sie warten, da sie auf keinen Fall festgenommen werden durften. Er machte Mohammed ein Zeichen und flüsterte ihm etwas zu. Der nickte. Daraufhin drehten sie sich um und folgten dem Weg im flotten Trab zurück. Es dauerte nicht lange, dann sahen sie die geduckte Gestalt des Schleusers im Mondlicht vor sich, der eilig über das offene Ackerland davonhastete. Schnell holten sie ihn ein. Da ihre Schritte auf dem weichen Ackerboden kaum zu hören waren, konnten sie den Mann völlig überraschen. Als er sie erkannte, erschrak er sehr und wollte davonlaufen. Ahmad packte ihn von hinten am Jackenkragen und zerrte ihn herum.
„Du bist ein elendes Schwein“, sagte er ruhig auf Deutsch. „Du hast unser Geld genommen, um uns dann der Polizei auszuliefern. Allah wird dich strafen!“
Der Mann stammelte etwas, wurde aber jäh unterbrochen. Der harte Karateschlag gegen den Kehlkopf kam schnell und überraschend. Würgend brach er auf dem Feldweg zusammen. Ahmad und Mohammed standen dabei und sahen zu, wie er langsam erstickte. Irgendwann hatte das Zappeln ein Ende und er lag still. Ahmad durchsuchte seine Kleidung und nahm das Geld an sich, das er den Flüchtlingen abgenötigt hatte. Anschließend zerrten sie ihn in einen tiefen Entwässerungsgraben am Rande des Feldes. Wenig später waren sie wieder auf dem Weg zur Grenze. Dort warteten sie bis weit nach Mitternacht, um sie dann völlig unbehelligt zu überqueren. Ohne Zögern marschierten sie in die Nacht hinein. Sie wollten noch möglichst weit kommen.